Die katholischen Verbände in Deutschland
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© 2017 by Bonifatius GmbH Druck · Buch · Verlag Paderborn
ISBN 978-3-89710-713-7
eISBN 978-3-89710-744-1
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Kapitel 1:
Das leere Blatt Papier
Kapitel 2:
Entstehungsgeschichten
Katholische Kirche nach Aufklärung und Säkularisation
Der selbstbewusste Laie und seine Kirche
Die Zeitachse des Verbandswesens vor 1933
1845 – Verein vom Heiligen Karl Borromäus
Der bayerische Weg - Sankt Michaelsbund
1846 – Katholischer Gesellenverein
Verbreitung von Köln aus
Nach dem Tod Adolph Kolpings
1848 – Piusvereine und Paulskirche
1849 – Arbeitervereine und KAB
Ein Bischof für die Arbeiter
Klare Zielgruppenorientierung
1855 – Katholische Studentenvereine
Unitas-Verband (UV)
Cartellverband (CV)
Kartellverband (KV)
Akademischer Kulturkampf
1856 – Müttervereine
1877 – Katholisch Kaufmännischer Verein (KKV)
1896 – Katholische Jugend (KJMVD)
1903 – Katholischer Frauenbund
1922 – Katholische Aktion
1929 – Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG)
Katholische Verbände im Nationalsozialismus
Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg
Die 1940er-Jahre – Wiederaufbau der Verbände
1947 – Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ)
1949 – Bund Katholischer Unternehmer (BKU)
Die 50er-Jahre – Auf dem Weg zum Konzil
Das Konzil und die Zeit danach
Kapitel 3:
Selbsteinschätzung und Ziele
Die Katholische Arbeitnehmerbewegung Deutschlands (KAB)
Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung (KKV)
Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG)
Bund Katholischer Unternehmer (BKU)
Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen (CV)
Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd)
Katholischer Deutscher Frauenbund (KDFB)
Borromäusverein
Sankt Michaelsbund
Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ)
Kolpingwerk Deutschland
Kapitel 4:
Perspektivwechsel
Karl Schiewerling:
Weniger Formalkram
Karl-Josef Laumann:
Sehen, wo die Freunde sind
Ingrid Fischbach:
Mutig nach vorne gehen
Zwischenbilanz
Verbände und Kirche:
Gründungsidee ins Heute tragen
Serap Güler:
Engagement ohne Religionsschranken
Hans Hobelsberger:
Beitrag zur Sendung der Kirche
Franziskus Siepmann:
Die Frage nach dem Mehrwert
Hubert Wissing:
Neue Zielgruppen ansprechen
Das Medienkleeblatt und die Verbände
Kapitel 5:
Warum sich Menschen engagieren
Armin Klöfer:
Das Feuer weiterreichen
Elisabeth Hartmann-Kulla:
Kaffeeklatsch und Ehegewalt
Dirk Tänzler:
Gesprächspartner der Politik
Kapitel 6:
Leuchtturm oder Kerzenstummel?
Pauschalurteil verboten
Das liebe Geld
Weitergabe des Feuers
Closed-Shop-Mentalität
Umbruchzeiten sind Aufbruchzeiten
Schlussbetrachtung
Auf den Punkt gebracht
Danksagung
Fast dreißig Jahre bin ich Mitglied des Kolpingwerkes. Heute sitze ich vor einem leeren Blatt Papier. Eine Vortragsanfrage bringt mich im Mai 2016 ins Schwitzen. Ich soll etwas erzählen zur Bedeutung der katholischen Verbände und zum Kolpingwerk, der Organisation, in der ich lange Jahre als Pressesprecher wirken durfte. Was treibt mich, was treibt andere Menschen eigentlich an, sich in katholischen Verbänden zu engagieren?
