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Das Buch

September 1938 – in München treffen sich Hitler, Chamberlain, Mussolini und Daladier zu einer kurzfristig einberufenen Konferenz. Der Weltfrieden hängt am seidenen Faden. Im Gefolge des britischen Premierministers Chamberlain befindet sich Hugh Legat aus dem Außenministerium, der ihm als Privatsekretär zugeordnet ist. Auf der deutschen Seite gehört Paul von Hartmann aus dem Auswärtigen Amt in Berlin zum Kreis der Anwesenden. Den Zugang zur Delegation hat er sich erschlichen. Insgeheim ist er Mitglied einer Widerstandszelle gegen Hitler. Legat und von Hartmann verbindet eine Freundschaft, seit sie in Oxford gemeinsam studiert haben. Nun kreuzen sich ihre Wege wieder. Wie weit müssen sie gehen, wenn sie den drohenden Krieg verhindern wollen? Können sie sich überhaupt gegenseitig trauen?

Der Autor

Robert Harris wurde 1957 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Seine Romane Vaterland, Enigma, Aurora, Pompeji, Imperium, Ghost, Titan, Angst, Intrige und Dictator wurden allesamt internationale Bestseller. Seine Zusammenarbeit mit Roman Polański bei der Verfilmung von Ghost (Der Ghostwriter) brachte ihm den französischen »César« und den »Europäischen Filmpreis« für das beste Drehbuch ein. Robert Harris lebt mit seiner Familie in Berkshire. Zuletzt erschien im Heyne-Verlag der Spiegel-Bestseller Konklave.

ROBERT HARRIS

MÜNCHEN

ROMAN

Aus dem Englischen von
Wolfgang Müller

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Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel
Munich
bei Hutchinson, London
Copyright © 2017 by Canal K Limited
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Nele Schütz Design
Karte © Gemma Fowlie 2017
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-21372-5
V006
www.heyne.de

Für Matilda

»Was heute Vergangenheit ist, dessen sollten wir uns immer bewusst sein, war einst Zukunft.«

F. W. Maitland, Historiker (1850–1906)

»Schon 1938 mussten wir losschlagen … September 1938, das war der günstigste Augenblick …«

Adolf Hitler, im Februar 1945

TAG EINS

1

Dienstagmittag, 27. September 1938, kurz vor eins. Im Restaurant des Londoner Ritz wurde Mr Hugh Legat, Beamter im diplomatischen Dienst Seiner Majestät, zu seinem Tisch an einem der raumhohen Fenster geleitet. Er bestellte eine halbe Flasche Dom Pérignon, Jahrgang 1921, die er sich eigentlich nicht leisten konnte, blätterte wieder zur Seite 17 der Times und las zum dritten Mal die Rede, die Adolf Hitler am Abend zuvor im Berliner Sportpalast gehalten hatte.

HITLERS REDE

        

LETZTES WORT AN PRAG

        

KRIEG ODER FRIEDEN?

Gelegentlich hob Legat den Kopf und warf einen Blick zum Eingang des Speisesaals. Vielleicht bildete er sich das ein, aber die Gäste und sogar die Kellner, die sich auf dem Teppich zwischen den altrosa bezogenen Stühlen hin und her bewegten, schienen ihm ungewöhnlich gedämpfter Stimmung zu sein. Niemand lachte. Jenseits der dicken Spiegelglasscheiben hoben vierzig oder fünfzig Arbeiter im Green Park Splittergräben aus. Manche schufteten wegen der schwülen Witterung mit nacktem Oberkörper.

Es darf nunmehr für die Welt kein Zweifel mehr übrig bleiben: Jetzt spricht nicht mehr ein Führer oder ein Mann, jetzt spricht das deutsche Volk. Wenn ich jetzt Sprecher des deutschen Volkes bin, das weiß ich: In dieser Sekunde stimmt Wort für Wort das ganze Millionenvolk in meine Worte ein. (Heil-Rufe.)

Er hatte die Rede in der Direktübertragung der BBC mitgehört. Eine blecherne, unerbittliche, überhebliche Rede voller Drohungen und Selbstmitleid, eine auf schreckliche Art eindrucksvolle Rede, deren Worte unterstrichen wurden vom zustimmenden Gebrüll von fünfzehntausend Menschen und von dem dumpfen Klopfgeräusch, wenn Hitler mit der Hand auf das Rednerpult schlug. Es war ein schauerlicher, unmenschlicher Lärm, der wie aus einem schwarzen unterirdischen Fluss aufstieg und aus dem Lautsprecher schwappte.

Ich bin Herrn Chamberlain dankbar für alle seine Bemühungen. Ich habe ihm versichert, dass das deutsche Volk nichts anderes will als Frieden. Ich habe ihm weiter versichert und wiederhole es hier, dass es – wenn dieses Problem gelöst ist – für Deutschland in Europa kein territoriales Problem mehr gibt.

Legat zog seinen Füllfederhalter heraus, markierte den Abschnitt und auch die zuvor gemachte Bemerkung Hitlers über das englisch-deutsche Flottenabkommen:

Ein solches Abkommen ist nur dann moralisch berechtigt, wenn beide Völker sich in die Hand versprechen, niemals wieder miteinander Krieg führen zu wollen. Deutschland hat diesen Willen! Wir wollen alle hoffen, dass im englischen Volk diejenigen die Überhand bekommen, die des gleichen Willens sind.

