Mit einer Einführung von Karl-Josef Kuschel
und einem Nachwort von Thomas Weiß
Karl-Josef Kuschel
Ich lebe am Berge Tabor, unter den
Palmen Jerichos und bei euch
Warum und wie Johann Peter Hebel
«biblische Geschichten» neu erzählt
Seine Herkunft ist arm, seine Kindheit bitter, sein Aufstieg staunenswert. An «einer unsichtbaren Hand» sei er «immer höher hinan» geführt worden, wird er später einmal schreiben, als stünde er neben sich und könne es kaum glauben. Nachzulesen im autobiographisch gefärbten «Entwurf einer Antrittspredigt vor einer Landgemeinde» 1820, nie vollendet, nie gehalten, weil der Prediger das geliebte Pfarramt in seiner Heimat auf dem Lande nie hat antreten können. Aber auch als er «ganz oben» angekommen ist, dieser Johann Peter Hebel, und als «Prälat» amtet, will sagen: als höchster Repräsentant seiner badischen Landeskirche in Karlsruhe, und er qua Amt auch noch Mitglied der Generalsynode seiner Kirche und der Ersten Kammer der Badischen Ständeversammlung ist, vergisst er nicht, wo er hergekommen ist. Ein Freund hatte ihn kritisiert, warum er in der Abgeordnetenkammer so selten das Wort ergreife, da war es aus Hebel herausgebrochen:
«Ihr habt gut reden! Ihr seid des Pfarrers N. Sohn und von X … Ich aber bin, wie Ihr wißt, als Sohn einer armen Hintersassen-Witwe in Hausen aufgewachsen, und wenn ich mit meiner Mutter nach Schopfheim, Lörrach oder Basel ging, und es kam ein Schreiber an uns vorüber, so mahnte sie: ‹Peter, zieh’s Chäppeli ra, chunnt a Heer› … Nun könnt ihr euch vorstellen, wie mir zumute ist, wenn ich hieran denke – und ich denke oft daran – und in der Kammer sitze mitten unter Freiherren, Ministern, Generalen, vor mir die Standesherren, Grafen und Fürsten und die Prinzen des Hauses, und unter ihnen Markgraf Leopold – fast mein Herr».
Zwei Merkmale, die Hebel für immer charakterisieren: die unprätentiöse Menschlichkeit und Bescheidenheit eines Mannes, der bei allem Aufstieg in eine ihm von Hause aus fremde Gesellschaft von Generälen und Grafen seine Wurzeln nicht vergessen hat und der dieser seiner Menschlichkeit mit dem Dialekt seiner Heimat, dem Wiesental beim südbadischen Lörrach, einen warmen Ton zu geben weiß.
Geboren wird er 1760 in Basel, weil seine Eltern in den Sommermonaten bei einer Basler Patrizier-Familie in Diensten sind. Es ist die Zeit, die von den militärischen Aktionen des preußischen Königs Friedrich II. überschattet ist. Der «siebenjährige Krieg», der zwischen Berlin auf der einen sowie Wien, Paris und Moskau auf der anderen Seite ausgekämpft wird, geht ins sechste Jahr. Den Aufstieg Preußens zu einer europäischen Mittelmacht nach ungezählten Schlachten, Anfang und Ende des «Großen» Friedrich hat er als Zeitzeuge erlebt, aus der Perspektive Südbadens mehr distanziert als berauscht. Als Hebel ein Jahr alt ist, stirbt sein Vater Johann Jakob, Leineweber von Beruf, an Typhus, auch die soeben geborene kleine Schwester Susanne. Seine Schulzeit verbringt der Junge jetzt abwechselnd zwischen der Großstadt Basel im Winter und dem kleinen Dorf Hausen im Wiesental im Sommer. Von hierher stammt die Mutter Ursula, geborene Oertlin, eine Bauerntochter. Doch im Alter von 13 Jahren verliert Hebel auch sie. Diese Begegnung mit dem Tod wird Hebel nie vergessen. Was «Vergänglichkeit» bedeutet (so der Titel eines seiner großen Gedichte) hat er früh erfahren.
Elternlos geworden, schickt man den Knaben ein Jahr später auf das «gymnasium illustre» in Karlsruhe. Vorbei die Wiesentaler Tage, nach denen sich Hebel ein Leben lang sehnen wird, vorbei das Doppelleben als Stadtbub und Bauernbub, das ihn tief geprägt hat. Dem Wunsch der Mutter gemäß soll der Junge eine Schulbildung bekommen, die ihn auf den Weg zum lutherischen Pfarramt bringt. Begabung, finanzielle Ressourcen und das Wirken der «unsichtbaren Hand» tun das Ihre. Und nach Abschluß der Gymnasialzeit sieht man Hebel denn auch in Erlangen für zwei Jahre evangelische Theologie studieren, zwischen 1778 bis 1780, eine Theologie notabene, die sich jenseits von lutherischer Orthodoxie und pietistischer Frömmigkeit einem erneuerten christlichen Glauben im Geiste der Aufklärung verpflichtet weiß.
Doch obwohl er mit 22 Jahren die Ordination empfängt und auch schon als Prediger tätig ist, beginnt für Hebel von jetzt ab eine Laufbahn nicht als Pfarrer, sondern als Pädagoge, zunächst als Hauslehrer bei einem Pfarrer in einem Dorf namens Hertingen (heute Gemeinde Bad Bellingen im Markgräflerland), dem er auch als Vikar zur Seite steht, dann ab 1783 als Aushilfslehrer am «Pädagogicum» in Lörrach. Acht Jahre später schließlich, 1791, der große Sprung: Hebel wird als Professor an das Gymnasium in Karlsruhe berufen, in dem er seine eigene Schulzeit verbracht hatte. Latein, Griechisch und Hebräisch unterrichtet er hier, und wirkt gleichzeitig als Subdiakon an der Hofkirche zu Karlsruhe. Seine Predigten haben eine solche Ausstrahlung, daß Hebel bereits 1798 zum Hofdiakonus befördert wird.