Meine Gedanken gehen auf einen Rundflug durch mein Leben. Als erste Gruppierung lerne ich den KKV kennen, der zum Zeitpunkt meiner Geburt 1961 noch unter „Katholisch Kaufmännischer Verein“ firmiert. Mein Vater engagiert sich dort, ist im Vorstand und in einem aus dem KKV hervorgegangenen Kegelklub. Ich erfahre, dass Gemeinschaft immer etwas mit Geselligkeit zu tun hat. Als Messdiener lerne ich die Pfarrgemeinde als den Raum kennen, in dem man seine Erfahrungen mit Kirche machen kann. Das ist in der Umbruchzeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil oft sehr spannend. Der nächste Verband, in dem ich mich engagiere, ist der CV, der Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen. Farbe tragen, Flagge zeigen, ohne sich gleich das Gesicht zerschlagen zu müssen, das ist lange Jahre mein Ding. Später kommt Kolping dazu. Den Weg zu dem Verband, in dem ich mich die längste Zeit ehrenamtlich engagiere, gehe ich, weil meine Frau dort bereits aktiv ist. Viel später wird das katholische Portfolio ergänzt um den Bund Katholischer Unternehmer, der mir nach dem Wechsel in die Selbstständigkeit eine passende Heimat zu sein scheint, ohne die anderen Verbandsmitgliedschaften aufzugeben.
Eigentlich müsste das Blatt reichlich beschrieben sein bei all den Erfahrungen, Begegnungen, Frustrationen und Enttäuschungen, die Engagement mit sich bringt. Ist es aber nicht. Es bleibt weiß. Am Abend habe ich einen Termin in der Katholischen Akademie des Bistums Essen, der Wolfsburg. Ich berichte für „Die Tagespost“1 über eine Veranstaltung, bei der Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck und der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Prof. Thomas Sternberg, über das Papstschreiben „Amoris laetitia“ nach Abschluss der römischen Familiensynode diskutieren. An diesem Abend stolpere ich über einen Satz des Essener Oberhirten, der dazu führt, dass ich nicht nur wenige Blätter eines Vortrags vollschreibe, sondern ein ganzes Buch, in dem es um die Bedeutung der katholischen Verbände geht.
Die Worte des Bischofs gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Für mich sind sie wie ein Schlag in den Nacken: „Diese Sozialformen2 haben keine große Attraktivität mehr.“3 Ihre Themen sind allerdings weiterhin wichtig. Wie jetzt? Wichtige Themen, aber unwichtige Organisationen? „Das ist nicht mehr unsere Kultur, in der wir leben“, versetzt mir der Bischof einen weiteren Hieb in die Magengrube. Das tut weh, und man stellt sich die Frage: Ist das, was ich über Jahrzehnte gelebt habe, tatsächlich so weit weg vom Leben oder nur von der Lebenswelt eines Bischofs? Wer prägt eigentlich die ehrenamtliche Arbeit in den Pfarrgemeinden? Wo wäre ihr Bildungsangebot ohne die Verbände, wo die Pfarrfeste ohne deren Stände? Steht es einem Bischof an, solch schallende Ohrfeigen für die ehrenamtlich Engagierten in seinem Bistum und darüber hinaus zu verteilen? Oder stimmt seine Einschätzung am Ende doch, und ist mein Engagement, das mich viele Stunden im Monat kostet, nicht mehr aus dieser Welt? Aus der Zeit gefallen? „Für viele Menschen ist es nicht mehr attraktiv, sich in der derzeitig gegebenen Verbändestruktur zu vergemeinschaften“, behauptet Bischof Overbeck. Hat er schon einmal die Teilnehmerlisten der Veranstaltungen der Verbände mit den Zählungen der Gottesdienstbesucher in seinem Bistum verglichen?
Ich stehe vor einer nahezu undurchdringbaren Wand aus Fragen. Das will ich ändern, beschließe ich und will wissen: Brauchen wir die katholischen Verbände wirklich nicht mehr? Sind die Menschen, die sich dort engagieren, so eine Art Dinosaurier, die nur noch nicht gemerkt haben, dass sie schon ausgestorben sind? Sind wir Ötzis, die, wenn sie das Eis über sich freikratzen, eine Lebenswelt vorfinden, in der sie sich nicht mehr zurechtfinden? Kommen jetzt unsere Bischöfe wie Phönix aus der berühmten Asche, um die Themen zu retten, die von Menschen besetzt werden, die aus dieser schnelllebigen Zeit gefallen sind?
Irgendwie muss ich vor dem Zubettgehen an ein Wort der heiligen Hildegard von Bingen denken, die gesagt haben soll: „Nicht mit Drohworten sollst du auf deine Untergebenen einschlagen wie mit einer Keule. Mische vielmehr die Worte der Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit und salbe die Menschen mit Gottesfurcht.“ Ich schmunzle und schlafe besser ein als erwartet.
