Daniel Deckers
WEIN
Geschichte und Genuss
Verlag C.H.Beck
«Alles in allem … bieten Weine auf allen Qualitätsstufen, vom einfachen Zechwein bis zu den renommiertesten Crus, einen größeren Genuss denn je in der jahrtausendealten Geschichte des faszinierendsten Getränkes in Gottes Schöpfung.» Mit einem insgesamt positiven Urteil über die Weinwelt von heute endet diese ebenso kenntnisreiche wie unterhaltsame Tour d’horizon durch mehr als 3000 Jahre Weingeschichte. Daniel Deckers lässt darin die wichtigsten Stationen der Weingeschichte Revue passieren, sucht Reben und Regionen auf und erklärt die jeweiligen Besonderheiten von der Antike bis zur Gegenwart. Seine kundige Einführung in die Weingeschichte ist ein Kompendium für den kultivierten Genießer.
Daniel Deckers ist Redakteur bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» und Lehrbeauftragter für die Geschichte des Weinbaus und Weinhandels an der Hochschule Geisenheim University (Rheingau). Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Papst Franziskus. Wider die Trägheit des Herzens. Eine Biographie» (Beck Paperback 6220).
I: Wein von innen, Öl von außen – Weinkultur in der Antike
Das erste Weinland
Süß, gut, stark, reif
Esther und Judith
In das Traubental
Menschen aus der Welt
Metapher statt Metamorphose
Metamorphose statt Metapher
Neues Leben: Im Zug des Dionysos
Römische Weinwirtschaft
Von Cato bis Plinius
Kluge Erfindung, nicht Natur
In vino veritas
An gesunden und kranken Tagen:
De materia medica
II: Beten und arbeiten – Wein zwischen Spätantike und Spätmittelalter
Kelten, Römer, Germanen
O Mosella I
Der fröhliche Steuermann
Mit Karst und Hippe
Klima, Klöster, Kreuzzüge
Weinstädte im Mittelalter
Wein als Teil des zivilisatorischen Dekors
A good and most perticular taste
Besseres Bier, weniger Wein
Falsch und beschiss
La Bataille des vins
Blei, Gewürze, Schwefel
Ein doppelter Schutz
III: Saufen wie ein Deutscher – Zwischen Reformation und Revolution
Sola scriptura
Maulbronner Fuge
Temperatur- und andere Depressionen
Die Alte in der Neuen Welt
Neues in der Alten Welt
Trinken, um zu vergessen
Gin, Cognac, Rum – noch mehr Konkurrenz für den Wein
Kapwein
Im Promillebereich
Sack – ein neues Geschmackserlebnis
Sind Engländer hier?
Riesling für den Cabinet-Keller
Wein vom Stein
Es knallt: Champagner
Jeffersons Weine
IV: Auf Leben und Tod – Das lange 19. Jahrhundert
Der Kongress trinkt
Der Kometenwein
Erfahrung und Erwartung
Bier – Wein – Branntwein
Wein – verbürgerlicht
Teutschlands hochfliegende Schlagader
Billigen Zuckerzeiten entgegen
Mosel-Konkurrenz
Works of Industry of All Nations
Moselwein – Modewein
Die Juden und das Wirtschaftsleben
Sattelzeit im Weinbau
Auf Leben und Tod
Von der großen Krise in den Großen Krieg
Auswanderung – die neue Weinwelt
Wein und Chemie 1: Kampf gegen Fälschungen
Die Geburt der Ampelographie
Wein und Chemie II: Schädlingsbekämpfung und Pasteurisierung
V: Neuzeitlicher Weinbau oder die Verwandlung der Weinwelt
Wein und Krieg I
Winzernot
«Trinkt deutschen Wein»
Neuzeitlicher Weinbau
Spurensuche in Europa
Im Zeichen des Traubenadlers
Exil oder Holocaust
Von hoher grenzpolitischer Bedeutung
Heil Deutschland
Treue und Tradition
Wein und Krieg II
O Mosella
Chianti, Lambrusco und Co
Auferstanden aus Ruinen
Sweet and cheap
Immer weniger – immer besser
Die Europäisierung der Weinwelt
Neuer Wein, neue Schläuche
Literaturhinweise
Überblicke und Gesamtdarstellungen
Antike
Mittelalter und Neuzeit
19. und 20. Jahrhundert
Varia
I
Weinkultur in der Antike
In den gemäßigten Klimazonen Asiens, Europas und Nordamerikas wachsen dutzende Arten der Pflanzengattung vitis (Weinrebe). Aber nur eine dieser Arten haben sich die Menschen so zu Nutze gemacht, dass aus deren Früchten, den Beeren, wohlschmeckender Wein wird: die edle traubentragende Weinrebe (vitis vinifera Sativa d.C.). Sie ist die Mutter aller etwa 8000 Rebsorten, die die Menschheit kennt.
