FRAUEN IM SINN
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Seltsamer Wein
Die Fremde im Pool
Das Gebot der Stunde
Ein Kate-Delafield-Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Adele Marx
K+S digital
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Das Schrillen der Türklingel ließ Kate Delafield aus ihrem Ruhesessel hochfahren. Adrenalin schoss durch ihre Adern, sie rang um Atem und seufzte erleichtert auf, als sie die vertraute Umgebung wahrnahm. Sie schüttelte den Kopf, um die Schreckensbilder zu vertreiben.
»Reiß dich zusammen – reiß dich zusammen – reiß dich zusammen!«, befahl sie sich.
Wie hatte sie bloß in dieser Situation einschlafen können?
Sie vergewisserte sich, dass ihr Hemd ordentlich in die Hose gesteckt war, warf einen letzten Rundblick durch ihr Wohnzimmer und beeilte sich dann, die Tür ihrer Eigentumswohnung zu öffnen.
Sie wusste, dass sie nicht den besten Eindruck machte – ihre Nerven litten noch unter den Nachwirkungen ihres Traumes. Doch als Captain Carolina Walcott ihren Blick über sie gleiten ließ, registrierte Kate bestürzt die Überraschung, die kurz in deren dunkelbraunen Augen aufblitzte.
»Captain«, sagte Kate und wunderte sich, dass ihre Stimme so normal klang. Sie streckte ihr die Hand hin. »Kommen Sie herein! Schön, Sie zu sehen.«
»Freut mich ebenso, Kate.« Walcott ergriff ihre Hand und hielt sie einen Moment länger als üblich; ihr Lächeln war breit, ihr Blick voller Zuneigung.
»Machen Sie es sich bequem.« Kate wies auf das Sofa. Auf dem Couchtisch befand sich ein Tablett mit einem Teller Plätzchen, einer Kanne Kaffee und zwei dunkelblauen Kaffeebechern, auf denen in goldenen Lettern LAPD prangte. Sie ließ Walcott den Vortritt, atmete zweimal tief durch, um das Adrenalin abzubauen und die Nachwirkungen des Traumes endgültig zu verscheuchen, und wünschte, sie könnte sich einen großzügig bemessenen Scotch einschenken.
Während Walcott zum Sofa hinüberging, ließ sie ihren professionellen Polizeiblick über das Wohnzimmer mit der Essecke und der Küchenzeile schweifen. Als sie ruhig und gelassen auf der cremefarbenen Couch Platz genommen hatte, verlieh die von den Bäumen gefilterte Spätnachmittagssonne, die durch die offenen Balkontüren hereinfiel, dem Beige ihrer Uniform und ihrer milchschokoladefarbenen Haut einen warmen Schimmer. Sie sah adrett und attraktiv aus, würdevoll, Respekt einflößend. Kate hatte sich inzwischen von den Nachwirkungen ihres Traumes erholt; sie fühlte sich nackt und verletzlich unter Walcotts prüfendem Blick, dem die Details ihres Heimes und ihrer eigenen Aufmachung sicher nicht entgingen: Freizeithosen, ein Hemd, Sneakers. Walcotts Anruf hatte sie eine knappe Stunde zuvor erreicht, und auch wenn Kate aus ihrem Trainingsanzug geschlüpft war und sich Mühe mit ihrer Garderobe gegeben hatte – sie hatte ja wohl kaum ihre frühere Dienstkleidung anziehen können, einschließlich eines Sakkos, wie sie es Tag für Tag in der Wilshire Division getragen hatte.
Dass ein Captain des Los Angeles Police Departments zu Besuch kam, hatte Kate noch nie erlebt. Captains besuchten ihre Untergebenen nicht zu Hause – sie beorderten sie in ihr Büro. Auch wenn Kate genau genommen nicht länger eine Untergebene war, griff die in Fleisch und Blut übergegangene Polizeihierarchie immer noch, und sie verspürte eine Unterlegenheit, die eindeutig Walcotts Rang geschuldet war.
»Ich habe gerade nicht viel im Haus«, sagte sie, »aber ich weiß noch, dass Sie die hier mögen.« Sie ergriff den Teller und bot ihn Walcott an. »Hafertaler.« Sie hatte die Packung im Vorratsschrank gefunden, das Verfallsdatum war noch einen Monat entfernt.
Wieder lächelte Walcott liebenswürdig, was ihre habichtartigen Züge milderte. Sie nahm einen Hafertaler. »Wie schön, dass Sie sich daran erinnern.«
Kate hatte das Bedürfnis, gerade und aufrecht zu sitzen und nahm in dem Sessel neben Walcott Platz, statt in dem hinterhältigen Lederrecliner, der sie in den Schlaf gelullt hatte. Eine Brise, zu kühl für Anfang Mai, wehte durch die Balkontüren herein, kündigte den Abend an und brachte einen schwachen Laubduft mit sich.
Walcott ergriff die Kaffeekanne und schenkte ihnen beiden ein. Es standen weder Milch noch Zucker auf dem Tablett. Wie praktisch alle Cops tranken die beiden Frauen ihren Kaffee stark und schwarz. Walcott reichte Kate eine Tasse und sagte: »Kaum zu glauben, dass es schon vier Monate her ist.«
»Fast fünf.« Kate setzte ein angemessenes Lächeln auf und nahm den Kaffee entgegen. Walcott meinte offenbar, erst die üblichen höflichen Nachfragen und Nettigkeiten austauschen zu müssen, ehe sie ansprach, weswegen sie gekommen war.
Sie musterte Kate mit den verschatteten, ausdruckslosen Augen eines Cops im Dienst. »Wie ist es Ihnen ergangen, Kate?« Doch ehe Kate antworten konnte, fuhr Walcott fort: »Ach, ich sollte es besser wissen, als einem Detective eine so nichtssagende Frage zu stellen. Was haben Sie in letzter Zeit unternommen?«
Kate hätte die erste Frage entschieden bevorzugt – es war eine Frage, auf die sie mit allen möglichen Platitüden hätte antworten können. »Ach, nichts Besonderes, wissen Sie. Ich bin ein bisschen herumgereist, ich habe Schlaf nachgeholt, gelesen, einfach entspannt und es ruhig angehen lassen.« Einiges davon stimmte. Sie war in Big Bear gewesen und hatte jede Menge Bücher verschlungen. Mit einer vagen Geste wies sie um sich. »Es gab hier einiges zu tun, und das habe ich gemacht. Neuer Teppichboden, die Wände gestrichen …«
In Wirklichkeit waren die Veränderungen weit radikaler gewesen. Von den Wohnzimmermöbeln hatte sie nur den Ruhesessel behalten und die beruflichen Erinnerungsstücke, die an den Wänden hingen. Das Schlafzimmer war komplett neu, bis auf ihre Kleidung; alles andere in dem Raum war ersetzt worden – einschließlich des Radioweckers. Im Arbeitszimmer war bis auf ihren Computer und den Drucker alles neu. Selbst die Barhocker am Frühstückstresen waren ausgetauscht worden. Kate hatte keine andere Möglichkeit gesehen – sie war an einem Punkt gewesen, an dem sie es nicht mehr ertrug, ihr Zuhause zu betreten, und die Wohnung zu verkaufen hatte sie nicht über sich gebracht. Sie brauchte ihre Wohnung. Sie war das einzige Vertraute und Verlässliche in ihrem Leben, das ihr noch geblieben war.