1 Katholische Tageszeitung, die im Naumann-Verlag in Würzburg erscheint
2 Der Bischof meint damit die katholischen Verbände.
3 Bericht über die Veranstaltung bei http://www.christen-rhein-ruhr.de/?p=4699
In den meisten Gegenden in Deutschland sind katholische Verbände immer noch eine Selbstverständlichkeit. Kolping, KAB, die Frauengemeinschaft oder an anderer Stelle den Frauenbund trifft man in vielen Orten und Pfarrgemeinden an. Doch wie und vor allem warum sind sie eigentlich entstanden? Seien wir ehrlich: Zur Beantwortung benötigen wir wahrscheinlich neben unserem gesunden Halbwissen einen Fifty-fifty- und einen Telefonjoker zum Rateerfolg. Wenn man über die Verbände von heute reden will, hilft zunächst ein Blick auf ihre Geschichte.
Mit unserer Zeitmaschine starten wir eine Reise in das 19. Jahrhundert. Aufklärung und Französische Revolution haben Europa verändert. Die Menschen fordern Freiheitsrechte für sich ein und wehren sich gegen feudale und absolutistische Herrschaftsformen. Das geht einher mit dem eklatanten Machtverlust der Kirche. Napoleon4 überträgt die Entwicklung, die in Frankreich bereits 1789 mit der Verstaatlichung aller Kirchengüter beginnt, auf Deutschland. So sieht sich die katholische Kirche zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur ihres weltlichen Besitzes beraubt,5 sie steht in ideologischer Konkurrenz zu dem im Bürgertum aufblühenden Liberalismus und ist gezwungen, sich neu zu organisieren und materielle Existenzgrundlagen zu finden.
Selbstbewusste, wenig obrigkeitshörige Gläubige mag die Kirche schon damals nicht besonders. Solchen Feingeistern steht die Hierarchie höchst kritisch gegenüber. Man wünscht sich die Laien eher als Objekte der Seelsorge, als eine Herde unmündiger Schafe, von der man sicher ist, dass sie „nicht nur die Führung durch ihre Hirten, sondern auch die Begleitung durch deren scharfe Hunde“6 nötig hat. Das bringt Papst Bonifaz VIII.7 in seiner Bulle8 „Clericis laicos“ im Jahre 1296 wortstark zum Ausdruck. Sein Fazit: „Die Laien sind die Feinde des Klerus.“ Bereits die Antike habe gezeigt, dass Laien im hohen Maß gegen die Geistlichkeit seien. Auch in der heutigen Zeit, so wirft der damalige Papst den „Christen ohne Kirchenamt“ vor, versuchten sie, die Grenzen zu überschreiten, handelten ohne Rücksicht und schränkten die Tätigkeiten des Klerus ein.9
Mit großer Sorge sieht man in Kirchenkreisen die in den revolutionären Konflikten der Jahre 1848/49 erkämpften politischen Mitwirkungsmöglichkeiten und bürgerlichen Freiheitsrechte. Damals entstehen die Grundlagen für die heute noch bestehende Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Aus ihnen entwickelt sich das Vereinsund Verbandswesen in Deutschland ebenso rasch wie politische Parteien und Gewerkschaften.10 Wären die gläubigen Schafe an dieser Stelle den Vorgaben ihrer Hirten gefolgt, hätte es die Entwicklung, über die wir mehr als 150 Jahre später diskutieren, nicht gegeben. Papst Gregor XVI. verdammt Errungenschaften wie die Glaubensund Gewissensfreiheit bereits 1831 als „pestillentissimus error“, als „geradezu pesthaften Irrtum“. Für das damalige päpstliche Lehramt sind Katholizismus und Freiheit schlicht inkompatibel.11 Diese Einschätzung teilen viele Katholiken in Deutschland nicht. Sie machen sich gegen die Widerstände aus der kirchlichen Hierarchie auf den Weg und gründen Vereine und Organisationen. Meist ist es die Vision einer überragenden Gründerpersönlichkeit oder der Einfluss eines besonders weitsichtigen Menschen, der die heute noch aktiven Verbände aus der Taufe hebt.