Er legte die Zeitung beiseite und schaute auf seine Taschenuhr. Es war bezeichnend für ihn, nicht wie die meisten Männer seines Alters eine Uhr am Handgelenk zu tragen, sondern an einer Kette. Er war achtundzwanzig, das blasse Gesicht, die gemessene Art und der dunkle Anzug ließen ihn aber älter erscheinen. Er hatte den Tisch schon vor zwei Wochen reserviert, noch bevor die Krise ausgebrochen war. Jetzt hatte er ein schlechtes Gewissen. Fünf Minuten könnte er noch auf sie warten, dann müsste er wieder gehen.

Es war Viertel nach, als er in der Spiegelwand mit den goldenen Sprossen flüchtig ihre Gestalt zwischen den Blumen sah. Sie stand am Eingang des Restaurants, praktisch auf Zehenspitzen, den langen, weißen Hals in die Höhe gereckt, und schaute sich mit vorgestrecktem Kinn und ausdruckslosem Blick um. Sie weigerte sich, eine Brille zu tragen. Er musterte sie einige Sekunden wie eine Fremde und fragte sich, was um alles in der Welt er wohl von ihr halten würde, wenn sie nicht seine Frau wäre. »Eine augenfällige Erscheinung« – etwas in der Art pflegten die Leute über sie zu sagen. »Nicht gerade eine Schönheit.« – »Nein, aber ansehnlich.« – »Und aus allerbestem Stall, wie man wohl sagen darf.« – »Jedenfalls ist Pamela ein ganz anderes Kaliber als unser armer Hugh …« (Letzteres hatte er auf ihrer Verlobungsfeier aufgeschnappt.) Er hob den Arm. Er stand auf. Schließlich bemerkte sie ihn, lächelte und winkte. In ihrem engen Rock und der maßgeschneiderten Seidenjacke schlängelte sie sich durch ein Spalier verrenkter Köpfe schnell zwischen den Tischen hindurch.

Sie küsste ihn fest auf den Mund. Sie war etwas außer Atem. »Sorry, sorry, sorry …«

»Macht doch nichts, ich bin gerade erst gekommen.« In den letzten zwölf Monaten hatte er sich angewöhnt, lieber nicht zu fragen, wo sie gerade herkam.

Außer ihrer Handtasche hatte sie noch eine kleine Pappschachtel dabei. Sie stellte sie auf den Tisch und zog die Handschuhe aus.

»Ich dachte, wir hätten uns auf keine Geschenke geeinigt?« Er hob den Deckel. Ein schwarzer Gummischädel mit der metallenen Schnauze und den leeren Glasaugenhöhlen einer Gasmaske starrte ihn an. Er zuckte unwillkürlich zurück.

»Ich war mit den Kindern zur Anprobe. Natürlich musste ich ihre zuerst anprobieren. Was doch mal ein Beweis für meine Mutterliebe ist, meinst du nicht auch?« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Könnte ich auch einen Schluck haben? Ich verdurste.«

Er machte dem Kellner ein Zeichen.

»Nur eine halbe Flasche?«

»Ich muss heute Nachmittag noch arbeiten.«

»Natürlich! Hätte mich nicht gewundert, wenn du gar nicht erst aufgetaucht wärst.«

»Ehrlich gesagt, das wäre auch besser gewesen. Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht zu Hause.«

»Jetzt weißt du ja, wo ich war. Kein Grund für Argwohn.« Sie lächelte und beugte sich zu ihm vor. Sie stießen an. »Alles Gute zum Hochzeitstag, mein Liebling.«

Im Park schwangen die Arbeiter die Spitzhacken.

Ohne einen Blick in die Speisekarte zu werfen, bestellte sie: keine Vorspeise, Seezungenfilet, grüner Salat. Legat gab die Karte zurück und sagte, er nehme das Gleiche. Er konnte jetzt nicht an Essen denken. In seinem Kopf schwirrte immer noch das Bild seiner Kinder mit Gasmaske herum. John war drei, Diana zwei. Ständig die Belehrungen, nicht zu schnell zu laufen, sich immer warm anzuziehen, nicht am Spielzeug oder an den Buntstiften zu nuckeln, weil man ja nie wissen könne, wo sie vorher herumgelegen hätten. Er stellte die Schachtel unter den Tisch und schob sie mit dem Fuß aus dem Blickfeld.

»Hatten sie große Angst?«

»Ach was, überhaupt nicht. Sie haben das für ein Spiel gehalten.«

»Tja, manchmal geht es mir genauso. Selbst mit den Telegrammen in der Hand kann man kaum glauben, dass das alles kein schauerlicher Scherz ist. Noch vor einer Woche hat es so ausgesehen, als wäre alles in Ordnung. Bis Hitler seine Meinung geändert hat.«

»Was passiert jetzt?«

»Wer weiß? Vielleicht nichts.« Er bemühte sich, optimistisch zu klingen. »In Berlin reden sie noch. Jedenfalls, als ich das Büro verlassen habe.«

»Und wenn sie aufhören zu reden, wann geht es dann los?«

Er zeigte ihr die Schlagzeile aus der Times und zuckte mit den Achseln. »Schätze, morgen.«

»Tatsächlich? So schnell?«

»Er sagt, dass er am Samstag die tschechische Grenze überschreitet. Unsere Militärexperten glauben, dass er drei Tage braucht, um seine Panzer und Artillerie in Stellung zu bringen. Das heißt, er muss morgen mobilmachen.« Er warf die Zeitung auf den Tisch und trank einen Schluck Champagner. Er schmeckte sauer. »Weißt du was? Lass uns über was anderes reden.«

Er zog eine Ringschatulle aus der Jackentasche.

»O Hugh!«

»Er ist bestimmt zu groß«, sagte er.

