Rachel Joyce
Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie
Roman
Aus dem Englischen von Maria Andreas
FISCHER E-Books
Menschen mit Worten so zu berühren wie mit Musik, das gelang Rachel Joyce schon in ihrem ersten Beruf als Bühnenschauspielerin und später als Autorin zahlreicher Hörspiele für die BBC. Mit ihren feinfühligen Romanen bewegt sie inzwischen Millionen Leserinnen und Leser weltweit. Ihr Bestseller »Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry« wurde für den Booker-Preis nominiert, mit dem Specsavers National Book Award und dem Premio Novela Europea Casino Santiago ausgezeichnet. Rachel Joyce lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern auf dem Land in Gloucestershire. Und wenn sie zu Hause Musik hört, legt sie sich dabei am liebsten ganz allein mit ihren Kopfhörern auf den Boden.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Mister Frank hat eine besondere Gabe: Er spürt, welche Musik die Menschen brauchen, um glücklich zu werden. In Franks kleinem Plattenladen in einer vergessenen Ecke der Stadt treffen sich Nachbarn, Kunden und die anderen Ladenbesitzer der Straße. Keiner weiß, wie lange sie hier noch überleben können. Da taucht eines Tages die Frau in Grün vor Franks Schaufenster auf. Sie ist blass und schön, zerbrechlich und stark zugleich. Doch sosehr er sich auch bemüht, Frank kann einfach nicht hören, welche Musik in ihr klingt …
Ein Roman wie ein Geschenk, wie eine Reise voller Musik und mit wunderbaren Begleitern. Eine Geschichte vom Zuhören, von Freundschaft, Mut, Veränderung und Liebe.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titell»The Music Shop«bei Doubleday, London
© 2017 Rachel Joyce
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402966-5
Für Hope
Time has told me
You’re a rare, rare find
A troubled cure
For a troubled mind
Nick Drake, Time has told me
Sich zu verstecken ist eine Freude, nicht gefunden zu werden eine Katastrophe.
Donald Winnicott
Es war einmal ein Plattenladen.
Von außen sah er aus wie jeder andere Laden in jeder kleinen Seitenstraße. Über der Tür stand kein Name. Im Schaufenster war keine einzige Schallplatte dekoriert. An der Glasscheibe klebte nur ein handgeschriebenes Plakat. Hier gibt’s die Musik, die Sie brauchen!!! Jeder willkommen!! Wir verkaufen nur VINYL! Falls geschlossen, bitte anrufen: … Was dann kam, war nicht zu entziffern, denn außer ein paar weiteren fröhlichen Ausrufezeichen folgten als einzige Zahl eine Acht, die gut auch eine Drei hätte sein können, und zwei Krakel, die stark an Dreiecke erinnerten.
Drinnen war der Laden rappelvoll mit Kisten, die Kisten rappelvoll mit Platten jeder erdenklichen Art, Platten jeder Abspielgeschwindigkeit, Größe und Farbe, alles ohne Preisschild. Rechts neben der Tür stand eine alte Theke, vor der Rückwand ein Plattenspieler, eingerahmt von zwei Kabinen, die mehr nach Schlafzimmermöbeln als nach richtigen Abhörkabinen aussahen. Hinter dem Plattenspieler saß der Besitzer des Ladens, Frank, ein sanfter Bär von einem Mann, der ständig rauchte und eine Platte nach der anderen auflegte. Sein Laden war oft bis spät in die Nacht hinein geöffnet – und genauso oft bis spät in den Vormittag hinein geschlossen –, es lief Musik, bunte Lämpchen blinkten im Walzertakt, die unterschiedlichsten Leute stöberten nach Platten.
Klassik, Rock, Jazz, Blues, Heavy Metal, Punk … Nichts war tabu, solange es auf Vinyl gepresst war. Wenn jemand Frank erklärte, welchen Musikstil er mochte oder einfach, wie es ihm an diesem Tag gerade ging, dann fand Frank innerhalb von Minuten den richtigen Titel. Dafür hatte er ein Händchen. Eine Gabe. Er wusste, was die Leute brauchten, sogar wenn sie es selbst nicht wussten.
»Das hier! Hören Sie doch mal rein«, schlug er vor und strich sich die wilde braune Mähne zurück. »Ich hab so ein Gefühl, das könnte für Sie das Richtige sein …«
Es war einmal ein Plattenladen.
Frank saß wie immer rauchend hinter seinem Plattenspieler und sah aus dem Fenster. Es war mitten am Nachmittag und schon fast dunkel draußen. Der Tag war kaum ein Tag gewesen. Ein Temperatursturz hatte einen ersten Anflug von Frost gebracht, und die Unity Street glitzerte unter den Straßenlaternen. Die Luft hatte einen leichten Stich ins Blaue.
Die vier anderen Läden in der Straße hatten schon geschlossen, aber Frank hatte seine Lavalampen und den elektrischen Heizstrahler eingeschaltet. An der Theke blätterte Maud, die Tätowiererin, die Fanmagazine durch, während Pater Anthony eine Origamiblume faltete. Samstags-Kit hatte alle Emmylou-Harris-Platten eingesammelt und versuchte sie alphabetisch zu ordnen, ohne dass Frank es merkte.
»Ich hatte wieder keine Kunden«, sagte Maud sehr laut. Auch wenn Frank hinten im Laden war und sie vorne, war es akustisch nicht nötig, die Stimme zu erheben. Die Läden in der Unity Street waren nicht größer als ein kleines Wohnzimmer. »Hörst du mir überhaupt zu?«
»Klar höre ich zu.«
»Du siehst aber nicht so aus.«
Frank zog sich die Kopfhörer herunter. Lächelte. In seinem ganzen Gesicht sprangen fröhliche Lachfalten auf, und seine Augenwinkel kräuselten sich. »Siehst du? Ich höre immer zu.«
Maud machte ein Geräusch, das wie »Hömm« klang. Dann sagte sie: »Einer kam tatsächlich rein, aber der wollte kein Tattoo. Der wollte bloß wissen, wo’s zu dem neuen Einkaufszentrum geht.«
Pater Anthony erzählte, er habe in seinem Geschenkeladen einen Briefbeschwerer verkauft. Außerdem noch ein Lesezeichen aus Leder mit dem Vaterunser drauf. Er wirkte mehr als zufrieden.
»Wenn das so weitergeht«, sagte Maud, »dann muss ich im Sommer zusperren.«
»Musst du nicht, Maud. Es wird schon laufen.«
Sie führten dieses Gespräch andauernd. Maud sagte, alles ist so furchtbar, und Frank widersprach, stimmt nicht, Maud, stimmt doch gar nicht. Ihr beide seid wie ne Schallplatte mit Sprung sagte Kit dann, was vielleicht lustig gewesen wäre, hätte er es nicht jeden Abend gesagt; außerdem waren Maud und Frank kein Paar. Frank war überzeugter Single.