»Schön«, sagte Walcott. »Sie haben eine sehr schöne Wohnung, Kate.«
»Danke«, erwiderte Kate und spielte den Ball gleich wieder zurück. »Und Sie, Captain? Wie läuft die Verbrecherjagd?«
»Wir lösen jeden Fall, und in den Augen der dankbaren Bevölkerung sind wir die reinsten Helden.«
Die beiden Frauen schmunzelten komplizinnenhaft. Der Druck, Fälle aufzuklären, war von jeher gnadenlos, und die Kritik seitens der Öffentlichkeit, wenn nicht gar unverhohlene Geringschätzung der Strafverfolgungsbehörden, war stete Begleiterin in allen neunzehn Polizeidirektionen, die in Kürze auf einundzwanzig erweitert werden würden. Walcott nahm sich eine der kleinen Papierservietten, legte sie um einen Hafertaler und lehnte sich auf Kates Ledersofa zurück, den Kaffee in der einen Hand, das Plätzchen in der anderen. »Bislang sind es nur Mutmaßungen, aber es könnte sein, dass die Direktion West Einsatzkräfte an Mitte und Süd abgeben muss.«
Kate hob erstaunt die Brauen. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass Walcott ihr etwas aus den Strategiesitzungen der Führungsetage erzählte, noch dazu eine unbestätigte Nachricht diesen Ausmaßes. Als Kates Vorgesetzte in der Wilshire Division hatte Carolina Walcott nie ein Blatt vor den Mund genommen; sie war schonungslos offen gewesen, manchmal derb und hatte ihre Detectives oft mehr als schroff behandelt. Aber abgesehen von einigen herablassenden allgemeinen Äußerungen hatte sie ihre Ansichten über die Politik des LAPD für sich behalten, und somit bedeutete diese Enthüllung, dass sie Kate wichtige, vertrauliche Informationen offenbarte. »Der neue Chief ist ein mutiger Mann«, erlaubte Kate sich zu sagen.
Walcott grinste. »Mutig? So kann man es auch nennen. Wie einfach ist es, Einsatzkräfte zu verlagern, wenn man fünfunddreißigtausend hat, um eine Stadt wie New York abzudecken? Er wird früh genug herausfinden, wie es ist, weniger als zehntausend über die fünfhundert Quadratmeilen von L.A. umzuverteilen.« Walcott biss ein Stück von ihrem Hafertaler ab, verspeiste es genüsslich und trank einen Schluck Kaffee hinterher.
Was will sie von mir? In Kates Kopf überschlugen sich die Möglichkeiten. Irgendeine gravierende neue Entwicklung in einem meiner alten Fälle? Nein, dann hätte sie mich einfach angerufen. Ein Einsatz? Unmöglich.
Walcott fügte hinzu: »Warten Sie nur, bis die Leute, die glauben, sie verdienten besseren Schutz, herausfinden, dass ein beträchtlicher Teil der Einsatzkräfte für Menschen abgezogen wurde, die sie als weit unter sich betrachten.«
Noch während Kate über diese Bemerkung lächelte, begriff sie, dass Walcotts ungewohnte Freimütigkeit, was die internen Strategieüberlegungen des LAPD anging, auch Kates veränderten Status widerspiegelte – sie war draußen, sie war keine Insiderin mehr, sie war vom Strom der Gerüchte abgeschnitten. Nichtsdestotrotz freute sie sich, dass Walcott ihr diese Information anvertraut hatte. »Glauben Sie, dass das passieren wird?«
»Zweifelsohne. Er ist, wie Sie sagten, ein mutiger Mann. Und anders als gewisse Menschen, die wir kennen, hat er kein Interesse daran, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren.«
Amüsiert rief Kate sich die Ambitionen eines früheren Polizeichefs in Erinnerung. Sie nahm ihre Kaffeetasse und lehnte sich in ihrem Sessel zurück; sie genoss das reiche Aroma und die heiße herbe Note des Kaffees, wünschte sich aber dennoch, er wäre mit einem Schuss Scotch angereichert. Sie erwiderte nichts auf Walcotts letzte Bemerkung; sie hatte beschlossen, die Konversation von sich aus nicht fortzuführen. Sie wollte erfahren, was Walcott mit diesem Besuch bezweckte.
Walcott trank einen weiteren Schluck Kaffee. Und fragte dann: »Haben Sie in letzter Zeit von Cameron gehört?«
Eine weitere höfliche Nachfrage. Aber diese traf einen wunden Punkt. Kate wollte Walcott jedoch nicht wissen lassen, wie abgeschnitten sie sich von Joe Cameron fühlte, wie sehr ihr früherer Partner sie durch seine mangelnde Rückmeldung verletzt hatte, und so antwortete sie leichthin: »In letzter Zeit nicht.« Und fügte dann hinzu: »Aber er hat sich, abgesehen von seinem Urlaub, auch krankschreiben lassen.« Das wusste ihr Gegenüber natürlich längst.
Walcott nickte. Ihr Blick war abwägend auf Kate geheftet. »Hat er erwähnt, dass ich ihn angewiesen habe, sich arbeitsunfähig zu melden?«
»Nein, das hat er nicht erwähnt.« Typisch Cameron.
»Gestresst bis zum Anschlag. Wir Cops geben nie zu, dass wir völlig ausgebrannt und am Ende sind. Aber er hat keine Einwände erhoben. Ich vermute, Sie wissen, dass er der leitende Ermittler im Fall Carter war?«
»Und ob. Er hat von nichts anderem geredet. Der Fall hat ihm keine Ruhe gelassen.«
Alle Detectives der Mordkommission hatten Fälle, die ihnen persönlich sehr nahegingen. Kate hatte während ihrer Laufbahn mehrere davon gehabt. Die fünfzehnjährige Tamara Carter war Camerons erster Fall ohne Kate gewesen, eine Vergewaltigung mit Todesfolge, und der Anblick des brutal misshandelten Opfers hatte einen Zorn in ihm entfacht, der unauslöschlich schien. Als es keine neuen Spuren mehr gab und der weitere Fortgang von den Ergebnissen abhing, die das Labor des FBI erbringen würde, hatte Cameron erneut die Familie, die Freundinnen, Freunde und Bekannten von Tamara Carter befragt und wie besessen über jedem einzelnen Detail in den Ermittlungsakten gebrütet.
»Wie oft hören Sie gewöhnlich von ihm?«
»Anfangs jede Woche«, erwiderte Kate. »Manchmal öfter. Aber jetzt hat er sich schon seit drei Wochen nicht gemeldet. Wir – wir hatten ein ziemlich enges Verhältnis, wissen Sie.«
Wieder lächelte Walcott, diesmal spontan und entwaffnend. »Was Sie nicht sagen. Zu eng. Er war wie ein übermütiges Fohlen, als er zu uns kam, und er hat meine erfahrenste Ermittlerin ebenfalls in ein Fohlen verwandelt.«
Kate musste lächeln. Walcott hatte ja keine Ahnung.