Unruhige, revolutionäre Zeiten sind angebrochen. Europa steht jetzt nicht mehr im Zeichen kontinentaleuropäischer Kriege der Monarchien, sondern im Zeichen revolutionärer Aufstände der Massen im Nachbarland Frankreich. Die Französische Revolution von 1789 wirft ihre Schatten auch auf das rechtsrheinische Baden, als im Zuge des 1. Koalitionskriegs europäischer Mächte gegen das revolutionäre Frankreich 1796 französische Truppen Karlsruhe besetzen und Markgraf Karl Friedrich (Reg. 1747–1811) ins Exil zwingen, aus dem er, einer der am längsten regierenden und reformfreudigsten Fürsten im damaligen Deutschen Reich, ein Jahr später wieder zurückkehrt. Doch die revolutionären Ereignisse lassen nach Jahren der «Schreckensherrschaft» 1799 in Paris einen Mann nach der Macht greifen, der in den nächsten 15 Jahren Europa beherrschen und seinerseits mit Kriegen überziehen sollte: Napoleon Bonaparte. Er, 1804 durch Selbstkrönung zum Kaiser geworden, 1805 überlegener Sieger in der «Dreikaiserschlacht» bei Austerlitz, wird in Badens Geschichte noch entscheidend eingreifen, als er 1806 in Karlsruhe einzieht, die Hochzeit seiner Stieftochter Stephanie Beauharnais mit dem badischen Erbprinzen Karl arrangiert und das Herzogtum Baden zum Beitritt in den sog. Rheinbund nötigt, von Paris her gedacht als eine strategische Pufferzone zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich. Doch dem immer noch amtierenden Fürsten Karl Friedrich verschafft das für Baden erhebliche territoriale Zugewinne und den Titel eines Großherzogs. In badischen Patrioten verstärkt das Vorstellungen von einem «Dritten Deutschland», einem Deutschland jenseits von Preußen und Habsburg.
Hebel, dieser Zeitzeuge der Aufklärung und der politischen Umbrüche, ist ein solch badischer Patriot, der um der Eigenständigkeit seines Landes willen gegen einen gesamtdeutschen Nationalismus von Karlsruhe aus eher nach Paris als nach Berlin und Wien blickt. In diesen unruhigen Zeiten lässt man ihn denn auch in Karlsruhe nicht mehr los und bindet ihn durch Beförderungen auf der schulischen und kirchlichen Aufstiegsleiter. 1805 wird Hebel zum Kirchenrat gemacht, 1808 zum Direktor des Karlsruher Gymnasiums ernannt, 1809 Mitglied der evangelischen Kirchen- und Prüfungskommission und 1814 Mitglied der evangelischen Ministerialsektion, der obersten Kirchen- und Schulbehörde des Landes. Dann, 1819, mit der Ernennung zum Prälaten durch den Großherzog der «krönende» Abschluß einer Karriere, die dem Mann aus dem Wiesental an der Wiege nicht gesungen worden war. Der Leineweber-Sohn und früh verwaiste Knabe ist in Karlsruhe jetzt das, was heute ein Landesbischof ist, und als solcher zugleich Abgeordneter in der Ersten Kammer des badischen Landtags.
Hebel nutzt dieses erstmals geschaffene, sowohl einflußreiche wie verantwortungsvolle Amt für eine ökumenische Pioniertat von geschichtlicher Reichweite. Maßgeblich schafft er von kirchlich-theologischer Seite die Voraussetzung dafür, daß die lutherische und die reformierte Kirche Badens sich im Juli 1821 auf der Generalsynode zu einer Kirchenunion zusammenschließen. Im selben Jahr war Napoleon auf seiner Verbannungs-Insel St. Helena gestorben. Sein beispielloser Aufstieg war erst 1812 nach dem Überfall auf Rußland gebrochen, dann 1813 durch die «Völkerschlacht» bei Leipzig und 1815 durch die Niederlage bei Waterloo endgültig gestoppt worden. Mit dem Jahr 1813 aber war auch das Ende des Rheinbunds von Napoleons Gnaden gekommen. Baden tritt 1816 als selbstständiger Staat dem Deutschen Bund bei, hatte sich aber unter dem mittlerweile ins Amt gekommenen Großherzog Karl 1818 eine für die damalige Zeit fortschrittliche Verfassung gegeben. Die ökumenische Arbeit an einer Kirchenunion in Baden muß auch in diesem landespolitischen und verfassungsgeschichtlichen Kontext gesehen werden.
Aufstieg und Fall eines zweiten Großen der europäischen Geschichte hat der Zeitzeuge Hebel miterlebt. Doch die Einführung einer liberalen Verfassungsordnung auch auf deutschem Boden mit mehr Rechtssicherheit, mit religiöser Toleranz von Christen untereinander und gegenüber Nichtchristen, Juden zumal, hat er als Erbe der Französischen Revolution («Erklärung über die Menschenrechte») und der napoleonischen Herrschaft («Code Civil») zu schätzen gewußt. Für Hebel ist Napoleon – zunächst in Loyalität gebunden an seinen Landesherrn – anfangs nicht der größenwahnsinnige Despot, sondern – Kalendergeschichten spiegeln es – «der Erlöser» vom Chaos der revolutionären Jahre. Obgleich er die Welt mit Kriegen überzogen hatte, «umgibt ihn die Aura des Friedensbringers, der die Ideen der Aufklärung über Europa verbreitet, die Aura des «großen Kaisers», der das Böse vom Volk abwendet», so Hannelore Schlaffer. Ein Napoleon-Bild, das bei Hebel solange hält, bis es durch den fatalen Russlandfeldzug (bei dem auch ein badisches Kontingent Opfer zu bringen hatte) aufgekündigt und eine Zeitenwende angekündigt werden kann.