»Ach, er ist entzückend!« Sie schob den Ring über den Finger, hielt die Hand hoch und drehte sie unter dem Kronleuchter hin und her, sodass der blaue Stein im Licht funkelte. »Ich bin sprachlos. Ich dachte, wir hätten kein Geld.«

»Haben wir auch nicht. Der ist von meiner Mutter.«

Er hatte befürchtet, sie könnte ihn für schäbig halten. Aber zu seiner Überraschung beugte sie sich über den Tisch und legte zärtlich ihre Hand auf seine. »Du bist süß.« Ihre Haut war kühl. Der schmale Zeigefinger strich über sein Handgelenk.

»Am liebsten würde ich uns ein Zimmer nehmen, wo wir den ganzen Nachmittag im Bett bleiben«, sagte er unvermittelt. »Und Hitler und die Kinder einfach vergessen.«

»Na, dann frag doch mal nach, ob sich das arrangieren lässt. Wir sind hier. Was hält uns auf?« Sie schaute ihn mit ihren großen, graublauen Augen fest an. Eine plötzliche Erkenntnis ließ ihn verstummen: Sie sagte das nur, weil sie davon überzeugt war, dass es nie geschehen würde.

Hinter ihm hüstelte diskret ein Mann. »Mr Legat?«

Pamela zog ihre Hand weg, und er drehte sich um. Hinter ihm stand der Oberkellner mit feierlich selbstgefälligem Gesichtsausdruck, die Hände wie zum Gebet gefaltet.

»Ja?«

»Sie werden am Telefon verlangt, Sir. Downing Street Nummer zehn.« Er achtete darauf, es gerade so laut auszusprechen, dass man ihn an den Nachbartischen verstehen konnte.

»Verdammt!« Legat warf die Serviette auf den Tisch und stand auf. »Entschuldige mich bitte. Das Gespräch muss ich annehmen.«

»Ich verstehe. Geh nur und rette die Welt.« Sie winkte ihm zum Abschied. »Wir können auch ein andermal zusammen essen.« Sie verstaute ihre Sachen in der Handtasche.

»Ich brauche nur eine Minute.« In seiner Stimme war ein flehentlicher Unterton. »Wir müssen unbedingt reden.«

»Geh nur.«

Er blieb einen Augenblick lang unschlüssig stehen. Er spürte die Blicke der Gäste an den Nachbartischen. »Warte hier«, sagte er und versuchte sich an einem neutralen Gesichtsausdruck. Dann folgte er dem Oberkellner aus dem Restaurant ins Foyer.

»Ich nehme an, Sir, Sie wollen ungestört sein.« Der Oberkellner öffnete die Tür zu einem kleinen Büro. Das Telefon stand auf dem Schreibtisch, der Hörer lag daneben.

»Danke.« Er nahm den Hörer und wartete, bis die Tür geschlossen war. »Legat.«

»Tut mir leid, Hugh.« Er erkannte die Stimme von Cecil Syers, einem seiner Kollegen aus dem Privatbüro des Premierministers. »Du musst leider sofort herkommen. Es wird langsam hektisch. Cleverly sucht dich.«

»Ist etwas vorgefallen?«

Zögerliches Schweigen am anderen Ende. Man hatte den Privatsekretären eingeschärft, immer davon auszugehen, dass die Telefonistin mithöre. »Sieht ganz so aus, dass Schluss mit reden ist. Unser Mann fliegt nach Hause.«

»Verstehe. Bin schon unterwegs.«

Er legte den Hörer auf die Gabel. Einen Augenblick lang stand er wie versteinert da. Fühlte sich so Geschichte an? Deutschland würde die Tschechoslowakei angreifen. Frankreich würde Deutschland den Krieg erklären. England würde Frankreich zur Seite stehen. Seine Kinder würden eine Gasmaske tragen. Die Restaurantgäste würden nicht mehr im Ritz von weißen Leinentischtüchern essen, sondern sich im Green Park in die Splittergräben kauern. Es war zu viel, das alles zu begreifen.

Er öffnete die Tür und ging durch das Foyer schnell ins Restaurant zurück. Das eilfertige Personal des Ritz hatte ihren Tisch schon abgeräumt.

Auf der Piccadilly war kein Taxi zu bekommen. Er tänzelte am Randstein hin und her und winkte mit seiner zusammengerollten Zeitung nach jedem vorbeifahrenden Wagen. Vergeblich. Schließlich gab er es auf, ging um die Ecke in die St James’s Street und machte sich auf den Weg den Hügel hinunter. Gelegentlich schaute er in der Hoffnung, seine Frau zu entdecken, zur anderen Straßenseite. Wohin nur war sie so eilig gegangen? Wenn sie unmittelbar nach Hause in Westminster wollte, dann hätte sie den Weg hier nehmen müssen. Lieber nicht daran denken, am besten nie daran denken. Er fing an zu schwitzen. Für die herbstliche Jahreszeit war es ungewöhnlich warm. Unter seinem altmodischen Dreiteiler klebte ihm schon das Hemd am Rücken. Der Himmel war zwar trübe, aber der drohende Regenguss kam irgendwie nicht. In der Pall Mall funkelten im feuchtwarmen Dunst die Kronleuchter hinter den hohen Fenstern der großen Londoner Clubs – dem Royal Automobile, dem Reform, dem Athenaeum.

