Inhalt

Vorwort

Der versunkene Nikolaus

Krampusjagd

Ein schreiendes, blond gelocktes Christkind

Eine Tanne macht Karriere

Socken für die Frontsoldaten

Diebstahl für den lieben Gott

Das Friedenslicht von Bethlehem

Advent, Advent, die Zeitung brennt!

Eingebrochen

Das Christkind hinterm Schlüsselloch

Plötzlich gingen die Lichter aus

Der Organist auf der Leiter

Blöde Sau

Die Mama und der Ölofen

Beschissene Weihnachten

Die Eislaufprinzessin

Der falsche Weihnachtskuchen

Wie Maria und Josef

Das Rossdirndl

Schreck am Weihnachtsmorgen

Die verbogenen Weihnachtskerzen

Die Lawine

Ein Christkindl per Schlitten

Die Blockflöte

Unverbesserliche Lausbuben

Mein Puppenhaus

Dreimal kam der Weihnachtsmann

Drei reuige Sünder

Der geraubte Weihnachtsbraten

Der Esel des Christkinds

Die Lichterkette

Die erste Jeans

Das Sofa in der Badewanne

Bescherung im Hausgang

Der schwebende Christbaum

Der Heimkehrer

Neue Schürzen

Das mutterlose Weihnachtsfest

Schweinefutter für den Pfarrer

Vorwort

Wenn am Adventskranz die erste Kerze angezündet wird, beginnt sie wieder, die stille, besinnliche Zeit, deren Zauber sich kaum jemand entziehen kann. Ein Huschen und Raunen setzt in den Häusern ein, das bis zum Heiligen Abend anhält. Und je näher es auf diesen Tag zugeht, desto intensiver und vielfältiger werden die Düfte, die durch die Wohnung wehen. Der Geruch von Kerzen und Tannengrün, von Anis, Zimt und Kardamom erwecken in uns Erinnerungen an die Kindheit und verheißen uns jedes Jahr aufs Neue allerlei Leckereien.

Aber selbst über das Weihnachtsfest hinaus behalten die Tage ihren Zauber, bis die geheimnisvolle Zeit mit dem Dreikönigstag ihren Abschluss findet.

Dass es bis dahin aber nicht immer gar so harmonisch und lieblich zugeht, wie man sich das erhofft, erfuhr ich aus drei weihnachtlichen Geschichten, die mir in den letzten Jahren zugeflüstert worden sind. Sie gefielen mir so gut, dass ich auch andere Menschen daran teilhaben lassen wollte, weshalb ich das Erzählte aufschrieb. Da man aber mit drei Geschichten kein Buch füllen kann, dachte ich: Sicher haben andere Leute in der besinnlichen Zeit ebenfalls aufregende Erlebnisse gehabt, die erzählenswert sind. Also machte ich mich ganz gezielt auf die Suche. Ich sprach viele verschiedene Menschen an, um weitere außergewöhnliche Geschichten zu diesem Thema zu sammeln. Den meisten fiel spontan etwas ein, andere brauchten ein paar Tage zum Nachdenken, bevor auch sie bereitwillig etwas zu berichten wussten.

Vermutlich werden Sie ebenso überrascht sein wie ich, was mir da an Kuriosem, Lustigem und Aufregendem zu Ohren gekommen ist.

Mit dem vorliegenden Buch gebe ich Ihnen all die alten Erinnerungen in die Hand, wünsche Ihnen eine besinnliche Adventszeit, ein frohes Weihnachtsfest und wie immer viel Spaß beim Lesen.

Roswitha Gruber

Der versunkene Nikolaus

Annemie, Jahrgang 1943, aus Reit im Winkl

Soweit ich zurückdenken kann, kam am 6. Dezember immer der heilige Nikolaus ins Haus. Es war nicht der rot gewandete Coca-Cola-Nikolaus, sondern noch der echte alte Nikolaus: traditionell gekleidet wie ein Bischof, mit der Mitra auf dem Haupt, dem Krummstab in der einen und dem Goldenen Buch in der anderen Hand. Über der Schulter trug er einen Sack, an dem eine Rute befestigt war. Damit der Nikolaus Zeit einspare und nicht in jedes Haus müsse, kam zu der Stunde, in der wir den außergewöhnlichen Gast erwarteten, die Nachbarin mit ihrer Tochter, einem netten Mädel in meinem Alter, zu uns herüber. Das war mir auch ganz lieb, denn dann verteilte sich der Tadel, den der gute Alte vorbringen würde, auf mehrere Schultern. Jede von uns war stolz, wenn sie den Bischofsstab halten durfte, während der heilige Mann unsere kleinen Schandtaten aus seinem Buch verlas.

Leider verpasste meine Mutter jedes Mal seinen Besuch, denn entweder hatte sie noch im Stall zu tun oder sie musste dringend ihre Schwester besuchen. Wenn sie dann zurückkam, erzählte ich ihr ganz aufgeregt, was wir soeben erlebt hatten, und zeigte ihr überglücklich das kleine Sackerl, das der Nikolaus für mich dagelassen hatte. Äpfel und Nüsse waren darin, etwas anderes gab es nicht, wir befanden uns ja mitten in der Nachkriegszeit. Auch erzählte ich meiner Mutter, welche kleinen Schandtaten der Besuch mir vorgehalten hatte, und fügte stets hinzu: »Woher weiß der eigentlich so viel über mich?«

Lächelnd erklärte sie mir: »Darüber brauchst du dich gar nicht zu wundern. Das ganze Jahr über schaut er vom Himmel auf die Kinder herab und notiert sich alles in seinem Goldenen Buch.«

Eingedenk dieser Worte, verhielt ich mich dann wirklich eine Zeit lang vorbildlich. Nach einigen Wochen aber war das vergessen, und ich lebte wieder mein natürliches Temperament aus, was sich eben öfter darin zeigte, dass ich laut schrie und zeterte, wenn mir etwas missfiel.