Erbe der Aufklärung ist Hebel auch in seinem Eintreten für Toleranz gegenüber Juden. Es ist ohne die Pariser Menschenrechtserklärung von 1789 undenkbar, unter deren Einfluss auch das Großherzogtum Baden schon 1809 Juden die langersehnte Rechtsgleichheit eingeräumt hatte. Baden war damit zum Vorreiter der Judenemanzipation im deutschen Reich geworden, in vollem Wissen, wie viel an Judenverachtung und -hass über die Jahrhunderte gerade auch durch die lutherischen Kirchen im Volk geschürt worden war. Die rechtliche und die gesellschaftliche Stellung von Juden in Deutschland ist noch lange zweierlei. Hebel hat denn auch kein verklärendes, eher ein ambivalentes Verhältnis zum real existierenden Judentum, wie Kalendergeschichten zeigen («Drei Worte», «Einträglicher Rätselhandel»). Aber weil er um die prekäre Lage von Juden im gesellschaftlichen Leben weiß, setzt er sich in Texten wie «Der große Sanhedrin zu Paris» (1808) und «Sendschreiben an den Sekretär der theologischen Gesellschaft zu Lörrach» (1809) öffentlich für Toleranz, ja Wertschätzung von Juden ein. Er hat nicht vergessen, daß die Juden das Volk der Bibel sind und somit auch Christen den Juden die Bibel verdanken. «Was aber den Jesaias betrifft», kann man im «Sendschreiben» lesen, «so behaupte ich nur so viel, daß, wer ihn vom 40. Kapitel an lesen kann, und nie die Anwandlung des Wunsches fühlte, ein Jude zu seyn, sey es auch mit der Einquartierung alles europäischen Ungeziefers, ein Betteljude, der versteht ihn nicht, und so lange der Mond noch an einen Israeliten scheint, der diese Kapitel liest, so lange stirbt auch der Glaube an den Messias nicht aus».
«Wie frei steht Hebel zu den Juden», ruft denn auch ein erstaunter Ernst Bloch aus, «damals kaum erst aus dem Ghetto heraus. Unterwürfige Schächer darunter kennt er durchaus und beklagt, daß sie so sind, aber mit Scham darüber. Sie wurden dazu gezwungen und gepresst, von Bestien und Hetzern, die sich Christen nennen. Keine Spur gar von sogenannter Schuld am Kreuz ist bekannt, nichts von einem Gott, der das rächt.» Entsprechend erkennt Bloch in dem zitierten Satz aus dem «Sendschreiben» den «wohl betroffensten, verehrungsvollsten Judensatz, der über die Lippen eines Prälaten gekommen» sei. «Überall» erscheine, so Blochs Fazit, «der Citoyen Hebel, mitten in der geliebten Heimat, aber keine Nation kennend, nur Menschen, oder Nation mindestens nicht über den Menschen stellend».
Sein Amt als Prälat führt Hebel auch in der neuen Landeskirche weiter. Er genießt das Vertrauen von beiden Seiten, von Seiten der Kirche und des Staates. Man mache sich klar, was hier erreicht worden ist. Noch Hebels Eltern hatten die wechselseitige Verwerfung von Lutheranern und Calvinisten schmerzlich erfahren. Ihre Trauung hatte deshalb nicht in Basel stattfinden können, weil die Basler Ehegerichtsordnung eine Ehe des reformiert-gläubigen Vaters mit der lutherisch-gläubigen Mutter verbot. «Mischehe» nannte man das damals verächtlich. So hatten sie im Juni 1759 im Wiesental geheiratet. Ihr ein Jahr später zur Welt gekommener Sohn wird dazu beitragen, daß dieser innerchristliche Skandal gut 70 Jahre später aus der Welt geschafft wird. In der Tat ist es so, wie der Hebel-Biograph Bernhard Viel schreibt: «Indem Hebel auf eine gemeinsame Liturgie der einst gegnerischen Glaubensbekenntnisse hinarbeitet und im Juli 1821 als erster von insgesamt 44 Synodalen die Unionsurkunde unterzeichnet, vollendet er gewissermaßen den Auftrag der toten Eltern.» Viele sind ihm dafür dankbar, ja die Universität Heidelberg verleiht diesem «erasmischen Geist», wie ihn der deutsch-französische Literaturwissenschaftler Robert Minder im Blick auf den großen Versöhner der Reformationszeit, Erasmus von Rotterdam, genannt hat, im August 1821 für seine Verdienste um die Zusammenführung der lutherischen und reformierten Kirche zur «Vereinigten evangelisch-protestantischen Kirche des Großherzogtums Baden» die theologische Ehrendoktorwürde. Erasmus wie Hebel, beide der Stadt Basel eng verbunden …
Seinen Aufstieg in Schule und Kirche aber verdankt Hebel auch dem Ruhm, den er sich über die Jahre auf literarischem Felde erworben hatte. Überraschend für einen, der in der Welt von Theologie, Kirche und Gymnasien zu Hause ist. Doch schon früh war Hebel auch hier mit einer Pioniertat an die Öffentlichkeit getreten. Er hatte es gewagt, Gedichte in der Mundart seiner Heimat zu schreiben und 1803 als «Alemannische Gedichte» erstmals erscheinen zu lassen. Noch war er als Person mit dem Kürzel J.P.H. vorsichtshalber in Deckung geblieben. Erst die rasch erforderliche zweite Auflage von 1804 zeigte den Lesern, wer der Verfasser ist, der seine Texte immerhin seinen «guten Verwandten, Freunden und Landleuten in Hausen im Wiesenthal zum Andenken gewidmet» hatte: «J.P. Hebel, Professor in Carlsruhe». Er hat mit dieser Veröffentlichung nicht nur den Dialekt «literaturfähig» gemacht, er wird jetzt auch in der aufstrebenden Residenzstadt Karlsruhe nolens volens zu einer literarischen Berühmtheit, dessen Lesungen auch bei Hofe willkommen sind, zumal ein ganz Großer im Reich der Literatur ihm «den Ritterschlag» geben sollte.
Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe, längst zum «Dichterfürsten» in Weimar aufgestiegen, rezensiert 1805 die «Alemannischen Gedichte» in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung. Durchaus wohlwollend mit dem Tenor: Als erstem sei es diesem Hebel geglückt, seine mit aufklärerischer Vernunftreligion durchtränkte Ansicht vom sinnvollen Bau des Universums im bäuerlichen und kleinbürgerlichen Milieu zu spiegeln. «Aufklärerische Vernunftreligion»: Wir merken uns dieses Stichwort für Theologie und Spiritualität des lutherischen Christenmenschen Johann Peter Hebel, denn auch seine weiteren literarischen Arbeiten bis hin zum letzten Werk, den «Biblischen Geschichten», atmen den Geist «aufklärerischer Vernunftreligion». Gemeint ist ein Glauben, der keinen Konflikt zwischen Vernunft und Offenbarung, zwischen Natur und Schöpfung, zwischen Welt und Gott und so zwischen einer naturwissenschaftlichen Erforschung der Natur und einer biblisch fundierten Schöpfungsfrömmigkeit akzeptiert, vielmehr in der Vernunft ein Geschenk Gottes an den Menschen erblickt, ein Instrument, um die wohlgeordnete Gesetzlichkeit des Universums und die Ordnung der Natur zu erkennen und im stillen Wirken der Naturkräfte zu loben. Und diese Gesetzlichkeit und Ordnung spiegelt sich für Hebel gerade in den kleinsten Einheiten der Wirklichkeit, ob in der Natur oder unter Menschen, seien sie bäuerlicher oder kleinbürgerlicher Herkunft.
Die Probe aufs Exempel liefert Hebel dann mit seinen als «Kalendergeschichten» später berühmt gewordenen Kurzprosatexten, die jetzt aber nicht mehr in Mundart verfaßt sind. Lange sind sie von der literarischen Kritik unterschätzt worden. Man hatte sie in der Schublade «Volks- oder Heimatdichtung» oder Kinder- und Schulbuchliteratur abgelegt und dabei – bei aller volkspädagogischen Absicht – weder auf die literarische Meisterschaft des Erzählens noch auf seine aufklärerischen kritischen Pointen wider den Zeitgeist geachtet. Erst im 20. Jahrhundert haben Philosophen wie Ernst Bloch oder brillante Literaturkritiker wie Walter Benjamin die Bedeutung der «Kalendergeschichten» in ihren Formgesetzen, ihrer Sprachlichkeit und ihrer Erzählstrategie erkannt und gewürdigt.
Was war passiert? Ab 1807 hatte Hebel in dem von ihm mittlerweile allein redaktionell betreuten «Curfürstlich badischen Landkalender», ein seit langem beliebtes und bedeutendes Informations- und Unterhaltungsmedium «fürs Volk», neben allen anderen nützlichen und lebenspraktischen Informationen auch Geschichten aus dem Leben beigesteuert. Das traditionelle Organ hatte an Leserschwund gelitten und dringend reformiert werden müssen. In kritischen Gutachten hatte Hebel sich dafür engagiert und hatte am Ende die Verantwortung dafür bekommen. Den alten Kalender hatte er in «Der Rheinländische Hausfreund» umbenannt und mit seinen Geschichten «unterhaltsamer» gemacht.
Ein Signal der neuen Zeit sollte das sein. Denn «Rheinländisch» ist keine geographische Ortsangabe allein, verweist vielmehr gezielt auf das politische Anliegen, das für badische Patrioten wie Hebel mit dem «Rheinbund» 1806 Gestalt gewonnen hatte. Schon seine «Alemannischen Gedichte» hatten diese «patriotische» Seite. Der Titel «Rheinländisch» also ist auch ein politisches Signal, das dazu beitragen sollte, das neu geschaffene Land Baden zusammenwachsen zu lassen. Hebels Geschichten aber finden beim Publikum derartigen Anklang, daß er sich entschließt, eine eigenständige Publikation daraus zu machen und sie 1811 bei Cotta in Tübingen unter dem Titel «Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds» erscheinen zu lassen. So macht er die ursprünglichen für den «Kalender» geschriebenen Geschichten zu einer eigenständigen literarischen Form.
Der heute biedermeierlich klingende Titel könnte auf idyllische Heimatkunst schließen lassen, täuscht aber nicht darüber hinweg, daß Hebels Texte einen ausgesprochen weltläufigen Charakter haben, ohne an «volkstümlicher» Lesbarkeit einzubüßen. Hebel ist eine einzigartige Mischung aus volksnahen und zugleich aufklärerischen Geschichten gelungen, abwechslungsreich zu lesen und kritisch in ihren Pointen. Volkstümlichkeit ohne Volkstümelei. Popularität ohne Populismus. Ein Mann wie Walter Benjamin ist denn auch der Anerkennung voll, wie seine Interventionen zu Hebel zeigen. Das «Schatzkästlein» sei «eines der lautersten Werke deutscher Prosa-Goldschmiederei», schreibt Benjamin, das Dokument eines «aufgeklärten Humanismus». Dieser Geistliche und Philanthrop, Zeitgenosse der Französischen Revolution, habe mit «artistischer Meisterschaft» Geschichten erzählt, in denen «die Moral nie an der Stelle» entspringe, «wo man nach Konventionen sie erwartet». Auch Bertolt Brecht sollte mit seiner ersten Veröffentlichung nach dem 2. Weltkrieg, mit der er sich dem deutschen Publikum aufs Neue hat vorstellen wollen, formal wie erzählstrategisch gezielt an Hebel anknüpfen: «Kalendergeschichten», 1949.
Wenn man diesen aufklärerischen, volkspädagogischen, patriotischen und kirchenpolitischen Hintergrund des Christenmenschen und Kirchenführers Johann Peter Hebel kennt, kann man besser nachvollziehen, warum er sich nach den «Kalendergeschichten», die er nicht fortsetzen will (einen zweiten Band des «Schatzkästleins» lehnt er ab!), an das Projekt «Biblische Geschichten» gemacht hat. 1818 beginnt er damit, doch die ihm ab 1819 zusätzlich zugewachsenen Aufgaben und Pflichten verzögern die Ausarbeitung immer wieder. Erst Ende Dezember 1823 können sie bei Cotta in Tübingen erscheinen.