»Ich bin sicher, es gibt vieles, von dem ich nichts weiß«, fügte Walcott hinzu.
Kate schüttelte den Kopf. Seit wann konnte diese Frau Gedanken lesen?
»Er hat Ihnen gutgetan, Kate, also habe ich Sie beide gewähren lassen, wann immer es möglich war. Sie haben sich gegenseitig gutgetan.«
»Das stimmt. Joe war der beste Partner, den ich je hatte.«
»Soweit ich weiß, war die Konkurrenz nicht sehr groß.«
Nun ja … Kate zuckte die Achseln. Was gab es dazu zu sagen? Ed Taylor hatte einer früheren Epoche angehört, und mit seinem minimalistischen Ansatz in Sachen Mordermittlung würde er in keinem modernen Ermittlungsteam auch nur einen Tag bestehen. Egal, über die Toten nichts als Gutes. Es war inzwischen schon fünf Jahre her – ein Herzinfarkt in den frühen Morgenstunden – er war zwischen den Avocadobäumen auf seinem Grundstück in Fallbrook einfach zusammengebrochen. Marie Taylor hatte Kate angerufen und es ihr erzählt, und sie hatte einen unerwartet melancholischen Samstag verbracht; sie war zu seiner Beerdigung gegangen und hatte Schulter an Schulter mit einigen anderen Kolleginnen und Kollegen am Grab gestanden und war bei den auf sie einstürmenden Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre und die Fälle, die sie zusammen bearbeitet hatten, überraschend nostalgisch geworden. Was ihre nächste Partnerin anbelangte, Torrie Holden – nach ihrem Verhalten im Anschluss an eine misslungene Verhaftung, bei der Kate eine Kugel in die Schulter abbekam, und nach Torries Vertuschung einer Pflichtverletzung beim Vollzug einer Durchsuchung, die einen Mörder beinahe hätte davonkommen lassen, hatte Lieutenant Mike Bodwin dafür gesorgt, dass sie Kate nicht mehr unter die Augen kam, ehe Kate ihr womöglich den Hals umdrehte. Kurz darauf hatte Torrie das Morddezernat in Hollenbeck verlassen; sie war nach West Valley versetzt worden, wo sie als Streifenpolizistin vermutlich weniger Unheil anrichtete.
»Sie hatten einen guten Partner verdient, Kate, und Sie haben Joe eine Menge beigebracht. Sie haben ihn die Professionalität und die Gründlichkeit gelehrt, die ihm gefehlt haben. Es ist fast drei Wochen her, sagen Sie? Irgendeine Ahnung, was es mit diesem Schweigen auf sich hat?«
Kate schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich sauer auf ihn.« Insbesondere in Anbetracht der Last, die zurzeit auf ihren Schultern ruhte. Sie hatte schließlich angenommen, dass ihre partnerschaftliche Verbundenheit einfach mehr und mehr verblasste, je weiter ihr gemeinsamer Polizeialltag in die Ferne rückte. Die so harmlos erscheinenden Fragen Walcotts machten sie zunehmend nervös und versetzten sie in Alarmbereitschaft. »Ich habe zwei Nachrichten hinterlassen, aber er hat nicht zurückgerufen.« Sie trank einen Schluck Kaffee und beobachtete Walcott, die kaum würde einschätzen können, ob Camerons Verhalten unüblich war oder nicht.
»Ist das normal?«
Ein plötzlicher Schauer der Besorgnis lief ihre Arme hinauf und weiter bis zum Haaransatz in ihrem Nacken. »Worum geht es hier eigentlich, Captain?«
Walcott änderte ihre Sitzhaltung und legte eine Hand auf die lederne Fläche des Sofas, als wollte sie sich wappnen. Kate hatte einen Erinnerungsblitz: wie sie in das Büro des Captains der Wilshire Division gerufen wurde und zur Salzsäule erstarrte, als sie erfuhr, dass ihre Lebensgefährtin, mit der sie zwölf Jahre zusammengewesen war, die erste Frau, die sie je geliebt hatte, bei einem Unfall auf dem Hollywood Freeway ums Leben gekommen war – ein Tanklaster hatte Annes Auto zerquetscht und war in Flammen aufgegangen. Sie konnte immer noch spüren, wie das Messer ihr ins Herz schnitt – fünfundzwanzig Jahre später.
Ist Cameron … Könnte er …?
Nach der neuen Verfahrensweise waren Mordermittler angehalten, mit der Übermittlung von Todesnachrichten zu warten, bis sie so viele Informationen wie möglich gesammelt hatten – ein Vorgehen, das auf der kühlen Berechnung basierte, dass die zu befragende Person ansonsten vor Schock und Trauer zu hilfreichen Auskünften nicht mehr in der Lage war. Carolina Walcott war eine Mordermittlerin, und zwar eine verdammt gute, und alle guten Mordermittlerinnen waren gute Schauspielerinnen. Doch Walcotts Verhalten insgesamt ließ nicht darauf schließen, dass etwas ernsthaft nicht stimmte, mochte sie auch eine noch so gute Schauspielerin sein. Und dennoch war Kate keineswegs beruhigt.
»Worum geht es hier eigentlich?«, fragte sie noch einmal. »Sagen Sie mir, warum Sie gekommen sind, Captain.«
Walcott hob beschwichtigend die Hand. »Möglicherweise … wahrscheinlich ist weiter gar nichts.«
Sie legte die Serviette mit den Plätzchenkrümeln auf das Tablett und beugte sich zu Kate vor, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, die Hände gefaltet. »Es hat mit dem Fall Carter zu tun. Als ich ihn im Januar auf den Tisch bekam, habe ich die Spurensicherung erneut auf den Fall angesetzt und den gesamten Tatort noch einmal auf das Penibelste analysieren lassen –«
»Das hat Joe mir alles erzählt«, unterbrach Kate sie ungeduldig und gab ihrerseits eine Zusammenfassung, damit Walcott sich nicht weiter damit aufhielt. »Kein Sperma, kein Blut, keine Haare, außer ihren eigenen, aber Joe sagte, es habe einen guten Fingerabdruck an der Wand am Kopfende des Bettes gegeben. Er meinte, der Typ habe sich mit einer Hand hinter dem Kopfbrett abgestützt, als er gewaltsam in ihre Kehle eingedrungen ist.«
Walcott nickte. »Sie wissen, wie überlastet das FBI-Labor ist, und keinem Fall wird je Priorität eingeräumt, es sei denn, es klemmt sich jemand Gewichtiges dahinter, und ein LAPD-Captain hat beim FBI kaum Gewicht. Aber ich habe Joe versprochen, am Ball zu bleiben, und zwar höchstpersönlich, und es ihn wissen zu lassen, falls wir einen Durchbruch erzielen. Ich könnte mir denken, dass jemand in Quantico von dem Fall erfahren hat, der selbst eine fünfzehnjährige Tochter hat, denn vor einer Woche habe ich tatsächlich etwas gehört. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Joe mich nicht zurückrufen würde, Kate – nicht nachdem ich ihm die Nachricht hinterlassen habe, dass wir einen Durchbruch in dem Fall erzielt haben – egal, was er tut, egal, wo er auch ist. Und unter keinen Umständen würde er ohne sein Handy unterwegs sein – das wissen wir beide.«
Kate nickte. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Walcott hatte in allen Punkten recht. Joe wäre sofort auf die Nachricht angesprungen.
