Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht.
Sechs Essays
KLAGENFURT – WIEN · CELOVEC – DUNAJ
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Umschlaggestaltung: Walter Oberhauser
Druck: Drava Print GmbH
ISBN 978-3-85435-757-5
eISBN 978-3-85435-850-3
Warum wir über den Islam nicht reden können
Emma und die Revolutionen im Iran
Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht
Warum uns Israel erregt
Warum uns Psychotherapie nicht weiterhilft – Plädoyer für Psychoanalyse
Warum die Vergangenheit nicht vergeht
Kennen Sie einen Perser? Wenn ja – haben Sie schon einmal den Fehler begangen, ihn als Araber zu bezeichnen? Diesen Fehler würden Sie kein zweites Mal machen. Zu verstörend wären die Reaktionen Ihres persischen Bekannten – sollte er ein Freund sein, könnte es passieren, daß er Ihnen die Freundschaft kündigt. Zu sagen »Perser mögen keine Araber« wäre untertrieben.
Würden Sie das Opfer Ihrer Verwechslung nach den Ursachen seines Ressentiments fragen, würde es Sie darüber aufklären, daß der »kulturell hochstehende« Iran im 7. Jahrhundert von den »primitiven« Arabern erobert wurde. Würden Sie das Thema an dieser Stelle nicht wechseln, würden Sie erfahren, daß der Iran auch von Alexander dem Großen und den Mongolen erobert wurde. Daß die mongolische Eroberung im 13. Jahrhundert stattfand, also jüngeren Datums ist als die arabische. Daß die Mongolen bei ihren Eroberungszügen ungleich grausamer vorgingen als die Araber. Daß es im Iran aber weder ein Ressentiment gegen Mongolen noch gegen Griechen gibt. An dieser Stelle müßten Sie sich die Frage stellen: Warum gerade die Araber?
Die Antwort auf diese Frage wird die Tatsache berücksichtigen müssen, daß die Araber, im Unterschied zu den Griechen und den Mongolen, den Iranern den Islam »gebracht haben« – und man muß kein Psychoanalytiker sein, um daraus zu schließen, daß die Iraner den Islam meinen, wenn sie die Araber bashen. Bewußt oder unbewußt scheint die Chiffre Araber für den Islam zu stehen: Hier tarnt sich offenbar die Abneigung gegen die eigene Religion als rassistisches Ressentiment1.
In Europa gibt es zu diesem Phänomen ein interessantes Pendant – allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Rechte und rechtssextreme Parteien, die mittlerweile bis tief in die politische Mitte hinein die Diskurshoheit erobert haben, reden über den Islam und meinen, wie z. B. in Österreich, die Türken – oder, wie in Frankreich, die Araber. Auch hier handelt es sich, wie im Fall des iranischen Anti-Arabismus, nicht um einen bewußten Etikettenschwindel. Der Anti-Islamismus der europäischen Rechten (und Konservativen und Teilen der Sozialdemokratie …) ist authentisch. Als es etwa anläßlich der Erstürmung der sogenannten Gaza-Flotte durch israelisches Militär im Mai 2010 in Wien zu antiisraelischen Demonstrationen kam, an denen vorwiegend Moslems teilnahmen und bei denen auch antisemitisch gehetzt wurde (»Hitler erwache!«), war es ausgerechnet die traditionell antisemitische FPÖ, die sich darüber am lautesten echauffierte.
Bis hierher scheinen die Debattenlage sowie mögliche Lösungsansätze klar auf der Hand zu liegen: Man müßte den Rassisten einfach die Anti-Islam-Maske vom Gesicht reißen und das rassistische Ressentiment in all seiner Erbärmlichkeit bloßstellen.