Mehr der Not gehorchend als freiwillig hatte sich Hebel dieser Aufgabe unterzogen. Aber als seit vielen Jahren erfahrener Schulpädagoge und Architekt der Kirchenunion hatte er dringenden Reformbedarf vor allem im Religionsunterricht der Schulen erkannt. Wieder hatte er ein kritisches Gutachten dazu verfaßt, 1815, in dem er die Einführung eines gemeinsamen Lehrbuchs für lutherische und reformierte Schüler empfohlen hatte, um die Kirchenunion auch und vor allem auf der schulischpädagogischen Ebene vorzubereiten. Und was könnte dafür eine bessere Grundlage sein als die Bibel, die für Lutheraner und Calvinisten als Erben der Reformation die gemeinsame Heilige Schrift geblieben ist? Das Bibel-Projekt steht also von Anfang an in einem pädagogischen, ökumenischen und kirchenpolitischen Kontext. Und gerade auch die Errichtung des neuen, aus verschiedenen Gebiets- und Stammesteilen zusammengeschweißten Großherzogtums stellte eine Herausforderung dar, ein neues, jetzt konfessionsverbindendes Lehrbuch für den Religionsunterricht an badischen Schulen zu verfassen.
Nacherzählungen von biblischen Geschichten für den Haus,- Lese- und Schul-Gebrauch gab es selbstverständlich längst. Hebel kannte aus der Familie die «Biblischen Historien» von Johannes Hübner (1668–1731), einem Zeitgenossen Johann Sebastian Bachs, Lieblingslektüre seiner Mutter. Das Buch dieses evangelischen Religionspädagogen der Frühaufklärung aber war hundert Jahre alt, stammte von 1714! Hebel kennt auch die «Biblischen Geschichten für Kinder» des katholischen Priesters und Schriftstellers Christoph von Schmid (1768–1854), ein Zeitgenosse Hebels, einer der erfolgreichsten Jugendbuchautoren seiner Zeit. Er hatte mit den «Biblischen Geschichten» ein Werk vorgelegt, das in Bayern, Österreich, in der Schweiz und in Württemberg als Schulbuch im Gebrauch ist und 1748 auch in Baden eingeführt worden war.
Nachdem aber die Kirchenbehörde in Karlsruhe beschlossen hatte, anstelle des religionspädagogisch längst überholten Werkes von Hübner jetzt die «Biblischen Geschichten» Schmids auch für den protestantischen Unterrichtsgebrauch einzurichten und damit auch schon einen Kirchenrat beauftragt hatte, hatte Hebel mit seinem Gutachten von 1815 Einspruch dagegen erhoben. Schmids Darstellung, so fasst Bernhard Viel die Kritik Hebels zusammen, scheine nichts von «jener ächten und edlen Popularität zu wissen, die zwischen gebildeten und ungebildeten Lesern keinen Unterschied kenne». Schmids Darstellung lasse «Anschauung» und «Einfachheit» vermissen, sie wolle «durch conventionelle Schönheiten im Ausdruck gefallen» und sei auf «Effecte berechnet». Kurz: «Schmid erweise seine pädagogischen Unfähigkeit darin, daß er sich eitel in seinem verkünstelten und gedrehten Stil selber spiegele.» Gut für Kinder erzählen aber heißt für Hebel in erster Linie, nicht weitschweifig und damit langweilig zu sein, sondern das Erzählte präzise, knapp und verständlich zu halten. Ein Erzählen to the point ist verlangt, würden wir heute sagen. Biblische Geschichte neu erzählen, heißt, sie ver-dichten. Hebel hält sich daran, indem er auch aus den biblischen Erzählungen Kurz-Geschichten macht.
Doch ob provoziert oder nicht: Nach diesem Gutachten hatte der Kritiker (wie im Fall des «Kalenders» 1807) einmal mehr die Ehre und Last, selber «eine heilige Geschichte für die Kinder» zu schreiben, zumal der mittlerweile 58-Jährige sich als ein Meister gerade von Kurzgeschichten ausgewiesen hatte, als ein Stilist mühelos einfach erscheinender Texte, die herzustellen bekanntlich am schwierigsten sind. Nach seiner Veröffentlichung im Dezember 1823 bleibt das Werk des «Prälaten» denn auch auf 10 Jahre amtliches, wenn auch von Anfang an nicht unumstrittenes Schulbuch im Großherzogtum Baden. Erst 1834, acht Jahre nach Hebels Tod, wagt man nach Einspruch orthodoxer protestantischer Kreise das Werk anzutasten und eine Revision vorzunehmen. Noch einmal gut zwanzig Jahre später dann sollten Hebels «Biblische Geschichten» wegen «einer allzu deutlich hervortretenden Subjektivität des Verfassers» ganz aus den Schulen verschwinden. Eine Zeit der Restauration hatte die Impulse der Aufklärung verkümmern lassen. Auch in Baden, so Heide Helwig, hatten sich pietistische Kreise durchgesetzt, «massiv Stimmung gegen das ‹anstößige› Werk» gemacht und «die Rückkehr zur alten unverfälschten Lehre» gefordert.
Geklärt ist damit, unter welchen Lebens- und Zeitumständen, warum also, Hebel das Projekt «Biblische Geschichten» in Angriff genommen hat. Zu klären ist noch das «Wie». Und wir fragen: Was mag bei seinen orthodoxen Kritikern den Eindruck «einer allzu deutlich hervortretenden Subjektivität» des Verfassers erzeugt haben? Wird es etwas sein, was in Hebels Augen gerade das Neue und Unverzichtbare seiner Vermittlungsarbeit vom Damals ins Heute gewesen ist und den Transfer von der Welt des Alten Israels in die Welt von Schule und Klassenzimmer überhaupt erst ermöglichen sollte? Das müßte am Stil des Erzählens und an der Auswahl der Texte erkennbar sein. 59 Einheiten sind den alttestamentlichen, 64 den neutestamentlichen Überlieferungen gewidmet. Und beides, die Machart des Erzählens und die Auswahl der Texte, müssen wir uns noch in aller Kürze vor Augen führen, um an ausgewählten Beispielen das spezifische Profil dieser «Biblischen Geschichten» Hebels genauer zu bestimmen und zwar in Ergänzung dessen, was auch Thomas Weiß in seinem theologisch-pädagogischen Nachwort zu dieser Ausgabe ausgeführt hat.
