Das christliche Abendland
in Zeiten des Umbruchs
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ISBN 978-3-89710-711-3
eISBN 978-3-89710-742-7
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„Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“1
Theodor Heuss
Bundespräsident 1949-1959
1http://www.zeit.de/1963/51/zurueck-zu-mass-und-wuerde (10.09.2016)
Hinführende Überlegungen
Perspektivenwechsel
Eine Momentaufnahme
Der Europäer aus Galiläa
Solidarität und Barmherzigkeit
Krieg und Barmherzigkeit
Gibt es eine Obergrenze für Nächstenliebe?
Al Fatiha – die Eröffnung
Biblische Überlegungen
Die Siebentagewoche
Abraham bei den Eichen von Mamre
Wenn Fremde zu Freunden werden
Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen
Menschenwürde
Die Bibel als Flüchtlingsbuch
Was will Gott uns damit sagen?
Aufklärung
Die Hoffnung ist stärker als die Angst
Willkommen in der Wirklichkeit
Glaube und Vernunft
Von Katastrophen, Krisen und anderen Hoffnungsträgern
Ein mystischer Zugang zu den Zufluchtsuchenden
Wunden als Mutmacher
Kreuze in Schulen, Gerichten, Krankenzimmern
Ideen für gelingende Geflüchtetenarbeit
Gedanken aus der Sackgasse
Laizität des Staates
Integration der Zufluchtsuchenden
Zeitensprünge
Religion und Staat
Kriege als Niederlage für die Menschheit
Religion, Gewalt und Krieg
Kriege „rentieren“ sich
Genozid an den Christen
Syrien, der Ur-Ort und die Schaltzentrale der Christenheit
Religionsfreiheit
Abschließende Überlegungen
Gebet für eine/-n Schutzsuchende/-n
Ein franziskanischer Ansatz
Martin von Tours – eine Zentralfigur europäischer Kultur
Bonifatius – der angelsächsische Apostel der Deutschen
Jerusalem, verorteter Traum
Wenn eine Million Geflüchtete im Jahre 2015 die Bundesrepublik Deutschland unter oft widrigsten Umständen aufsuchen und wenn sich eine Mehrzahl von ihnen zum islamischen Glauben bekennt, wenn Selbstmordattentäter des IS in London, Paris, Brüssel und anderswo Bomben zünden und Hunderte Menschen mit in den Tod reißen, wenn unzählige Christen, Jesiden, renitente Sunniten und Schiiten im Vorderen Orient um ihre Heimat und um ihr nacktes Leben fürchten müssen, dann ist die Frage natürlich berechtigt: Wie geht es weiter mit unserem Kontinent? Welche Zukunft hat Europa? Werden wir von den flüchtenden Asylbewerbern überrannt? Wird die Scharia in Europa eingeführt? Wie wird ein konstruktives Zusammenleben mit den islamischen Neuankömmlingen möglich sein? Wird der europäische Kontinent seine christliche Prägung allmählich verlieren?
In diesem Dschungel von Fragen und Meinungen ist es sehr schwierig, allgemein gültige Antworten auf all die begründeten und auch nicht begründeten Ängste zu finden. Es geht u.a. vor allem darum, sich auf einen Perspektivenwechsel einzulassen.
Angst kann Menschenleben vor Gefahren schützen, kann den Menschen aber auch ganz schön einengen und benebeln und die Wirklichkeit verzerren. Vielleicht ist gerade jetzt Entzerrung und Aufwachen in der Wirklichkeit gefragt? Und die Wirklichkeit ist immer viel größer als das, was wir sehen und wahrnehmen. Martin Luther sagte einmal: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“2 Ohne die drohenden Herausforderungen und Gefahren zu verharmlosen, könnte vielleicht diese hoffnungsvolle Einstellung ein Schritt hin zum angesprochenen Paradigmenwechsel sein?