In der Realität der politischen Debatte erscheint die Sache aber nicht so einfach – was sich paradoxerweise am besten an den Reaktionen deklarierter Gegner rassistischer Hetze ablesen läßt. Etwa in dem im November 2010 publizierten Aufruf deutscher und österreichischer Intellektueller »Schluß mit der Integrationsdebatte!«. Dort heißt es:
»Islamfeindlichkeit bietet einen wesentlichen Anknüpfungspunkt für mediale Auseinandersetzungen, denn Islamfeindlichkeit wird nicht als Rassismus anerkannt (Hervorhebung von mir).«2
Für die Verfasser des Aufrufs »Schluß mit der Integrationsdebatte!« ist Islamfeindlichkeit also Rassismus. Statt die Vertauschung der beiden Diskurse (des Anti-Islam-Diskures mit dem Diskurs der Rassisten) zu kritisieren und den Anti-Islam-Diskurs als das zu entlarven, was er ist – nämlich ein Ersatz-Diskurs für Rassismus – werden, im Gegenteil, Anti-Islam-Diskurs und Rassismus miteinander identifiziert – und der Diskurs der Rassisten damit einzementiert: Wer Islamfeindlichkeit mit Rassismus gleichsetzt, erklärt die Zugehörigkeit zum Islam zu einem unabänderlichen, »quasi-rassischen« Merkmal.
Die Gleichung »Islamfeindlichkeit ist gleich Rassismus« geht offenbar vom Konzept des kulturellen Rassismus aus. Von der richtigen These also, daß heute, da der Begriff »Rasse« diskreditiert ist, fremdenfeindliche Ressentiments in Begriffen der »Kultur« – oder eben der Religion – transportiert und politisch salonfähig gemacht werden (»Leitkultur«, »christliches Abendland«, »Kampf der Kulturen«).
Statt aber gegen die unausgesprochenen Grundannahmen eines solchen Ersatz-Rassismus anzuschreiben, statt mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen,
– daß weder Religionen, noch »Kulturen« unauflöslich mit einer bestimmten Ethnie/»Rasse« verbunden sind,
– daß Menschen ihre Religion auch ändern, daß Religionen, wie es im Lauf der Geschichte immer wieder der Fall war, schlicht aussterben können,
– vor allem, daß Individuen nicht auf ihre »Kultur« oder »ihre« Religion reduzierbar sind,
stattdessen bleiben die »linken« und liberalen Kritiker der Rassisten, indem sie die rassistische Verknüpfung von Kultur/Religion einerseits und Ethnie/»Rasse« andererseits unhinterfragt übernehmen, bei den Vorgaben der Rassisten. Zugleich spricht der »linke« und liberale Diskurs – eben weil er die Identitäts-Vorgaben der Rechten (»Türke ist gleich Moslem«) akzeptiert – »Kulturen« und Religionen (hier den Islam) gleichsam heilig und entzieht sie damit jeder substanziellen Debatte.
Augenfällig wird diese unausgesprochene Heiligsprechung des Islam etwa am Argwohn, der den organisierten Ex-Moslems entgegenschlägt. In »linken« und liberalen Medien des deutschen Sprachraums werden Ex-Moslems häufig als schrille HysterikerInnen dargestellt, deren persönliche Betroffenheit ihnen ein angemessenes Reden über den Islam verunmöglicht.
Während man also im Iran über den Islam redet, indem man nicht über ihn redet, sondern über »die Araber», man in Österreich nur scheinbar über den Islam redet und die Türken meint – oder aber jedes substanzielle Reden über den Islam verunmöglicht, indem man ihn sakrosankt stellt –, werden Iraner (oder Araber oder Türken), die sich in Europa kritisch über den Islam äußern oder sich von ihm abwenden, als Menschen wahrgenommen, die nicht angemessen über den Islam reden können – und es daher am besten unterlassen sollten.
Wer den Islam sakrosankt stellt und dem Mißverständnis erliegt, er handle dabei antirassistisch, gleicht einem Lehrer, dem man berichtet, in seiner Schule würde ein, sagen wir, türkischer Schüler aus rassistischen Motiven gemobbt, u. a. würde, stellvertretend für jenen türkischen Schüler, eine Voodoo-Puppe mit Nadeln durchbohrt, und der daraufhin seine Schüler ermahnt, sie mögen bitte nett zu der Voodoo-Puppe sein, Feindschaft gegen Voodoo-Puppen sei rassistisch.