Testfall für jede Theologie im Geist der Aufklärung sind die biblischen «Wundergeschichten». Wie unter erkenntniskritischen Prämissen der Moderne damit umgehen? Auffällig ist, daß Hebel seine Schüler nicht mit biblischen Wundergeschichten beeindrucken will, ob es um den Propheten Elia im Alten oder um Jesus im Neuen Testament geht. Gemäß seiner aufgeklärten «Populartheologie» drängt Hebel das Wunderhafte zugunsten von lebenspraktischen Gleichniserzählungen zurück oder versieht es mit relativierenden Kommentaren, ohne aber rationalistisch auszuschließen, daß Gott für einen Menschen auch «Wunderbares» wirken könne.
So erzählt Hebel zum Beispiel durchaus von der ungewöhnlichen Speisung von Tausenden von Menschen durch Jesus mit Hilfe von fünf Broten und zwei Fischen, wie im Neuen Testament berichtet (Mk 6, 35–44), zugleich aber fügt er einen Kommentar an, der nicht das spektakulär Mirakulöse herausstellt, sondern diese Tat einordnet in einen Segens- und Vertrauenszusammenhang im Verhältnis des Menschen zu Gott: «Ist nicht auch in der großen Haushaltung Gottes», fragt Hebel, «jährlich viel mehr noch übrig, als anfänglich gesät wurde? Kein Mensch ist imstande, das göttliche Geheimnis und das Wunder zu ergründen …». Noch deutlicher bei der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus, womit Hebel ins Johannesevangelium (11,1–46) wechselt. Auf sie konnte und wollte er nicht verzichten. Hebel erzählt diese Totenerweckungsszene, eng an die Evangelienfassung angelehnt, zweifellos, um den Schülern an dieser Geschichte «das herrliche Werk» Jesu anschaulich zu machen, fügt aber eine theozentrische und eine allgemein theologische Pointe an: Jesus habe das «herrliche Werk» durch «Gottes Kraft verrichtet», schreibt er. Und: «Der Tod ist nur der Weg zu neuem Leben». «Gibt es da einen Zweifel», fragt der Schweizer Schriftsteller Iso Camartin in seiner brillanten Analyse der Hebelschen «Biblischen Geschichten» mit einigem Recht, «daß die Verlagerung der Bedeutung der Taten Gottes von den Wundergeschichten der Bibel in das Wunderbare der Natur, die Hebel so konsequent versucht, nicht nur die bessere Pädagogik, sondern auch die bessere Theologie ist?»
Solch kommentierendes, moralisch erläuterndes und lebenspraktisch motivierendes Eingreifen in die biblischen Überlieferungen ist ein erstes Charakteristikum für Hebels Erzählen. Was seine Kritiker als Schwäche, will sagen: als Eigenmächtigkeit und Subjektivität ausgemacht haben, darin dürfte Hebel gerade die Stärke seines Projektes gesehen haben. Er erzählte die biblischen Geschichten ja nicht um ihrer selbst willen (dafür gab es die Luther-Bibel), sondern für eine konkrete Leserschaft: 10- bis 14-jährige halbwüchsige Schüler in badischen Gymnasien in nachrevolutionärer Zeit. Diese Adressaten hat Hebel im Blick. Sie gilt es, an Kern-Überlieferungen des Volkes Israel und der Botschaft Jesu heranzuführen. Hebel tut das, indem er «bei jeder Zeile im Geist oberländische Kinder belauscht», wie er in einem Brief vom Januar 1824 schreibt, oder an Erfahrungen seiner eigenen Schulzeit anzuknüpfen versucht. Immer wenn er geschrieben habe, wird der Verfasser Anfang Februar 1824 in einem Brief mitteilen, als das Werk bereits vollendet ist, habe er an seinen «alten Schulmeister Andreas Grether in Hausen» und an sich und seine «Mitschüler unter dem Schatten seines Stabes» gedacht oder er hätte sich eine «Repräsentantin aller Mütter unter ihren Kindern» vorgestellt und «uns um unser Urteil» gefragt, sich «als Schulbüblein mit gerechnet». Es galt also, sich möglichst konkret in die Lage von Schülern zu versetzen und so nicht nach dem Urteil der Kirchenbeamten und Zunfttheologen, sondern nach dem für sie Unverzichtbaren zu fragen.
Lernziel dieses Religionspädagogen ist denn auch das Einüben von Gott- und Schöpfungsvertrauen, ohne die geringste Konzession an Irrationales und Widervernünftiges. Den Verstand muß man nach Hebel nicht «opfern», die Naturgesetze nicht außer Kraft setzen, wenn man daran glaubt, daß Erde und Mensch sich dem Schöpferwillen eines gütigen Gottes verdanken. Aber man darf als Mensch staunen und staunend ausrufen: «Herr! Wie sind deine Werke groß und viel! Du hast sie weisheitlich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.» Und man darf dankbar sein, für alles, was man tagtäglich empfängt. Warum? «Die Schöpfung ist täglich neu, und ihr Segen dauert unaufhörlich fort im Werden und Wachsen, im Nähren und Mehren.» Das gilt auch für die Verwandlung des Todes ins Leben, was nun einmal ein Kernstück christlicher Hoffnung ausmacht. Grund dafür, warum Hebel zwar nicht von den Vorgängen rund um die Auferweckung Jesu erzählt, wohl aber am Osterglauben festhält und auch ihn mit einem Naturbild erläutert:
«Das war der heilige Ostersonntag, der noch jährlich mit Freude und Hoffnung in allen christlichen Kirchen gefeiert wird im Frühjahr, wann die ersten Samenkerne aus der Erde aufgehen und sozusagen auch ihre Auferstehung halten.
Der Tod ist verwandelt in das Leben, in den Sieg.»