Auf unserer Zeitreise sehen wir in der Mitte des 19. Jahrhunderts Kirche und Gesellschaft nicht nur mit dem aufkommenden Liberalismus und dem entstehenden Sozialismus konfrontiert. Im Februar 1848 veröffentlichen Karl Marx und Friedrich Engels ihr Kommunistisches Manifest. Sie haben wenig mit der Kirche und deren tradierten Wertvorstellungen gemein. Deshalb diffamieren sie Glauben und Religion, die Marx in der Einleitung zu seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ als Opium des Volks bezeichnet.12
Die gesellschaftspolitische Gemengelage führt zu einem unerwarteten inneren Aufschwung der Kirche. Durch die freie Entwicklung der unterschiedlichen Vereine und Verbände profitiert sie, die den bürgerlichen Freiheitsrechten doch eigentlich so kritisch gegenübersteht. Sie ermöglichen ihr bis heute einen Brückenschlag in die Gesellschaft hinein und lassen sie soziale Gruppen erreichen, die sonst nur einen geringen oder gar keinen Bezug zu ihr haben.
Noch vor der Festlegung der Versammlungs- und Vereinsfreiheit in der Verfassung von 1848 organisieren sich erste Vereine. Ihr Ziel ist es, entgegen der Politik des preußischen Staates nach der Säkularisation etwas von dem gesellschaftlichen Einfluss zurückzugewinnen, den die katholische Kirche zuvor hatte. Einer der ersten dieser Vereine ist der „Verein vom Heiligen Karl Borromäus“. Seine Aufgabe ist das Apostolat in Presse und Literatur. In der Vereinssatzung aus dem Jahre 1845 stellt sich der Verein die Aufgabe, „dem verderblichen Einfluss, den die schlechte Literatur auf alle Klassen der bürgerlichen Gesellschaft ausübt, durch die Begünstigung und Verbreitung guter Schriften entgegenzuwirken“. Dabei geht es zunächst um die Vermittlung guter, nicht ausschließlich religiöser Literatur zum Eigenbesitz.13
Diese Idee findet in örtlichen Vereinen ihre Basis und hat von Beginn an großen Erfolg. Bereits nach einem Jahr befasst sich der Vorstand mit der Frage, wie man die Gewinne aus der Buchvermittlung einsetzt. Man entscheidet sich gegen die Idee der Gründung einer auf den ersten Blick lukrativeren Tageszeitung. Vielmehr nimmt man das Geld „zur Begründung von Vereinsbibliotheken, deren Benutzung den Mitgliedern und Teilnehmern“ zusteht.14 Auf dieser Basis breitet sich der Verein durch die Förderung von kirchlichen Büchereien bis in entlegene Landgemeinden hinein aus.15 Bereits 1870, im Jahr des Ersten Vatikanischen Konzils, gibt es 1471 Ortsvereine, die annähernd so viele lokale Bibliotheken betreiben, mit 54 000 Mitgliedern.
Mit der Gründung des Deutschen Reichs im Jahre 1871 beginnt, ganz besonders im protestantisch dominierten Preußen, eine Zeitenwende, die die Entwicklung der jungen katholischen Vereine trifft. Im „Kulturkampf“ geht es dem Staat und seinem Reichskanzler Bismarck vor allem darum, die wegen ihrer Treue zum Papst in Rom als national unzuverlässig eingeschätzte katholische Kirche in ihrer Stellung als politischer und gesellschaftlicher Machtfaktor in die Knie zu zwingen.16 Das kirchliche Leben wird immer stärker durch administrative Maßnahmen in seiner Wirkkraft beschnitten. Der „Kanzelparagraph“ § 130a des Strafgesetzbuchs untersagt den Geistlichen, in Ausübung ihres Amtes, zum Beispiel in Predigten, Stellungnahmen zu politischen Angelegenheiten