»Wisst ihr, wie viele Beerdigungen die Bestatter hatten?«
»Nein, Maud.«
»Zwei. Ganze zwei seit Weihnachten. Was ist bloß mit den Leuten los?«
»Vielleicht sterben sie nicht«, meinte Kit.
»Klar sterben sie. Die Leute kommen einfach nicht mehr zu uns. Die wollen bloß noch den Schrott aus der Castlegate.«
Erst letzten Monat hatte die Floristin zugemacht. Ihr leerer Laden stand am Ende der Straße wie ein fauler Zahn, und vor ein paar Nächten war das Schaufenster des Bäckers am anderen Straßenende mit Parolen vollgeschmiert worden. Frank hatte einen Eimer Seifenwasser geholt; es hatte den ganzen Vormittag gedauert, bis die Schmierereien wieder abgeschrubbt waren.
»Es hat immer Läden in der Unity Street gegeben«, sagte Pater Anthony. »Wir sind eine Gemeinschaft. Wir gehören hierher.«
Samstags-Kit lief mit einer Kiste neuer 45er-Singles durch den Laden und fegte dabei fast eine Lavalampe zu Boden. Emmylou Harris hatte er anscheinend aufgegeben. »Wir hatten heute wieder einen Ladendiebstahl«, erzählte Kit ohne viel Bezug zum Thema. »Erst hat sich der Typ aufgeregt, weil wir keine CDs verkaufen. Dann wollte er sich eine Platte ansehen und ist damit abgehauen.«
»Welche war’s denn diesmal?«
»Genesis. Invisible Touch.«
»Was hast du unternommen, Frank?«
»Ach, das Übliche«, sagte Kit.
Ja, Frank hatte reagiert wie immer. Er hatte seine alte Wildlederjacke übergeworfen und war dem jungen Mann nachgesetzt, bis er ihn an der Bushaltestelle erwischte. (Was war denn das für ein Dieb, der auf den Elfer-Bus wartete?) Unter Keuchen erklärte er, er werde die Polizei rufen, wenn der Junge nicht mit ihm in den Laden zurückkehre und bereit sei, sich in der Kabine etwas Neues anzuhören. Er könne die Genesisplatte behalten, wenn er sie so dringend brauche, aber es mache Frank ganz fertig, dass er die falsche geklaut habe – die frühen Sachen seien um Längen besser. Er könne das Album gratis haben, samt Cover, »solange du es mal mit den Hebriden versuchst. Wenn dir Genesis gefällt, wirst du Mendelssohn lieben, das kannst du mir glauben.«
»Ich wünschte, du würdest noch mal überdenken, ob du nicht doch diese neuen CDs verkaufen solltest, Frank«, sagte Pater Anthony.
»Machst du Witze?« Kit lachte. »Er würde lieber sterben als CDs verkaufen.«
Dann ging die Tür auf – dingdong –, und ein neuer Kunde trat ein. Franks Puls schlug sofort schneller.
Der ordentlich gekleidete Mann mittleren Alters kam den persischen Läufer entlang, der von der Tür durch den ganzen Laden bis zum Plattenspieler führte. Alles an diesem Mann war Mittelmaß – sein Mantel, sein Haar, sogar seine Ohren –, als wäre er gezielt dafür geschaffen worden, dass ihn keiner ein zweites Mal ansah. Mit gesenktem Kopf schlich er an der Theke zu seiner Rechten vorbei, wo Maud, Pater Anthony und Kit standen und hinter ihnen sämtliche Schallplatten in ihren Innenhüllen aus Pappe. Er ging an den alten Holzregalen zu seiner Linken vorbei, an der Tür, die zu Franks Wohnung hinaufführte, am Tisch in der Mitte und an den Plastikkisten mit Remittenden. Das Patchwork aus Plattencovern und selbstkreierten Postern, von Kit an die Wände gepinnt, würdigte er nicht einmal eines Seitenblicks. Beim Plattenspieler blieb er stehen und zog ein Taschentuch hervor.
Frank verschränkte seine mächtigen Arme und beugte sich vor. »Alles klar?«, fragte er mit seiner dröhnenden Stimme. »Was kann ich heute für Sie tun?«
»Also, die Sache ist die, ich mag nun mal nur Chopin.«
Jetzt erinnerte sich Frank. Der Mann war schon vor einigen Monaten einmal hier gewesen. Er hatte etwas gesucht, was ihn vor seiner Hochzeit beruhigen würde.
»Sie haben die Nocturnes gekauft«, sagte er.
Der Mann kaute an seinen Lippen. Er schien nicht daran gewöhnt, dass sich jemand an ihn erinnerte. »Jetzt stecke ich in neuen Schwierigkeiten. Und habe mich gefragt, ob Sie vielleicht – wieder etwas für mich heraussuchen könnten?« Er hatte beim Rasieren eine Stelle am Kinn übersehen. Die kratzige Stoppelinsel auf der Haut hatte etwas Einsames.
Frank lächelte, weil er immer lächelte, wenn ihn ein Kunde um Hilfe bat. Er stellte dieselben Fragen wie immer. Ob der Mann wisse, wonach er suche? (Ja. Chopin.) Ob er noch andere Musik gehört habe, die ihm gefalle? (Ja. Chopin.) Ob er, was er suche, vielleicht summen könne? (Nein. Er glaube nicht.)
Der Mann warf einen Blick über die Schulter, ob auch keiner zuhörte, aber die anderen beachteten ihn gar nicht. Im Lauf der Jahre hatten sie in diesem Laden schon alles erlebt. Da gab es natürlich die Stammkunden, die herkamen, um neue Platten zu kaufen, aber oft wollten die Leute mehr. Frank hatte ihnen über Krankheiten hinweggeholfen, über Trauer, über den Verlust ihres Selbstvertrauens oder ihres Jobs, aber auch Alltäglicheres zu verkraften wie die Fußballergebnisse oder das Wetter. Er kannte sich mit alledem nicht etwa besonders gut aus, brauchte aber den Menschen im Grunde nur zuzuhören. Und seine Geduld war unerschöpflich. Als Junge hatte es ihm nichts ausgemacht, stundenlang mit einem Stück Brot in der Hand dazustehen und auf einen Vogel zu hoffen.
Der Mann sah Frank immer noch an. Er wartete.
»Sie wollen, dass ich die richtige Platte für Sie finde? Welche das sein könnte, wissen Sie nicht, sind aber mit allem zufrieden, solange es Chopin ist?«
»Ja, ja«, sagte der Mann. Das traf es genau.
Was brauchte der Mann? Frank schob die Stirnfransen nach hinten – eigensinnig fluppten sie sofort wieder nach vorn –, stützte das Kinn in die Handflächen und lauschte, als durchforsche er den Äther nach einem Radiosignal. Etwas Schönes? Etwas Langsames? Völlig reglos saß er da.