Ende 1948 wurde meine Schwester geboren, worüber ich sehr glücklich war. Weil meine Mutter mich schon bald damit betraute, kleine Dienste an dem Schwesterchen zu verrichten, sah ich in der Jüngeren eine lebendige Puppe.

Als sie fast zwei Jahre alt war, nahte wieder der Nikolausabend. Obwohl ich zu der Zeit sieben Lenze zählte, glaubte ich noch unerschütterlich an den heiligen Nikolaus und an das Christkind. Meine Mutter muss aber befürchtet haben, in diesem »hohen Alter« würde ich sie vielleicht erkennen und damit wäre der schöne Schein, an dem die Erwachsenen offensichtlich noch mehr Freude hatten als wir Kinder, zunichte gemacht.

Für den Nikolausabend heuerte sie also einen Mann an, der sich nach dem Krieg in unserem Dorf niedergelassen und seine Dienste als »heiliger Kinderfreund zum Feste« angeboten hatte. Vermutlich bekam er ein paar Mark dafür, zumindest aber den einen oder anderen Schnaps und eine Brotzeit.

Am 6. Dezember 1950 saß die Mutter tatsächlich mal mit uns anderen, also mit mir, Vater, Oma, der Nachbarin samt Tochter und meinem Schwesterchen, in der Stube. Aufgeregt wie immer erwarteten wir die Ankunft vom Nikolaus. Mutter hielt die kleine Marianne auf dem Schoß, die fröhlich vor sich hinkrähte, weil sie ja den Ernst der Lage noch nicht begriff. Meine Mama schaute ebenso gebannt wie wir anderen in Richtung Fenster, damit wir den ersehnten Gast, sollte er sich unserem Haus nähern, rechtzeitig entdeckten.

Plötzlich war mir, als erblickte ich etwas Weißes, das sich am ersten Stubenfenster vorbeibewegte. »Er kommt!«, flüsterte ich ganz aufgeregt meiner Mutter zu. Als seine Silhouette am Rand des zweiten Fensters auftauchte, bumperte mein Herz noch stärker als zuvor. Doch plötzlich – Bischof Nikolaus hatte gerade die Mitte des Fensters erreicht – verschwand die ganze Gestalt nach unten. Ich selbst dachte mir noch nichts dabei, mein Vater aber sprang auf mit dem Ausruf: »Da ist was passiert!« Schon stürmte er nach draußen. Unterdessen klammerte ich mich ängstlich an meine Mutter und fragte, was denn passiert sei.

Sie wüsste es nicht, bekam ich zur Antwort. »Es könnte sein, dass der Nikolaus in den Keller gefallen ist.«

»Ach, wie schrecklich!«, rief ich. »Dann kommt er heuer nicht mehr zu uns?«

»Vielleicht ja doch«, schürte die Mama meine Hoffnung. »Mal sehen, was der Vater herausfindet.«

Der Nikolaus war tatsächlich in den Keller gerutscht. Wir hatten einige Tage zuvor eine Kohlenlieferung bekommen, und der Kohlenmann hatte das Abdeckbrett wahrscheinlich nicht ordentlich auf den Kellerschacht gelegt. Das war unserem Gast zum Verhängnis geworden.

Genau das befürchtend, war mein Vater sofort in den Keller geeilt, um den heiligen Mann, dem zum Glück nichts passiert war, aus der misslichen Lage zu befreien. Der Kinderfreund war sanft auf der Kohlenrutsche nach unten geglitten. Nur sein schönes weißes Gewand und seine Handschuhe hatten schwarze Flecken bekommen, und der Inhalt seines Gabensackes hatte gelitten, wie ich bald feststellen konnte. Denn nach diesem unschönen, aber glimpflich ausgegangenen Zwischenfall fand das Beschenken der Kinder doch noch statt.

Nachdem der Heilige aus dem Goldenen Buch unser kleines Sündenregister vorgelesen hatte, fischte er aus den Tiefen des mitgebrachten Sackes die für uns Mädchen bestimmten Gaben. Diesmal enthielten die Sackerl nicht nur Äpfel und Nüsse, nein, es fand sich auch noch ein ansehnlicher Schokoladen-Nikolaus in jedem Beutel. Aber wie erbärmlich sahen diese aus! Lauter Schokoladenbrösel pellten wir aus der Stanniol-Ummantelung. Doch das tat meiner Freude keinen Abbruch, war es doch die erste Schokolade meines Lebens, die ich zu essen bekam. Mir ist, als hätte ich erst gestern diesen wunderbaren Geschmack auf der Zunge gespürt.

Jahre später vertraute mir meine Mutter an, dass sie sehr erfreut gewesen war, für diesen Nikolausabend jemanden gefunden zu haben, der ihre Aufgabe übernahm. Zum einen wollte sie auch mal dabei sein, wenn der Nikolaus uns besuchte, zum andern hatte sie doch tatsächlich befürchtet, dass ich, inzwischen älter und gescheiter, sie womöglich an der Stimme erkennen würde. Außerdem konnte sie gar nicht oft genug betonen, wie erleichtert sie gewesen sei, dass der Fremde in unserem Kohlenkeller nicht zu Schaden gekommen war.