Um aus der Vielzahl der sich selbst befruchtenden vitis-Arten jene kultivieren zu können, die zu unserer Weinrebe werden sollte, mussten viele Faktoren zusammenkommen. Ein gemäßigtes Klima war in der Erdgeschichte erst in der Jungsteinzeit gegeben, also im Zeitraum zwischen 8500 und 4000 v.Chr. Sodann stellt eine Rebe hohe Ansprüche an Boden und Klima. Die Vegetationsperiode darf 180 Tage nicht unter-, aber auch nicht stark überschreiten. Die Rebe braucht Winterruhe, damit das Holz ausreifen kann. In den Tropen ist sie daher nicht heimisch. In den gemäßigten Breiten darf es aber nicht zu heiß sein und nicht zu kalt – und das nicht nur bezogen auf die Durchschnittstemperaturen im Winter wie im Sommer. Sinken die Temperaturen unter minus zwanzig Grad Celsius, können auch die widerstandsfähigsten Reben erfrieren. Im Frühjahr können späte Fröste den jungen Trieben gefährlich werden. Frühe Herbstfröste lassen das Laub absterben, so dass kein Zucker mehr gebildet wird und die Trauben nicht mehr reifen. Wasser braucht die Rebe auch, weshalb sie mehrere Meter tief wurzeln kann. Überhaupt – sie muss hungern, damit sie das Letzte aus dem Boden herausholt.
Von Natur aus legt es die Weinrebe darauf an, in die Höhe zu wachsen beziehungsweise – besser noch – an allem in die Höhe zu ranken, was sich als Stütze anbietet. Sie ist ein Lianengewächs. Zur Kultur gehört es, die Reben so zu «beschneiden», dass die Pflanze so viel Kraft wie möglich in die Trauben bringt und so wenig wie nötig in das Holz und das Laubwerk. Reberziehung nennt man diese Form des Umgangs des Menschen mit der Rebe.
Wie es die Menschen in vorgeschichtlicher Zeit mit dem Weinbau hielten, ist nur schemenhaft zu erkennen. Aber sie mussten das Leben als Jäger und Sammler aufgegeben haben und sesshaft geworden sein. Keine landwirtschaftliche Kultur war und ist so arbeitsintensiv wie der Weinbau – aber keine auch so faszinierend.
Das erste Weinland. Die besten Bedingungen für die Kultivierung der Wildreben fanden Menschen in den Randzonen jenes fruchtbaren Halbmonds vor, der sich von Zentralasien bis an die Mittelmeerküste erstreckt. Als nachgerade ideal erwiesen sich vor allem die Hänge des Zagros-Gebirges. Nach Südwesten hin fällt es in das Zweistromland von Euphrat und Tigris ab, nach Norden grenzt es an die Kaukasusregion. Vergleichbare Bedingungen boten die Plateaus des Taurus-Gebirges im Osten der heutigen Türkei. Überragt werden sie von dem Berg Ararat – jenem Berg, von dem das Buch Genesis eine neue Zivilisation ihren Ausgang nehmen ließ, nachdem die Sintflut die ersten Ansätze unter sich begraben hatte.