Solch Denken in Kurzschlüssen verstellt den Blick auf das Wesentliche. Der »linksliberale« Diskurs über kulturellen Rassismus bezeichnet das Reden des Kultur-Rassisten über Religion und Kultur (»unsere Leitkultur«, »das christliche Abendland«, »Kampf der Kulturen«) als (pseudo-)biologisch. »Biologisch» meint hier, daß kulturelle und religiöse Phänomene als unabänderlich, verdinglicht und in fixer Verknüpfung mit bestimmten Ethnien präsentiert werden. So weit so richtig. Die Vorstellung, biologische Merkmale stünden für das Fixe und Unveränderliche, entbehrt in Zeiten der Bio- und Gentechnik allerdings nicht der Ironie. Weit davon entfernt, das Unabänderliche zu repräsentieren, ist Biologie heute genau jener Schauplatz, an dem uns die grenzenlose Manipulierbarkeit der Grundlagen unserer Existenz vor Augen geführt wird.
Kann es sein, daß der Wunsch, eigene und fremde »Kulturen« oder Religionen als etwas Unveränderliches – und: Unantastbares – anzusehen, auch mit Verunsicherungen dieser Art zu tun hat? Weil wir das Gefühl haben, wo immer wir hintreten, den Boden unter den Füßen zu verlieren, brauchen wir etwas, das wir – und woran wir uns – festhalten können, und dieses »etwas« nennt sich heute wieder »Kultur« oder auch »Religion« bzw. »Leitkultur«, »christliches Abendland» »Kampf der Kulturen« usw. – Begriffe, die trotz oder wegen ihrer Substanzlosigkeit seit Jahren nicht nur die politische Debatte, sondern auch das Denken der politischen Akteure beherrschen. Ersatz-Begriffe eines politischen Ersatz-Diskurses.
In ihrer Wirkmächtigkeit, ihrer Unbestimmtheit und ihrer Abwehrfunktion gegen Verunsicherungen aller Art spielen »Leitkultur« und Co. in der öffentlichen Sphäre eine ähnlich unheilvolle Rolle wie das Gebot des »positiven Denkens« in der privaten Ideologie postmoderner Erfolgsmenschen.
»Bei den Nazis, da war es noch die Rasse, an die nun schon der Dümmste nicht mehr glaubt. Ich würde denken, daß in der nächsten Stufe der regressiven Ideologie es ›das Positive‹ sein wird, an das die Menschen glauben sollen, etwa in dem Sinn, wie man in Heiratsannoncen die Formulierung ›positive Lebenseinstellung‹ als etwas ganz besonders Empfohlenes empfindet.«3
Für Kultur-Rassisten (und solche finden sich mittlerweile auch in den Reihen der Grünen, von den Konservativen und Sozialdemokraten reden wir lieber nicht) funktionieren Begriffe wie »unsere (Leit)kultur« immer nur als Gegen-Begriffe – vor allem eben gegen »den Islam«. Ein Begriff, der seinerseits inhaltsleerer und unbestimmter nicht sein könnte. Über die üblichen medialen Schlagworte hinaus wissen wir über »den Islam« in der Regel noch weniger zu sagen als über »unsere (Leit)kultur«. Mehr noch: Wir dürfen über ihn nichts (Relevantes) sagen, und dieses unausgesprochene und dennoch sehr wirkmächtige Tabu hat noch andere Gründe als die unglückselige Gleichsetzung der Ablehnung des Islam mit Rassismus.