Krampusjagd

Sonja B., Jahrgang 1943, aus Großveitschrad/Steiermark, Österreich

In meinem Heimatort gab es eine lange Tradition. Am 6. Dezember kam nicht nur der Nikolaus in die Häuser, sondern er hatte immer den Krampus, einen Kinderschreck, dabei. Der Krampus, vormals Gehilfe des heiligen Nikolaus, hatte sich im Laufe der Jahre verselbstständigt. Am Nikolaustag – und manchmal schon am Tag davor – rumpelten und polterten mit Einbruch der Dunkelheit gleich mehrere solcher wüsten Gestalten durch das Dorf, um die Kinder zu erschrecken. Vom heiligen Nikolaus dagegen war nichts mehr zu hören und zu sehen.

Nachdem ich das erste Mal, zumindest von Weitem, einige Krampusse gesehen hatte, erfüllte mich eine wahnsinnige Angst vor ihnen. Wie besessen rannte ich nach Hause und wagte mich an diesen Tagen nicht mehr auf die Straße. Die Figuren sahen auch gar zu schrecklich aus, mit den schwarzen Strumpfmasken, der langen roten Zunge, den schwarzen Ziegenbockhörnern und zerrupften Schaf- und Ziegenfellen, die sie sich übergeworfen hatten.

Als ich aber neun oder zehn Jahre alt war, wurde ich von meinen Mitschülern aufgeklärt, dass es gar keine echten Krampusse gebe, sondern sich hinter der Verkleidung halbwüchsige Burschen aus der Nachbarschaft verbergen würden. Die kannte ich natürlich alle, und dieses Wissen nahm mir die Angst. Es machte mich sogar so mutig, dass ich im selben Jahr wild entschlossen war, mit den anderen Kindern Jagd auf diese Höllengestalten zu machen, statt mich von ihnen jagen zu lassen. Ja, ich freute mich regelrecht auf den Krampustag, um den Burschen zeigen zu können, dass ich keine Angst mehr vor ihnen hatte.

Als der bewusste Tag endlich gekommen war, begab ich mich mit Elfriede, meiner um zwei Jahre jüngeren Schwester, bei Einbruch der Dunkelheit auf die Straße. Zu uns gesellten sich gleich einige Kinder, die etwa in meinem Alter waren und ebenfalls ihren Mut beweisen wollten. Auch Edith, deren Vater in der Nachbarschaft einen großen Bauernhof besaß, war mit von der Partie. Übermütig marschierten wir zu siebt auf der Straße auf und ab. Doch als wir die ersten Schreckensgestalten auf uns zukommen sahen, waren nicht wir diejenigen, die sie jagten, sondern sie jagten uns! Obwohl wir wussten, dass unter den Masken Nachbarsburschen steckten, waren sie uns unheimlich, zumal wir nicht erkennen konnten, wer sich unter welcher Maske befand. Wir hatten dermaßen Angst, dass wir laut schreiend in wilder Flucht davonrannten. In verschiedene Richtungen stoben wir dann auseinander.

Völlig außer Atem, kamen wir drei Mädchen schließlich im Kuhstall von Ediths Vater an. Dort war gerade die Magd Lina, eine rothaarige, dralle Dirn mit vielen lustigen Sommersprossen auf der Stupsnase, damit beschäftigt, den Stall auszumisten. Sie war höchstens fünf oder sechs Jahre älter als ich. »Ja, Mäderl, was ist denn mit euch los? Ihr seid ja so atemlos, als sei der Teufel hinter euch her!«, rief sie.

»Der Teufel nicht, aber die Krampusse«, gab die Tochter des Hauses Auskunft. »Bitte, versteck uns schnell!«

Lina zeigte volles Verständnis für unsere missliche Lage, in die wir uns selbst gebracht hatten. »Versteckt euch dort im Heu«, raunte sie uns zu, während sie auf einen Heuhaufen am Ende des Stalles wies. In unserer sinnlosen Angst warfen wir uns darauf und versuchten, uns hineinzuwühlen, was uns aber nur in Ansätzen gelang. Deshalb waren wir der guten Lina unendlich dankbar, dass sie hastig Heu über uns schaufelte. Keine Sekunde zu früh, denn schon polterten zwei Krampusse in den Stall, die schauerliche Laute ausstießen.

Da mein Gesicht nicht vollständig mit Heu bedeckt war, konnte ich sehen, wie sie hereinstürmten. Schnell machte ich die Augen zu, wohl in dem Gefühl, dass die Verfolger mich dann auch nicht sehen könnten. Ich hörte sie im Stall herumtappen, weiterhin tierische Laute von sich gebend. Deshalb blinzelte ich wieder durch meinen Heuschleier und sah, wie die beiden in jedem Winkel des Stalles suchten, ja, sogar zwischen den Kühen. Mit Entsetzen nahm ich wahr, dass die Magd nun mit dem Zeigefinger auf den Heuhaufen deutete. So ein falsches Luder!, durchzuckte es mich. Zu mehr Gedanken kam ich nicht, denn schon wirbelten die Krampusse das Heu wild auseinander. Wir sprangen auf und rannten auf die Tür zu, die vom Stall ins Wohnhaus führte. Kaum hatten wir den Hausgang erreicht, erwischten sie die Letzte von uns, die Tochter des Bauern. Da diese mächtig zappelte, schrie und um sich schlug, waren die Burschen vollauf damit beschäftigt, sie zu zähmen, sodass meine Schwester und ich ungehindert vorwärtsstürmen konnten. In einer Tür, die einen Spalt offen stand, sah ich die Rettung. Doch bevor ich hinter dieser verschwand, schaute ich mich noch einmal nach der Edith um. Die Kramperl waren gerade dabei, die Arme, die sich verzweifelt wehrte, in einen Buckelkorb zu stecken, den sie auf eine der unteren Treppenstufen gestellt hatten.