»Irgendwelche Ideen?« Walcott lehnte sich zurück, legte einen Arm auf die Rückenlehne des Sofas und schlug die Beine übereinander, bereit, die Sache durchzusprechen, wie lange es auch dauern mochte.
»Ja. Vermutlich zu viele. Hat jemand sein Haus überprüft?«
»Ich. Letzte Woche.«
Kate sah sie erstaunt an.
Walcott zuckte die Achseln und schaute ein wenig verlegen drein, als sie sagte: »Ich bin bloß dran vorbeigefahren. Sein Wagen stand da, und noch ein weiterer Wagen, ein Ford Escort mit dem Firmenemblem von Marvel Maids auf der Tür. Ich dachte, wenn er im Haus ist und irgendwas nicht stimmt, dann würde die Putzfrau es doch wohl bemerken.« Sie lächelte flüchtig. »Ich habe ihn vom Auto aus noch mal angerufen. Nichts.«
Cameron war in der Lage, auf sich aufzupassen, versuchte Kate sich zu beruhigen. Bestimmt war alles in Ordnung mit ihm. Es musste eine logische Erklärung geben. »Irgendwas Bemerkenswertes, was seine alten Fälle angeht? Irgendjemand auf Bewährung draußen, der auf Rache aus sein könnte?«
»Nicht dass ich wüsste. Ich kann nicht weiter nachforschen, ohne schlafende Hunde zu wecken. Niemand in seinem beruflichen Umfeld kennt ihn besser als Sie, Kate. Wissen Sie von irgendeinem … persönlichen Problem, das ihn belasten könnte?«
Kate rutschte in ihrem Sessel herum und erwiderte schließlich Walcotts Blick. »Fragen Sie mich, ob ich irgendwas weiß, das Joe veranlasst haben könnte, einen Abgang zu machen?«
»Wissen Sie denn etwas?«
»Nein!«, erwiderte sie nachdrücklich. »Ich meine, selbst wenn es da etwas gäbe, würde er das nicht tun.« Cameron war weitaus hartgesottener als sie, und während sie einige sehr dunkle Stellen in sich barg, vor allem dieser Tage, käme sie doch nie auf diesen Gedanken. »Nein, ganz bestimmt nicht«, wiederholte sie. »Das sähe ihm überhaupt nicht ähnlich.«
»Es sehen auch nicht viele Mörder wie Mörder aus.« Walcotts Ton klang herausfordernd.
Kate schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall, Captain. Sie sagten, Sie sind vor einer Woche dort gewesen?« Der Grund für Walcotts Besuch war nun deprimierend klar: um herauszufinden, was Kate wusste. Was nicht viel war. Was aber immer noch nicht erklärte, warum sie Kate nicht ins Präsidium gebeten oder am Telefon befragt hatte.
»Ich hatte gehofft, Sie würden sich die Sache mal ansehen, Kate. Sehr diskret.«
Kate versuchte ihre Überraschung zu kaschieren und sagte gleichmütig: »Nach allem, was ich gehört habe, würde ich das sowieso. Aber warum diskret?«
»Es ist zwar jetzt schon eine Woche her, aber dennoch gibt es keinen Grund für eine offizielle Untersuchung. Er ist quasi beurlaubt. Unkonventionelles Verhalten ist kein Anlass, Alarm zu schlagen. Wenn es eine vernünftige Erklärung gibt – prima. Wenn es ein Problem gibt, gucken wir es uns näher an. Was den Volltreffer des FBI angeht, so besteht kein Grund zur Eile, denn es handelt sich um jemanden, der hinter Schloss und Riegel sitzt. Rasmussen kann ich nicht ins Bild setzen – Sie wissen, dass Joes neuer Partner ein Frischling ist. Ich setze noch kein Vertrauen in ihn oder sein Urteilsvermögen. Ihnen jedoch vertraue ich voll und ganz. Abgesehen davon würde Paul Rasmussen nichts anderes tun, als das, was ich bereits getan habe – er würde ihn wegen der neuen Entwicklung des Falles anrufen. Ich habe ihn beiläufig gefragt, ob Joe irgendwelche Pläne für seinen Urlaub hat, aber er meinte, Joe hätte in der Richtung nichts verlauten lassen. Was ich sagen will: Ich möchte, dass die Sache unter uns bleibt, bis wir mehr wissen. Denn ich arbeite daran, dass er von der Sonderermittlung Mord in der RHD übernommen wird.«
Kate nickte heftig. Sie freute sich für Cameron. »Er wäre die perfekte Besetzung.« Die Stellen in der Robbery-Homicide Division waren hoch angesehen und sehr begehrt, umso mehr weil endlich ein neues Präsidiumsgebäude im Bau war, um das veraltete Parker Center zu ersetzen, und eine Neustrukturierung innerhalb der LAPD im Gange war, um die besten Einsatzkräfte in Elite-Ermittlungsteams zu bündeln.
»Was seine Karriere angeht, steht er makellos da«, sagte Walcott. »Bei all den Ecken und Kanten, die er hatte, als er bei der Mordkommission anfing, ist dieses Wunder in erster Linie Ihnen zu verdanken. Ich möchte nicht, dass die Gerüchteküche jetzt irgendwas in die Welt setzt, das womöglich an ihm haften bleibt.«
»Verstehe. Wann genau, sagten Sie, waren die Marvel Maids da?«
Walcotts Grinsen verriet, dass sie wusste, worauf Kate hinauswollte. »Cameron verdient nicht weniger als die beste Ermittlerin, die er kennt. Wenn wir davon ausgehen, dass sein Haus jede Woche gereinigt wird –«
»Wird es. Da ist er ziemlich pingelig.«
»Dann also morgen. Als ich vorbeifuhr, war es ungefähr halb zwölf.«
Was bedeutete, dass Walcotts heutiger Besuch zeitlich exakt geplant war. »Ich checke die Lage und melde mich bei Ihnen.«
Walcott stand auf, als sei die Sache damit erledigt, aber statt zur Wohnzimmertür zu gehen, wandte sie sich dem Balkon zu.
Was nun?, fragte Kate sich. Sie folgte Walcott durch die geöffneten Schiebetüren nach draußen.
Walcott stützte sich mit beiden Armen auf die Balkonbrüstung und blickte auf die dunstverhangenen Hollywood Hills in der Ferne; dann ließ sie den Blick aus der Höhe des zweiten Stockwerks über die Kings Road schweifen. »So viele prächtige Bäume«, sagte sie voller Bewunderung, und ihr Gesicht wurde weicher vor Freude. »Eine schöne Straße, eine schöne Gegend, viele guterhaltene, wunderbare alte Häuser. Parkmöglichkeiten am Straßenrand – eine Seltenheit heutzutage. Sie haben es sehr gut getroffen, Kate.«
»Ich hatte einfach sehr viel Glück, Captain. Ich bin ’94 nach West Hollywood gekommen – also bevor die Gegend beschloss, sich zu einem sehr viel besseren Viertel zu wandeln.« Kate trat neben sie an die Brüstung und schaute mit neuer Wertschätzung auf die Fülle von stattlichen Bäumen, eine Mischung aus Pappeln, Lorbeeren, Kiefern und verschiedenen Palmenarten, welche den zwei- bis dreistöckigen Apartmenthäusern an ihrem Abschnitt der Kings Road Schatten spendeten.