Die Erleuchtung kam mit solcher Wucht, dass es Frank den Atem verschlug. Natürlich. Dieser Mann brauchte keinen Chopin. Nicht einmal ein Nocturne. Was er brauchte, war …
»Moment!« Frank war schon aufgesprungen.
Er tapste im Laden herum, zog ein Cover nach dem anderen heraus, schlüpfte an Kit vorbei und zog den Kopf ein, um einer Glühbirne auszuweichen. Er musste nur etwas Ähnliches finden wie die Musik, die er in dem Mann, der nur Chopin mochte, hatte tönen hören. Klavier, ja. Er hatte Klavierspiel herausgehört. Aber der Mann brauchte noch etwas anderes. Das sanft war und zugleich überwältigend. Wo würde Frank das finden? Bei Beethoven? Nein, das wäre zu massiv. Beethoven könnte einen solchen Mann niederstrecken. Was er brauchte, war ein Freund …
»Kann ich dir helfen, Frank?«, fragte Kit. Genau genommen fragte er: »Ka-i-elfn?«, weil er sich den Mund voller Schokokekse gestopft hatte. Kit war mit seinen achtzehn Jahren kein schlichtes Gemüt oder gar zurückgeblieben, wie manche Leute zuweilen meinten, sondern nur ein wenig tollpatschig und von einer ungestümen Begeisterungsfähigkeit. Er war in einem Vororthäuschen aufgewachsen, mit einer dementen Mutter und einem Vater, der die meiste Zeit vor dem Fernseher saß. Frank hatte Kit in den letzten Jahren liebgewonnen und kümmerte sich um ihn wie früher um seinen alten Van und den Plattenspieler seiner Mutter. Er fand heraus, dass man Kit nur wie einen jungen Terrier behandeln, ihn also regelmäßig zu Spaziergängen hinausschicken und mit einfachen Aufgaben beschäftigen musste. Die Gefahr, dass er ernsthaften Schaden anrichtete, verringerte sich dadurch erheblich.
Aber welche Musik suchte Frank genau? Was war es nur?
Frank schwebte ein Song vor, der wie ein kleines Floß ankäme und den Mann sicher nach Hause tragen würde.
Klavier. Ja. Ein paar Bläser dazu? Könnte passen. Eine Stimme? Vielleicht. Etwas Kraftvolles und Leidenschaftliches, vielschichtig und gleichzeitig so einfach, dass es sofort einleuchtete …
Das war’s. Er hatte es gefunden. Er wusste, was der Mann brauchte. Er schwenkte hinter die Theke ab und zog die richtige Platte hervor. Aber als er zum Plattenspieler zurückhastete und brummte, »Seite B, Nummer 5. Die ist es. Ja, genau die!«, da stieß der Mann einen verzweifelten Seufzer aus, der fast wie ein Schluchzer klang.
»Nein! Nein! Aretha Franklin? Wer ist denn das?«
»Oh No Not My Baby. Das ist es. Das ist der richtige Song.«
»Aber ich hab’s Ihnen doch gesagt. Ich will Chopin. Pop hilft nicht.«
»Aretha ist Soul. Gegen Aretha können Sie doch nichts haben …«
»Spirit In The Dark? Nein, auf keinen Fall. Die Platte will ich nicht. Dafür bin ich nicht hergekommen.«
Frank sah von seiner großen Höhe auf den Mann herab, der sein Taschentuch immer fester zusammendrehte. »Das ist nicht, was Sie wollen, ich weiß. Aber eins können Sie mir glauben, das ist die Musik, die Sie heute brauchen. Was haben Sie denn zu verlieren?«
Der Mann warf einen letzten Blick zur Tür hinüber. Pater Anthony zuckte anteilnehmend mit der Schulter, als wollte er sagen: Warum denn nicht? Wir alle haben das auch schon mitgemacht. »Dann legen Sie eben auf«, sagte der Mann, der nur Chopin mochte.
Kit sprang herbei und führte ihn zu einer Abhörkabine, hielt ihn nicht gerade an der Hand, geleitete ihn aber mit ausgestreckten Armen, als drohten jeden Moment ein paar Körperteile von ihm abzufallen. Aus den Lavalampen erblühte in bewegten Mustern rosa, apfelgrünes und goldenes Licht. Die Kabinen waren unvergleichlich besser als bei Woolworth – dort hatte man eher das Gefühl, man stünde unter einer Trockenhaube. Die Kopfhörer dort seien so fettig, berichtete Maud, dass man nachher duschen müsse. Nein, diese Kabinen hatte Frank selbst gemacht, aus zwei gleichen, unglaublich riesigen viktorianischen Schränken, die er auf dem Sperrmüll gefunden hatte. Er hatte die Füße abgesägt, die Kleiderstangen und Schubladen herausgenommen und kleine Löcher in die Wände gebohrt, durch die die Kabel zum Plattenspieler führten. Er hatte zwei Sesselchen aufgetrieben, klein genug, um in die Schränke zu passen, aber trotzdem bequem. Er hatte sogar das Holz poliert, bis es glänzte wie schwarzer Lack und die feine Einlegearbeit in den Türen aufschien, Vögel und Blumen aus Perlmutt. Wenn man genauer hinsah, waren die Kabinen wirklich schön.
Der Mann stieg hinein, machte einen Schlurfschritt zur Seite – es war sehr beengt hier, schließlich forderte man ihn auf, sich in ein Schlafzimmermöbel zu setzen – und nahm Platz. Frank half ihm mit den Kopfhörern und schloss die Tür.
»Alles in Ordnung da drinnen?«
»Das wird nichts«, rief der Mann nach draußen. »Ich mag nur Chopin.«
Am Plattenspieler ließ Frank die Schallplatte vorsichtig aus der Hülle gleiten und setzte die Nadel auf. Tick, tick machte sie auf ihrem Ritt durch die Rillen. Frank schaltete die Lautsprecher ein, damit die Musik auch im Laden zu hören war. Tick, tick …
Vinyl hat ein Eigenleben. Es bleibt einem nichts übrig, als zu warten.
Tick, tick. In der Kabine war es dunkel, alles wirkte gedämpft, ein Gefühl, wie wenn man sich in einem Schrank versteckt. Die Stille rauschte.
Alle hatten ihn gewarnt. Pass auf, hatten sie gesagt. Aber er wollte nicht auf sie hören. Und so machte er ihr einen Antrag und konnte sein Glück nicht fassen, als sie ja sagte – sie so schön, er solches Mittelmaß. Nach dem Hochzeitsfrühstück brachte er ihr eine Flasche Champagner hinauf in die Hochzeitssuite, und da sah er seine Frau liegen, das Kleid nach oben gestülpt. Erst konnte er den Anblick nicht recht einordnen, er musste scharf hinsehen. Ein Kleid wie klebriges Baisergebäck, aus dem vier Beine ragten, zwei mit schwarzen Socken, eines mit Strumpfband. Und dann begriff er. Das war seine frisch Angetraute mit seinem Trauzeugen. Er stellte die Champagnerflasche samt den beiden Gläsern auf dem Boden ab und schloss die Tür.