Nun wollte die Schöpfungsgeschichte weder eine naturwissenschaftliche Erklärung der Entstehung der Welt sein, noch die Frühgeschichte der Zivilisation erzählen. Gleichwohl ist ihr Wahrheitsgehalt nicht zu unterschätzen. Die biblische Erzählung von einem Neubeginn des Lebens auf der Erde ist ein Echo weit älterer Überlieferungen ähnlichen Inhalts – modern gesprochen von der Entstehung und dem Wachstum des Menschengeschlechts nach dem Ende der letzten großen Eiszeit. Wenn die Bibel die Neuschöpfung der Welt in die Region des Taurus- und des Zagros-Gebirges verlegt, dann just dorthin, wo sich die ältesten archäobotanischen und -chemischen Zeugnisse des Weinbaus erhalten haben: Traubenkerne sowie eingetrocknete Flüssigkeitsreste, die am Rand oder am Boden von Aufbewahrungsgefäßen alle Zeiten überdauert haben. Sie bezeugen, dass die Menschheit weit vor dem Jahr 4000 zu Wein vergorenen Traubensaft gekannt hat. Aber zunächst nur in dieser klimatisch besonders begünstigten Region.
In Ägypten war die zum Weinbau geeignete Wildrebe nicht heimisch. Gleichwohl lernten Pharaonen, Priester und Angehörige der Oberschicht schnell, den Wein zu schätzen. Im Vergleich zu dem allgegenwärtigen Gerstenbier war er ungleich alkoholischer und sicher auch schmackhafter. Die ersten Weine erreichten Ägypten wohl auf dem Seeweg. Sie stammten aus der Levante, wohin sich der Weinbau aus dem kühleren Bergland im Norden wohl als erstes ausgebreitet hatte. In Ägypten selbst stand der Weinbau in dem fruchtbaren, wenngleich auf Bewässerung angewiesenen Nildelta spätestens um die Wende vom vierten zum dritten Jahrtausend v. Chr. in voller Blüte.
In dem Grab das Pharaos Scorpion 1. fanden im Jahr 3150 v. Chr. mehr als 4000 Liter Wein ihre letzte Ruhestätte. Er war aus Kanaan importiert worden. Der Pharao Tutenchamun, der um 1330 v. Chr. starb, musste in der Ewigkeit mit weniger als zwei Dutzend Amphoren Wein auskommen – diesmal aber mit ägyptischem Wein aus Trauben, die an Reben in bewässerten Weingärten am Nil oder in Oasen im Westen des Landes gewachsen waren. Hieroglyphen, Wandmalereien, tönerne Weinetiketten, große und kleine Gefäße – sie alle sprechen eine eindeutige Sprache: Ägypter, die es sich leisten konnten, tranken Wein, der aus Trauben gekeltert worden war. Auch die künstlerischen Darstellungen des Weinbaus, etwa der Reberziehung, der Ernte, des Keltervorgangs und des Ausbaus des Weins in Amphoren, die ihrerseits sorgfältig beschriftet wurden, belegen die zentrale Bedeutung des Weinbaus für die Religion wie die Festkultur im alten Ägypten.
Die chemische Analyse von Flüssigkeitsresten, wie sie erst seit wenigen Jahrzehnten möglich ist, ergänzt die Bildsprache. Oft war der Wein mit Terebinthenharz versetzt, manchmal mit Myrrhe. Auch Früchte und Kräuter durften nicht fehlen. Ob diese Ingredienzien den Wein haltbarer machen, ob sie Fehltöne oder gar üble Gerüche und Geschmacksnoten kaschieren oder ihm die Eigenschaft eines Medizinalgetränks geben sollten – denkbar ist vieles, gewiss ist nichts.
Eine ähnliche Entwicklung wie in Ägypten vollzog sich zwischen dem vierten und dem ersten vorchristlichen Jahrtausend am anderen Ende des fruchtbaren Halbmonds, dem Land zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris. Archäologische Zeugnisse etwa aus der späten Uruk-Zeit ausgangs des vierten Jahrtausends sprechen eine deutliche Sprache. Von Norden aus erreichten Weintransporte zu Wasser oder auf dem Landweg die aufstrebenden Stadtstaaten im Süden Mesopotamiens. Im Zweistromland machte dieser Wein außer dem Gerstenbier auch dem süßen, aus Datteln hergestellten Wein Konkurrenz.