Europa braucht jetzt neben (sicherheitspolitischer) Umsicht vor allem ganz viel Hoffnung. Es kann gar nicht anders sein, als sich zuversichtlich seiner eigenen Wurzel zu vergewissern und rigoros nach vorn zu schauen, auch dann, wenn sich der Himmel über dem Abendland im Rauch der islamistisch gezündeten Bomben zu verdunkeln droht.
Es lohnt, sich auf diesen (Denk-)Prozess und Perspektivenwechsel einzulassen, alles andere wäre regressiv und brächte uns nicht wirklich weiter, es zementierte starr gewordene Meinungen, die uns am Leben hinderten und der Jugend die Zukunft im alt und müde gewordenen Europa gehörig verbauten.
Ihr, die ihr kommt
Ihr, die ihr kommt aus anderen Welten
zu Fuß, gekarrt, geschunden übers Meer
euch gilt das Lebensglück so selten
die Flucht, die Angst belasten euch so schwer
Schutz sucht ihr hier im Abendlande
befreit von Krieg, von Hunger und vom Tod
hier unter uns und nicht am Rande
steht auf, packt an und wendet eure Not
Ihr seid die Zukunft alter Erde
mit euch beginnt, gelingt die neue Zeit
still hallt der Ruf von Gott: Es werde
es sei viel Mut und Hoffnung weit und breit
Christian Kuster, im April 2016
2http://www.bk-luebeck.eu/zitate-luther.html (28.12.2015)
Die Angst im Volk ist groß, und Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) sorgt dafür, dass es auch so bleibt: Die „Flüchtlinge“3 bringen angeblich Krankheiten und Sprengstoff ins Land, sie sind fahnenflüchtig, faul und nützen den Staat aus, sie nehmen den Europäern die Arbeitsplätze weg, sie vergewaltigen oder belästigen weiße junge Frauen, weil sie mit einem anderen Frauenbild zu uns kommen, sie machen Müll, sie zerstören ihre Lager, sie sind undankbar für das Essen, das man ihnen gibt, sie randalieren in Sammelunterkünften, sie überrennen uns mit ihrem Brutalo-Islam, sie bilden eine uferlose Steuerlast für die arbeitenden Bürger, sie werden den Einheimischen gegenüber in Wohnungs- und Bildungsangelegenheiten bevorzugt, die Flüchtlinge haben noch nichts einbezahlt und nehmen schon Sozialhilfe in Anspruch …, heißt es mancherorts. Manches trifft vielleicht den einen oder anderen Einzelfall, aber man kann damit auch Angst verbreiten und die Stimmung im Lande aufheizen. Die Alternative für Deutschland „profitiert“ von der Flüchtlingsdebatte und greift das wachsende Unbehagen im Volk auf, gibt ihm eine Stimme und wächst allmählich zu einer unübersehbaren politischen Größe in Deutschland heran.
Mit Schwarz-Weiß-Argumenten steigt der Unmut gegen Angela Merkel, die diese Völkerwanderung unterstützt und bislang vergebens auf gute europäische Unterstützung in der Flüchtlingsaufnahmeverteilung wartet. Das Misstrauen in die Regierung, die handlungsunfähig und ohnmächtig den Einwanderungsstrom nicht mehr unter Kontrolle zu haben scheint, wächst. Doch Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber, und wozu sie führen kann, zeigen unzählige Beispiele von grausamen Verfolgungen „Andersartiger“ in der Geschichte der Menschheit auf allen Kontinenten dieser Erde. Auf die Frage nach der Angst der Deutschen vor den muslimischen Flüchtenden antwortete Angela Merkel: „Wenn ich was vermisse, dann ist es nicht, dass ich irgendjemandem vorwerfe, dass er sich zu seinem muslimischen Glauben bekennt, sondern dann haben wir doch auch den Mut zu sagen, dass wir Christen sind, haben wir doch den Mut zu sagen, dass wir da in einen Dialog eintreten, haben wir dann aber doch bitte schön auch die Tradition, mal wieder in einen Gottesdienst zu gehen oder ein bisschen bibelfest zu sein und vielleicht auch ein Bild in der Kirche noch erklären zu können. Und wenn Sie mal Aufsätze in Deutschland schreiben lassen, was Pfingsten