Er bekam das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Er legte Chopin auf, nahm die Pillen ein, die ihm der Arzt verschrieben hatte, aber nichts half. Er ging nicht mehr aus dem Haus, brach wegen jeder Kleinigkeit in Tränen aus, meldete sich krank.
Tick, tick …
Der Song begann. Ein näselnder Gitarrenakkord, eine Bläserfanfare, ein hingezirptes »Sweet-sweet-ba-by«, dann ein Bam-bam-bam-bam vom Schlagzeug.
Wo dachte Frank hin? Das war nicht die Musik, die er brauchte. Er wollte sich schon die Kopfhörer herunterziehen –
»When ma friends tol’ me you had someone noo«, begann die Sängerin, diese Aretha, mit klarer und ruhiger Stimme, »I didn’ believe a single word was true.« Als meine Freundinnen sagten, du hättest eine Neue, glaubte ich kein Wort.
Es war, als würde er im Dunkeln einer Fremden begegnen und zu ihr sagen: »Ich wette, Sie kommen nie drauf, was mir passiert ist!«, und die Fremde antwortete: »He, mir geht’s doch ganz genauso.«
Er dachte nicht mehr an seine Frau und seine Trübsal und hörte Aretha zu wie einer Stimme in seinem eigenen Kopf.
Sie erzählte ihre Geschichte, ungefähr so: Alle sagten, ihr Mann sei ein Fremdgeher, sogar ihre eigene Mutter. Aber Aretha wollte ihnen nicht glauben. Er war nicht wie diese anderen KERLE, die einem was VORMACHTEN. Die einem LÜGEN erzählten. »Oh-oh no not my baby!« Aretha hatte den Song ruhig begonnen, doch als sie beim Refrain anlangte, schrie sie die Worte praktisch heraus. Ihre Stimme war ein kleines Boot und die Musik ein Tsunami, aber Aretha ritt einfach auf der Wasserwalze dahin, rauf und runter. Geradezu stur, wie sie weiter an den Typen glaubte. Die Streicher, das Hüpfen der Rhythmusgitarre, ein Saxophon-Riff, Schlagzeugeinwürfe – alle sagten ihr, dass sie falschlag (»Wohhh!«, gellten die Backgroundsängerinnen wie ein antiker Chor) –, aber nein, Aretha steuerte in ihrem kleinen Boot unbeirrt weiter. Ihre Stimme dehnte die Worte in diese und in jene Richtung, schraubte sich in die Höhe und sauste in die Tiefe. Aretha wusste Bescheid. Sie wusste, wie furchtbar man sich fühlte, wenn man einen Treulosen liebte. Wie einsam.
Der Mann saß vollkommen reglos da. Und hörte zu.
Frank schüttelte eine Zigarette aus der Schachtel und heftete beim Rauchen den Blick auf die Kabinentür. Er hoffte, er hatte sich mit diesem Song nicht getäuscht. Manchmal brauchten die Leute nur zu wissen, dass sie nicht allein waren. Dann wieder ging es eher darum, sie in Kontakt zu ihren Gefühlen zu bringen, bis diese Gefühle sich erschöpften – die Leute klammern sich an Vertrautes, auch wenn es schmerzhaft ist.
»Mit Vinyl ist es so eine Sache«, hatte seine Mutter öfter gesagt, »du musst es pflegen.« Er konnte jetzt Pegs Bild aufrufen, in ihrem weißen Haus am Meer; angetan mit Turban und Kimono, spielte sie ihm eine Bach- oder Beethovenplatte vor oder was immer sie sich hatte schicken lassen. Peg erzählte Geschichten über die Schallplatten, Anekdoten, die Hörhilfen für ihn sein sollten, und sprach über die Komponisten wie über Liebhaber. Sie trug eine Riesensonnenbrille, auch wenn es regnete und sogar wenn es draußen stockdunkel war, und behängte sich mit so vielen Armreifen, dass sie beim Lachen klirrte. Die üblichen Mütterthemen interessierten sie nicht. Marmeladetoast zum Beispiel, in Dreiecke geschnitten. Ein leckerer Auflauf für ihn zum Abendessen oder Hustensirup bei Erkältung. Wenn er ihr eine Muschel oder ein Algenband zeigte, warf sie sie schnell wieder in hohem Bogen zurück ins Meer. Und wenn sie mit dem alten Rover in die Stadt fuhren, musste Frank sie an die Handbremse erinnern (Peg hatte die leidige Angewohnheit, mit dem Wagen nach vorn zu rollen). Ja, die konventionelle Mutterrolle war nicht Pegs Sache, aber wenn es um Vinyl ging, zeigte sie eine Behutsamkeit, die an Ehrfurcht grenzte. Sie konnte stundenlang über Musik reden.
Der Song wurde abgeblendet. Die Kabinentür klickte und ging auf. Da flatterten die Perlmuttvögel mit den Flügeln und erhoben sich in die Lüfte.
Der Mann, der Chopin mochte, kam nicht heraus. Er blieb in der Tür stehen, bleich wie Wachs, als wäre ihm ein wenig schlecht.
»Na?«, sagte Frank. »Wie war’s?«
»Na?« Auch Maud, Pater Anthony und Samstags-Kit warteten drüben an der Theke. Kit schwang ein Bein vor und zurück. Pater Anthony hatte sich die Brille auf den Kopf geschoben und trug sie wie eine Krone. Maud runzelte die Stirn.
Der Mann, der nur Chopin mochte, begann zu lachen. »Wow, das war der Hammer. Woher wussten Sie, dass ich Aretha brauchte? Wie haben Sie das nur gemacht, Frank?«
»Gemacht habe ich gar nichts. Ich habe Ihnen nur einen guten Song vorgespielt.«
»Hat Aretha Franklin noch mehr Platten aufgenommen?«
Jetzt war Frank mit Lachen dran. »Kann man so sagen. Sie haben Glück. Es gibt viele Platten von ihr. Sie hat wirklich gern gesungen.«
Frank spielte die ganze Platte, die A- und die B-Seite. Dabei rauchte er und tanzte auf seinem beengten Platz hinter dem Plattenspieler zur Musik, rollte die Schultern, wackelte mit den Hüften – als Maud ihn so sah, begann sogar sie zu wippen –, während Kit möglicherweise den Ententanz gab, was aber auch damit zu tun haben konnte, dass ihn seine neuen Schuhe drückten. Das war einfach Aretha in Bestform. Jeder sollte Spirit In The Dark in seiner Sammlung haben.