In den sumerischen und babylonischen Städten kreiste das Leben um große Tempel – und damit auch um Wein, der aus (zunächst wohl ausschließlich roten) Trauben hergestellt worden war. Der Kodex Hammurabi, um das Jahr 1750 v. Chr. in Babylon entstanden und damit eine der ältesten Rechtsquellen der Menschheitsgeschichte, reglementierte nicht zuletzt den Umgang der Priesterinnen mit Wein. Weder durften sie sich als Weinhändlerinnen betätigen noch Wein außerhalb des Tempels trinken. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass der Wein nicht nur im Tempelkult eine zentrale Rolle gespielt hat, sondern auch im Umkreis der Kultstätten reger Handel mit Wein betrieben wurde.
Während für Mesopotamien schriftliche Quellen schon früh reichlich sprudeln, sind die archäologischen Zeugnisse aus dieser Region spärlicher als etwa aus Ägypten. Szenen der Festkultur, etwa Darstellungen königlicher Bankette, haben sich auf Siegeln erhalten. Typisch für Mesopotamien sind auch Trinkgefäße, aus denen mit Hilfe langer Rohre außer Bier und Dattelwein auch «richtiger» Wein getrunken wurde.
Süß, gut, stark, reif. Mit König Hammurabi und seinen Eroberungszügen verbinden sich schriftliche Zeugnisse, die über den Weinhandel entlang von Euphrat und Tigris Auskunft geben. Unter den Ruinen der Stadt Mari, einer der bedeutendsten Siedlungen der altbabylonischen Zeit (ca. 2000–1600 v. Chr.), haben mehr als zweitausend in Keilschrift verfasste Tontafeln alle Zeiten überdauert. In akkadischer Sprache enthalten sie unter anderem die Korrespondenz zwischen Weinhändlern aus Mari und dem wichtigen Weinumschlagplatz Karkemisch (im Osten der heutigen Türkei) nebst Schilderungen des oft hindernisreichen Weintransports. Das Mari-Archiv gibt auch detailliert Aufschluss über die Art und die Größe der Gefäße, die zum Transport des Weins verwendet wurden, dazu über ihre Aufbewahrung im Königspalast und über den Gebrauch, den König und Königin von dem kostbaren Getränk machten.
Nach dem Untergang das altbabylonischen Reiches wurden die Assyrer zu Förderern des Weinbaus. Aus einer ihrer Kolonien namens Kannesh (im heutigen Anatolien) entwickelte sich seit 1600 v. Chr. das Königreich der Hethiter. Es sollte vier Jahrhunderte bestehen. In den Archiven, die sich in den Ruinen des Königspalastes in der Hauptstadt Hatusha erhalten haben, wurden viele Texte gefunden, die sich auf Weinbau und -handel bezogen. Diese Kultur war unter den ersten, wenn nicht die erste, in denen Wein eine bedeutendere Rolle als Bier oder andere fermentierte Getränke spielte – jedenfalls am königlichen Hof und im Dienst der Verehrung der Gottheiten. Wein scheint auch die Basis für allerlei Mischgetränke gewesen zu sein. Zudem legen die Texte es nahe, dass die Hethiter außer rotem auch weißen Wein kannten.
Auch in ihrem eigentlichen Herrschaftsgebiet förderten die Assyrer den Weinbau. Vielerorts wurden neue, königliche Rebgärten angelegt. Nur selten handelte es sich um reine Weingärten oder -berge. Zumeist rankten sich die Reben an Bäumen empor, die ihnen Halt gaben – eine Form der Reberziehung, die sich in Italien und Portugal noch im 20. Jahrhundert finden ließ. Schriftliche Quellen, die als Weinlisten identifiziert werden konnten, verzeichnen neben roten und nun auch weißen Weinen «süße», «gute», «starke» und «reife» Kreszenzen. Und warum sollte Wein nur «pur» aus dem Most frischer Trauben gewonnen werden? Warum ihn nicht mit Mostkonzentrat anreichern, Weizen oder Gerstenmalz hinzugeben und ihn mit Kräutern würzen? Als Weintrinker abgebildet wurde jedoch nur der König. Wein war das Symbol des Göttlichen wie der Fruchtbarkeit der Natur. Warum?