Er ging erst etwas langsamer, als er die oberen Stufen der Treppe erreichte, die von der Carlton House Terrace hinunter zum St James’s Park führte. Hier versperrte ihm eine kleine Gruppe von etwa zwanzig Menschen den Weg. Sie schauten zu etwas hoch, was wie ein kleiner Zeppelin aussah und langsam hinter dem Westminsterpalast aufstieg. Weiter an Höhe gewinnend, glitt es am Big Ben vorbei, ein eigenartig schöner Anblick, majestätisch und surreal. In der Ferne, südlich der Themse, konnte er ein halbes Dutzend weitere ausmachen – winzige Silbertorpedos, von denen einige schon in großer Höhe schwebten.

»Schätze, jetzt ist die Bombe geplatzt«, murmelte der Mann neben ihm.

Legat sah ihn an. Er erinnerte sich, dass sein Vater genau die gleichen Worte gebraucht hatte, als er im großen Krieg auf Heimaturlaub gewesen war. Er müsse zurück nach Frankreich, weil die Bombe geplatzt sei. Für Hughs sechsjährige Ohren hatte das geklungen, als unternähme er eine Landpartie. Es war das letzte Mal, dass er ihn gesehen hatte.

Er drückte sich an den Zuschauern vorbei und marschierte die drei breiten Treppen hinunter, überquerte die Mall und bog in die Horse Guards Road ein. Und hier, in der Mitte der weiten Sandfläche des Paradeplatzes, hatte sich in der halben Stunde, seit er die Downing Street verlassen hatte, etwas getan. Zwei Flugabwehrgeschütze standen da, und von einem Pritschenwagen luden Soldaten Sandsäcke ab. Sie bildeten eine Menschenkette und reichten die Säcke so schnell von Hand zu Hand, als fürchteten sie, am Himmel könnte jeden Augenblick die deutsche Luftwaffe auftauchen. Ein halb aufgeschichteter Wall aus Sandsäcken umringte eine Batterie Suchscheinwerfer. Ein Artillerieschütze drehte heftig an einem Rad, und eines der Rohre schwang herum und richtete sich auf, bis es fast senkrecht nach oben zeigte.

Legat wischte sich mit seinem Taschentuch das Gesicht ab. Schwitzend und mit rotem Gesicht aufzukreuzen war nicht ratsam. Wenn es eine Sünde gab, die im Privatbüro des Premierministers mehr als jede andere verpönt war, dann die, Panik zu signalisieren.

Er stieg die Stufen zu dem engen, dunklen, rußgeschwärzten Durchgang zur Downing Street hinauf. Auf dem Gehweg gegenüber Nummer 10 wandten mehrere Reporter den Kopf zu ihm um. Ein Fotograf hob die Kamera, sah, dass er niemand von Bedeutung war, und nahm sie wieder herunter. Legat nickte dem Wache stehenden Polizisten zu. Der Mann schlug mit dem Klopfer einmal fest gegen die Tür, die sich daraufhin wie von selbst öffnete. Er ging hinein.

Es war jetzt vier Monate her, dass er vom Außenministerium in die Nummer 10 abgeordnet worden war. Dennoch hatte er jedes Mal bei seiner Ankunft das Gefühl, einen Herrenclub zu betreten, der schon lange außer Mode geraten war – die schwarz-weißen Fliesen in der Eingangsdiele, die Wände in Pompejanischrot, die Messinglaterne, die betulich vor sich hin tickende Standuhr, der gusseiserne Schirmständer mit dem einen schwarzen Schirm. Irgendwo in den Tiefen des Gebäudes klingelte ein Telefon. Der Pförtner wünschte Legat einen guten Tag, ging zu seinem ledernen Kutschbock zurück und widmete sich wieder dem Evening Standard.

In dem breiten Gang, der zum hinteren Teil des Gebäudes führte, blieb Legat kurz stehen und überprüfte sein Äußeres im Spiegel. Er zupfte die Krawatte gerade, strich mit beiden Händen das Haar glatt, drückte die Schultern durch und drehte sich dann wieder um. Vor ihm lag die holzgetäfelte Tür zum Kabinettsraum. Sie war wie die Tür zum Büro von Sir Horace Wilson links daneben geschlossen. Er ging rechts in den Gang zu den Büros der Privatsekretäre des Premierministers. Das georgianische Haus verströmte eine Aura unerschütterlicher Gelassenheit.

Miss Watson, mit der er sich das kleinste Büro teilte, saß hinter den Aktenstapeln, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten – genau so, wie er sie verlassen hatte. Nur ihr grauer Schopf war zu sehen. Ihre Laufbahn hatte als Schreibkraft begonnen, da war Lloyd George noch Premierminister gewesen. Es hieß, er habe mit den jungen Dingern in der Downing Street um den Konferenztisch herum Hasch mich gespielt. Schwer vorstellbar, dass der Schwerenöter auch Miss Watson nachgesetzt haben sollte. Ihre Aufgabe bestand darin, Antworten auf parlamentarische Anfragen vorzubereiten. Sie lugte über den Papierberg zu Legat herüber. »Cleverly hat Sie gesucht.«

»Ist er beim PM

»Nein, in seinem Büro. Der PM ist mit den Großen Dreien im Kabinettsraum.«

Legat gab ein Geräusch von sich, das eine Mischung aus Seufzen und Stöhnen war. Auf halbem Weg durch den Gang steckte er den Kopf in Syers’ Büro. »Also, Cecil, auf wie viel Ärger muss ich mich gefasst machen?«

Syers schwang auf seinem Drehstuhl herum. Der kleine Mann war sieben Jahre älter als Legat und hatte ständig ein unbezähmbares, oft nervtötendes Grinsen im Gesicht. Er trug eine Krawatte mit den gleichen College-Streifen wie Legat. »Tja, für deinen romantischen Lunch hast du dir leider den falschen Tag ausgesucht, alter Knabe.« Mitfühlend sprach er leise weiter. »Hoffe, sie hat es dir nicht krummgenommen.«