Um diese Gründe zu verstehen, müssen wir uns – wieder einmal – der Gretchenfrage stellen:
Zwischen 1970 und 2008 hat sich die Zahl der Konfessionslosen in Deutschland verzehnfacht. Von 3,9 % im Jahre 1970 auf 34,1 % im Jahr 2008 – Tendenz steigend. In den neuen Bundesländern bezeichnen sich bis zu 80 % der Bevölkerung als konfessions- bzw. religionslos. In ebendiesem tendenziell konfessionslosen Deutschland erschien im Oktober 2007 das religionskritische Kinderbuch Wo bitte geht’s zu Gott?, fragte das kleine Ferkel von Michael Schmidt-Salomon4. Darin wird die Geschichte eines Igels und eines Ferkels erzählt, die sich, angeregt durch ein Plakat mit der Aufschrift: »Wer Gott nicht kennt, dem fehlt etwas«, auf die Suche nach Gott begeben. Sie treffen auf einen Rabbi, der ihnen erzählt, Gott hätte den Menschen, weil sie an eingebildete, falsche Götter geglaubt hätten, die Sintflut geschickt. Sie fragen ihn, ob er sich sicher sei, daß nicht auch jener Gott, an den er, der Rabbi, glaube, eine Einbildung sei. Woraufhin er sie aus seinem Gotteshaus wirft. Danach treffen sie einen Mufti, der ihnen mit der Hölle droht, weil sich das Ferkel weigert, sich fünf Mal am Tag zu waschen – und schließlich einen christlichen Bischof, vor dem sie flüchten, nachdem er erklärt, daß es sich bei den »Keksen«, die das Ferkel in der Kirche gefunden und in den Mund gesteckt hatte, um den Leib Christi handle. Am Ende ändern der Igel und das Ferkel die Aufschrift auf dem Plakat: »Wer Gott kennt, dem fehlt etwas – nämlich da oben.«
Das »Ferkelbuch« war Gegenstand heftiger Kontroversen. Wenige Wochen nach seinem Erscheinen beantragte die deutsche Familienministerin, es auf den Index jugendgefährdender Medien zu setzen. Die Süddeutsche Zeitung begrüßte das Indizierungsverfahren und bezeichnete das »Ferkelbuch« als »fundamentalistisch«. Die Zeit lehnte die Indizierung zwar ab, nannte aber Michael Schmidt-Salomon einen »selbstgerechten und eindimensionalen Religionshasser«.
Waren es beim Aufruf »Schluß mit der Integrationsdebatte« durchwegs nicht-religiöse Intellektuelle, die den Islam vehement in Schutz nahmen, so sahen sich bei der Debatte über das »Ferkel-Buch« liberale Medien und Organe eines säkularen Staates veranlaßt »die Religion als solche« in ungewohnt aggressiver Weise in Schutz zu nehmen. Die »Ferkelbuch«-Debatte und der Aufruf »Schluß mit der Integrationsdebatte« sind symptomatisch. Sie zeigen, wie wir es zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Religion halten. In einem tendenziell religionslosen Europa wird Religion immer heiliger.
Wer’s nicht glaubt – und ich spreche auch und vor allem diejenigen an, die sich als nichtreligiös, agnostisch oder atheistisch bezeichnen –, möge sich seine Reaktion vor Augen führen, als er in diesem Essay, oder wo sonst immer, zum ersten Mal von der Existenz eines religionskritischen – oder sagen wir ruhig religionsfeindlichen – Kinderbuches erfahren hat. Offensichtlich stellt ein religionsfeindliches Kinderbuch heute, auch für Agnostiker und Atheisten, einen ungleich größeren Tabubruch dar als Kinderbücher, die sich der sexuellen Aufklärung annehmen.
Im Gymnasium war ich als Nicht-Christ vom Religionsunterricht befreit. Dennoch besuchte ich regelmäßig den katholischen Unterricht Don Camillos, eines rundlichen Pfarrers, der seinen Spitznamen seiner Schlagfertigkeit und seiner Streitlust verdankte. Bei Don Camillo hatte jede Unterrichtsstunde einen Titel, den er zu Stundenbeginn an die Tafel schrieb. Einmal trug die Stunde den Titel Früher war der Sex tabu, heute die Religion – und Don Camillo leitete sie mit den Worten ein: »Sie dürfen heute alles sein: Kommunist, Atheist, Anarchist, Sadist, Masochist – aber sagen Sie einmal: Ich bin fromm!«
Don Camillo hatte recht. Die Behauptung, daß Religion tabu sei, hat heute sogar noch mehr Berechtigung als damals, in den achtziger Jahren, als er sie formulierte. Heute ist Religion allerdings in einem ganz anderen Sinn tabu, als es Don Camillo im Sinn hatte. Tabu stammt aus dem Sprachraum Polynesiens und bedeutet »heilig« in einem spezifischen Sinn. Orte, Gegenstände oder Personen, die im Sinne des Tabus heilig sind, müssen streng gemieden werden. Von ihnen geht eine gefährliche Kraft aus. Diese Verknüpfung des Heiligen mit dem Unantastbaren, weil Gefährlichen, kennen wir auch aus der christlichen Tradition und der Mythologie der Griechen. Als sich Zeus der sterblichen Semele in seinem vollen Glanz zeigt, verbrennt sie. Und der Auferstandene hält, dem Johannesevangelium zufolge, Maria Magdalena mit dem Ausruf »Berühr mich nicht!« (»Noli me tangere«) davon ab, ihn zu umarmen.