Danach machte Kit Tee, und Frank hörte an seinem Plattenspieler dem Mann zu, der ihm mehr von seiner Frau erzählte. Dass er sie nach der Hochzeit nicht mehr anfassen konnte. Dass sie vor einem Monat zu dem Trauzeugen gezogen war. Es erleichtere ihn, sagte der Mann, sich das Ganze mal von der Seele zu reden. Frank nickte beim Zuhören und versicherte ihm immer wieder, er könne jederzeit in den Laden kommen, wann immer ihm danach sei. »Hämmern Sie einfach an die Tür, wenn nicht geöffnet ist. Egal um welche Uhrzeit. Ich bin immer da. Sie brauchen nicht alleine rumzuhängen.«
Nichts Großartiges im Grunde und alles ziemlich naheliegend, aber der Mann lächelte, als hätte Frank ihm ein funkelnagelneues Herz geschenkt.
»Haben Sie schon mal eine solche Pleite erlebt?«, fragte er. »Waren Sie schon mal so verliebt?«
Frank lachte. »Damit bin ich durch. Mein Laden reicht mir.«
»Heutzutage geht er kaum außer Haus«, schaltete sich Pater Anthony ein.
»Könnte ich meinen Song noch mal hören, Frank?«
»Natürlich können Sie ihn noch mal hören.«
Der Mann schloss sich wieder in der Kabine ein, und Frank setzte die Nadel wieder auf die Scheibe. When ma friends tol’ me you had someone nooo… Sein Blick wanderte zum Fenster.
So leer und ruhig war es da draußen. Niemand kam, niemand ging, da waren nur das dünne blaue Licht, die Kälte. Frank konnte selbst kein Instrument spielen, er konnte keine Noten lesen, er besaß keinerlei technisch-musikalisches Können, aber wenn er vor einem Kunden saß und ihm wirklich zuhörte, vernahm er Musik. Nicht etwa eine komplette Symphonie. Nur ein paar Töne. Wenn es hoch kam, eine kleine Melodie. Und es geschah auch nicht immer, nur, wenn er sein Frank-Sein losließ und sich in einen Raum begab, der mehr in der Mitte lag. Das war schon immer so gewesen, seit er denken konnte. »Intuition«, nannte es Pater Anthony. »Esokacke«, sagte Maud dazu.
Was machte es da schon, wenn er niemand Speziellen in seinem Leben hatte? Er war glücklich allein. Frank zündete sich noch eine an.
Und dann sah er sie. Sie blickte ihm unmittelbar in die Augen.
Als Frank seinen Laden zum ersten Mal sah, brach er in ein explosives Gelächter aus, hahaha, laute, fröhliche Lachsalven. Das war vor vierzehn Jahren gewesen. 1974: Großbritannien erlebte seine erste Rezession nach dem Krieg. Die Bergarbeiter streikten, es herrschte die Dreitagewoche.
Frank war stundenlang durch die Stadt gelaufen. Er ließ sich ziellos treiben. Er war an der Kathedrale vorbeigekommen, an dem Gewirr alter Gassen ringsherum, mit den Durchgängen und dem Kopfsteinpflaster und den vielen Klimbimläden und Cafés. Er ging durch die Castlegate, die Haupteinkaufsstraße der Stadt, sah in die großen Schaufenster und betrachtete ausgiebig den Uhrturm. Als er weiterging, bemerkte er den Eingang zum Park und die Schlange vor dem Arbeitsamt; er ging in eine Spielhalle, dann bummelte er eine Reihe von Marktständen entlang und folgte mehreren Wohnstraßen in der Richtung, die zu den alten Hafenanlagen führte. In der Unity Street blieb er nur stehen, weil sie eine Sackgasse war mit einem Pub und sechs Läden auf der einen Seite und viktorianischen Reihenhäusern aus braunen Ziegeln auf der anderen. Um weiterzugehen, hätte er über die Dächer klettern müssen.
Und so hielt er inne und sah sich in dieser heruntergekommenen kleinen Straße richtig um. Am Fenster eines der Häuser hing eine italienische Fahne, aus dem Nachbarhaus wehten die Duftschwaden exotischer Gewürze. Eine Frau mit Kopftuch saß auf der Schwelle ihres Hauses und pulte Erbsen, ein paar Kinder schoben einen Einkaufswagen herum, auf einer der Fassaden stand gepinselt: Zimmer zu vermieten. Frank besah sich die Ladenreihe. Ein Bestattungsinstitut, ein polnischer Bäcker, ein Devotionalienladen, das leerstehende Haus mit dem Schild Zu verkaufen im Fenster, ein Tattoo-Studio und schließlich ein Blumenladen. Er sah im Bestattungsinstitut zwei alte Männer einer weinenden Frau Taschentücher reichen. Er sah in der Bäckerei einen Jungen auf einen Kuchen deuten. In den Glaubenssachen half ein Mann in den Fünfzigern einem jungen Mädchen bei der Auswahl eines Plastikjesus. Frank sah eine junge Frau mit bemalter Haut den Boden ihres Ladens wischen, der Vorhänge am Fenster hatte und die Aufschrift TATTOUISTA auf der Scheibe; aus dem Blumenladen trat eine alte Dame im Sari, ein Bündel Blumen im Arm, und rief »danke«, während sie die Tür schloss. Das Alltägliche, Normale des Ganzen machte einen tiefen Eindruck auf Frank. Alles schien einen Sinn und Zweck zu haben, als wäre diese bunte Mischung von Menschen schon immer hier gewesen, wie Mütter und Väter, die anderen finden halfen, was sie brauchten. Vor Franks innerem Auge nahm die Zukunft Gestalt an, so wie früher im weißen Haus aus einem Nebelmeer der ferne Horizont hervorgetreten war, verschwommen und fern, aber voller Schönheit und Hoffnung. Da begann Frank zu lachen, wie er schon Jahre nicht mehr gelacht hatte. Er suchte sofort den Makler auf.
»Natürlich braucht der Laden ein wenig Liebe, Sir«, sagte der Makler, legte sein Sandwich beiseite und suchte nach dem Schlüssel. »Sie müssen Ihre Phantasie spielen lassen …«
Ein wenig Liebe? Innen war der Laden eine Ruine. Er erstickte in Müll und stank widerlich – der Raum war eindeutig als Toilette benutzt worden. Jemand hatte etliche Dielenbretter herausgerissen und damit ein Feuer gemacht.
»Mir gefällt’s«, sagte Frank. Und er berührte die Wände, um sie zu beruhigen. »Ja. Ich zahle den vollen Preis.«
»Wirklich? Sie wollen kein eigenes Angebot abgeben?«
»Nein. Das passt für mich. Ich will nicht feilschen.«
Man schlage Frank ein hübsches Haus mit Garten vor, mit allem modernen Komfort – er hätte auf dem Absatz kehrtgemacht. Man schlage ihm vor, sich doch mal in ein anderes menschliches Wesen zu verlieben – er hätte die Flucht ergriffen. Aber das hier. Kaputt, verdreckt, missbraucht – ja, das war ganz das Seine. Er gestand dem Makler, dass er keine Erfahrung mit Renovieren hatte, aber mit einem Buch aus der Bücherei sollte die Sache doch nicht allzu schwierig sein, oder? Er gab auch zu, dass er nicht viel über Läden und Geschäftsführung wusste. Peg hatte sich immer alles liefern lassen. Er erwähnte Harrods, Fortnums und die Deutsche Grammophon.
