I.
»Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihr Einbürgerungsverfahren nunmehr durch Aushändigung der Einbürgerungsurkunde abgeschlossen werden kann.« Gezeichnet, Hoff.
Mit diesem Bescheid zur Einbürgerung in der Hand buche ich ein Europa-Spezial-Ticket und nehme den Zug nach Berlin, wo ich in einer offiziellen Zeremonie mit Eid und Urkunde in Deutschland eingebürgert werden soll. Bis zu diesem Brief wusste ich nicht, dass der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft »einbürgern« genannt wird; auch nach zwanzig Jahren mache ich noch immer Bekanntschaft mit neuen Wörtern. Manche von ihnen sind so schillernd und klug, dass ich mich wundere, wie ich so lange ohne sie leben konnte. Dieses Wort aber stellt nach meinem Gefühl nichts Richtiges her. Ich schaue in die Luft und spreche es nach: »Einbürgern, einmachen, einwecken, luftdicht verschließen.«
Seit ich in Deutschland bin, werden mir Begriffe zur Seite gestellt, die mein Dasein begleiten. Sie ändern sich sogar mit der Zeit und passen sich wunderbarerweise meinen Schritten an. Zuerst war es eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Das Wort gefiel mir schon immer. Um die befristete Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, musste ich ein unwirtliches Gebiet durchschreiten, das jeder, der es betritt, schnellstmöglich wieder verlassen will.
Bürgersteige oder Fahrradwege gab es dort nicht, die U-Bahn lag weit entfernt. Die Strecke lief parallel zu einer sechsspurigen Autobahn und führte über eine windige Autobahnbrücke, die einem laut und erbarmungslos den Feinstaub ins Gesicht schlug. Darunter die Hochspannungsleitungen und die Schienen der Eisenbahn, an ihnen entlang Hebekräne, Stellwerke, Abstellhalden und Getreidespeicher. Die Ämter bestanden aus Containerbauten und ergaben ein barackenähnliches Dorf mit Straßen, die mit Buchstaben ausgezeichnet waren, so die Straße A, wo sich das Amt für Abschiebung befand.
Der sogenannte Parteienverkehr im Ausländereinwohnermeldeamt beschränkte sich auf 8 bis 12 Uhr. Jeder, der einmal hier war und unverrichteter Dinge wieder nach Hause ging, wusste von da an, dass er spätestens um 6 Uhr eine Wartenummer abzureißen hatte. Die Wartezeit betrug mindestens fünf Stunden und war wie überall auf der Welt in Plastikschalen zu verbringen, die am Boden angeschraubt und miteinander verbunden waren. Und sie verbanden wirklich, nämlich diejenigen miteinander, die am selben Tag darauf warteten, dranzukommen. Wir alle schauten in die Luft und dazwischen immer wieder auf die Formulare, die ewig Rätsel aufgaben. Wir spitzten die Ohren, wenn eine Tür aufging oder die Lettern auf die nächste Zahl sprangen, und wir alle starrten ewig und ewig sinnlos auf die Nummerntafeln. Ich war stolz darauf, eine von uns zu sein, eine Ausländerin. Hier, im Ausländereinwohnermeldeamt kam ich meiner Vorstellung, wie und wo ich sein wollte, am nächsten. Ich wollte eine Ausländerin sein unter lauter anderen Ausländern.
»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte mich die deutsche Beamtin in einem angestrengten Ausländerdeutsch, als würde ich sie besser verstehen, wenn sie sich bemühte, gebrochen Deutsch zu sprechen. Meine eigene Antwort aber überraschte mich noch mehr. Ich sagte: »Ich sprechen Deutsch, ja«. Auch ich sprach plötzlich in einem korrekten ausländischen Deutsch. Mit der Anfrage nach einer Aufenthaltserlaubnis wurde meine eigene deutsche Sprache unversehens zur Fremdsprache.
Die Prozedur für die befristete Aufenthaltserlaubnis wiederholte ich drei Mal. Die Zeitspannen dazwischen wurden länger; stets war ein Kontoauszug mitzubringen. Es war die Höhe der Summe, die entschied, wie lange mir der Aufenthalt bis zur nächsten Frist gewährt wurde.
Das ferne Ziel war die unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Doch ich habe sie nie erhalten, angeblich wurde sie unwichtig. Die Behörden hatten anderes zu tun, als sich um den rechtlichen Status dieser Sorte von Einwanderern zu kümmern: den EU-Bürgern. Sie wurde obsolet. Ich aber hätte die unbefristete Aufenthaltserlaubnis dennoch gerne in der Hand gehalten, auf meinen Namen ausgestellt. Als Nachweis für einen Weg, den ich gegangen war, mit meinem neuen Leben woanders.
Stattdessen bekam ich eine Freizügigkeitsbescheinigung im deutschen Bürgeramt.
Der alljährliche, für manche monatliche, doch immer frühmorgendliche Schicksalsgang durch das unwirtliche Gebiet zwischen Autobahnbrücke, Getreidespeicher und Industriehafen blieb nun den richtigen Ausländern vorbehalten. EU-Bürger durften in die warme Stube eines deutschen Bürgeramtes und wurden mit den deutschen Bürgern gleichgestellt.
Mit der Auflösung der europäischen Binnengrenzen und der Gestaltung einer europäischen Komfortzone für die EU-Bürger hörten wir europäischen Einwanderer auf, Ausländer zu sein. Alle anderen wurden es dafür umso mehr. Obwohl wir alle dasselbe taten, nämlich einwandern, trennten sich von nun an unsere Wege.
Ich blickte auf die Freizügigkeitsbescheinigung in meiner Hand. In meinen Ohren klang das wie die launische Aufforderung: »Zieh frei und zügig weiter«, gerichtet an eine freizügige Person, die, wenn sie ihren Mantel öffnet, darunter nur Unterwäsche herzeigt.