Hat der Rebstock sein Laub abgeworfen, wirkt er wie tot. Treibt er im Frühjahr aus und platzen bald die wolligen Knospen, dann bricht sich die lebenspendende Kraft der Natur Bahn. Die Fruchtbarkeit alleine ist es nicht, die den Weinstock von allen anderen Nutzpflanzen unterscheidet: Es sind die wie von Götterhand gelenkte Verwandlung des Traubenmostes in Wein und die Wirkung, die dieses Getränk auf den Menschen hat. Die Fermente und das Wasser zur Verwandlung von Getreide in Bier oder von Datteln in Wein musste (und muss) der Mensch bereitstellen. Der frisch gepresste Saft der Beeren verändert sich ohne menschliches Zutun. Er vergärt wie von Geisterhand.
Freilich ist die mystisch-magische Aura nur eine von vielen Valenzen, die den Wein seit alters her umgeben. Zwischen dem Wein in all seiner Profanität als Alltagsgetränk und dem Wein als Medium der Begegnung mit dem Göttlichen als dem anderen Extrem liegen viele Deutungs- und Bedeutungsebenen. Den Traubensaft macht sich der Mensch zu den unterschiedlichsten Zwecken zunutze: In vergorenem Zustand und fast immer mit Wasser vermischt, ist er das Alltagsgetränk schlechthin; besonders gute, weil ausnehmend süße oder aromatische Weine dienen denen, die es sich leisten können, als Genuss- und Rauschmittel; zugleich markiert er gesellschaftliche Unterschiede und ist daher auch als Distinktionsmedium nützlich; sodann erfüllt Wein in allen Religionen kultische Funktionen; schließlich dient er dem Menschen auch als Heilmittel, sei es als Lösungsmittel für andere Therapeutika, sei es als Stärkungsmittel, sei es als pharmakon, als Medizin selbst.
Ebenso unentbehrlich wie Wein waren in der Antike nur noch Getreide und Öl. Oliven waren die Grundlage des Speiseöls, ihr Öl diente aber auch zur körperlichen Reinigung und erhellte – in einer Zeit ohne künstliche Beleuchtungsquellen – das Dunkel. Doch was sind die Valenzen von Getreide und von Olivenöl gegen die des Weins, zumal die Rebe nicht selten an Standorten wächst, die für andere landwirtschaftliche Kulturformen als den Weinbau kaum oder nicht geeignet sind? Weinbau ist somit eine Form der Wertschöpfung, die den Bogen schlägt vom Lebensnotwendigen zum Luxus, vom Profanen zum Heiligen und von der Nüchternheit zum Rausch.
Über den Aufstieg und Fall der antiken Reiche kamen immer neue Elemente hinzu und verbanden sich zu immer komplexeren Repräsentationen. Was etwa hat es damit auf sich, dass der assyrische König Assurbanipal (668–627) auf einem Wandrelief, das ihn in seinem Palast in Ninive zeigt, nicht mehr den Wein im Stehen zu sich nimmt, sondern im Schatten von Rebenlaub liegend, in der einen Hand einen Becher Wein, in der anderen ein Lotosblatt? Vermutlich ist dies die älteste Darstellung, in der Wein in entspannter Position genossen wird. Der König war dabei mit der (sitzenden) Königin alleine, sieht man von den Musikern und den Bediensteten ab, die beiden frische Luft zufächeln. Was das Königspaar im Sinn hatte, erfährt man nicht. Vielleicht handelte es sich um ein kleines privates Nachspiel nach einer Heldentat.
Esther und Judith. Fünfzehn Jahre nach dem Tod Assurbanipals war es um die Herrschaft der Assyrer geschehen. Von Süden drangen die Babylonier vor, von Osten strömten die Meder in das Zweistromland. Ninive fiel im Jahr 612 v. Chr. Auch das neobabylonische Reich hatte nicht lange Bestand, wenngleich sich mit ihm die Eroberung Israels und die Zerstörung des jüdischen Tempels verbinden. Anstatt in ihrem Weinland saßen die Israeliten im Exil «an den Wassern von Babylon» und weinten.