bedeutet, da würde ich mal sagen, ist es mit der Kenntnis über das christliche Abendland nicht so weit her. Und sich dann anschließend zu beklagen, dass Muslime sich im Koran besser auskennen, das finde ich irgendwie komisch. Und vielleicht kann uns diese Debatte auch mal wieder dazu führen, dass wir uns mit unseren eigenen Wurzeln befassen und ein bisschen mehr Kenntnis darüber haben …“4 Angela Merkel hat erfasst, was der deutsche Philosoph und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk folgendermaßen ausspricht: „Wir leben im ersten heidnischen Jahrhundert nach Christus.“5Was wir jetzt – in Zeiten des Umbruchs – mehr denn je brauchen, ist ein gut begründeter Standpunkt. Der griechische Philosoph Archimedes behauptete: „Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.“6 Dieser archimedische Punkt könnte eben der auf dem Hügel Golgatha gründende christliche Glaube sein. Wer weiß, woher er kommt und wer er ist, weiß auch, wohin er geht, so ein Mensch kann sich auch zu den – oft so abstrusen – Ereignissen der Welt äußern, er hebt förmlich die Welt aus den Angeln. Nur wer „ich“ sagen kann, kann auch „du“ sagen, nur wer weiß, wer er wirklich ist, hat Bestand. „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ (Jes 7,9), hat es der Prophet Jesaja schon um das Jahr 740 v. Chr. gesagt. Damals war Israel von den Assyrern, Moabitern, Syrern und Ägyptern bedroht. Wenn jedoch dieser Halt des Glaubens und des damit einhergehenden Ethos fehlt, dann fällt es schwer, Stellung zu beziehen, dann werden Menschen anfällig für beliebige Meinungen, dann sind sie (politisch) manipulierbar und können sich nur schwer ein einigermaßen objektives Urteil bilden. Im weisheitlichen Psalm 1 heißt es: „Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt, nicht auf dem Weg der Sünder geht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern Freude hat an der Weisung des Herrn, darüber nachsinnt bei Tag und bei Nacht. Er ist wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, wird ihm gut gelingen.“
Viele Menschen im christlichen Abendland können diesem Glaubensimpuls nicht folgen, sie haben den genannten Punkt, der die entrückte Welt wieder zu ordnen vermag, aus den Augen verloren, sie leben in anderen, säkularen Welten. Johannes Röser (geb. 1956), Chefredakteur der katholischen Wochenzeitung „Christ in der Gegenwart“, beklagt, dass das Christentum in Europa geistig erlahmt sei und dass sich der Abbruch des Christlichen auf allen Ebenen rasant fortsetze. Deshalb sei es auch schwierig, einen ernsthaften Dialog mit (eingewanderten) Muslimen zu führen, die an ihrer Tradition festhielten. Kein Einziger von ihnen komme nach Röser aus einem bislang ernsthaft demokratisch-rechtsstaatlichen Land. Das brauche eben fundierte Inkulturation, die mit einem Sprachkurs, einem bezahlbaren Wohnraum und finanzieller Unterstützung allein nicht getan sei.7
Die Welt erscheint in einem Zustand permanenter Unruhe und gleicht einem immerwährenden Krisenmodus. Noch vor zwei Jahrzehnten wähnte sich der Westen im großen Wachstumswahn und gefiel sich im – vom Islamwissenschaftler Michael Lüders (geb. 1959) beschriebenen – Gedanken der New Economy: „Wachstum und Wohlstand durch technische Innovation … Die neue Unübersichtlichkeit hat ihre Wurzeln in der Multipolarität, der Vielzahl an gegebenen oder entstehenden Machtzentren.“8 Lüders meint damit u.a. Nationen, Staatenbündnisse, globale Unternehmen wie Google oder Amazon, Geheimdienste, politische Akteure, globale Kriminalitäts- oder Terrornetzwerke, Nichtregierungsorganisationen … Sie ringen um Macht- und Einfluss, ihre Verbundenheit kann zur Gegnerschaft werden und umgekehrt.