In einem schwachen Augenblick hatte Legat ihm gegenüber einmal seine häuslichen Probleme angedeutet. Das bereute er immer noch. »Überhaupt nicht. Läuft alles bestens. Was war in Berlin los?«

»Anscheinend ist das Ganze in eine von Hitlers Tiraden ausgeartet.« Syers tat so, als schlüge er mit beiden Händen im Takt auf die Armlehnen, und sagte auf deutsch: »Ich werde die Tschechen zerschlagen!«

»O Gottogott.«

Ein militärisches Schnarren hallte durch den Gang. »Ah, Legat, da sind Sie ja endlich.«

Syers formte mit den Lippen viel Glück. Legat trat einen Schritt zurück, drehte sich zur Seite und blickte in das lange, schnurrbärtige Gesicht von Osmund Somers Cleverly, den aus unerfindlichen Gründen jedermann nur als Oscar kannte. Des Premierministers Erster Privatsekretär krümmte den Zeigefinger. Legat folgte ihm in dessen Büro.

»Ich muss schon sagen, Legat, ich bin von Ihnen enttäuscht und mehr als nur ein bisschen überrascht.« Cleverly, der Älteste von ihnen allen, war vor dem Krieg Berufssoldat gewesen. »Mitten in einer internationalen Krise zum Lunchen ins Ritz? Mag sein, dass das im Außenministerium so üblich ist, hier ist das nicht so.«

»Sir, ich entschuldige mich dafür. Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Und? Keine Erklärung?«

»Heute ist mein Hochzeitstag. Ich konnte meine Frau nicht mehr rechtzeitig erreichen und absagen.«

Cleverly sah ihn noch ein paar Sekunden länger an. Er gab sich keine Mühe, sein Misstrauen gegenüber den hochmögenden jungen Männern aus dem Finanz- und Außenministerium zu verbergen, die nie gedient hatten. »Es gibt Zeiten, wo die Familie erst an zweiter Stelle kommt, und jetzt ist eine solche.«

Der Erste Privatsekretär setzte sich hinter seinen Schreibtisch und schaltete die Lampe ein. Von diesem Teil des Gebäudes aus hatte man einen Blick nach Norden in den Garten der Downing Street. Die ungeschnittenen Bäume schirmten ihn vom Horse-Guards-Paradeplatz ab und tauchten das Erdgeschoss in ein ständiges Halbdunkel.

»Hat Syers Sie ins Bild gesetzt?«

»Ja, Sir. Die Gespräche sind gescheitert.«

»Hitler hat die Absicht verlauten lassen, morgen Nachmittag um zwei Uhr mobilzumachen. Steht also zu befürchten, dass bald der Teufel los sein wird. Sir Horace wird um fünf zur Berichterstattung beim PM zurückerwartet. Und der wird um acht im Rundfunk eine Rede ans Volk halten. Ich möchte, dass Sie sich um die Leute von der BBC kümmern. Die sollen ihre Geräte im Kabinettsraum aufbauen.«

»Ja, Sir.«

»Es findet eine Sitzung mit allen Kabinettsmitgliedern statt, wahrscheinlich umittelbar nach der Rundfunkansprache. Die BBC-Leute müssen also schnell wieder verschwinden. Außerdem empfängt der PM die Hochkommissare der Dominions. Und jeden Augenblick treffen die Stabschefs ein. Wenn die alle da sind, führen Sie sie gleich zum PM. Protokollieren Sie den Inhalt der Unterhaltung, damit der PM das Kabinett unterrichten kann.«

»Ja, Sir.«

»Wie Sie ja wissen, wird das Parlament einberufen. Er beabsichtigt, morgen Nachmittag vor den Abgeordneten eine Erklärung abzugeben. Bereiten Sie für ihn alle wesentlichen Protokolle und Telegramme der vergangenen zwei Wochen in chronologischer Reihenfolge vor.«

»Ja, Sir.«

»Sie werden wohl leider über Nacht bleiben müssen.« Der Schatten eines Lächelns umspielte Cleverlys Schnurrbart. Er erinnerte Legat an einen muskulösen anständigen Sportlehrer an einer unbedeutenderen Privatschule. »Tut mir leid mit Ihrem Hochzeitstag, aber da ist nichts zu machen. Ihre Frau wird das sicherlich verstehen. Sie können in einem der Personalzimmer oben im dritten Stock schlafen.«

»Ist das alles?«

»Das ist alles. Fürs Erste.«

Cleverly setzte seine Brille auf und widmete sich einem Schriftstück. Legat ging in sein Büro zurück, setzte sich an seinen Schreibtisch und atmete tief durch. Er zog die Schublade auf, nahm das Tintenfass heraus und tauchte die Schreibfeder hinein. Er war es nicht gewohnt, dass man ihn maßregelte. Verdammter Cleverly, dachte er. Seine Hand zitterte leicht. Die Spitze der Feder klirrte am gläsernen Rand des Tintenfasses. Miss Watson seufzte, hob aber nicht den Kopf. Er griff in den Drahtkorb, der links auf seinem Schreibtisch stand, und nahm die Mappe mit den frisch eingegangenen Telegrammen aus dem Außenministerium heraus. Aber noch bevor er das rosafarbene Band lösen konnte, erschien Sergeant Wren in der Tür, der Bürobote der Downing Street. Wie üblich war er außer Atem. Er hatte im Krieg ein Bein verloren.