Elfriede und ich waren unterdessen in das Büro des Bauern geraten. Der blickte erstaunt von seinem Schreibtisch auf. »Nanu, was wollt ihr denn hier?«

»Bitte, sei so gut und versteck uns! Die Kramperln sind hinter uns her«, flehte ich mit halb erstickter Stimme.

»Nein, Kinder, hier kann ich euch wirklich nicht brauchen. Sucht euch ein anderes Versteck.« Mit dem Kinn deutete er auf die Tür zum Nebenzimmer.

In Panik stürzten wir durch diese und landeten in der Stube, in der ein Adventskranz auf dem Esstisch stand. Im Nu hatte ich unsere Chance erkannt und gab das Kommando: »Schnell, Elfriede, unter die Eckbank!«

Unter dieser hockten wir dann eine geschlagene Stunde. Das erkannte ich an der Wanduhr, die in meinem Blickfeld hing. »Die Gefahr ist nun vorbei«, flüsterte ich meiner Schwester schließlich zu. »Jetzt können wir unbesorgt nach Hause gehen.«

Nur umständlich konnten wir aus unserem Versteck hervorkriechen, denn uns waren mittlerweile Arme und Beine eingeschlafen. Mit Mühe und Not hatten wir die Mitte des Raumes erreicht, da stürzten die beiden Krampusse herein. Durch ein Astloch in der Tür hatten sie uns die ganze Zeit vom Gang aus beobachtet. Sie packten uns rau an den Oberarmen, drückten uns nieder auf die Knie und verlangten, wir sollten beten. Nein, dachte ich, indem ich die Lippen fest aufeinanderpresste, vor einem Krampus bete ich nicht. Meine Schwester muss etwas Ähnliches gedacht haben, denn auch sie blieb stumm.

Aber noch ehe die Höllengeister uns weiter quälen konnten, wurde die Tür zum Büro aufgerissen. Herein trat der Bauer. Er kam uns vor wie ein rettender Engel. Schnell bereitete er dem Spuk ein Ende, indem er ein Machtwort sprach: »Ja Buam, seid’s narrisch wor’n? Lasst doch die kleinen Dirndln in Ruh!«

Vermutlich, um sie abzulenken, öffnete er den kleinen Wandschrank zwischen zwei Fenstern, angelte eine Flasche nebst drei Gläsern heraus und schenkte Schnaps ein.

Ob und wie die Höllenhunde mit ihrer Maske trinken konnten, bekam ich nicht mehr mit. Ohne uns noch einmal umzusehen, stürmten wir aus dem Haus und rannten, so schnell uns unsere Beinchen trugen, nach Hause. Erleichtert schloss die Mutter ihre zwei angstschlotternden Mädchen in die Arme. »Gott sei Dank, dass ihr da seid!«

»Ja, Mama, das versprechen wir dir, wir werden nie wieder Kramperln jagen.«

Für uns war die Geschichte noch einigermaßen glimpflich ausgegangen und auch für die Tochter des Bauern. Nachdem die Krampusse das schreiende Kind im Buckelkorb dreimal um das ganze Anwesen getragen hatten, setzten sie es einfach in der Küche bei seiner Mutter ab.

Für Werner und Walter aber, die mit uns die Krampusjagd eröffnet hatten, wäre die Sache beinahe böse ausgegangen.

Meine Schwester und ich sind etwa anderthalb Stunden lang zu Hause gewesen, da klopfte es an der Haustür. Davor stand die Mutter der beiden Buben. Sie fragte an, ob ihre Söhne vielleicht bei uns seien. Ihr Mann und sie hätten schon in jedem Haus nachgefragt, und nun wären wir ihre letzte Hoffnung. Doch meine Mama verneinte.

Durch die offene Küchentür hatte ich jedes Wort mitbekommen. Deshalb sah ich mich veranlasst, der verzweifelten Mutter meine Beobachtung mitzuteilen, dass Werner und Walter in Richtung Wald gelaufen waren, als wir in wilder Panik vor den Kramperln flüchteten.

Daraufhin stellte die Familie einen Suchtrupp aus Männern der Nachbarschaft zusammen, an dem auch mein Vater teilnahm. Ausgerüstet mit Laternen und Fackeln zogen sie los. Nach seiner Rückkehr berichtete der Papa, dass man schon bald die Spuren der beiden Buben im Schnee ausgemacht habe. Es sei gar nicht nötig gewesen, lange im Wald zu suchen. Schon nach wenigen Metern wurde das Brüderpaar entdeckt – dicht aneinandergeklammert unter einem dicken Baum schlafend. Sie seien ziemlich unterkühlt gewesen, deshalb habe man sie sicherheitshalber sofort ins Krankenhaus gebracht.

Wie wir später von der Mutter der Buben erfuhren, hatte der Arzt ihr gegenüber geäußert, dass das gegenseitige Wärmen der Brüder ihnen vermutlich das Leben rettete.

Jedenfalls sind die beiden nie wieder auf Krampusjagd gegangen und auch später, als sie im richtigen Alter dazu gewesen wären, nie in ein Krampuskostüm geschlüpft.