Der Makler – dessen Frau dagegen jeden Samstag zum Supermarkt fuhr – konnte sein Glück nicht fassen. Die Immobilie stand seit einem Jahr leer, und die kleine Geschäftsstraße pfiff aus dem letzten Loch; immer wenn jemand mit den Türen knallte, stürzten gefährliche Mauerbrocken herunter. Am Ende der Straße lag ein Trümmergrundstück, wo 1941 eine Bombe eingeschlagen hatte. Als der Makler letztes Mal hier gewesen war, hatte er ein paar rauflustige Kinder herumtoben sehen, außerdem eine angebundene Ziege. Die Straße war ein einziges Chaos. Eines Tages würde ein Bauunternehmer hoffentlich so vernünftig sein, hier alles plattzumachen und einen Parkplatz anzulegen.
Doch Frank schien nichts davon zu bemerken, sondern schlug dem Makler vor, auf ein Bier ins England’s Glory zu gehen, den Pub an der Ecke. Der Makler war verblüfft über diesen bärengroßen jungen Mann mit dem wilden Haar, der schäbigen Kleidung und dem Gang, der so tapsig war, als hätte er sich noch nicht an die Größe seiner Füße gewöhnt. Er hatte eine Art Unschuld an sich, die man nicht häufig sieht. Seine Hände waren weich wie Puderquasten, er hatte offensichtlich noch keinen Tag lang schwere Arbeit verrichtet. Und wenn er über Schallplatten redete, konnte er gar nicht mehr aufhören.
Als der Makler fragte, was Frank in diesen besonderen Winkel des Landes geführt habe, antwortete Frank, sein Van sei einfach stehen geblieben. (Winkel war Maklersprache. Diese Gegend Englands hatte keine Winkel. Sie war ein einziger Schandfleck. Die Hauptindustrie hier war die Lebensmittelverarbeitung. Wenn der Wind aus der falschen Richtung wehte, roch es in der ganzen Stadt nach Käse und Zwiebeln.)
Doch der Makler war nicht der Einzige, der sich hinter einer blumigen Ausdrucksweise verbarg. Auch Frank hätte präziser Auskunft geben können. Er hätte sagen können, dass sein Van schon die letzten zwanzig Meilen nicht mehr richtig gelaufen war. Und er hätte auch erwähnen können, dass sein Leben nach Pegs Tod einen Totalschaden genommen hatte; er besaß nicht einmal mehr das weiße Haus am Meer. In letzter Zeit war er immer auf Achse gewesen, hatte im Freien geschlafen und gewartet, dass sich eine Lösung auftat. Und hier war sie. Wenn er ohne die Komplikationen von Liebe und Bindungen einen kleinen Laden in einer Sackgasse führen könnte, wenn er alles daransetzen könnte, ganz gewöhnlichen Leuten behilflich zu sein, und es glücklich vermied, dafür etwas zurückzubekommen – wenn er das hinkriegte, dann könnte er sich wohl gerade über Wasser halten. Er verkaufte seinen Van zum Schrottpreis und unterschrieb noch am selben Nachmittag den Kaufvertrag. Er wartete nicht einmal ein Gutachten ab.
»Dann willst du also einen Musikladen aufmachen?«, hatte Maud bei ihrer ersten Begegnung gefragt, eine kleine, stämmige junge Frau mit Irokesenschnitt, den sie je nach Stimmung färbte – meist in sehr dunklen Farben, die in der Natur nicht vorkommen. Ihre Haut war ein einziges tintenblaues Geflecht aus Herzen und Blumen.
Frank sah vom Randstein hoch, wo er mit Block und Bleistift in der Sonne saß. Er malte Smileys.
»Ja«, sagte er. »Ich werde den Leuten helfen, die richtige Musik zu finden.«
»Und was ist mit Woolworth?«
»Was soll mit Woolworth sein?«
»Da ist einer auf der Castlegate. Zehn Minuten zu Fuß von hier.«
»Oh«, sagte Frank. »Ich habe mich schon gefragt, wo ich die Chart-Singles herbekomme.« Er wandte sich wieder seinem Block zu.
»Soll das heißen, du hast noch gar keinen Bestand?«
»Bestand?«
Sie verdrehte die Augen. »Kassetten und so ’n Zeug?«
»Ich habe in meinem Van meine ganzen alten Platten hergebracht. Aber Kassetten werde ich nicht verkaufen. Die haben für mich keinen Reiz. Ich verkaufe nur Vinyl.«
»Und was ist mit den Leuten, die Kassetten kaufen wollen?«
Er lächelte. Zu seiner Verwirrung verfärbte sich Maud glutrot, als hätte er sie gerade mit einem Gasbrenner attackiert. »Die können ja zu Woolworth gehen.«
»Die alte Frau, der dein Laden vorher gehört hat, verkaufte Kurzwaren. Niemand kam. Zum Schluss war sie nicht mehr ganz richtig im Kopf und musste ins Heim.«
Frank speicherte innerlich ab, dass er sich lieber nicht an Maud wenden sollte, wenn er mal eine kleine Aufmunterung brauchte.
Er begann sofort mit Renovieren. An einem einzigen Vormittag schleppte er eine Waschmaschine, eine Autobatterie, einen Rasenmäher und ein eisernes Kinderbettgestell ins Freie. Er riss Efeu heraus, fegte die Böden, stemmte Fenster auf. Jetzt, wo der Laden leer war, zeigte er plötzlich großes Potential. Er wirkte innen sehr viel größer, als man draußen vermutet hätte. Rechts von der Tür könnte eine Theke stehen, hinten ein Plattenspieler. Sogar zwei Abhörkabinen würden Platz finden. Frank kaufte eine Tasche voller Werkzeug und machte sich an die Arbeit.
Er mochte als einsamer Einzelgänger erscheinen, fiel aber dadurch in der Unity Street nicht sonderlich auf, hier waren viele Menschen einmal einsam gewesen. Und kaum ein Tag verging, an dem nicht jemand den Kopf durch die Tür steckte – tatsächlich durch die Tür, denn sie war noch nicht verglast – und Frank die Arbeit aus den Händen nahm. Als Bezahlung suchte Frank seinen Helfern Schallplatten heraus. Die Ladenbesitzer, die er so aufmerksam beobachtet hatte, nahmen ihn unter ihre Fittiche. Er erfuhr mehr über den Expriester, der aus persönlichen Gründen in Frührente gegangen war und sich jetzt schon zum Frühstücksmüsli den ersten Drink eingoss. Er erfuhr mehr über die alten Zwillingsbrüder, die das Bestattungsinstitut nun in der fünften Generation weiterführten und sich manchmal wie Kinder an der Hand hielten. Er hörte sich die Geschichte des polnischen Bäckers an, und wenn die Tätowiererin ein finsteres Gesicht zog, erkannte Frank allmählich, dass sich dahinter manchmal ein Lächeln verbarg.