»Der Chef des Imperialen Generalstabes ist da, Sir.«

Legat folgte dem humpelnden Boten durch den Gang zur Eingangsdiele. Von Weitem konnte er sehen, dass Viscount Gort, der mit seinen polierten braunen Stiefeln breitbeinig unter der Messinglaterne stand, ein Telegramm las. Er war eine schillernde Persönlichkeit: Aristokrat, Kriegsheld, Träger des Victoria-Kreuzes. Die Schreiber, Sekretärinnen und Stenotypistinnen, denen plötzlich ein dringender Grund eingefallen war, die Diele zu durchqueren, um einen Blick auf ihn zu werfen, schien er gar nicht wahrzunehmen. Die Vordertür öffnete sich, und in einer Kaskade aus Blitzlichtern trat Luftmarschall Cyril Newall herein, nur Sekunden später gefolgt von der riesenhaften Gestalt des Ersten Seelords Admiral Roger Backhouse.

»Würden Sie mir bitte folgen, meine Herren«, sagte Legat.

Während er sie ins Innere führte, hörte er Gort sagen: »Kommt Duff auch?«, worauf Backhouse erwiderte: »Nein, der PM glaubt, dass er vertrauliche Informationen an Winston durchsteckt.«

»Würden Sie bitte kurz warten?«

Eine Doppeltür sorgte dafür, dass der Kabinettsraum schalldicht war. Er öffnete die äußere Tür und klopfte leise an die innere.

Der Premierminister saß mit dem Rücken zur Tür. Ihm gegenüber saßen in der Mitte des langen Tisches Außenminister Halifax, Schatzkanzler John Simon und Innenminister Samuel Hoare. Alle schauten zur Tür, als Legat hereinkam. Abgesehen vom Ticken der Uhr herrschte vollkommene Stille im Raum.

»Entschuldigen Sie, Herr Premierminister«, sagte er. »Die Stabschefs sind da.«

Chamberlain drehte sich nicht um. Seine Hände lagen weit ausgebreitet auf dem Tisch, als wollte er jeden Augenblick seinen Stuhl zurückschieben. Mit beiden Zeigefingern klopfte er langsam auf die polierte Tischplatte. Schließlich sagte er mit seiner präzisen, etwas altjüngferlichen Stimme: »Also gut. Wir treffen uns wieder, wenn Horace zurück ist. Mal sehen, was er noch zu berichten hat.«

Die Minister schoben ihre Papiere zusammen – etwas umständlich im Fall von Halifax, dessen verkrüppelter linker Arm nutzlos an der Seite hing. Dann standen sie ohne ein weiteres Wort auf. Die Großen Drei waren Männer in den Fünfzigern und Sechzigern, sie standen auf dem Gipfel ihrer Macht, ihre physische Größe wurde von ihrer Erhabenheit noch überragt. Legat trat zur Seite, um sie vorbeizulassen – »ein Trio aus Sargträgern auf der Suche nach ihrem Sarg«, wie Legat sich später gegenüber Syers ausdrückte. Er hörte, wie sie die wartenden Chefs der Streitkräfte mit gedämpfter, düsterer Stimme grüßten. Dann sagte er leise: »Soll ich jetzt die Chefs des Generalstabes hereinbitten, Herr Premierminister?«

Chamberlain drehte sich immer noch nicht zu ihm um. Er schaute auf die Wand gegenüber. Sein krähenartiges Profil sah hart, unbeugsam, ja kriegerisch aus. Schließlich sagte er zerstreut: »Ja, sicher. Sie sollen hereinkommen.«

Legat setzte sich neben die dorischen Säulen ans hintere Ende des Kabinettstisches. In den vollen Bücherschränken standen in braunes Leder gebundene Gesetzbücher und die silbrig blauen Hansard-Bände mit den offiziellen Protokollen der Parlamentssitzungen. Die Chefs des Generalstabes legten ihre Uniformmütze auf dem Beistelltisch neben der Tür ab und setzten sich auf die Stühle, auf denen eben noch die Minister gesessen hatten. Sie öffneten ihre Aktentasche und breiteten die Unterlagen aus. Alle drei zündeten sich eine Zigarette an.

Legat warf einen Blick auf die Kaminuhr hinter dem Premierminister. Dann tauchte er die Federspitze in das Tintenfass der Schreibgarnitur und schrieb auf ein Blatt Kanzleipapier: PM & ChdSTs, 14.05 Uhr.

Chamberlain räusperte sich. »Nun, meine Herren, die Lage hat sich leider verschlechtert. Wir hatten vorbehaltlich einer Volksabstimmung auf die geordnete Abtretung des Sudetenlands an Deutschland gehofft – wozu die tschechische Regierung ihre Zustimmung gegeben hatte. Unglücklicherweise hat Hitler gestern Abend erklärt, dass er nicht einmal eine Woche länger warten könne und am Samstag einmarschieren werde. Sir Horace Wilson hat ihn bei einem Treffen heute Morgen sehr nachdrücklich gewarnt, dass, sollte Frankreich zu seinen Bündnisverpflichtungen zur Tschechoslowakei stehen – woran zu zweifeln wir nicht den geringsten Anlass hätten –, wir verpflichtet seien, Frankreich beizustehen.« Der Premierminister setzte seine Brille auf und nahm ein Telegramm vom Tisch. »Nach seinen üblichen wüsten Tiraden antwortete Hitler laut unserem Botschafter in Berlin mit folgenden Worten: ›Wenn Frankreich und England losschlagen, so sollen sie es nur tun. Mir ist das völlig gleichgültig. Ich bin für jede Eventualität gerüstet. Ich kann die Situation nur zur Kenntnis nehmen. Heute ist Dienstag, und am nächsten Montag werden wir alle Krieg führen.‹«