Ein schreiendes, blond gelocktes Christkind

Anna, Jahrgang 1937, aus Obertaufkirchen

Meine Eltern besaßen ein so kleines Anwesen, dass sie zusätzlich bei anderen Bauern arbeiten mussten, um die Familie ernähren zu können. Noch ehe ich ganze zwei Jahre alt war, begann für uns, wie für alle anderen auch, mit dem Zweiten Weltkrieg eine schlimme Zeit.

Noch gut erinnere ich mich an den Tag, an dem mein lieber Vater einrücken musste, da war ich immerhin schon fünf. Wir drei, die Großmutter väterlicherseits, meine Mama und ich standen an der Haustür und weinten furchtbar, als der Vater mit seinem schweren Rucksack vom Hof ging. Er schaute sich kein einziges Mal um. Wahrscheinlich weinte er ebenfalls und wollte nicht, dass wir das sahen.

Im März 1943 kam er dann völlig überraschend auf Heimaturlaub. Da war unsere Freude riesengroß. Ebenso groß war aber auch unsere Traurigkeit, als er uns nach einer Woche wieder verlassen musste.

In unserem Dorf stand am Feuerwehrhaus eine mittelgroße Kanone. Wenn aus dieser gefeuert wurde, wusste jeder im Dorf, dass wieder ein Soldat aus unserer Gemeinde gefallen war. Im Rathaus konnte man dann immer erfragen, wessen Tod die Kanone verkündet hatte. Wie die anderen Frauen, die einen Ehemann oder Sohn im Feld hatten, ging auch meine Mutter immer wieder bangen Herzens zum Nachfragen. Von Weitem sah man ihr die Erleichterung schon an, wenn sie von diesem Gang zurückkam.

Jedes Mal, wenn wir einen Schuss aus der Kanone vernahmen, zuckten wir zusammen, so auch Ende Oktober 1943, als wir gerade beim Mittagessen saßen. Obwohl ich erst knapp sechs Jahre alt war, fiel mir auf, dass meine Mutter ganz blass wurde und ihre Hände wie schützend über ihren Bauch legte. »Was ist los, Mama?«, fragte ich besorgt.

»Ach, nichts, nichts«, wehrte sie ab.

Da sie diesmal keine Anstalten machte, aufs Rathaus zu gehen, bohrte ich weiter: »Mama, willst du nicht beim Bürgermeister nachfragen?«

»Nein, nein, nicht nötig, Anna, es ist besser so.«

So lebte ich weiterhin in der Hoffnung, dass dieser Kanonenschuss nicht für meinen Vater gewesen war. Einige Tage darauf traf der Bürgermeister zufällig meine Großmutter im Dorf. Er erzählte ihr nichts, und sie fragte auch nicht, wer gefallen war. Er wollte von ihr nur wissen, wann ihre Schwiegertochter voraussichtlich niederkommen werde.

»Ende Dezember«, gab sie Auskunft.

Danach muss unser Gemeindeoberhaupt noch ein paar Tage mit sich gerungen haben, wie man sich einer Hochschwangeren gegenüber am geschicktesten verhalte, wenn man eine schlimme Nachricht zu überbringen habe. Endlich sah er sich doch zum Handeln verpflichtet. An diesen Tag erinnere ich mich noch ganz genau. Wir saßen am Küchentisch beim Mittagessen. Es gab Dampfnudeln mit Vanillesoße, mein Lieblingsessen. Als es an der Küchentür klopfte, erschraken wir alle drei. Auf Mutters zaghaftes »Herein!« betrat der Bürgermeister den Raum, mit der Mütze in der Hand.

»Ach, ihr seid gerade beim Essen«, entschuldigte er sich gewissermaßen und drehte sich zur Tür, als wolle er wieder gehen.

»Das macht doch nichts«, antwortete meine Mama. »Bleib nur, und sag uns, was du zu sagen hast.«

Er druckste noch ein wenig herum, als suche er die richtigen Worte. Dann gab er sich einen Ruck und sagte mit leiser Stimme: »Ach, egal, einmal musst du es ja doch wissen. Elisabeth, ich muss dir leider eine traurige Nachricht überbringen.« Nach einer kurzen Pause schnarrte er, wie auswendig gelernt, herunter: »Am 17. Oktober ist dein Mann für Volk und Vaterland in Russland gefallen. Ein Kopfschuss hat seinem jungen Leben allzu früh ein Ende gesetzt. Dir und seiner Mutter gilt unser ganzes Mitgefühl.«

Wer jetzt denkt, die Mama sei in Ohnmacht gefallen oder in lautes Wehklagen ausgebrochen, der täuscht sich. Völlig gefasst, mit ruhiger Stimme erklärte sie: »Ich hab es mir schon gedacht.«

»Oh mein Gott!«, entfuhr es meiner Großmutter, und sie wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen.

Mich versetzte die Mitteilung des Bürgermeisters in einen Schockzustand, so wurde es mir später von meiner Mutter beschrieben. Der Bissen, den ich wohl noch im Mund hatte, blieb mir sprichwörtlich im Halse stecken. Und das, was von meiner Dampfnudel noch auf dem Teller lag, bekam ich erst recht nicht mehr hinunter.

An viel mehr erinnere ich mich nicht, weder an den Trauergottesdienst oder die vielen Menschen, die daran teilnahmen, noch an die vielen Hände, die meine Mutter und Großmutter bei den Beileidsbekundungen schütteln mussten. Wie das seinerzeit abgelaufen ist, weiß ich nur, weil mir meine Mutter Jahre später davon berichtet hat.