Die momentane Lage in Deutschland und im Abendland, wo in nahezu allen Ländern die Rechtspopulisten im Vormarsch sind, ist ernst, sie ist durchaus kritisch, aber sie ist ganz und gar nicht hoffnungslos. Ich bin davon überzeugt, dass es Mystiker, Poeten und Künstler in allen Nationen und Religionen gibt, die den echten, fruchtbaren Dialog vorantreiben und die dafür sorgen, dass alles, was wir im Okzident an Gutem – wenn auch bruchstückhaft – beginnen, letztlich auch immer wieder gelingen wird. Es ist des Menschen Sehnsucht, frei zu leben unter dem blauen Himmel voller Sterne, wie es der türkisch-deutsche Schriftsteller Hıdır Eren Çelik (geb. 1960 in Tunceli/Türkei) poetisch festhält:
Mein ICH wird dein SEIN werden
Mein ICH wird Dein SEIN werden,
denn wir atmen die gleiche Luft der Erde,
träumen unter dem blauen Himmel voller Sterne,
haben die Sehnsucht, als Mensch in Würde zu leben.
Mein ICH wird Dein SEIN werden,
es ist unsere Sehnsucht, als Mensch frei zu leben.9
Hıdır Eren Çelik
3Das Wort Flüchtling ist eher negativ besetzt. Viele Nomina mit dem Suffix „ling“ haben einen sonderbaren Beigeschmack, so z.B.: Erdling, Fremdling, Sonderling, Ichling, Zögling, Schützling, Schreiberling, Schönling, Däumling, Emporkömmling, Abkömmling, Häftling, Neuling, Prüfling, Eindringling … An dieser Stelle wird sichtbar, wie sehr es unsere Sprache vermag, schon durch die Wortwahl Meinungen zu bilden und auf unbewusste Weise unser Denken zu beeinflussen. Empfehlenswert ist daher die Ausdrucksform Geflüchtete, Zufluchtsuchende oder auch Refugee(s).
4http://www.bild.de/politik/inland/angela-merkel/muessen-wir-angst-vor-dem-islam-haben-42495812.bild.html (02.02.2016)
5Christ in der Gegenwart, 2016/20, S. 215
6https://de.wikipedia.org/wiki/Archimedes (15.05.2016)
7Vgl. Christ in der Gegenwart, 2016/12, S. 128
8Lüders, Michael, Wer den Wind sät, wird Sturm ernten. Was westliche Politik im Orient anrichtet, München, 2015 (kindle edition), Pos. 2278f.
9http://www.migrapolis-deutschland.de/index.php?id=1119 (30.03.2016)
Warum sich Schüler und Kultusministerien auch heute noch mit Jesus von Nazareth beschäftigen sollten: Nur durch sein Erbe lässt sich die Geschichte unseres Kontinents verstehen. Das christliche Erbe ist daher nicht nur Sache für den Religionsunterricht.
Es ist erstaunlich, auf welche Weise sich die Öffentlichkeit in diesen Tagen mit historischen Persönlichkeiten befasst: Wir blicken auf das Luther-Jubiläum; 2017 wird es 500 Jahre her sein, dass der Reformator Martin Luther seine Thesen in Wittenberg vorstellte. Vor wenigen Monaten lernten Schüler in der Filmkomödie „Fack ju Göhte“ Johann Wolfgang kennen. Im Februar 2016 erschien Hitlers „Mein Kampf“ in einer kritischen Ausgabe; Millionen deutscher Schüler können sich vielleicht zum ersten Mal mit diesem Machwerk auseinandersetzen.
Weniger ist in diesen Tagen von den Lehren jenes maßgebenden Europäers die Rede, dessen Geburtstag jedes Jahr mit viel Jubel gefeiert wird. Er stammt zwar aus dem religiös umkämpften Nahen Osten, hat aber im Westen Karriere gemacht. Jesus von Nazareth? Der Philosoph Karl Jaspers nannte den Nazarener „maßgebend“ für Europa und stellte ihn neben Konfuzius, Buddha und Sokrates. Wissen die deutschen Schüler eigentlich, warum in ihren Kalendern oben 2017 steht?