»Ich wünschte, ich wäre schlau genug gewesen, von Simi Valley hierherzuziehen«, fuhr Walcott fort, »ehe in L.A. nur noch Verkehrschaos herrscht.« Sie beobachtete zwei junge Männer, die vorüberschlenderten und einen Kinderwagen schoben. »Und ehe das LAPD von den Scheißkerlen der Rampart Division gegen die Wand gefahren wurde.«
Kate nickte und schwieg. Walcott warf ihr einen kurzen Blick zu und sagte dann ruhig: »Ich habe für Sie getan, was ich konnte, Kate. Ich hoffe, das wissen Sie.«
»Ja, das weiß ich, Captain«, antwortete Kate ebenso ruhig. »Ich bin froh, die fünf Jahre gehabt zu haben. Auch wenn es aus den falschen Gründen war. Ich schätze mich aus einer ganzen Reihe von Gründen glücklich.«
»Dann sind wir schon zwei. Schlimm genug, dass Sie in der Abteilung ›Internal Affairs‹ tätig werden mussten, aber Sie und Torrie hätten auch als leitende Ermittlerinnen bei dem verdammten Fall eingesetzt werden können. Und ich hätte auch früher, statt später versetzt werden und die Verantwortung übertragen bekommen können.«
Walcott schwieg. Sie schien in das Treiben auf der Straße versunken zu sein, und Kate hing ihren eigenen Gedanken nach. Nicht mal eine Romanschreiberin hätte sich ausmalen können, dass die Ermordung eines Rap-Stars auf offener Straße im März 1997 – wie aufsehenerregend dies damals auch gewesen war – sich zu einem zehn Jahre währenden Tumult für die Wilshire Division und das gesamte LAPD auswachsen würde. Der Mord an Notorious B.I.G., der in seinem SUV an einer roten Ampel aus einem anderen Wagen heraus auf dem Wilshire Boulevard erschossen worden war – aus Rache für die Ermordung des Rap-Stars Tupac Shakur in Las Vegas, munkelte man –, hatte ein Kreuzfeuer von wechselseitigen Beschuldigungen ausgelöst, die zwei korrupte Cops in der CRASH Unit der Rampart Division, die das Straßengang-Unwesen bekämpfen sollte, als Verdächtige in dem Mordfall erscheinen ließen. In der Rampart Division herrschte gesetzwidriges Verhalten; Beweismaterial wurde gefälscht und untergeschoben, Fälle mussten neu aufgerollt werden, und schließlich befasste sich das FBI mit den Untersuchungen, während gleichzeitig endlose Gerichtsverfahren angestrengt wurden und die Wilshire Division beschuldigt wurde, die Ermordung des Rappers vertuschen zu wollen. Die Moral war im Keller, die Demütigung wegen der FBI-Ermittlungen saß tief. Der Korruptionsskandal zerstörte etliche Polizeikarrieren und Reputationen, und Kates hätte ohne weiteres dazugehören können.
Kate teilte den Zorn und die Beschämung ihrer Kolleginnen und Kollegen angesichts der Ereignisse und Entlarvungen, nicht jedoch deren Frustration. Für sie hatte sich aus dem Desaster eine Verlängerung ihrer Dienstzeit ergeben – fünf Jahre über die übliche Spanne von dreißig Jahren hinaus. Man hatte in der angespannten Situation nicht auf sie verzichten können, und der Polizeichef persönlich hatte die Verlängerung ihrer Dienstzeit im DROP-Programm, dem ›Deferred Retirement Option Program‹, befürwortet und unterzeichnet. Doch nach dieser Verlängerung war keine weitere möglich gewesen, und so war Kates Pensionierung im Dezember amtlich geworden.
Kate musterte Walcotts finstere Miene und griff nach dem einzigen hoffnungverheißenden Strohhalm, der sich ihr bot: »Ich habe den Eindruck, dass die Dinge sich ändern, Captain. Dass die Welt sich schließlich zum Besseren wendet. Ist es nicht wunderbar, dass wir heute einen afroamerikanischen Präsidentschaftskandidaten haben und dass er tatsächlich sogar eine Chance hat?«
Walcotts Lächeln verscheuchte den Grimm aus ihrem Gesicht. »Das glaube ich erst, wenn ich’s erlebe. Aber ja, man spürt die Hoffnung in der Stadt, Kate. Und im Land.« Sie wandte sich von der Brüstung ab und kehrte in die Wohnung zurück.
Kate folgte ihr. Sie sah zu, wie Walcott in ihrem Wohnzimmer umherspazierte und die gerahmten Erinnerungen an den Wänden betrachtete. Walcott verschwendete niemals Zeit; sie hatte noch weitere Dinge auf ihrer Agenda. Aber sie ging es gemächlich an und betrachtete kommentarlos die Fotos aus Kates Polizeikarriere – Kate in Uniform bei offiziellen Anlässen, informelle Fotos im Dienstraum ihrer Abteilung, Fotos aus der Los Angeles Times von Kate und ihren Kolleginnen und Kollegen an verschiedenen Tatorten, Beförderungsurkunden, Preise und Auszeichnungen, den kleinen Schaukasten mit dem Replikat von Kates goldener Polizeimarke mit ihrer Dienstnummer, das Aimee vor Jahren für sie hatte anfertigen lassen.
Walcott sah sie nicht an, als sie fragte: »Seit wann trinken Sie wieder, Kate?«
Kate fühlte sich augenblicklich in die Enge getrieben. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu brennen anfing und heißer Zorn in ihr aufstieg. Cameron. Er hat es ihr gesagt.
»Wieso?«, fauchte sie. »Ich bin im Ruhestand. Was geht Sie das an?«
Walcott wandte sich zu ihr um, die Arme vor der Brust verschränkt. »Es gibt Menschen, denen Sie am Herzen liegen, Kate. Außerdem sehen Sie furchtbar aus.«
»Wie ich aussehe und was ich tue, ist allein meine Sache.«
»Wo ist Aimee?«
»Meine Sache.«
»Hat sie Sie verlassen?«
Kate hatte Mühe, ihren Zorn im Zaum zu halten und die Frau nicht hochkant hinauszuwerfen. Sie antwortete nicht.