Chamberlain legte das Telegramm zurück und nahm einen Schluck Wasser. Legats Feder glitt schnell über das schwere Papier: PM – letzte Nachricht aus Berlin – Gespräche gescheitert – heftige Reaktion von Hitler – »Nächste Woche werden wir Krieg führen« –

»Solange die Chance auf eine friedliche Lösung besteht, werde ich meine Bemühungen natürlich fortsetzen – auch wenn im Augenblick kaum ersichtlich ist, was wir noch tun können. In der Zwischenzeit müssen wir uns wohl auf das Schlimmste vorbereiten.«

Gort schaute nacheinander seine Kollegen an. »Wir haben ein Memorandum vorbereitet, Herr Premierminister. Es fasst unsere gemeinsame Sicht der militärischen Lage zusammen. Wenn Sie gestatten, trage ich Ihnen das Ergebnis vor.«

Chamberlain nickte.

»›Nach unserer Auffassung kann kein Druck, den Großbritannien und Frankreich ausüben können – weder zu Wasser noch zu Lande, noch in der Luft –, Deutschland davon abhalten, Böhmen zu überrennen und der Tschechoslowakei eine entscheidende Niederlage zuzufügen. Die Wiederherstellung der Einheit der Tschechoslowakei kann nur durch eine Niederlage Deutschlands als Folge eines langen Kampfes erreicht werden, der von Beginn an den Charakter eines unbegrenzten Krieges haben wird.‹«

Niemand sagte ein Wort. Legat war sich sehr bewusst, dass das einzige Geräusch im Raum das Kratzen seiner Schreibfeder war. Es hörte sich plötzlich grotesk laut an.

»Das ist der Albtraum, vor dem mir immer gegraut hat«, sagte Chamberlain schließlich. »Als hätten wir nichts aus dem letzten Krieg gelernt und würden noch einmal den August 1914 durchleben. Nach und nach werden die Länder der Welt mit hineingezogen, und wofür? Wir haben den Tschechen schon gesagt, dass ihre Nation nach unserem Sieg in ihrer jetzigen Form nicht weiterexistieren kann. Die dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen haben das Recht auf Selbstbestimmung. Deshalb wird die Abtrennung des Sudetenlands von Deutschland unter keinen Umständen ein Kriegsziel der Alliierten sein. Wofür also kämpfen?«

»Für die Herrschaft des Rechts?«, sagte Gort.

»Für die Herrschaft des Rechts. Ja. Wenn es so weit kommt, dann werden wir dafür kämpfen. Aber ich würde mir bei Gott wünschen, wir könnten einen anderen Weg finden, sie aufrechtzuerhalten.« Der Premierminister fuhr sich kurz mit einem Finger über die Stirn. Der altmodische Kläppchenkragen lenkte den Blick auf seinen sehnigen Hals. Das Gesicht war grau vor Erschöpfung. Es kostete ihn einige Anstrengung, wieder in seinen geschäftsmäßigen Ton zu verfallen. »Welche praktischen Schritte sind jetzt erforderlich?«

»Wie schon vereinbart, entsenden wir sofort zwei Divisionen nach Frankreich, um unsere Solidarität zu bekunden«, sagte Gort. »Sie können in drei Wochen vor Ort und weitere achtzehn Tage später einsatzbereit sein. General Gamelin hat jedoch eindeutig zu verstehen gegeben, dass die Franzosen bis nächsten Sommer nicht die Absicht hegen, mehr als nur Scheinangriffe gegen Deutschland zu unternehmen. Offen gesagt, bezweifle ich sogar das. Sie werden die Maginot-Linie nicht überschreiten.«

»Sie warten, bis wir noch mehr Truppen schicken«, ergänzte Newall.

»Ist die Luftwaffe bereit?«

Newall richtete sich kerzengerade auf. Er war ein Mann mit hagerem, fast skelettartigem Gesicht und schmalem, grauem Schnurrbart. »Mit Verlaub, Herr Premierminister, der Zeitpunkt ist der schlimmstmögliche für uns. Auf dem Papier verfügen wir über sechsundzwanzig Staffeln zur Landesverteidigung, aber nur sechs davon bestehen aus modernen Flugzeugen. Eine aus Spitfires, die anderen fünf aus Hurricanes.«

»Aber die sind einsatzbereit?«

»Einige, ja.«

»Einige?«

»Es gibt da leider noch ein technisches Problem mit den Maschinengewehren der Hurricanes, Herr Premierminister. Bei einer Höhe von über fünfzehntausend Fuß frieren sie ein.«

»Was sagen Sie da?« Chamberlain beugte sich vor, als hätte er nicht richtig gehört.