Müssten sich die Vordenker in den Kultusministerien nicht fragen, ob deutsche Schüler auch und vorher Jesus aus Nazareth kennenlernen sollten, ehe sie sich mit Johann Wolfgang aus Frankfurt am Main beschäftigen? Martin Luther würde sich jedenfalls sehr freuen, wenn erst einmal gründlich über Jeshua gesprochen würde, bevor sie sein eigenes Jubiläum feiern. Denn haben nicht dieser Jeshua mit der Bergpredigt und sein Ahn Mose mit den Zehn Geboten den größten Teil zu den Ideen hinter unserem Grundgesetz beigetragen?
Zum Beispiel die Idee der Menschenwürde und dass sie auch für Kinder, Greise und natürlich Frauen gilt. Die katholische Kirche hat das zwar lange nicht verstanden, aber Aufklärer haben ihr geholfen. Seelisch Kranke dürfen hierzulande nicht entsorgt werden – im Unterschied zu vielen Ländern Asiens. Die Idee, dass wir Flüchtlinge nicht im Regen oder auf dem Eis stehen lassen, die Vorstellung, dass Bosse der Autobranche ihre Macht und ihr Geld verantworten müssen, die Überzeugung, dass friedliche Muslime auch in Europa Allah anbeten dürfen.
Warum gehen die Uhren zwischen Petersburg und Lissabon, zwischen dem Nordkap und Messina ein wenig anders als die Uhren in Indien, in China, in Arabien? Vielleicht doch auch, weil Wandermönche, gebildete Nonnen und Reformatoren den Menschen nicht nur Lesen und Schreiben beigebracht haben, sondern auch die Bergpredigt dieses seltsamen jungen Mannes aus Galiläa. „Selig die, die andere nicht im Dreck liegen lassen.“ Die Pfarrerstochter Angela hat es kapiert.
Wissen über Jesus ist nicht nur etwas für den Religionsunterricht
Jesus tat sich damals schwer, und er tut sich heute schwer. Nicht nur bei den Schülern, sondern auch in den Kultusministerien.
Denn dort herrscht Arbeitsteilung. Sie sagen: Religionsunterricht ist Kirchensache, da darf sich kein Bundesland einmischen. Aber ist dieser Jesus, den die Christen Christus nennen, nur jemand für den Glauben, oder muss man ihn nicht auch als Umdenker und Vordenker kennen, der maßgeblich Rechts- und Sozialkultur, Denk- und Lebensweise geprägt hat? Karl Jaspers nennt ihn die „maßgebende Persönlichkeit“ für Europa.
Derzeit macht Mohammed in Europa Karriere. Wir sollen ihn nicht mit Waffen empfangen, sondern mit Argumenten und mit Gedankenfreiheit. Was hätten Voltaire, Kant und Hegel zu tun gehabt ohne den jungen Mann aus Galiläa, mit dem sie einst ringen mussten? Die europäische Philosophie und Geistesgeschichte hätten ohne ihn wenig Denkstoff gehabt, und ihre Denker hätten weniger Folianten produzieren können. Und was hätten wir in die Zentren von Köln, Paris und Rom gestellt ohne den Sohn eines Bauhandwerkers aus Galiläa?
Wissen deutsche Schüler, warum Paris vom Montmartre überragt wird, woher San Francisco seinen Namen hat, warum Fußballer vor dem Spiel ein Kreuz schlagen? Wissen deutsche Schüler, warum die Uhren in Europa anders gehen als dort, woher viele Flüchtlinge kommen? Wissen sie, warum sich Frauen in Europa nicht verschleiern müssen, warum nicht nur Männer, sondern auch Frauen an politischen Wahlen teilnehmen, warum in vielen Schulen ein Kreuz hängt? Können sie ihren muslimischen Mitschülern sagen, warum sonntags Kirchenglocken läuten, Geschäfte geschlossen sind und man nicht zur Arbeit geht?