»Sie haben natürlich recht. Es ist Ihre Sache.«
Walcott löste die Arme, und einen Augenblick lang dachte Kate, sie würde sie nach ihr ausstrecken. Stattdessen ließ sie sie einfach sinken. »Eines müssen Sie wissen, Kate. Sie genießen hohe Wertschätzung. Man vermisst Sie sehr. Sie gehören immer noch zur Polizeifamilie. Sie sind mir – uns – ebenso wichtig wie Joe Cameron. Viele von uns mögen Sie sehr. Und noch etwas …« Sie griff in ihre Jackentasche. »Kurz nach Ihnen hat uns noch jemand verlassen. Auch sie ist heute frei und niemandem mehr verpflichtet. Sie hat Ihnen schon einmal geholfen. Gut möglich, dass sie erneut dazu bereit ist.«
Walcott zog eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf den Couchtisch. »Danke für Ihre Gastfreundschaft. Ich finde allein hinaus.«
Als sich die Tür hinter Walcott schloss, war Kate schon auf dem Weg in die Küche. Sie schnappte sich die Flasche Cutty Sark aus dem Schrank, knallte ein Glas auf den Küchentresen, schenkte sich großzügig ein, nahm einen tiefen Schluck und dann noch einen.
Sie warf einen giftigen Blick auf die geschlossene Wohnungstür. Sie wissen einen Scheiß über mich und die Hölle, in der ich lebe.
Der Alkohol, der ihr in Mund und Kehle brannte, machte alles leichter und beruhigte sie. Sie nahm das Glas mit und betrat das Zimmer, das Aimees Büro gewesen war. Miss Marple protestierte laut miauend, stolzierte hinaus und verschwand über den Flur in Richtung Wohnzimmer. Kate folgte ihr. Sie nahm die Visitenkarte vom Couchtisch, stellte ihren Drink auf den Beistelltisch neben dem Ruhesessel und legte die Visitenkarte daneben. Schwer ließ sie sich in den Sessel sinken und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Miss Marple sprang auf ihren Schoß; sie begann zu schnurren und stieß mehrmals mit dem Kopf gegen Kates Ellbogen.
Kate kraulte sie hinter den zarten Ohren und flüsterte: »Miss Marple, du bist nach wie vor das einzige weibliche Wesen, das mich versteht.«
Dann nahm sie die Visitenkarte und betrachtete eine Weile die weiße Rückseite, ehe sie sie schließlich umdrehte und las, was da in schlichten schwarzen Buchstaben stand:
Dr. Calla Dearborn
Approbierte Psychotherapeutin
Liz. Nr. PSY 705536
Tel.: 323-555-1954
Am nächsten Morgen, nachdem der schlimmste Rush-Hour-Verkehr ein wenig abgeflaut war, fuhr Kate ohne große Aufmerksamkeit für ihre Umgebung und mit pochenden Schläfen durch den diesigen Dunst zum Sunset Boulevard und die Fountain Avenue entlang und folgte dann dem sanften Bogen der Hyperion Avenue in Silverlake. Sie parkte den Focus unter einer der Eichen, die das abgeschiedene Haus verbargen, das mitten in einer bewaldeten Enklave von bescheidenen Fachwerkhäusern und Bungalows lag. Das ethnisch bunt gemischte Silverlake mit seiner Nähe zu Downtown war in den vergangenen zehn Jahren zu einem angesagten Wohnviertel geworden, und der Wert der schlichten Häuser war mit dem neuen Prestige ins Unverhältnismäßige gestiegen. Kate unterdrückte die Missbilligung, die sich automatisch einstellte, und rief sich in Erinnerung, dass sie sich geschworen hatte, unausweichlichen Veränderungen mit einer gewissen Flexibilität zu begegnen und sie zu akzeptieren. Zusammen mit den vom Verkehr gnadenlos verstopften Straßen und dem turbulenten politischen Treiben einer vielschichtigen Stadt, war Silverlake nun einmal Teil eines sich beständig entwickelnden Los Angeles, ob Kate der eine oder andere Aspekt nun gefiel oder nicht, und wie Maggie ihr oft gesagt hatte: »Alles verändert sich, Kate. Nichts bleibt, wie es ist.«
Sie ließ Stevie Nicks »Rhiannon« zu Ende singen, stellte dann das Radio aus und saß einen Augenblick lang einfach nur da, trank ihren großen starken Starbucks-Kaffee, lauschte den Vögeln und dem Ticken des abkühlenden Motors und wartete darauf, dass das Koffein Wirkung zeigte und den Schmerz milderte, der in ihrem Kopf wütete wie Blitzeinschläge. Schließlich gab sie auf, öffnete das Handschuhfach und kramte darin herum, bis sie das Fläschchen Tylenol fand. Sie warf drei Schmerztabletten ein und spülte sie mit dem Rest des Kaffees hinunter.
»Komm in die Hufe«, murmelte sie vor sich hin. Doch sie rührte sich nicht, saß da wie in einer Art Starre und wartete darauf, dass sich die Willenskraft einstellte, die sie brauchte, um aus dem Wagen zu steigen. Diese Willenskraft aufzubringen schien bei jedem Besuch länger zu dauern.
Nach all den Jahren, in denen sie auf Mordschauplätzen eingetroffen und ihrer Arbeit souverän und voller Selbstvertrauen nachgegangen war und aus nächster Nähe geschundene, bisweilen zerstückelte Tote in alptraumhaft blutigen Szenarien unter die Lupe genommen hatte – warum fiel ihr das hier jetzt so schwer? Weil aus jenen Menschen bereits alles Leben gewichen war, gab sie sich selbst die Antwort, es waren nur noch die irdischen Hüllen, und ihre Aufgabe, ihre Mission war es, herauszufinden, wer die Verantwortung für diesen ultimativen Raub trug: für das Auslöschen des Lebens und aller Verheißung, die dieses Leben für alle im Umfeld des Mordopfers gehabt hatte. So strapaziös es manchmal auch gewesen war, Stund um Stund im Angesicht der Auswüchse schlimmster menschlicher Grausamkeit Beweismittel und Informationen zu sammeln, es schien ihr nicht so schwierig, wie sich der Ankunft des nahenden Todes zu stellen und bei einer Frau zu sein, die sich an dessen Schwelle befand – einer Frau, die zu verlieren sie nicht ertrug.
Sie griff nach einer Starbucks-Tüte und zwang sich auszusteigen.
Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich auf einen glatten asphaltierten Weg, der eine laubbedeckte Grünfläche teilte und zu einem schmucklosen und doch architektonisch ansprechenden weißen Gebäude führte, das einen Großteil des Grundstücks einnahm. Die zahlreichen zweiflügeligen Fenster erlaubten den Blick auf eine bunte Mischung aus Jacaranda, Feigenbäumen, Fächerpalmen, Paradiesvogelbüschen, scharlachroten Bougainvilleen und gelben Wandelröschen in voller Maienblüte.
Kate öffnete eine große Eichentür und betrat einen lichtdurchfluteten Raum, der an ein Wohnzimmer denken ließ. Auf dem hellen Parkettboden lagen leuchtendbunte Teppiche mit geometrischen Mustern, Sofas, Sessel und Stühle in heiteren Bonbonfarben waren zu drei Sitzgruppen arrangiert. Allein die Rezeption aus warmem Kirschholz, die von der Wand neben der Eingangstür aus in den Raum hineinragte, und ein schwacher Geruch, undefinierbar, aber ausgeprägt und adstringierend, verrieten, dass es sich hier nicht um ein großzügig geschnittenes Eigenheim handelte. Die Sitzgruppe vor dem dunkelblau gekachelten Kamin war von drei Menschen besetzt – zwei korpulente Frauen mit ergrauendem Haar saßen links und rechts von einem weißhaarigen Mann mit eingesunkenen Schultern und zitterndem Kopf, der wiederum in einem Rollstuhl saß. Die Frauen hielten jeweils eine Hand des Mannes und blickten nicht auf, als die automatische Tür sich zischend hinter Kate schloss.