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Ereignis, das sich nach dem zweiten Advent abgespielt haben muss. Denn ich weiß noch, dass wir am Sonntagabend in der Stube am Tisch saßen, auf dem der Adventskranz stand. Zwei Kerzen brannten schon, und wir redeten über den Vater. Dass die dritte Kerze angezündet wurde, erlebte ich in einer anderen Umgebung. Es muss etwa zwischen diesen beiden Adventssonntagen gewesen sein, da weckte mich ausnahmsweise die Großmutter, und zwar schon in aller Herrgottsfrühe. Sie tat dabei sehr geheimnisvoll, zog mir meine wärmsten Sachen an und verließ mit mir an der Hand das Haus, obwohl es noch ziemlich dunkel war. Wir wanderten auf dem glitzernden Schnee, der unter unseren Füßen knirschte. Den Weg kannte ich, er führte ins Nachbardorf, das etwa fünfzehn Minuten von unserem entfernt lag.

Unterwegs erklärte mir meine Oma Maria: »Heute darfst du ganz lange bei deiner anderen Oma und beim Opa bleiben. Am Abend hol ich dich wieder ab.«

Oh, wie ich mich freute! Denn Oma Liesl war auch eine ganz Liebe, und der Opa wusste immer aufs Neue spannende Geschichten zu erzählen. Außerdem gab es bei den zweien auch Nachbarskinder in meinem Alter, die holten mich schon bald zum Schlittenfahren ab.

Deshalb war ich recht enttäuscht, als ich am frühen Nachmittag Oma Maria auf das Haus meiner Großeltern zusteuern sah. »Oma, es ist ja noch gar nicht Abend«, rief ich ihr zu. »Darf ich nicht noch ein bisserl bleiben?«

»Freilich darfst du. Du darfst sogar recht lange bleiben. Deshalb hab ich dir ein Nachtgewand mitgebracht und etwas Wäsche zum Wechseln.« Das war mal eine Sache! Ich würde sogar im Hause der Großeltern schlafen dürfen! Das war noch nie vorgekommen, solange ich mich zurückerinnerte.

Deshalb fragte ich verwundert: »Warum?«

»Deine Mama ist krank, ich muss sie pflegen. Und da ich nun auch die ganze Stallarbeit allein machen muss, bleibt mir keine Zeit mehr, mich um dich zu kümmern.«

Das leuchtete mir ein. Als sie beim Abschied meiner Großmutter Liesl etwas zuflüsterte, schnappte ich einige Wörter auf, die ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen habe: »drei Wochen zu früh«, »schwierige Entbindung«, »Doktor geholt«. Mit diesen Bruchstücken wusste ich nichts anzufangen, wagte es aber auch nicht, danach zu fragen. Die Omas brauchten ja nicht zu wissen, dass ich ihr vertrauliches Gespräch belauscht hatte.

Ein bisschen Sorge machte ich mir schon um die Mama. Denn bisher hatte ich nicht erlebt, dass sie einmal krank gewesen wäre. Aber die Großeltern kümmerten sich so liebevoll um mich, dass ich abgelenkt war. Ja, und was mich auch immer wieder auf andere Gedanken brachte, waren die Nachbarskinder, die mich am Nachmittag zum Schlittenfahren abholten. Ganz in der Nähe gab es einen wunderbaren Hügel, von dem man herrlich hinabsausen konnte. Von Opa hatte ich sogar einen eigenen Schlitten, nämlich den aus Mamas Kindertagen.

An dem Sonntag, bevor wir die dritte Kerze am Adventskranz anzündeten, kam Oma Maria mit einer guten Nachricht. Der Mama gehe es schon besser, sodass ich bald nach Hause könne. Eine Woche später berichtete sie, am Heiligen Abend dürfe ich wieder heimkommen, dort warte eine große Überraschung auf mich.

Die beiden letzten Tage verbrachte ich voller Unruhe, und es ist nur Opas Geduld zu verdanken, dass ich nicht einfach nach Hause lief. Mit seinen spannenden, selbst erdachten Geschichten verstand er es immer wieder, mich abzulenken.

Am Nachmittag des Heiligen Abends war es dann so weit. Oma Liesl drückte dem Opa das Bündel mit meiner Wäsche in die Hand, achtete darauf, dass mein Schal ordentlich umgebunden war und die Mütze auch die Ohren bedeckte, und schon marschierte Opa mit mir los. Ganz zappelig war ich vor lauter Aufregung, endlich wieder nach Hause zu kommen. Munter plappernd trippelte ich neben dem Großvater her. An der Tür unseres Hauses nahm Oma Maria mich in Empfang und führte mich gleich in die Küche.

»Wo ist die Mama?«, wollte ich wissen.

»Sie liegt noch im Bett. Aber bei der Bescherung wird sie in der Stube sein.«

Als es dämmrig wurde, begann Oma, mit mir in der Küche den Rosenkranz zu beten. Wir waren etwa bis zur Hälfte gekommen, da flüsterte sie mir zu: »Du bist doch schon ein großes und verständiges Mädchen, du wirst jetzt kurz allein weiterbeten. Ich muss in der Stube nachschauen, ob das Christkind schon fertig ist. Dann rufe ich dich.«

Diese verlockende Aussicht veranlasste mich dazu, Perle um Perle durch meine Finger gleiten zu lassen und ein Ave-Maria nach dem anderen zu beten. Endlich kam die Oma zurück, nahm mich bei der Hand und führte mich in die Stube. Als Erstes erblickte ich den Baum, der auf einem Tisch in einer Ecke des Raumes stand. Die Fichte war nicht sonderlich groß, aber die flackernden Kerzen zogen meine Blicke magisch an.

