Leila ist nicht ihr richtiger Name. Doch was die Muslimin erzählt, ist bittere Realität für tausende Frauen auf der ganzen Welt: In eine hoch angesehene Familie geboren, wird Leila mit 21 Jahren gegen ihren Willen verheiratet. Ihr Mann ist nicht nur beinahe doppelt so alt wie sie, sie hat ihn auch noch nie zuvor gesehen – und sie kann ihn nicht lieben. Dennoch muss sie sich ihrem Vater und der Tradition unterwerfen.
Die Ehe wird für die junge Frau zur Hölle. Jeden Tag ist sie körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt. Aber Leila gibt nicht auf und erkämpft sich schließlich, was in unserer westlichen Welt so selbstverständlich erscheint: ihre Freiheit.
Leila
Zur Ehe
gezwungen
Unter Mitarbeit von
Marie-Thérèse Cuny
Aus dem Französischen von
Theresia Übelhör
BASTEI ENTERTAINMENT
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
© Copyright 2004 by Oh! Editions, France
Originalausgabe: »Mariée de force«
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Odnolko
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-5274-0
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Für Ryad – mein Sohn, mein geheimer Garten
Ein paar Stufen führen hinauf in eine Halle und vor ein Türschild mit der Aufschrift »Bürgermeisteramt«.
Ich heiße Leila und bin einundzwanzig Jahre alt, in Frankreich geboren, allerdings marokkanischer Herkunft. Diese Herkunft steht noch heute allmächtig neben mir: mein Vater.
Er ist weder ein religiöser Fanatiker noch ein böser Mensch, sondern ein ehrenhafter und angesehener Mann. Er schlägt seine Tochter, wenn sie ihm nicht gehorcht; so hat er mich erzogen, auf Gehorsam und Unterwürfigkeit dressiert. Er hat mich also geschlagen, damit ich den Mann heirate, der jetzt vor mir die Stufen hinaufsteigt.
Ich gehe vor der französischen Verwaltung die Ehe mit einem Mann ein, den ich nicht kenne. Es handelt sich demnach nicht um eine Trauung, sondern um eine erzwungene Formalität. Noch könnte ich mich retten, diese Treppe wieder hinunterrennen und um Hilfe schreien. Täte ich das, dann könnte ich trotzdem kein selbstbestimmtes Leben führen. Ein in dieser Tradition erzogenes Mädchen kann nicht ohne ihre Familie und den Schutz ihres Vaters leben, dessen Aufgabe es ist, dieses Mädchen einem anderen Beschützer zu übergeben: dem von ihm ausgesuchten Ehemann.
Ich bin in diesem Vorstadtviertel geboren, meine Geburt wurde in ebendieses Personenstandsregister in ebendiesem Rathaus eingetragen, angeblich habe ich Rechte, aber sie nützen mir überhaupt nichts. An wen soll ich mich wenden? An eine Sozialarbeiterin? Hier handelt es sich um eine Privatangelegenheit, und sie dürfte sich nicht einmischen. An die Polizei? Man würde mir antworten, dass ich volljährig sei und nur Nein zu sagen bräuchte. In einer Demokratie gibt es so etwas wie eine Zwangsheirat grundsätzlich nicht. Aber wenn ich vor dem Bürgermeister Nein sagen würde, wäre mir auch nicht geholfen, weil man mich in Marokko bereits offiziell verheiratet hat, und auch wenn diese Eheschließung in Frankreich nicht anerkannt wird, wäre ich für meinen Vater und die ganze Gemeinschaft unseres Vorstadtviertels eindeutig geächtet, ich würde als »ungehorsames Mädchen« abgestempelt und ausgestoßen werden, falls ich mich weigern würde, diese abschließende Formalität in Frankreich hinter mich zu bringen. Ich könnte nie mehr ungehindert nach Marokko reisen, mein »Ehemann« hätte das Recht, mich suchen zu lassen und mich dann zu verstoßen. Und in den Augen eines traditionsbewussten Vaters ist es die schlimmste Schande, die er sich vorstellen kann, wenn seine Tochter verstoßen wird.
Ich habe immer von einer Liebesheirat geträumt, davon, jenem jungen Mann zu begegnen, auf den alle Mädchen warten. Ich würde wie in den romantischen Liebesgeschichten ein schönes weißes Kleid und einen Blumenstrauß tragen, ich würde oben auf der Treppe stehen und lächeln, alle meine Freundinnen wären gekommen, um mich zu beglückwünschen und in die Arme zu schließen. Ich würde meine Familie verlassen, um in eine kleine Wohnung zu ziehen, nur wir beide, ich würde vor Rührung weinen, mich von meinem Vater, meiner Mutter und allen meinen Brüdern verabschieden, das Glück und die Freiheit vor Augen, die ich mir schon immer ersehnt habe.
Die Formalität dauerte gerade einmal zehn Minuten.
Jetzt hatte der Fremde, was er haben wollte, und das war nicht unbedingt ich, Leila. Ihm wäre jedes in Frankreich geborene Mädchen aus dem Maghreb recht gewesen, vorausgesetzt, sie ist Jungfrau und stammt aus gutem Hause. Mein Vater hat mich nicht einmal an diesen Mann »verkauft«, wie es gelegentlich vorkommt. Er glaubt einfach an die Tradition der zwischen Familien arrangierten Ehen, er hält offen und beharrlich daran fest, mich zum Gehorsam, zur Unterordnung zu zwingen, denn er könnte es nicht ertragen, wenn seine Tochter anders leben würde.
Mein Kopf ist leer. Ich bin nicht bei der Sache, dieser Tag existiert nicht, ich habe ihn im Voraus aus meinem Gedächtnis gestrichen. Den Kopf in den Sand gesteckt wie ein Vogel Strauß und auf irgendein Eingreifen des Schicksals hoffend, das mich da noch herausholt – den Weltuntergang, ein Erdbeben, oder dass jemand aufsteht und ausruft: »Nach französischem Recht sind Zwangsehen verboten!«
Abgesehen von den beiden Trauzeugen war außer uns niemand in diesem Amtszimmer, und die Erde bebte nicht. Der Bürgermeister machte sich keine Gedanken, er hatte schon mehrere überstürzte Hochzeiten erlebt, bei denen keiner vor Freude jauchzte. Unter dem autoritären Blick meines Vaters sagte ich mit einer Stimme, die nicht die meine war, »Ja« und unterschrieb ein Papier, das ich gar nicht richtig sah, so verschwommen war alles, weil mir Tränen in den Augen standen. Beim geringsten Aufbegehren hätte mich mein Vater grün und blau geschlagen, mich nach Marokko geschickt oder auf die Straße geworfen.
Ich hätte in einem Mädchenhaus Zuflucht suchen müssen, einer Freiheit ausgesetzt, auf die er mich nie vorbereitet hat und die mir schreckliche Angst einjagt. Die Integration erfolgt über die Freiheit, Nein zu sagen. Die Tradition bedeutet die Unmöglichkeit, dieses Nein auszusprechen. Ich war nie frei genug, dieses ungeschriebene Gesetz zu brechen.