An diesen und ungezählten anderen Stellen tritt in den «Biblischen Geschichten» in der Tat das zutage, was Goethe die «aufklärerische Vernunftreligion» bei Hebel genannt hat. Sie läuft wie eine geheime Spur durch all seine biblischen Geschichten, hält sie zusammen in der Überzeugung, daß in allen Widerfahrnissen der Geschichte Gottes «unsichtbare Hand» am Werk ist und Menschen aus dieser Gewißheit ein ungebrochenes Gott- und Lebensvertrauen behalten können.
Beispiel Moses. Als dieser sich unter Verweis auf seine menschlichen Schwächen der Berufung durch Gott entziehen will, erklärt Hebel, Gott wisse wohl, «was er tut, und was er jedem Menschen zumuten kann, und daß er auch durch gebrechliche Personen dem Menschen Gutes tun und seinen Namen herrlich machen könne».
Beispiel David, für Hebel «der edle Held», den man «nicht genug liebhaben» könne. In seinem Konflikt mit König Saul habe David, selber auf der Flucht, einmal einen «Räuberhaufen der Philister» in die Flucht geschlagen und Hebel kommentiert: «Das ist ein großer Gottessegen, daß gute Menschen im Unglück sich noch über andere erbarmen können und ihnen beispringen und helfen in der Not, in welcher sie selbst sind. Mit dieser wundersamen Güte ist das menschliche Herz von Gott gesegnet.»
Oder die heimkehrenden Juden aus der Gefangenschaft Babylons. Sie sind für Hebel «ein Beispiel, was auch in der bösen Zeit der Mensch mit gutem Willen und Vertrauen auf Gott vermag, und wie Gottes Kraft auch in den Schwachen mächtig ist».
Auf diese «unsichtbare Hand» Gottes, die den Menschen trotz allem immer wieder führt und die er selber in seinem Leben wirksam erlebt hat, vertraut der Christenmensch Johann Peter Hebel. Als Prediger und Pädagoge ist er in dieser Vertrauensarbeit wider den Zeitgeist des Skeptizismus und Materialismus engagiert, getragen von der Überzeugung, «durch Gottes Segen» werde «das Kleine groß», wie Hebel sich an den zahlenmäßig unscheinbaren Anfängen der Urkirche klarmacht, während seine unverwechselbare Synthese aus Schöpfungs- und Geisttheologie in seiner Auslegung des «ersten christlichen Pfingstfests» zum Ausdruck kommt. Noch heute werde das Pfingstfest in allen Kirchen gefeiert, schreibt Hebel, fünfzig Tage nach Ostern, wenn Gottes lebendiger Odem durch den blühenden Frühling wehe und das Jahr befruchte: «Jeder Sonntag ist ein Gedächtnisfest, erstens für Gottes leibliche Wohltaten in der Schöpfung, zweitens für die Auferweckung Jesu von den Toten, drittens für die Sendung des Heiligen Geistes, ein heiliger und erfreulicher Tag, ein heiliger Dreieinigkeitstag.»
Zugleich aber müssen die «Biblischen Geschichten» dieses Erzählers auch «gegen den Strich» gelesen werden. Tut man das, fällt auf, daß die weniger «harmonischen» Zeugnisse derselben Bibel in Hebels Auswahl abwesend sind: Scharfe Sozial-, Macht- und Religionskritik wie beim Propheten Amos, gebrochenes Gottvertrauen in Katastrophenerfahrungen Israels wie beim Propheten Jeremia, Verzweiflung über Gottes Unbegreiflichkeit wie in den Klageliedern, Hadern mit Gott wie bei Hiob oder Klage und Anklage Gott gegenüber angesichts persönlicher Not wie in den Klagepsalmen. Eine Hiob-Rebellion gegen Gott vor Gott ist abwesend bei Hebel, auch der Schrei des Volkes Israel nach Gerechtigkeit oder der Todesschrei des gottverlassenen Jesus am Kreuz, von dem die Evangelisten Markus und Matthäus berichten: «Mein Gott, mein Gott, warum …» (Mk 15, 34; Mt 27, 45). Stattdessen zeigt Hebel in der Kreuzigungsszene Jesus als «frommen Dulder», der in Aufnahme des entsprechenden Wortes im Lukasevangelium (Lk 23, 34) seinen Peinigern vergeben kann: «Vater, vergib ihnen! Sie wissen nicht, was sie tun».
Ob Hebel glaubte, diese «Harmonisierung» aus pädagogischen Gründen den Schülern schuldig zu sein und «schärfere Kost» ihnen nicht zumuten zu können, um sie im Glauben nicht zu «verunsichern»? Oder hat er in seinem Gottvertrauen diese «schärfere Kost» auch nicht an sich selber herangelassen? Schon seine «Kalendergeschichten» kennen durchaus das Böse und die Katastrophen, diese aber sprengen nicht das Gottvertrauen, bleiben vielmehr «unerforschliche» Geheimnisse, die der Mensch mit den begrenzten Kräften seines Verstandes verstehen lernen muß, letztlich unfähig, das Ganze des Weltlaufs zu übersehen. Schon Theodor Heuss hat hier das wohl Entscheidende erkannt, als er als Bundespräsident im Mai 1952 bei einer Hebel-Rede in Lörrach auf dieses Thema zu sprechen kommt: «Was Hebel gelang», sagte Heuss damals, «ist die Vermählung von Poesie und Verständlichkeit. Er ist durchaus Kind des 18. Jahrhunderts in seinem optimistischen Besserungswillen und Besserungsglauben, aber er ist ein unpedantischer Moralist mit einer vergnügten Freude am Bösen; das darf nur nicht siegen. Natürlich ist er dafür – er ist ja schließlich gelernter Theologe –, daß die Menschen brav sind, und er bringt gerne Zeugnisse menschlicher Bravheit, die er keineswegs für die Deutschen monopolisiert. Aber an den fragwürdigen Landstreichern, an den bösen Buben hat er seine ästhetische Freude, vorausgesetzt, daß sie ihre Lumpereien technisch gut fertigbringen».