»Eines Tages, sagte der Rabbi, ärgerte sich Gott so sehr über die Menschen, daß er beschloß, alles Leben auf der Erde zu vernichten. ›Alles Leben?‹, fragte das Ferkel erschrocken, ›alle Menschenbabys, alle Omas und alle Tiere?‹ ›Ja, alles Leben‹, antwortete der Rabbi.«
Aufgrund dieser Stelle machte das deutsche Familienministerium dem Ferkelbuch den Vorwurf des Antisemitismus, da es die jüdische Religion als »menschenverachtend und grausam« darstelle. Für Ursula von der Leyen, die damalige deutsche Familienministerin, immerhin Ministerin im Dienste eines säkularen Staates, ist Religion offensichtlich tabu – heilig und zugleich unantastbar –, als steckten in der Religion gefährliche Kräfte, die beim bloßen Benennen bestimmter ihrer Inhalte freigesetzt werden könnten.
Konsequenterweise forderte sie die Indizierung eines Buches, bloß weil es nacherzählt, was auch im Alten Testament über die Sintflut steht – dort allerdings drastischer: »Ich will den Menschen … von der Fläche des Erdbodens auslöschen, vom Menschen bis zu den kriechenden Tieren, bis zu den Vögeln im Himmel.« (Genesis 6:7)
Demselben Tabu-Verhalten begegnen wir beim (Nicht-) Reden über den Islam. In Diskussionen über den Islam wird bekanntlich über alles Mögliche geredet (Migration, Terrorismus, »Integration«) außer über den Islam. In den seltenen Fällen, wo jemand dieses Sprechverbot durchbricht und tatsächlich etwas über den Islam sagt – indem er zum Beispiel aus dem Koran zitiert – entsteht häufig eine seltsam peinliche Atmosphäre, als hätte jemand ein obszönes Geheimnis verraten. In weiterer Folge wird dem Tabubrecher mitgeteilt, daß es »den Islam« gar nicht gebe, mit der niemals ausgesprochenen Konsequenz, daß man über dies nicht Existente auch nicht sprechen kann.
Zurück zum Ferkelbuch: Im März 2008 sprach die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien das Ferkelbuch vom Vorwurf des Antisemitismus frei und lehnte dessen Indizierung ab. Da es ihr ausschließlich um Fragen der Jugendgefährdung gehe, sei es des Weiteren irrelevant – so die Bundesprüfstelle –, ob das Buch das religiöse Empfinden der Gläubigen verletze. Was in der gesamten Ferkelbuch-Debatte ausgeklammert blieb, ist der eigentliche – und verborgene – Kern der Affäre: Die religiösen Empfindungen der Ungläubigen.
Ob sie ihr mit Toleranz, Respekt oder auch gleichgültig begegnen – heute scheinen »Ungläubige« der Religion gegenüber eine entspannte Haltung einzunehmen. Religion wird als Teil der »kulturellen Tradition« akzeptiert, und daß Nichtreligiöse Ostern feiern oder sich kirchlich trauen lassen, wird als selbstverständlich empfunden. Religion, so scheint es, wird heute von den »Ungläubigen« nicht als Feind angesehen – aber auch nicht ernst genommen.