Im Laden wurden kaputte Dielenbretter ausgetauscht. Wände neu verputzt. Rohre repariert, Dachziegel eingepasst, Fenster ebenso. Die Holztreppe hinauf in die Wohnung wurde stabilisiert und die sanitären Anlagen erneuert. Als Frank das Geld ausging, ersuchte er bei der Bank um ein Darlehen.
»Kriegst du nie«, sagte Maud.
Wie sich herausstellte, hatte die Frau des Filialleiters gerade ein Baby bekommen. Die Arme hatte seit Wochen nicht geschlafen. Er habe keine Ahnung, wie er seiner Frau helfen könne, gestand der Filialleiter; er habe alles versucht. Frank beugte sich vor – der Stuhl war eher klein, fast ein Kinderstühlchen – und hörte zu, das Kinn in der Hand. Er hatte das Darlehen völlig vergessen. Hörte einfach zu. Ganz am Ende des Gesprächs las der Filialleiter Franks Formulare durch und sagte, die Bank werde das Darlehen nie bewilligen, weil er keine Erfahrung im Einzelhandel habe. »Sie sind sicher tüchtig, das sieht man Ihnen an«, sagte er. »Aber bei einer so hohen Inflation können wir kein Risiko eingehen.« Sorgen mache nicht nur die Rezession, sondern auch der Kalte Krieg. Alle erwarteten ernsthaft, dass sie eines Morgens aufwachen und vor dem Coop sowjetische Panzer geparkt finden würden.
Frank kehrte am nächsten Tag mit zwei Schallplatten zur Bank zurück – mit Waltz for Debby von Bill Evans und mit den Gesängen der Hildegard von Bingen, dazu einer Notiz, welche Nummern die Frau des Filialleiters abspielen sollte. Er hatte auch ein Wiegenlied herausgesucht. (»Ihre Frau braucht sich den Song nicht anzuhören«, hatte er hingekritzelt. »Er ist nur für das Baby.«) Keine naheliegende Wahl, keines der klassischen Wiegenlieder, sondern Wild Thing von den Troggs.
Aber es funktionierte. Der Filialleiter schrieb Frank einen Brief (blitzsauber getippt). Seine Frau hatte durchgeschlafen. Und sobald der Kleine sein Wiegenlied hörte, fiel er wie in Trance, als hätte zum ersten Mal jemand das Tier in ihm erkannt und einen sicheren Ort dafür geschaffen. Der Filialleiter fügte hinzu, es sei ihm ein Vergnügen, das Darlehen in voller Höhe zur Verfügung zu stellen. Die nötigen Formulare lägen bei – er habe sich erlaubt, sie für Frank auszufüllen. Er schloss den Brief mit den besten Wünschen für die Zukunft und unterschrieb mit seinem Vornamen, »Henry«. Von diesem Tag an waren sie gute Freunde.
Schlichte Holzregale wurden gezimmert. Frank kaufte einen richtigen Plattenspieler und ein Paar JBL-Lautsprecher. In den Anfangstagen bestückte Frank seinen Laden ausschließlich mit seinen eigenen LPs und Singles. Er ordnete sie mit großer Sorgfalt in Kisten. Und weil er sie liebte und alles über sie wusste, ordnete er sie nicht nach Genre oder in alphabetischer Reihenfolge, sondern eher aus einem Bauchgefühl heraus. Zum Beispiel stellte er Bachs Brandenburgische Konzerte neben Pet Sounds von den Beach Boys und Miles Davis’ Bitches Brew. (»Gleiche Sache, andere Zeit«, sagte er.) Für Frank glich die Musik einem Garten, denn sie streute ihre Samen über weite Entfernungen. Den Leuten würde so viel Wunderbares entgehen, wenn sie nur bei dem blieben, was sie schon kannten.
Zwei Jahre lang ließ sich bei Frank kein Plattenvertreter blicken. Das sehe doch mehr nach Schuppen aus als nach Laden, sagte einer von ihnen. Auf der Castlegate gab es den großen Woolworth, und weniger als zehn Meilen entfernt hatte ein neuer Billigladen aufgemacht, Our Price Records. Aber als 1977 Never Mind The Bollocks herauskam, war Frank in einem Umkreis von zwanzig Meilen der Einzige, der das Album nehmen wollte. Er war in zwei Tagen ausverkauft. Er musste Mauds Cortina leihen und nach London fahren, um einen kompletten Neubestand zu kaufen. Er füllte seinen Laden mit kleinen Independent-Labels, von denen er nie zuvor gehört hatte. Cherry Records, Good Vibrations, Object Music, Factory, Postcard, Rough Trade, Beggars Banquet, 4 AD. In den frühen achtziger Jahren kam täglich ein Vertreter vorbei. Sie packten Werbe-T-Shirts, Poster, Eintrittskarten aus. Sogar Gratisware; zehn Platten zum Preis von einer. Auch wenn Frank sich weigerte, Kassetten anzubieten, war sein Plattenladen bald stadtbekannt und damit auch die Unity Street. An den Samstagen war bei Frank so viel los, dass er eine Anzeige aufgab und nach einer Aushilfe suchte. Kit war der einzige Bewerber mit einem handgeschriebenen Lebenslauf, in dem er alle Vereine auflistete, denen er beigetreten war – die Wölflinge, die Pfadfinder und Seepfadfinder, die Johanniter-Jugend, die Philatelie-Gesellschaft und den Diana-Ross-Fanclub. Offensichtlich versuchte er krampfhaft, möglichst wenig Zeit zu Hause zu verbringen.
Seit die CD auf dem Vormarsch war, kamen einige Kunden und Vertreter nicht mehr in Franks Laden. Sie fanden Frank vorgestrig. Starrköpfig. Aber alle anderen fanden ihn auch cool, da waren sie sich einig. Wenn ein Mann sich leidenschaftlich für etwas so Verrücktes wie Vinyl einsetzt, erscheinen daneben andere Probleme im Leben der Menschen banaler. Und wie Frank oft betonte, konnten Kunden, die Kassetten oder die neuen CDs wollten, ja zu Woolworth und Our Price gehen, die hatten das Zeug stapelweise.
Wie konnte sich nur jemand für glänzende Plastikscheiben begeistern? CDs würden nicht überleben, das war doch nur Schnickschnack, genau wie Kassetten. »Ist mir egal, was die anderen sagen. Die Zukunft liegt im Vinyl«, erklärte er.