abzugeben. Bei Zuwiderhandlungen droht eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren. In die gleiche Richtung gehen Gesetze, die dem Staat die uneingeschränkte Aufsicht über den gesamten Unterricht an allen Schulen zusprechen. Ein weiterer massiver Einschnitt ist das Verbot des Jesuitenordens und später weiterer Orden und Kongregationen auf dem Boden des Deutschen Reiches.17 Erst gegen Ende der 1870er-Jahre entschärft sich die Situation, sicherlich aus der Einsicht heraus, dass das katholische Deutschland durch eine derartige Bedrängnis eher gestärkt als geschwächt aus dem Kampf hervorgeht.18
Die massiven Angriffe auf das katholische Leben in den meisten Vereinen bleiben nicht folgenlos. Der Borromäusverein verliert im Kulturkampf etwa ein Drittel seiner Mitglieder und viele Ortsvereine. Katholiken ziehen sich in katholische Ghettos zurück und schotten sich von der übrigen Gesellschaft in eigenen Zirkeln ab. Das wirkt sich auch auf das literarische Programm des Borromäusvereins bis in das 20. Jahrhundert hinein aus.19 Aus dieser Zeit stammt der Hilfeschrei des Zentrumspolitikers Julius Bachem, der im Jahre 1906 die Katholiken auffordert: „Wir müssen aus dem Turm heraus!“ Hierdurch aufgerüttelt, gelingt dem Borromäusverein eine behutsame geistige Öffnung. Seine Büchereien sind nicht länger auf die Nutzung durch Vereinsmitglieder beschränkt.20 Sie behalten aber die für sie prägenden ehrenamtlichen Leitungen. Im Jahre 1928 wird das örtliche Angebot durch eine Verleihbibliothek für selten angeforderte und kostspielige Bücher ergänzt. Im Jahre 1933 hat der Borromäusverein 4,75 Millionen Bücher in seinem Bestand, die in 5333 örtlichen Büchereien ausgeliehen werden können.
Die Idee, Katholiken an werthaltige Literatur heranzuführen, ist nicht neu. Der Jesuit Emeran Welser gründet bereits im Jahre 1614 in München eine Stiftung, die an „Kauf- und Handwerksleute, Meister, Gesellen und Dienst-boten“ religiöse Bücher verteilt. Sie besteht fast 170 Jahre lang und wird später von dem „Katholischen Bücherverein für Bayern“ abgelöst. Der 1901 ins Leben gerufene „Katholische Preßverein für Bayern“ verdrängt den Bücherverein mit einer ähnlichen Ausrichtung wie der Borromäusverein. Die seelsorgerisch motivierte Initiative zielt darauf ab, „das Volk zu schützen vor den Gefahren der schlechten Presse und beizuhelfen, dass demselben eine gesunde literarische Nahrung geboten werde“.21
Neben das breite Netz von Ortsvereinen und den Aufbau katholischer Volksbüchereien treten schnell Aktivitäten zur allgemeinen Volksbildung und zur Förderung katholischer Presseerzeugnisse.22 Der Verein wendet sich „an die gesamte Bevölkerung, ohne Unterschied der Konfession und der Parteistellung“. So kann sich der Sankt Michaelsbund, der Nachfolgeverband des „Katholischen Preßvereins“, zu Recht als „ältester bayerischer Büchereiverband“ bezeichnen.
In seinen besten Zeiten ist der Preßverein an zwölf bayerischen Verlagen mit 22 Zeitungen finanziell beteiligt. Zu ihnen gehören der „Bayerische Kurier“, das „Neue Münchener Tagblatt“ und die „Münchener katholische Kirchenzeitung“. Im Jahre 1930 führt der Verein mehr als 2000 öffentliche Veranstaltungen mit Bildungscharakter durch. In seinen mehr als 1000 Büchereien bietet er 840 000 Bücher zur Ausleihe an.