Der Schein trügt. In einer Diskussionsrunde, an der ich unlängst teilnahm und bei der auch das Thema »Islam und Gewalt« zur Sprache kam, meinte ein Teilnehmer, daß Moslems, die sich am Koran orientierten, niemals Kriege führen oder Gewalt anwenden könnten. Daraufhin erhob sich ein anderer Teilnehmer und zitierte mehrere Koranverse – ohne jeden weiteren Kommentar. Unter anderem diesen:
»Wahrlich in die Herzen der Ungläubigen werfe ich Schrecken. So haut ein auf ihre Hälse und haut ihnen jeden Finger ab.« (Sure 8, Vers 12)
Die Diskussionsrunde bestand durchwegs aus nicht-religiösen Personen. Die Diskussion war denn auch von der geschilderten nonchalanten Haltung der Religion, hier dem Islam, gegenüber geprägt. Als die Koranverse zitiert wurden, änderte sich die Atmosphäre jedoch mit einem Schlag. Die Gelassenheit wich einem Gefühl des Unbehagens, die sich dann in kritische bis feindselige Wortmeldungen gegen den »Koranzitierer« entlud, der schließlich als Rassist beschimpft wurde.
Offensichtlich hatte der »Koranzitierer«, im präzisen Sinne des Wortes, ein Tabu verletzt. Nicht, indem er den Islam in ein schlechtes Licht gerückt hätte – er hatte ja bloß aus dem Koran zitiert. Vielmehr hatte er den Islam zu nahe, unzulässig nahe, an uns herangerückt. Was da in offene Aggression umschlug, war jene Tabu-Angst, die Angehörige archaischer Gesellschaften befällt, wenn sie sich in der Nähe eines heiligen und zugleich gefährlichen Bezirks wähnen.
Die entspannte Haltung postmoderner »Ungläubiger« der Religion gegenüber ist Fassade. Dahinter steckt das genaue Gegenteil, nämlich Angst – Tabu-Angst. Aber kann man sich vor etwas fürchten, woran man nicht glaubt? Gott, sagt Jaques Lacan, ist nicht tot, sondern unbewußt.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Für den Psychoanalytiker und Atheisten Lacan ist Gott nichtsdestoweniger tot. »Gott ist unbewußt« ist denn auch zusammen mit einer anderen Lacan’schen Formel zu lesen: »Wenn Gott tot ist, ist alles verboten.«
Gottes Tod hat keineswegs zur Folge, daß nun – wie Dostojewskis Raskolnikow sagt – alles erlaubt wäre. Im Gegenteil. Der tote Gott lebt als Untoter in unserem Unbewußten, und reguliert mit einer Fülle von Ge- und Verboten alle unsere Lebensbereiche, von der Politik über die Sexualität bis zur Ernährung. Und knechtet uns dabei weit effektiver als es der »lebendige« je vermochte.
Dieser unbewußte Gott, der uns in das Korsett sexueller und politischer Korrektheiten zwängt, der uns gebietet, aus unseren Körpern schlanke und schöne Hochleistungsmaschinen zu machen – dieser selbe Gott verbietet es uns auch, ernsthaft – und ernsthaft ist ein anderer Name für kritisch – über Religion zu reden. In Zeiten religiöser Nonchalance erscheint uns Religionskritik, eines der Leitmotive der Aufklärung und der Moderne, überholt.
Daß es so gekommen ist, hat nicht zuletzt mit einer eigentümlichen Dialektik der Aufklärung – der Wiege der modernen Religionskritik – zu tun: Die Absage der von den Aufklärern formulierten Religionskritik an den Absolutheitsanspruch der Religion mündete nicht etwa in die Freiheit von Religion, sondern in sogenannte Religionsfreiheit.
»Niemand soll wegen seinen Anschauungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange deren Äußerung nicht die […] öffentliche Ordnung stört«, heißt es im Artikel X der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte5, verabschiedet von der französischen Nationalversammlung wenige Wochen nach dem Sturm auf die Bastille. Die Religionsfreiheit, die hier gemeint ist, ist die Freiheit des Einzelnen in religiösen Dingen, die selbstverständlich auch die Freiheit vonFreiheit des Einzelnen gegenüber der ReligionFreiheit der Religion gegenüber dem Einzelnen