Neben der Einübung von Schöpfungs- und Gottvertrauen kommt bei den «Biblischen Geschichten» ein zweites Moment hinzu. Diese Geschichten werden so aufbereitet, daß den Schülern die Fremdheit möglichst genommen und die Übertragbarkeit erleichtert wird. Ein Verfahren, bei dem der Erzähler sich nicht nur in die Lage von Schülern, sondern sich auch in die Welt des Erzählten hineinversetzt als wäre es seine Gegenwart. Es entsteht das, was man sinnliche Präsenz des Vergangenen nennen könnte. Er schreibe «wirklich eine heilige Geschichte für die Kinder», hatte Hebel Freunden schon im Dezember 1818 mitgeteilt, «und lebe am Berg Tabor, unter Palmen von Jericho, am Brunnen Jakobs am heiligen Grab, und wie gesagt bei euch». Einer der Hinweise darauf, wie sehr Hebel es darauf angelegt hat, so zu erzählen, daß auch die Schüler sich in die Welt von Tabor und Jericho hineinversetzen oder sich an Leitfiguren und exemplarischem Verhalten orientieren können.
Das dürfte der Grund sein, warum Hebel vornehmlich solche Geschichten im Alten und dem Neuen Testament ausgewählt hat, die entweder ein narrativ-dramatisches Potential aufweisen, eine weisheitliche, lebenspraktische Pointe haben oder von «menschenfreundlichen Handlungen» Jesu erzählen. Im Alten Testament sind das die Geschichten aus der Patriarchen- und Königszeit: um Abraham, Isaak und dessen Söhne Esau und Jakob, dann um Jakob und seine zwölf Söhne, Joseph allen voran (allein fünf Erzähleinheiten), gefolgt von der Moses-Erzählung mit dem Auszug-Einzug-Prozess. Dann die Anfangsgeschichte des Königtums in Israel unter Saul, David und Salomo (hier allein 15 Einheiten), zeitlich gefolgt vom Untergang des Reiches Juda mit der Hauptstadt Jerusalem durch die Babylonier, die Gefangenschaft der Israeliten in Babylonien und ihre Heimkehr nach Juda.
Im Neuen Testament sind es vor allem die Heilungsund Gleichnisgeschichten Jesu (15 von 64 Einheiten!), an denen Hebel die Botschaft vom «erbarmenden Vater aller Menschen, die sich mit Vertrauen zu ihm wenden» illustriert. Man beachte dabei, daß Hebels Akzent bei dieser Auslegung des «Gleichnisses vom verlorenen Sohn» auf «aller» liegt. Gott ist der Vater aller Menschen, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum selben Volk, zur selben Kirche oder Religion. Fromme Phrasen sind das nicht. Wie ernst es Hebel theologisch damit ist, zeigt seine Pointe bei der Auslegung des Gleichnisses vom «barmherzigen Samariter»: «Ich bin jedem sein Nächster, und jeder ist mein Nächster, den ich mit meiner Liebe erreichen kann, jeder, den Gott zu mir führt, oder zu dem mich Gott führt, daß ich ihn erfreuen oder trösten, daß ich ihm raten oder helfen kann, auch wenn er nicht meines Volkes oder meines Glaubens wäre. Tue das, so wirst du leben!». Auch wenn er nicht meines Volkes oder meines Glaubens wäre … Mit solchen und anderen Pointen erweist sich Hebel als geistiger Gefährte von Lessing und Moses Mendelssohn, dem Vertreter einer jüdischen Aufklärung, dem er in seinen «Kalendergeschichten» nicht zufällig ein kleines literarisches Denkmal gesetzt hat.
Diese Stichproben am Text müssen hier genügen. Vertiefen kann man das alles durch einschlägige Literatur, insbesondere durch die Studien des evangelischen Religionspädagogen Reinhard Wunderlich über Hebels «Biblische Geschichten» als «Bibeldichtung zwischen Spätaufklärung und Biedermeier» sowie durch die des Kirchengeschichtlers Johann Anselm Steiger: «Bibel-Sprache, Welt und Jüngster Tag bei Johann Peter Hebel» und «Unverhofftes Wiedersehen mit Johann Peter Hebel. Studien zur poetischen und narrativen Theologie Hebels». Ich belasse es bei diesen Fingerzeigen und frage zum Schluß noch: Ist das alles für Hebels Erzählweise neu? Hat sich dieser Mann in seinen «Biblischen Geschichten» als ein anderer Erzähler erwiesen als in seinen «Kalendergeschichten»?
In der neueren Hebel-Literatur ist zurecht auf «stilistisch-methodische Parallelen» hingewiesen worden: «Wie schon der ‹Hausfreund› inszeniert der Erzähler der ‹Biblischen Geschichten› Mehrstimmigkeit und Dialog, er fragt im Namen des Lesers, kommentiert, belehrt und spannt immer wieder den Bogen aus der Tiefe des biblischen Geschehens zur Gegenwart seines kindlichen Publikums. Hier wie dort waltet die Überzeugung, daß sich Geschichten aus ihrem historisch-geographischen Koordinatensystem herauslösen und in einen neuen Rahmen einfügen lassen. Ort und Zeit sind Variable, unter deren Druck sich zwar manches verändert, doch die Veränderung wird letztlich überstrahlt vom aufklärerischen Lehrsatz: es geht um Menschen, ‹wie wir sind›», so Heide Helwig. Das ist treffend gesagt und gibt zugleich den Grund dafür an, warum auch 200 Jahre nach dem Erscheinen des Werkes diese Art, biblische Geschichten zu erzählen, ihre Frische behalten hat. Der Grund liegt in der Tat darin, daß man auch als heutiger Leser noch spürt, wie sehr es Hebel in Fragen der Religion in erster Linie um den unverfügbaren Gott und dann «um Menschen» geht und nicht um abstrakte Lehrsätze, die man Menschen «zum Glauben» vorsetzt. Zwei Hebel-Texte machen das besonders anschaulich.
In einer seiner «Kalendergeschichten», Die Bekehrungeines