Von der Idee, jungen Menschen Bildung und Heimat zu geben, ist der ehemalige Schuhmachergeselle Adolph Kolping beseelt. Ehe er diese Vision entwickelt, wird er, der als Wandergeselle bereits die Härte dieses Lebens unmittelbar kennengelernt hat, mit der dramatischen Situation der Handwerker und Industriearbeiter in der Region Wuppertal konfrontiert. Nach seiner Priesterweihe im Jahre 1845 erhält Kolping seine erste Kaplanstelle in Elberfeld, einem der aufstrebenden Wirtschaftszentren des Landes. Mit dem Wachstum der Industrie wächst auch das Proletariat. Kolping sieht die Verelendung der Handwerksgesellen, die mit dem Untergang der Zünfte und der neu geschaffenen Gewerbefreiheit einhergeht. Die Selbstständigkeit ist kaum noch ein gangbarer Weg für die Gesellen. Die kleinen Meisterbetriebe ächzen unter der Konkurrenz. Viele Handwerker zieht es wie die Tagelöhner in die Fabriken und damit ins Industrieproletariat. Die Einbindung der Gesellen in den Haushalt des Meisters nimmt ab. Sie sind darauf angewiesen, Unterkunft in Herbergen oder Wirtshäusern zu finden, eine Umgebung, die für die Entwicklung der jungen Menschen nicht förderlich ist. So werden die Handwerksgesellen durch die Unstetigkeit ihres Lebens auf der Wanderschaft und die schlechter werdenden äußeren Bedingungen zu einer Randgruppe der Gesellschaft und von den etablierten Schichten gemieden.23
Diese Situation der jungen Männer berührt den Elberfelder Hauptlehrer Johann Gregor Breuer. Er ist schockiert über ihre drastischen Erzählungen vom Leben auf der Walz24. Er entwickelt die Idee, einen Gesellenverein zu gründen. Dort will er „einheimischen und fremden Jünglingen, namentlich Handwerksgesellen in einem Alter von 18 bis 25 Jahren, durch Vortrag und passende Lektüre Belehrung, Erbauung, Fortbildung und angenehme Unterhaltung und Erheiterung verschaffen“. So entsteht im November 1846 in Elberfeld der erste Gesellenverein. Adolph Kolping wird einige Monate später 1847 Präses des Vereins. Er versteht ihn als Antwort auf die sozialen und religiösen Unsicherheiten der Zeit25 und nimmt die Idee mit nach Köln, wohin er 1849 als Domvikar versetzt wird.
Adolph Kolping erkennt die Bedeutung der neuen sozialen Frage wie seine Zeitgenossen Ketteler, Wiechern oder Bodelschwingh, viele Jahre bevor sie Papst Leo XIII. im Jahre 1891 in seiner Enzyklika „Rerum novarum“ aufgreift. Für den Sohn eines Lohnschäfers aus Kerpen ist früh klar, wohin die Auswüchse des Kapitalismus führen: „Das Verhältnis der Menschen zu den irdischen Geschäften heutzutage lässt sich kurz in folgende Formel fassen: Das Geschäft (Industrie, Handel etc.) ist nicht um der Menschen willen, sondern die Menschen sind um des Geschäftes willen da, das Geschäft um des Gewinnes willen.“26 Papst Franziskus bringt diese Analyse mehr als 150 Jahre später auf den Punkt, indem er beschreibt: „Diese Wirtschaft tötet.“ Damals ist das System darauf ausgelegt, die Personalität des Menschen, seine Individualität, zu brechen, ihn gleichsam wie eine Maschine zu behandeln, die man nach Gebrauch wegwerfen kann. „Man braucht nur die Kraft, nicht die Person“,27 kritisiert Kolping.
Er will den jungen Männern Heimat geben, die nicht allein in einer geistlichen Begleitung bestehen soll. Mit der Gründung des Kölner Gesellenvereins am 6. Mai 1849 legt der Domvikar den Grundstein für ein viel umfassenderes Werk. Mit der Gründung des Rheinischen Gesellenbundes im Oktober des Folgejahres startet die Erfolgsgeschichte der Verbreitung des Verbandes, den man heute in mehr als 60 Ländern der Erde findet.
Adolph Kolping sieht die Gesellschaft an einem ähnlichen Punkt, an dem wir sie heute oftmals wähnen. „Wir sind offenbar in der Welt da angekommen, wo der Streit sich eigentlich nur darum dreht, ob die christliche Welt mit ihrer Wahrheit, ihrem Recht und ihren Pflichten soll gültig bleiben oder ob die unchristliche Welt Meister wird.“28 Aus seiner eigenen Lebensgeschichte heraus kennt Kolping das Sprichwort: „Der Mensch ist seines Glückes eigener Schmied.“ Er will den jungen Handwerksgesellen beim „Schmieden“ behilflich sein, sie befähigen, in der Arbeit, der Familie und der Gesellschaft zu „tüchtigen“ Menschen zu reifen. Kolping hat den Menschen dabei in seiner gesamten Lebenswirklichkeit im Blick.