Während ich mit Oma »Ihr Kinderlein kommet« sang, ertönte plötzlich Babygeschrei. Verwundert senkte ich meinen Blick und entdeckte den aus Weiden geflochtenen Wäschekorb. Darin lag, auf ein Kissen gebettet, tatsächlich das Christkind. Es hatte blonde Löckchen und ein süßes Stupsnäschen. Irgendetwas schien ihm nicht zu gefallen, denn es schrie so kräftig, dass sein Gesichtchen ganz rot wurde. Vor Freude wusste ich mich kaum zu fassen.

»Das Christkind ist bei uns! Das echte Christkind!«, rief ich ein ums andere Mal. Vom Jahr zuvor kannte ich nur das aus Holz geschnitzte, welches in der Kirche vor dem Altar in einem aus Stroh geflochtenen Korb lag, wie man ihn früher verwendete, um den Brotteig darin gehen zu lassen. Von dem schreienden Christkind war ich so fasziniert, dass ich gar nicht bemerkte, wie bescheiden die Bescherung ausfiel. Außer einem Apfel und ein paar Nüssen gab es nichts, noch nicht einmal Plätzchen. Erst später wurde mir klar, dass Mutter ja nicht hatte backen können, weil sie zu der Zeit im Wochenbett lag. Und die Oma war auch nicht dazu gekommen, weil sie mit dem Stall, der Hausarbeit und der Pflege von Wöchnerin und Säugling komplett ausgelastet war.

Plötzlich vernahm ich eine Stimme aus dem Dunkeln: »Mutter, reich mir doch mal das Kind, es hat gewiss Hunger.«

Erst da entdeckte ich meine Mama, die das Geschehen von einem Sessel aus beobachtet hatte. Sofort wollte ich mich auf sie stürzen. Doch rechtzeitig fiel mir ein, dass sie ja krank war und man behutsam mit ihr umgehen musste. Da Oma in dem Moment die Deckenlampe anschaltete, sah ich, dass die Mama im Rücken durch ein Kopfkissen gestützt wurde und dass eine Wolldecke über ihre Beine gebreitet war. Ich umarmte sie ganz vorsichtig, und sie streichelte mir sanft übers Haar.

»Mein großes, vernünftiges Mädchen, wie schön, dich wieder bei mir zu haben.«

Schon legte die Oma ihrer Tochter den kleinen Schreihals in die Arme. Mutter öffnete die Knöpfe an ihrem Nachtgewand, legte sich das kleine Gesicht an die entblößte Brust, und das kleine Kind begann, mit gierigem Mäulchen zu saugen.

Die Oma verabschiedete sich mit den Worten: »Da ihr drei nun gut beschäftigt seid, kann ich in den Stall gehen.« Alle Tiere waren zu füttern, das Schwein, ein Dutzend Hühner, vier Gänse und die Kuh. Diese musste auch noch gemolken werden, damit wir unsere Milch bekamen.

Ich aber blieb bei der Mama und bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Gewiss, ich hatte schon gesehen, wie ein Kälbchen bei der Kuh trinkt und wie die Sau die Ferkel säugt, dass man bei der Mama aber auch trinken konnte und dass dies noch dazu das Christkind tat, musste ich erst einmal verdauen. Nachdem ich eine Weile wie gebannt zugeschaut hatte, führten die Mama und ich ein aufschlussreiches Mutter-Tochter-Gespräch.

»Mama, ist da Milch drin?«

»Freilich.«

»Und wie ist die da reingekommen?«

Die Mutter überlegte eine Weile, ehe sie mir erklärte: »Schau, Anna, wenn eine Frau ein Baby kriegt, entwickelt sich Milch in ihrer Brust, damit sie das Kind ernähren kann. Weil es noch keine Zähne hat, kann es ja noch nichts Richtiges essen.«

Das leuchtete mir ein. »Hab ich auch bei dir getrunken?«

»Freilich hast du das, fast ein ganzes Jahr lang. Übrigens – Stillen nennt man es, wenn man das Kind an der Mutterbrust trinken lässt.«

Das war alles, was ich an Aufklärung erhielt. Plötzlich überfiel mich eine Sorge: »Wenn das Christkind satt ist, fliegt es dann wieder in den Himmel zurück?«

»Aber nein«, die Mama lachte. »Es bleibt hier, es ist nämlich gar nicht das Christkind.«

»Wenn es nicht das Christkind ist, wer ist es denn dann?«

Wieder schien meine Mutter nach den richtigen Worten zu suchen. »Das ist ein kleiner Engel. Den hat uns dein Vater vom Himmel geschickt, um uns zu trösten.«

»Und darf der Engel bei uns bleiben?«, schöpfte ich Hoffnung.

»Freilich darf er das. Dieser kleine Engel heißt Johanna und ist dein Schwesterchen.«

»Wirklich?«, fragte ich hocherfreut. »Ich habe jetzt ein Schwesterchen, und es fliegt gewiss nicht weg?«

Die Mama nickte und malte mir aus, welche kleinen Pflichten ich bei meiner Schwester übernehmen dürfe, sobald sie ein bisschen herangewachsen sei. Für mich war es keineswegs enttäuschend, dass es sich bei diesem blondlockigen Dirndl nicht um das Christkind handelte, im Gegenteil: Ich war richtig froh über das echte Menschlein, so blieb es mir doch erhalten. Und ehrlich gesagt, ein Christkind, das Hunger hatte und schrie und das in die Windeln machte, wäre mir viel zu menschlich gewesen. Nein, nein, das Christkind stellte ich mir lieber als geistiges Wesen vor, das weder Hunger noch Durst hatte und stets in höheren Sphären schwebte.