Können deutsche Schüler ihren muslimischen Mitschülern sagen, warum ihre Eltern nicht nur im Standesamt geheiratet haben, sondern auch noch in der Kirche? Können sie sagen, wer in Rom der weiße Mann mit Frauenkleidern ist und warum die Menschen aus aller Welt ihm zujubeln?
Die Flüchtlinge schaffen den Kultusministerien viel Arbeit. Man sollte daher nicht nur Mitleid mit den Flüchtlingen haben, sondern auch mit dem Kultus-Personal. Es darf die Sache Europas nicht dem Religionsunterricht überlassen. „Reli“ ist oft in der letzten Stunde, wo man schön müde ist.
Arme Kultusministerien! Was die den Schülern alles zumuten müssen. Könnten wir nicht mal Adolf Hitler, Martin Luther und Johann Wolfgang von Goethe ein wenig Lernzeit wegnehmen und sie dem Zimmermannssohn aus Nazareth widmen? Hat er nicht auch dafür gesorgt, dass wir einmal in der Woche wirklich freihaben, dass dann Glocken über das Land schallen, dass Weihnachten, Ostern und Pfingsten Ferien sind? Auch in den Kultusministerien.
Schön, dass wir inzwischen „Mein Kampf“ lesen dürfen. Aber wäre es nicht spannender, die Quellen unserer Verfassung in jenem großen Buch zu suchen, das aus dem Land kommt, wo nach einem alten Versprechen „Milch und Honig“ fließen könnten, wo aber noch zwei Stämme des Herrn miteinander ringen?
Eberhard von Gemmingen SJ
10http://www.sueddeutsche.de/politik/gastkommentar-dereuropaeer-aus-galilaea-1.2802550 (27.05.2016)
Viele gläubige Juden haben sich trotz vielfacher Verfolgungen, Vertreibungen, durch Kriege und schwere Schicksalsschläge hindurch ihre Identität bewahrt, sie haben sich im Völkergemisch der Ägypter, Kanaaniter, Jebusiter, Perisiter, Philister, Babylonier, Perser, Griechen, Römer, Araber … nicht aufgelöst, weil sie an ihrem Gott „Jahwe“ unbeugsam festgehalten haben und bis zum heutigen Tage aus der Kraft ihrer Glaubensgeschichte leben. Dieser Gott nimmt Anteil an der Geschichte seines Volkes, er identifiziert sich mit seinem Volk als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, als Gott der Stammväter der drei abrahamitischen Religionen.
Was heute bedrückend scheint, ist die Tatsache, dass es mit echtem Glauben, mit guter Bildung, mit Freundlichkeit und Gastfreundschaft allein im Zusammenhang mit der Gefahr des sogenannten Islamischen Staates (IS) nicht getan ist. Der in Polen geborene deutschsprachige Journalist und Schriftsteller Adam Soboczynski (geb. 1975) erklärt: „Der IS beansprucht die Weltherrschaft, er deklariert nicht nur, aber auch dem Westen die totale Feindschaft. Dass wir mit Flüchtlingen freundlich umgehen, dürfte ihn kaum beeindrucken. Wir bleiben für ihn, egal, wie wir uns moralisch zur islamischen Welt als Ganzem stellen, die Ungläubigen. Die Kampfansage bleibt bestehen – die Ungläubigen haben gar keine andere Wahl, als ihn auch militärisch, und nicht nur mithilfe eines moralischen Überlegenheitsgefühls, zu besiegen. Es gibt, auch dies lehrt leider die Geschichte, politische Akteure, mit denen man nicht verhandeln kann.“11
Es gibt Situationen im Leben, die sind von vornherein zur Kapitulation verurteilt, egal, wie man sie zu lösen trachtet. „Krieg bedeutet immer das Scheitern des Friedens, er ist immer eine Niederlage für die Menschheit“12