Zum großen Plan des Gesellenvaters gehört die Schaffung von Häusern, die er nach christlichen Grundsätzen einrichten will und die den Gesellen ordentliche Unterkunft und Pflege bieten sollen. In Köln setzt er sein Vorhaben in die Tat um und eröffnet vier Jahre nach der Gründung des Kölner Gesellenvereins das Gesellenhospitium auf der Breiten Straße in Köln.
Adolph Kolping ist kein Mensch, der nur Gutes tut, ohne darüber zu reden. Er ist neben seinem priesterlichen Wirken und seinem Engagement für den Gesellenverein einer der großen Publizisten seiner Zeit. Hierdurch gewinnt er Mittel für die Arbeit an seinem Werk. Dabei setzt er nicht nur auf Publikationen zur Information der Mitglieder, sondern wirkt weit darüber hinaus. So wird Kolping mit seinen im Jahre 1854 gegründeten „Rheinischen Volksblättern für Haus, Familie und Handwerk“ zu einem erfolgreichen Medienunternehmer. Als Adolph Kolping am 4. Dezember 1865 in der Domstadt stirbt, ist der Gesellenverein im stetigen Wachstum. 400 örtliche Vereine sind seit 1848 entstanden. Solche Erfolge gelingen damals wie heute nur durch eine offensive Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit. Kolping beherrscht das Instrumentarium, mit Wort und Schrift Menschen zu begeistern. Heute würde man ihn als begnadeten Netzwerker bezeichnen. So findet er innerhalb und außerhalb der Kirche immer wieder Unterstützer für seine Idee.
Nach dem Tod des Gesellenvaters reißt das verbandliche Leben nicht ab. Ein besonders wichtiger Aspekt für die Weiterentwicklung des Verbandes ist der Ausbau der bereits von Kolping selbst ins Leben gerufenen Selbsthilfeeinrichtungen. Schon damals ist es wichtig, einen Nutzen zu haben, der über die reine Mitgliedschaft in einem Verein hinausgeht. In Zeiten fehlender sozialer Absicherung ist es für die Menschen von großer Bedeutung, Spar- und Krankenkassen im Verein vorzufinden.
Die Krankenkasse der Kölner Gesellenvereine dient bereits 1850 dazu, jedes Mitglied, das dem Verein länger als drei Monate angehört, im Krankheitsfall zu unterstützen.29 Das geschieht wohlgemerkt mehr als ein Vierteljahrhundert, bevor Bismarck als Reichskanzler im Jahre 1883 eine staatliche Krankenkasse begründet. 1853 entsteht im Kölner Gesellenverein eine eigene Sparkasse. Adolph Kolping lässt sich dabei von der Erkenntnis leiten: „Wer als Geselle nichts hat erübrigen und zurücklegen kann, wird schwerlich als Meister es weit bringen.“30 Und so hält er die jungen Gesellen dazu an zu sparen und empfiehlt zu diesem Zweck die vereinseigene Sparkasse. Schon damals war Kolping klar: „Es [das Geld, HW] in die öffentliche Sparkasse tragen, ist ihm [dem Gesellen, HW] meist nicht der Mühe wert oder zu umständlich.“31
Das Wachstum im Verband macht zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Schaffung einer Verbandszentrale notwendig. Sie entsteht in Köln. Der Erste Weltkrieg bedeutet einen tiefen Einschnitt in die Arbeit des Gesellenvereins. Die Verbandsarbeit kommt weithin zum Erliegen. Doch katholische Verbände schöpfen gerade aus Krisen neue Energien, und nach dem Krieg wächst der Verband auch außerhalb Europas weiter.