Die Rezeption war nicht besetzt. Mit ruhigen Schritten durchquerte Kate die Eingangshalle und bog am Ende in einen Gang ein. Sie nickte dem weißgekleideten Pfleger zu, der ein Tablett trug. An der Tür zum vierten Zimmer auf der linken Seite blieb sie stehen.
In dem schmalen Bett am Fenster lag Maggie Schaeffer und blickte auf die üppige Pflanzenpracht hinaus; eine leichte Decke lag auf ihrem ausgezehrten Körper, eine durchscheinende Hand ruhte auf dem Buch, das neben ihr lag. Ihre neue Zimmergenossin, der Kate noch nicht begegnet war, eine uralte, runzelige Frau mit gelblichem Teint und grauem Haar, das so dünn war, dass ihre Kopfhaut hindurchschimmerte, schlief in dem Bett an der Wand und schnarchte beim Ausatmen leise blubbernd vor sich hin. Der Fernseher oben an der Wand lief, war aber stumm gestellt.
Kate blieb in der Tür stehen und betrachtete Maggie. Die Erinnerung an ihre erste Begegnung in der Nightwood Bar durchzuckte sie. Eine kräftige, ziemlich selbstbewusste Maggie Schaeffer, die ein lilafarbenes T-Shirt trug und mit vielen Reißverschlüssen verzierte Shorts. In späteren Jahren sah sie eine Maggie Schaeffer mit wettergegerbtem Teint, stets gebräunt von der Sonne im San Fernando Valley, das attraktive Gesicht von einer reinweißen Mähne gerahmt, die mit ihren lesbischen Gästen flirtete, während sie ihnen in der fröhlichen Geselligkeit der Nightwood Bar ihre Drinks servierte. Die gespenstisch dünne Frau in dem Bett, deren Kopf nach der Chemotherapie nun mit einem zarten Pusteblumenflaum bewachsen war und von deren Nase ein Schlauch zu einer Sauerstoffflasche am Kopfende des Bettes führte, erschien ihr wie ein grausames Abbild. Das einzige unveränderte Merkmal, das diese Person mit jener früheren lebenssprühenden Frau verband, war der Kaffeebecher aus glasierter Keramik, der auf Maggies Nachttisch stand – der Kaffeebecher, der in den dreiundzwanzig Jahren, die Kate Maggie kannte, fest zum Inventar von Maggies Häuschen in Pacoima gehört hatte und ständig in Maggies Reichweite gewesen war. Er gehörte zu den wenigen Dingen, die Maggie in ihr letztes Domizil mitgenommen hatte.
»Ich sehe dich da stehen«, sagte Maggie mit dünner Stimme, ohne den Kopf zu wenden.
Kate war die außergewöhnliche Wahrnehmung, über die Maggie seit einiger Zeit verfügte, inzwischen vertraut. Sie hielt die Starbucks-Tüte hoch. »Ich habe dir deinen guten alten Freund Frappuccino mitgebracht.«
Nun wandte Maggie ihr den Kopf zu, und die durchscheinende Haut über ihrem ausgezehrten Gesicht straffte sich über ihren Wangenknochen, als sie lächelte, und schimmerte weiß. Mit einer leichten Kopfbewegung wies sie auf das zweite Bett. »Das ist Alice. Sie ist gestern hier im Todestrakt angekommen.«
Das Hospiz beherbergte zehn Menschen, zwei in jedem Zimmer, und ein Bett war stets nur kurze Zeit nicht belegt. Maggie hatte keine Familie – man hatte die Tochter, die unbeirrt als Butch ihren Weg ging, schon Jahrzehnte zuvor verstoßen. Kurz nach der Diagnose ›Krebs im Endstadium‹ hatte Kate recherchiert, Silverlake Haven entdeckt und unter die Lupe genommen – ein wichtiges Kriterium war die Aufgeschlossenheit gegenüber LGBT-Menschen – und Maggie auf die Warteliste setzen lassen. Als irgendwann klar wurde, dass Palliativbetreuung rund um die Uhr alles war, was man noch für Maggie tun konnte, stand ihr Name bereits oben auf der Liste, und Kate hatte sie mit einem privaten Krankentransport herbringen lassen.
Kate füllte den Frappuccino in den Keramikbecher, steckte den biegsamen Strohhalm aus Maggies Wasserglas hinein und servierte ihn ihr. Maggie hob den Kopf und trank genießerisch einen Schluck. »Gut. Das hier auch.« Sie hob das Buch hoch, einen Roman von KG MacGregor. »Patton hat mir gestern das letzte Kapitel vorgelesen.«
Kate nickte. »Ich bringe dir morgen etwas von einer deiner Lieblingsautorinnen mit – den neuen Roman von Karin Kallmaker.« Sie holte einen Blaubeermuffin aus der Tüte. »Wie geht’s dir?«, fragte sie pflichtschuldig und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.
»Ging mir nie besser. Iss du den Muffin«, sagte sie zu Kate. »Ich will ihn nicht – es sei denn, er enthält die Pillen, um die ich dich gebeten habe.«
Kate warf einen raschen Blick auf die neue Zimmergenossin, die aufzuwachen schien, und schüttelte den Kopf. »Fang nicht wieder davon an, Maggie.«
»Warum nicht? Ich habe eine neue Idee, die all deine Gewissensbisse ausräumen wird. Wie wär’s, wenn du das nächste Mal zwei Revolver mitbringst, mir den einen gibst und mich dann in Notwehr erschießt?«
Kate musste wider Willen laut auflachen, und von Alice aus dem anderen Bett ertönte ein Schnauben, das keineswegs wie Schnarchen klang.
Maggie sprach mit leicht pfeifendem Atem und einiger Mühe, aber immerhin ohne zu husten. Das war vermutlich den neuen Medikamenten zu verdanken, die sie über den Sauerstoffschlauch inhalierte und die die Atemwege heute freizuhalten schienen.
Kate wusste, dass Maggie möglicherweise nicht an Lungenversagen sterben würde. Im vierten Stadium hatte der Lungenkrebs bereits Tochtergeschwülste in die Leber gesetzt. Man hatte Kate gesagt, dass es nur eine Frage von Wochen, wenn nicht gar Tagen war, bis eine oder mehrere Vitalfunktionen ausfallen würden.
»Kate, als Audie Schlaftabletten genommen hat, fandst du das in Ordnung. Du warst der Meinung, sie habe das Recht zu tun, was sie getan hat, als ihr Krebs –«
Kate runzelte die Stirn. Aber sie hat es selbst getan. Und Audies Leichnam zu finden hat beinahe auch noch Raney umgebracht.
