Prolog
Als mein Zug im Wiener Westbahnhof stehenblieb, sah ich die Menschenmassen auf den Bahnsteigen. Ich trat hinaus und hörte überall laute und hektische Stimmen in Sprachen, die ich nicht verstand. Was war hier los? Über dem ganzen Bahnhof lag eine angespannte Atmosphäre, und in den Augen der Menschen sah ich eine Mischung aus Neugierde und Angst.
Ich kam gerade aus Tirol vom Europäischen Forum Alpbach, bei dem ich eingeladen war, um mit dem jetzigen Bundeskanzler Christian Kern über Start-ups und das Potential von Umbrüchen in Europa zu sprechen. Nach einer anstrengenden Rückreise freute ich mich, dass meine Freundin Anna mich am Gleis abholte. Wir waren gerade mal ein Jahr zusammen, und ich war glücklich, sie wiederzusehen.
Während sie mir entgegenkam, erkannte ich auf ihrem Gesicht einen Ausdruck von Sorge und Traurigkeit. Mein erster Gedanke war: »Oh Gott, was ist passiert? Hoffentlich macht sie nicht Schluss mit mir.« Anders konnte ich mir nicht erklären, warum sie mit Tränen in den Augen auf mich wartete. Doch in derselben Sekunde wurde mir durch die kollektive Stimmung am Bahnhof bewusst, dass es etwas anderes sein musste. Hier geschah etwas, das alle Menschen beschäftigte.
Am 3. September 2015 war der Westbahnhof in Wien voll. Voller Menschen, die schon vor Wochen vor der untragbaren Situation in Syrien geflohen waren und nun mit letzter Kraft als Flüchtlinge Österreich erreichten. Anna war am Bahnhof drei jungen Männern begegnet, die ihr erzählt hatten, dass sie bereits vor Wochen aus Syrien geflohen waren. Viel konnten sie in ihrem Zustand nicht sagen. Sie waren erschöpft, ihre Augen sprachen Bände. In Wien angekommen, hatten sie keinen Cent mehr in den Taschen und nur noch eine Flasche Wasser. Anna gab ihnen ihr letztes Geld und begleitete sie zum Notfallsstand der Caritas, die am Bahnhof wochenlang half, dass die ankommenden Flüchtlinge versorgt wurden. Von Lebensmitteln und Schlafplätzen bis hin zu Fahrkarten für die Weiterreise kümmerte sich die Caritas um alles, was wichtig war. Da es die Möglichkeit gab, der Caritas vor Ort Geld zu spenden, das direkt für die Versorgung der Flüchtlinge eingesetzt wurde, hoben Anna und ich insgesamt 600 Euro vom Geldautomaten ab – mehr ließ unser Tageslimit nicht zu. Als wir das Geld spendeten, waren wir den Caritas-Mitarbeitern sehr dankbar dafür, dass sie den Menschen, die ankamen, ein Gefühl von Sicherheit vermittelten.
Die Bereitschaft der Menschen zu helfen war in diesen Tagen überwältigend. Sie hat mich auch deshalb sehr berührt, weil ich selbst mit meinen Eltern als Flüchtling nach Österreich gekommen bin. Ich wünschte, meine Eltern hätten bei ihrer Ankunft eine solche Willkommenskultur erlebt.
Nach der Flucht meiner Familie aus dem Iran bin ich in Österreich in Sicherheit und Freiheit aufgewachsen. Doch wie viele andere Jugendliche fühlte ich mich orientierungslos, und ein Ausländer zu sein, der stottert, war kein Vorteil.
Trotzdem wollte ich wissen, wie man seinen eigenen Weg geht. Dabei half mir die Inspiration, die ich in den Geschichten anderer Menschen fand, wenn sie mir von ihrem Leben und ihrem Werdegang erzählten. Als Kind wünschte ich mir deshalb ein Handbuch mit Lebensgeschichten. Ein Buch, in dem Menschen aus der ganzen Welt erzählen sollten, wer sie waren und wie sie ihren Weg gegangen sind. Es sollte ein Ort der Inspiration und Orientierung sein, für all diejenigen, die nicht wussten, wie ihre Zukunft aussieht.
Einen Schulabbruch und vierzig Jobs später wurde daraus whatchado, eine Webseite, die monatlich über eine Million Menschen erreicht und ihnen hilft, ihren Berufsweg zu finden. Tausende Menschen aus der ganzen Welt erzählen auf dieser Videoplattform ihre Lebensgeschichte. Heute beschäftigt whatchado über fünfzig Mitarbeiter aus über zehn Nationen, die zwanzig Sprachen sprechen. Mit der whatchaSKOOL-Initiative besuchen wir jährlich über 50 000 Schüler und Schülerinnen und geben Inspiration, wo oft nur Angst vor der Zukunft herrscht.
Wir möchten Schüler motivieren, von denen gesagt wird, dass sie nicht lernen wollen oder können. In den vergangenen Jahren habe ich nicht einen Schüler gesehen, der nicht wollte. Was ich aber oft sah, waren junge Menschen, die das Gefühl hatten, nicht gut genug zu sein. Ich sprach mit vielen Jugendlichen, die dachten, sie müssten repariert werden, weil mit ihnen etwas nicht stimme – weil sie nicht so funktionierten wie der Rest. Diesen jungen Menschen möchten wir Mut machen und ihnen neue Perspektiven zeigen.
Als Kind war ich ein Fehler im System. Jetzt bin ich genau das, was der Arbeitsmarkt braucht. Das gilt für alle Schüler, wenn man ihr Potential nur sieht und fördert. Und das gilt insbesondere auch für diejenigen Menschen, die nach ihrer Flucht in Europa angekommen sind. Ein Flüchtling ist perfekt für den Arbeitsmarkt. Wenn man Vorstände oder Arbeitsforscher fragt, was der Arbeitsmarkt aktuell braucht, dann sind das Menschen, die sich auf unterschiedliche Kulturen einlassen können und die mehrsprachig und flexibel sind. Ein Flüchtling, der sich integriert, spricht mehrere Sprachen, kann mit verschiedenen Kulturen umgehen und besitzt die Flexibilität, sich auf neue Situationen einzulassen. Deswegen – und aus Gründen der Menschlichkeit – muss man diesen Menschen Orientierung und Chancen geben. Wenn wir das schaffen – dann retten wir zwar nicht die ganze Welt – aber die Welt dieses einen Menschen.