Etwa zeitgleich mit den Gesellenvereinen entsteht mitten aus der katholischen Kirche heraus eine politische Bewegung, die zunächst das Ziel hat, Petitionen an die Frankfurter Nationalversammlung auf den Weg zu bringen. Die von dem Mainzer Domkapitular Adam Franz Lennig ins Leben gerufenen Piusvereine sollen den Abgeordneten begreiflich machen, was das katholische Volk wirklich wünscht.32 Nach ihrer Gründung im März 1848 breiten sich die Vereine rasch aus. In ihren Petitionen fordern sie religiöse Freiheit, die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat, die Abschaffung des landesherrlichen Patronats und die Autonomie und Selbstverwaltung der Kirche. Der politische Druck, den sie ausüben, ist von Erfolg gekrönt. In der Frankfurter Reichsverfassung, die allerdings nie in Kraft gesetzt wird, ist die Staatskirche abgeschafft. Jede Religionsgemeinschaft darf ihre Angelegenheiten selbstständig ordnen und verwalten. Die preußische Verfassung von 1850 übernimmt diese Vorschriften nahezu unverändert. So kann sich die katholische Kirche in Preußen bis zum Kulturkampf freier entfalten, als dies in anderen deutschen Staaten möglich ist.33
Das revolutionäre Neue bei den Piusvereinen ist wie bei vielen der in dieser Zeit entstehenden katholischen Organisationen, dass sie nicht als formalkirchliche Bruderschaften agieren, sondern die Möglichkeiten des neuen bürgerlichen Vereinsrechts nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen. Die „Piusvereine für religiöse Freiheit“ schließen sich beim Dombaufest am 15. August 1848 in Köln mit weiteren bereits bestehenden katholischen Vereinen unter dem Namen „Katholischer Verein Deutschlands“ zusammen. Die Generalversammlung dieses Vereins vom 3. Oktober bis zum 6. Oktober 1848 in Mainz gilt als der erste Katholikentag.
Es ist der Anfang einer Institution mit einem klaren Profil, wie es Professor Hubert Wolf aus Anlass des 100. Katholikentages in Leipzig erklärt: „Keine Angst vor Umbrüchen und ‚revolutionären‘ Umgestaltungen der Gesellschaft; keine Denkverbote und Tabus, sondern offen die Chancen und Gefahren selbst revolutionärer Prozesse abschätzen und sie kritisch-produktiv nutzen“, das habe die Katholikentage in ihrer Tradition ausgezeichnet. Dazu hat nach Wolfs Überzeugung auch ein Schuss Ungehorsam der Hierarchie gegenüber gehört, wenn diese sich den Zeichen der Zeit verschlossen hat.
Um ein klares Profil und um Ungehorsam gegenüber Unterdrückung geht es in der Arbeiterfrage. Sie gerät nicht nur in England früh in den Blick der Politik. Bereits 1837 hält der spätere erste Präsident des Katholikentags, Franz Joseph Ritter von Buß, im badischen Landtag seine viel beachtete „Fabrikrede“. In ihr richtet er – elf Jahre vor dem Erscheinen des Kommunistischen Manifests – den Blick auf die Bedrängnis der Arbeiter. Er fordert Hilfskassen mit Beiträgen der Arbeitgeber für Kranke und Unfallgeschädigte, die Einführung von Kündigungsfristen und eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal 14 Stunden. Buß will die Beschränkung der Kinderarbeit, eine Fabrikaufsicht und berufliche Weiterbildung für Arbeiter.
Mit der Einführung der Vereinigungsfreiheit entstehen die ersten Knappenvereine34 und katholischen Arbeitervereine. Die Vermittlung von Bildung und die Organisation von Selbsthilfe sind ihre Ziele. 1849 gründet sich der erste Arbeiterverein in Regensburg. Als Unterstützungskasse will er den Arbeitern bei finanziellen Problemen im Alltag helfen. Die ab 1860 gegründeten christlich-sozialen Vereine sind stark politisch ausgerichtet. Sie fordern gleiche soziale und gesellschaftliche Rechte für Arbeiterinnen und Arbeiter. Marx und Engels sehen die Organisationen mit Argwohn. „Diese Hunde kokettieren, wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage“, heißt es in einem Brief von Marx an seinen Weggefährten zum sozialpolitischen Engagement der „Pfaffen“. Vor allem fürchten sie wohl die Konkurrenz der christlichen Bewegung. Und das aus gutem Grund: Während 1875, im Jahr der Vereinigung von Lassalles „Allgemeinem Deutschem Arbeiterverein“ mit der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands“, dort lediglich 2 300 Mitglieder in 30 Gruppen organisiert sind, hat der christliche Gegenpart allein im Ruhrgebiet 229 Vereine und 46 000 Mitglieder.35
In dem Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler finden die Arbeitervereine eine wortstarke Leitfigur. Im