»Kate, wie kannst du deiner besten Freundin wünschen, wochenlang dahinzusiechen?«
Weil ich nicht einmal den Gedanken ertrage, dich zu verlieren.»Darüber haben wir schon gesprochen.«
»Sei froh, dass du das Rauchen schon vor langer Zeit aufgegeben hast, Kate.«
»Wenn Anne nicht gewesen wäre …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, denn sie mochte nicht sagen, dass sie dankbar war. Wenn Anne sie nicht dazu gebracht hätte aufzuhören, wäre sie wahrscheinlich dumm genug, immer noch zu rauchen. »Ich glaube, das kommt vom jahrelangen Passivrauchen in der Nightwood Bar.«
»Du meinst also, dass meine lesbischen Schwestern mich umgebracht haben?«
Kate lächelte sie an.
»Vielleicht nur diejenigen, die du verführt und dann abserviert hast.«
»Sind Sie die Freundin von der Polizei?«, rief die Frau aus dem zweiten Bett zu ihr herüber. Ihre Stimme klang zittrig und quengelig. »Ich brauche Ihre Hilfe.«
Kate sah Maggie mit gerunzelter Stirn an. Maggie zuckte die Achseln. »Ich habe ihr von dir erzählt. Ich habe ihr gesagt, dass du nicht mehr im Dienst bist.«
»Miss Police Detective, kann ich mit Ihnen reden?«
Kate sah Maggie an und verdrehte die Augen. Dann stand sie auf und ging zu dem anderen Bett hinüber. »Hallo, Alice. Ich heiße Kate. Ich kann Ihnen nicht behilflich sein. Ich bin aus dem Polizeidienst ausgeschieden.«
Alice musterte Kates Khakihosen und das gelbe Poloshirt mit einem Hauch von Anerkennung in den wässrigen blauen Augen. Dann heftete sie ihren Blick auf Kates Gesicht. »Sie müssen jemanden für mich finden. Jonathan Philip Souza. Wie John Philip Sousa, nur dass er Jonathan heißt und dass Souza sich mit Z schreibt.«
»Haben Sie denn keine Familie –«
»Meine Familie will nichts mit ihm zu tun haben. Ich muss ihn aber sehen. Ich muss ihm unbedingt sagen …« Tränen füllten ihre Augen, quollen über und liefen ihr die runzeligen Wangen hinunter. »Ich liebe diesen Jungen. Bitte finden Sie ihn! Sagen Sie ihm, dass seine Tante Alice ihn sehen möchte.«
»Alice, es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Kate sanft.
Alice wischte ihren Einwand mit einer klauenartigen Hand verächtlich fort. »Was sind Sie denn für eine Detektivin?« Der Ton machte klar, dass sie Kate eigentlich fragte, was für ein Mensch sie war. Sie drehte sich um, wandte Kate den Rücken zu und schaute an die Wand.
»Kate …« Maggie winkte Kate zu sich.
Kate kehrte zu ihr zurück und beugte sich auf Maggies Geheiß zu ihr hinunter. »Bauchspeicheldrüsenkrebs«, flüsterte Maggie ihr ins Ohr. »Sei nachsichtig mit ihr – wer weiß, was für Medikamente sie kriegt.« Maggie legte ihr die Hand auf die Schulter, damit Kate sich noch nicht aufrichtete, und fuhr fort: »Dieser Junge – er ist kein Junge mehr. Er ist fünfunddreißig, und er ist schwul. Seine Familie hat sich von ihm losgesagt, genau wie meine damals – vor vielen, vielen Jahren.«
»Ich weiß nicht, was ich tun –«
»Red keinen Unsinn«, keuchte Maggie. Sie schob Kate mit schwachen Kräften von sich. »Tu’s einfach.«
Kate seufzte.
»Du siehst ziemlich fertig aus«, fuhr Maggie fort und inspizierte sie näher. »Verkatert?«
»Ein bisschen«, gab Kate zu. Dank Tylenol fühlte sie sich schon besser.
»Aimee war gestern Abend hier.«
Kate nickte. Aimee besuchte Maggie, wenn Kate sie nicht besuchte. Einige Tage zuvor war Kate aus dem Hospiz gekommen und hatte gesehen, wie Aimee davonfuhr, als sie bemerkt hatte, dass Kates Focus vor dem Silverlake Haven stand.
»Wenn du das Trinken nicht lässt –«
Kate hob entschieden die Hände. Nicht nötig, dass Maggie ihre Tirade erneut losließ. »Ich muss gehen«, sagte sie. »Ich habe um halb zwölf einen Termin.« Sie tätschelte Maggie die Hand.
Maggie ergriff Kates Hand. »Bitte, Kate, ich möchte, dass das hier zu Ende geht. Bring mir einfach ein paar Pillen. Das ist alles, worum ich dich bitte.«
»Maggie, ich kann das nicht.«
»Du kannst das.«
Kate zog ihre Hand fort und stand auf. Traurig und mutlos wandte sie sich von Maggie ab und ging zur Tür. »Ich komme später noch mal wieder.«
»Miss Police Detective, finden Sie Jonathan Philip Souza!«, rief Alice ihr nach. »Souza mit Z.«
Während Kate noch überlegte, wie sie die als Nächstes anstehenden Dinge am besten anging, schlug sie den Weg zu ihrer Wohnung ein, um ein paar Sachen zu holen, ehe sie weiter zu Camerons Haus fuhr.
Im Wohnzimmer nahm sie den Schaukasten von der Wand, der die Nachbildung ihrer Dienstmarke enthielt. Sie löste die Rückwand, während sie sich mit dem Argument zu beschwichtigen suchte, dass es hier um Cameron ging und sie nur im äußersten Notfall Gebrauch von der Polizeimarke machen würde. Im umgekehrten Fall, dachte sie ironisch, würde Cameron nicht die leisesten Bedenken haben – er würde sie auslachen: »Wie – du hast ein Problem damit, dich als die Polizistin auszugeben, die du früher gewesen bist?« Sie löste die Marke von dem blauen Samt, mit dem der Kasten ausgeschlagen war, und wog sie in der Hand – sie hatte sie nie zuvor in den Händen gehalten – und stellte fest, dass sie ein klein wenig schwerer war als das Original.
Im Schlafzimmer stieg sie aus ihrer Khakihose und zog eine geräumige Cargohose an. Sie steckte ihre Brieftasche und ihr Handy in eine der Taschen und ein Notizbuch, einen Stift und einige weitere Dinge in eine andere. Nach den gut vier Monaten außer Dienst war sie immer noch froh, dass sie nie wieder die Schultertasche tragen musste, die sie immer als ›die verdammte Satteltasche‹ bezeichnet und als Cop immer hatte bei sich haben müssen. Sorgsam heftete sie die Dienstmarke in eine der verbliebenen leeren Hosentaschen, um sie nicht aus Versehen herauszuziehen, wenn sie etwas anderes hervorholte. Oder sie – schlimmer noch – verlor. Eine gefälschte Dienstmarke mit ihrer Dienstnummer zu verlieren würde ihr wahrscheinlich größere Scherereien bereiten, als wenn sie dabei erwischt wurde, wenn sie sie benutzte.
»Hab einen schönen Tag, Miss M«, sagte sie leise und streichelte Miss Marple, die sich auf dem Bett zusammengerollt hatte, eine weiße Pfote unter dem Kopf, die Jadeaugen auf Kate geheftet.