»Wir arbeiten daran, aber das könnte noch einige Zeit dauern.«

»Nein, was Sie tatsächlich sagen, Herr Luftmarschall, ist Folgendes: Wir haben eineinhalb Milliarden Pfund für die Wiederaufrüstung ausgegeben, davon das meiste für die Luftwaffe, und wenn es darauf ankommt, haben wir keine Kampfflugzeuge, die fliegen.«

»Unsere Planung hat immer auf der Annahme gefußt, dass es frühestens 1939 zu einem Konflikt mit Deutschland kommen könnte.«

Der Premierminister wandte sich wieder dem Chef des Imperialen Generalstabes zu. »Lord Gort. Kann nicht das Heer vom Boden aus den Großteil der angreifenden Flugzeuge abschießen?«

»Da befinden wir uns leider in einer ähnlichen Lage wie der Luftmarschall, Herr Premierminister. Wir verfügen nur über etwa ein Drittel der Geschütze, die unserer Meinung nach zur Verteidigung Londons erforderlich wären. Und das sind meist veraltete Überreste aus dem letzten Krieg. Wir haben nicht genügend Suchscheinwerfer. Uns fehlt es an Ortungsgeräten und Funkausrüstung … Wir hatten bei unserer Planung ebenfalls ein weiteres Jahr einkalkuliert.«

Etwa ab der Mitte der Ausführungen schien Chamberlain nicht mehr zugehört zu haben. Er hatte die Brille wieder aufgesetzt und blätterte in seinen Unterlagen. Es herrschte inzwischen eine unangenehme Atmosphäre im Raum.

Legat schrieb ruhig weiter. Er verpackte die peinlichen Fakten in Bürokratenprosa – PM beunruhigt hinsichtlich angemessener Flugabwehr –, aber die geordnete Funktionsfähigkeit seines Gehirns war gestört. Wieder einmal ging ihm das Bild seiner Kinder mit Gasmaske durch den Kopf.

Chamberlain hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. »Das gemeinsame Nachrichtendienstkomitee schätzt die Verluste in London für die erste Woche einer Bombardierung auf einhundertfünfzigtausend und für die ersten zwei Monate auf sechshunderttausend.«

»Es ist unwahrscheinlich, dass das sofort geschehen wird. Wir gehen davon aus, dass die Deutschen ihren Hauptbomberverband zunächst gegen die Tschechen richten werden.«

»Und wenn die Tschechen geschlagen sind, was dann?«

»Das wissen wir nicht. Wir sollten jedenfalls die verbleibende Zeit nutzen, Vorkehrungen zu treffen, und schon morgen mit der Evakuierung Londons beginnen.«

»Wie gut ist die Marine vorbereitet?«

Der Erste Seelord war eine eindrucksvolle Erscheinung. Er war gut einen Kopf größer als alle anderen im Raum, das tief zerfurchte Gesicht sah aus wie von Stürmen gegerbt, das Haar auf dem fast kahlen Schädel war schütter und grau. »Wir haben Engpässe bei Geleitschiffen und Minensuchbooten. Unsere Großkampfschiffe müssen betankt und bewaffnet werden, Teile der Besatzungen haben Urlaub. Wir müssen die Mobilmachung so schnell wie möglich verkünden.«

»Wann müsste das spätestens geschehen, damit wir am 1. Oktober einsatzfähig sind?«

»Heute.«

Chamberlain lehnte sich zurück. Er klopfte wieder mit den Zeigefingern auf die Tischplatte. »Das hieße, wir geben die Mobilmachung vor den Deutschen bekannt.«

»Teilmobilmachung, Herr Premierminister. Dafür würde noch etwas anderes sprechen: Sie würde Hitler zeigen, dass wir nicht bluffen und zu kämpfen bereit sind, wenn es darauf ankommt. Möglich, dass er es sich noch einmal überlegt.«

»Möglich. Aber ebenso möglich ist, dass ihn das in den Krieg treibt. Ich hatte jetzt bei zwei Begegnungen Gelegenheit, dem Mann in die Augen zu schauen, und meiner Auffassung nach kann er eines nicht ertragen, nämlich sein Gesicht zu verlieren.«

»Aber wenn es zum Kampf kommen sollte, dann ist es wichtig, dass er nicht im Zweifel darüber gelassen wird, wie ernst wir es meinen. Es wäre eine Tragödie, wenn er Ihre couragierten Besuche und ernsthaften Bemühungen um Frieden als Zeichen von Schwäche deuten würde. Das war doch der Fehler, den die Deutschen 1914 gemacht haben. Sie haben geglaubt, wir meinen es nicht ernst.«

Chamberlain verschränkte die Arme und schaute auf den Tisch. Legat konnte nicht erkennen, ob Chamberlain den Vorschlag ablehnte oder ihn in Erwägung zog. Schlau von Backhouse, ihm zu schmeicheln, dachte er. Der Premierminister hatte nur wenige offensichtliche Schwächen, aber für einen scheuen Mann wie ihn auch ein seltsames und schlimmes Laster: die Eitelkeit. Die Sekunden verstrichen. Schließlich hob er den Kopf, schaute Backhouse an und nickte. »Einverstanden. Geben Sie die Mobilmachung bekannt.«

Der Erste Seelord drückte seine Zigarette aus, steckte die Unterlagen zurück in die Aktentasche und stand auf. »Ich mache mich gleich auf den Weg zur Admiralität.«

Die anderen waren dankbar, sich ebenfalls erheben und verschwinden zu können.

»Halten Sie sich bitte bereit, Sie müssen später noch die entsprechenden Minister unterrichten«, sagte Chamberlain. »In der Zwischenzeit sollten wir nichts tun oder sagen, was einer Panik in der Öffentlichkeit Vorschub leisten oder Hitler in eine Lage zwängen könnte, aus der er ohne Gesichtsverlust nicht wieder herauskommt.«

Nachdem die Chefs des Generalstabes gegangen waren, stieß Chamberlain einen langen Seufzer aus und legte den Kopf in die Hände. Als er zur Seite schaute, schien er Legat zum ersten Mal wahrzunehmen. »Haben Sie alles mitgeschrieben?«

»Ja, Herr Premierminister.«

»Vernichten Sie es.«