Die kleine Johanna aber – wenn sie auch noch etwas zart wirkte, weil sie das Licht der Welt drei Wochen zu früh erblickt hatte – war etwas Handfestes. An ihr hatten wir sehr viel Freude, und jeden Tag entdeckte ich etwas Neues, was mich an ihr erstaunte.

Mit diesem Kind hatte uns der Vater wirklich einen Trost geschickt, nicht nur seiner Mutter und seiner Frau, sondern auch mir. Allerdings tat mir Johanna leid, weil sie unseren Vater nicht mehr kennenlernen durfte. Wenn ich auch traurig darüber war, fortan ohne Vater aufwachsen zu müssen, so war ich doch dankbar dafür, dass ich ihn immerhin sechs Jahre lang mehr oder weniger um mich gehabt hatte.

Eine Tanne macht Karriere

Heidi, Jahrgang 1949, aus Leipzig

Wie an jedem Werktag fuhr ich am 16. Dezember 2003 kurz nach 13 Uhr mit dem Fahrrad von der Arbeit heim. Unser Zuhause befand sich in Leipzig in einer bereits 1927/28 entstandenen Siedlung. Da damals Baugrund noch nicht so knapp war wie heute, lag jedes Einfamilienhaus inmitten eines Grundstücks von etwas mehr als 1500 Quadratmetern, auch das unsere. Die fleißigen Vorfahren hatten einige Obstbäume angepflanzt, von denen wir auch heute noch profitieren. In schlechten Zeiten war man froh, dass man genug Gartenfläche zur Verfügung hatte, um neben Gemüse auch Kartoffeln anbauen zu können. Dennoch erlaubte man sich den Luxus, auch einige Nadelbäume auf das Grundstück zu setzen. Unter anderem befand sich in unserem Garten eine Edeltanne. Sie stand ziemlich nah am Zaun, der unser Grundstück gegen die Straße abgrenzte. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sie sich zu einem großen prächtigen Baum entwickelt, der unser ganzer Stolz war.

Als ich an dem erwähnten Tag in unsere Straße einbog, die sich aufgrund der ansehnlichen Grundstücke über eine Länge von mehr als drei Kilometern erstreckte, wehte mir ein leichter Wind entgegen. Dieser wurde zusehends stärker, sodass ich kräftig in die Pedale treten musste, um überhaupt noch vorwärtszukommen. Rechts und links von mir sah ich Schulkinder nach Hause eilen, die sich regelrecht gegen den Wind stemmen mussten.

Wenige Meter vor unserem Gartentor wurde mir das Radeln zu anstrengend. So stieg ich ab und schob mein Rad – ein deutlich leichteres Unterfangen, als weiterhin gegen den Wind strampeln zu müssen. Froh war ich, als ich endlich das Gartentor hinter mir schließen konnte. Die Bäume bogen sich mächtig im Wind. Mir fiel auf, dass ich noch Wäsche auf der Leine hatte. Der Wind, der sich inzwischen zu einem Sturm entwickelt hatte, zerrte mächtig an den Wäschestücken, sodass zu befürchten war, sie könnten davonfliegen. Es kostete mich viel Kraft, sie abzunehmen, denn die Naturgewalten drohten, mir die Teile aus den Händen zu reißen. Erleichtert stürzte ich endlich mit meinem Arm voll Wäsche ins schützende Haus. Seit ich meinen Heimweg angetreten hatte, war mehr als eine halbe Stunde vergangen. Deshalb begab ich mich gleich in die Küche, um das Mittagessen zuzubereiten, ohne zuerst meinen Mann im Wohnzimmer zu begrüßen.

Er hatte mich aber kommen gehört. Nach einiger Zeit rief Bernd: »Heidi, komm schnell! Guck mal auf die Straße!«

Dazu muss ich erklären, dass er aufgrund einer ernsthaften Erkrankung an den Rollstuhl gefesselt war. Seitdem gehörte es zu einem seiner wenigen Vergnügen, vom Wohnzimmerfenster aus das Geschehen auf der Straße zu beobachten. Was ich nun erblickte, ließ meinen Atem stocken. Unsere wunderbare Weißtanne lag quer über der kompletten Straße! Aber nicht nur sie hatte es erwischt. Reihenweise hatte der Sturm aus den Vorgärten Kiefern, Fichten und Tannen entwurzelt und auf die Straße geschleudert.

»Gott sei Dank, dass ich nicht ein paar Minuten später nach Hause gekommen bin. Es hätte mich ja glatt einer der Bäume erschlagen können«, war meine erste Reaktion bei diesem Anblick. Eine Sekunde später durchzuckte mich ein schrecklicher Gedanke: »Hoffentlich ist nicht eines der Schulkinder unter einen Baum geraten!«

Spontan wollte ich hinausstürmen und nachschauen, doch Bernd hielt mich zurück: »Du kannst doch jetzt nicht rauslaufen, das wäre viel zu gefährlich! Du siehst doch, dass Dachziegel durch die Luft fliegen und Telefonmasten umknicken wie Streichhölzer. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, das hätte ich bestimmt gesehen, wenn ein Kind unter unseren Baum geraten wäre.«