Die Rettung kam in Gestalt des persischen Königs Kyros, eines Weinliebhabers par excellence. So jedenfalls wollen es die griechischen Historiker Xenophon und Herodot wissen. Und auch das hat Herodot überliefert: Dass die Perser eine recht eigentümliche Form des Symposions pflegten. Wann immer es gewichtige Entscheidungen zu treffen gelte, täten sie dies in volltrunkenem Zustand. Am nächsten Morgen werde das, was in der Nacht beschlossen worden sei, bei Licht betrachtet. Hielt man die Entscheidung noch immer für gut, wurde sie bestätigt; wenn nicht, wurde sie verworfen.
In einer anderen Schilderung des persischen Hoflebens hat übermäßiger Weinkonsum fatale Folgen. Nachzulesen ausgerechnet im Alten Testament, im Buch Esther, Kapitel 1: Sieben Tage lang gab König Artaxerxes im Hofgarten seines Palastes in Susa ein Festmahl. «Man trank aus goldenen Gefäßen, von denen keines den andern gleich war. Großzügig ließ der König seinen Wein ausschenken. Bei dem Gelage sollte keinerlei Zwang herrschen. Denn der König hatte seinen Palastbeamten befohlen: Jeder kann tun, was ihm beliebt. Auch Königin Waschti gab ein Festmahl für die Frauen, die im Palast des Königs Artaxerxes lebten». Am siebten Tag (!) war der König vom Wein angeheitert (!) und wollte aus dieser Laune heraus die Königin zur Schau stellen. Diese weigerte sich und wurde verstoßen. Neue Königin wurde die Jüdin Esther.
Für die Wertschätzung des Weins in heutigen religiösen Kontexten spielt diese Episode eine kaum zu unterschätzende Rolle. Das Buch Esther wollte erzählen, wie das jüdische Purim-Fest entstanden ist – als Erinnerung an die Tage, «an denen die Juden wieder Ruhe hatten vor ihren Feinden» und «sich ihr Kummer in Freude verwandelte und ihre Trauer in Glück». Noch heute wird das Purim-Fest so begangen, dass reichlich gegessen und noch reichlicher Wein getrunken wird. Schon in der Antike floss Wein derart in Strömen, dass einige römische Schriftsteller den Jahwe-Kult für einen Dionysos- beziehungsweise Bacchus-Kult hielten. Bis heute bietet der «Esther»-Stoff aber nicht nur Inspiration für feine Zungen, sondern auch für gute Ohren. Ein italienisches Opernlibretto Artaserse wurde im Barock gleich mehrfach vertont, unter anderem von Johann Adolf Hasse, Christoph Willibald Gluck und Carl Heinrich Graun.
Noch wirkmächtiger in Kunst und Musik wurde die biblische Erzählung von Judith und dem assyrischen Heerführer Holofernes. Dieser sollte nach dem Willen Jahwes von der Hand der Witwe Judith sterben. Deren Plan, ihn gemeinsam mit ihrer Magd zu enthaupten, konnte jedoch nur in einem Zustand gelingen, in dem der Krieger nicht mehr Herr seiner Sinne war. Womit ließ sich der antike Vollrausch besser herbeiführen als mit «einem Schlauch Wein»? Holofernes’ Ende nahte, nachdem er «vom Wein übermannt, vornüber auf sein Lager gesunken war». Was sich dann abspielte, lässt sich in der Malerei und der figürlichen Kunst von Lucas Cranach d.Ä. bis zu Gustav Klimt betrachten und in der Vertonung von Alessandro Scarlatti, Antonio Vivaldi und Wolfgang Amadeus Mozart hören.
In das Traubental. Legenden hin, Erzählungen her, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Weinbaus im biblischen Israel liegt trotz der häufigen Erwähnungen des Weins bis heute weitgehend im Dunkeln. Gewiss ist nur, dass die Weinrebe auf der trocken-heißen Landbrücke zwischen Asien und Afrika längst heimisch war, ehe dort die ersten Stämme siedelten, die später zum Volk Israel zusammenwachsen sollten. Folgt man der biblischen Chronologie, kamen die Israeliten erst nach dem Exodus aus Ägypten auf den Weingeschmack.