Sie stand draußen. Eine Frau im grünen Mantel. Später hätte er schwören können, dass sie versucht hatte, ihm etwas mitzuteilen, dass schon damals ein besonderer Schimmer in ihren Augen lag, aber das gehörte wohl zu den Details, die einem erst im Nachhinein auffallen. Um sich auf die nüchternen Fakten zu beschränken: Sie stand da, das bleiche Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt, die Hände an den Kopf gelegt wie kleine Seitenklappen, und im nächsten Moment – rums – war sie wie vom Gehweg verschluckt. War einfach weg.
»Habt ihr das gesehen?«, rief Pater Anthony. Dann versagte ihm die Stimme.
Frank sprang mit ein paar Sätzen zur Tür und riss sie auf, Kit, Maud und der alte Priester drängten hinterher. Die Frau lag mit dem Rücken auf dem Gehweg, umflossen vom Licht, das aus dem Plattenladen fiel. Sie lag reglos und kerzengerade. Ihre Hände ruhten flach neben ihr – sie trug Handschuhe –, und ihre Schuhspitzen zeigten senkrecht in die Höhe. Frank hatte sie noch nie gesehen.
»Wie kann das zugegangen sein?«, fragte Pater Anthony.
»O mein Gott! Ist sie tot?«, fragte Kit.
Ohne zu wissen, wie, kniete Frank auch schon an ihrer Seite, doch als er auf dem Boden kauerte, wünschte er sich in die Senkrechte zurück. Die Augen der Frau waren geschlossen, von Blut keine Spur. Sie hatte ein kleines, fein ziseliertes Gesicht – Mund und Nase erschienen fast ein wenig groß –, grazile Augenbrauen, ein kleines Kinn, das durch die sehr breiten Wangenknochen noch kleiner wirkte, einen Hals so lang wie ein Blütenstängel und so viele Sommersprossen um die Nase herum, als hätte jemand eine Zahnbürste in Farbe getaucht und sie zum Spaß damit bespritzt. Sie wirkte zerbrechlich und zugleich unglaublich stark.
Pater Anthony knöpfte seine Strickjacke auf und deckte sie über die Frau. Dann machte sich Kits Ausbildung bei der Johanniter-Jugend bemerkbar; auch er sprang nach vorn, um Erste Hilfe zu leisten. Das Wichtigste bei einem Notfall sei es, sagte er, die Situation so rasch wie möglich und ohne Panik einzuschätzen und den Patienten zu beruhigen. Wenn die Frau medizinischen Beistand benötige, werde er sein Bestes tun, auch wenn er nicht leugnen könne, dass er über das Bandagieren eines Tischbeins noch nicht hinausgekommen sei.
»Ihr Puls, Frank«, flüsterte Pater Anthony. »Taste nach ihrem Puls.«
Frank schob seine Fingerspitzen unter ihren Mantelkragen. Ihre Haut war so weich, dass er das Gefühl hatte, er berühre etwas, das er nicht berühren sollte.
»Atmet sie?«, fragte Kit. Eindeutig panisch.
»Keine Ahnung.«
Mit seinen vierzig Jahren hatte Frank bisher nur eine Tote gesehen, und das war seine Mutter gewesen. Diese Reglosigkeit hier wirkte nicht endgültig; die Frau machte mehr den Eindruck, als hätte sie sich in eine Warteschleife begeben. Sie war wohl Ende zwanzig. Wenn es hoch kam, dreißig.
Inzwischen waren einige Leute aus den Häusern gegenüber herbeigeeilt. Einer sagte, man solle Decken holen, ein anderer, man solle sie ins Warme bringen, eine Dritte, man solle sie ja nicht bewegen, falls sie sich den Hals gebrochen hatte. Dann forderte ein Mann mit lauter Stimme, man müsse unbedingt die Sanitäter rufen. Das Chaos stand in seltsamem Gegensatz zu der absoluten Stille, die Frank und diese Frau wie ein hauchdünner Faden zu umspinnen schien, die die beiden zueinanderzog und von allem anderen trennte. Der Rest der Welt war in den Hintergrund getreten, bedeutungslos, zu Wasser zerronnen, fern.
»Hallo«, sagte Frank. »Können Sie mich hören? Hallo?«
Da flackerte in ihrem Gesicht Leben auf. Langsam hoben sich ihre Lider. Die Begegnung mit ihren Augen war ein Schock. Sie waren erstaunlich groß. Und schwarz wie Vinyl.
»Sie lebt!«, rief jemand. Und ein anderer: »Sie hat die Augen aufgemacht!« Alle klangen immer noch Meilen entfernt.
Sie fixierte Frank mit ihren großen schwarzen Augen. Sie lächelte nicht, sondern starrte ihn einfach an, als blicke sie bis tief in sein Herz hinein. Dann machte sie die Augen wieder zu.
Pater Anthony beugte sich näher heran. »Red weiter mit ihr.«
Frank sollte weiterreden? Was konnte er denn sagen? Er war an Leute gewöhnt, die vor seinem Plattenspieler standen, ein wenig nervös, ein wenig gewöhnlich, jedenfalls nicht auf dem Gehweg hingestreckt, zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit. »Sie müssen wach bleiben. Sie müssen mir zuhören, ja?«
Er spürte jetzt die Kälte. Er zitterte, obwohl er seine Jacke anhatte.
»Bleiben Sie wach«, sagte er. »Ich bin hier bei Ihnen.« Er fand, er klang ziemlich nach jemandem, der wusste, was er sagte, deshalb wiederholte er es gleich noch einmal, in einer leicht verlängerten LP-Version. »Sie müssen wach bleiben und mir zuhören, denn ich bin hier bei Ihnen. Alles wird gut.« Sie reagierte nicht.
»Wir sollten sie hineintragen«, sagte Pater Anthony.
Frank beugte sich tiefer hinunter. Er versuchte, die Frau ohne Intimitäten wie eine Berührung hochzuheben. Als er sie zum Sitzen hochzog, fiel ihr Kopf gegen seine Lippen, und ihm stieg der Moschusduft ihres Haars in die Nase. Hier kniete er, eine schlafende oder womöglich bewusstlose Frau in den Armen – aber keine sterbende, da war er fast sicher –, umringt von einer Menschenmenge, die ihn bedrängte, er solle aufstehen, bleiben, wo er war, auf die Sanitäter warten, die Frau hineinschaffen.
»Soll ich helfen?«, fragte Kit und blies die Frau an, um sie zu wärmen. Pust, pust, pust.
»Bitte lass das«, sagte Frank.
Zu seiner Erleichterung ging Pater Anthony auf der anderen Seite der Frau in die Knie. Offenbar hatte er schon Erfahrung mit solchen Situationen. Er flüsterte: »Jetzt?«, und als die beiden Männer aufstanden, schien Pater Anthony das ganze Gewicht der Frau zu tragen.
»Jetzt übernimm du sie«, sagte Pater Anthony.
»Ich?«
»Schau nicht so entsetzt. Ich bleibe direkt neben dir.«