Joseph, der Sohn des Jakob und damit in der Ahnenreihe der Patriarchen der Repräsentant der vierten Generation, fand sich nach den Schilderungen des Buches Genesis eines Tages in Ägypten wieder, wo er unter anderem mit dem Obermundschenk des Pharaos zu tun bekam und einen Traum deutete, in dem Weintrauben eine zentrale Rolle spielten. Ob Josef sich mit Wein oder gar Weinbau auskannte, gibt die Erzählung nicht preis. Er wurde zu einer Art Agrarreformer, indem er den Anbau von Brotgetreide förderte.
Kanaan, das Land, aus dem Joseph einst aufgebrochen war, hatten die Israeliten nicht als Region in Erinnerung, in der es Weinbau gab. Es sollte «nur» ein Land sein, in dem Milch und Honig flossen. Von Weinbau wussten die ersten Kundschafter, die Moses nach dem Durchzug durch das Rote Meer und dem Bundesschluss am Sinai entsandt hatte, nichts zu berichten. Die zweite Welle der Kundschafter hatte mehr Glück. Josua und Kaleb fanden den Weg von Hebron in das «Traubental». Dort schnitten sie eine Rebe mit einer Weintraube ab «und trugen sie zu zweit auf einer Stange, dazu auch einige Granatäpfel und Feigen». Nun war es für die Israeliten keine Frage mehr, wohin die Reise gehen sollte. Das gelobte Land lag dort, wo sich auch die Söhne Israels der Pflege des Weinstocks und dem Genuss seiner Früchte hingeben könnten.
Wann die Israeliten begannen, Weinbau zu betreiben, ist nicht zu rekonstruieren. Auf relativ sicherem Boden steht man erst um das Jahr 750 v. Chr. Aus dieser Zeit stammt eine in Samaria gefundene Scherbe, deren Inschrift so gedeutet worden ist, dass sie von einem Gefäß stammt, in dem Wein für die Mitglieder einer einflussreichen Familie, wenn nicht gar den königlichen Haushalt, transportiert wurde. Was diese mit dem Wein anfingen, gibt die Scherbe nicht preis. Allerdings geißelten Propheten immer wieder ein munteres Treiben am Königshof namens marzeah, bei dem bester Wein und feinste Öle in verschwenderischer Weise den sozialen Status des Gastgebers markierten. Im sechsten Kapitel des Buches des Propheten Amos heißt es: «Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen.»
Menschen aus der Welt. Mochte diese verschwenderische Art, Wein in Strömen fließen zu lassen, den Unmut der Propheten auf sich ziehen, so hatten sie nichts daran auszusetzen, dass Wein in den Opferritualen auf dem Jerusalemer Tempelberg eine wichtige Rolle spielte. Ohnehin gehörte der Zehnte vom Wein wie der Zehnte von Getreide und von Öl dem Gott Jahwe.
Als Medium der Transzendenz, gar als göttliche Gabe, erschien der Wein den Israeliten nie. Gegen diese Sicht sprach allein schon die Chronologie. Im Paradies sah Gott für den von ihm geschaffenen Menschen noch keinen Wein vor. Der Baum der Erkenntnis war nicht eine Rebe, sondern ein Apfelbaum. Um die Blöße nach dem Sündenfall zu bedecken, mussten Blätter des Feigenbaums herhalten. Weinlaub hätte es vielleicht auch getan – aber das es gab im «Urzustand» nicht.
Nach der Vertreibung aus dem Paradies konnte der Mensch vielleicht Trost im Wein finden, mindestens aber in Wein und Brot ein Zeichen der Gastfreundschaft sehen – wenn man Hohepriester war wie Melchisedek. Dann kam die Sintflut. Den neuen Bund schloss Jahwe mit Noah, der an Bord der Arche («Anfang») überlebt hatte. Noah sollte nicht nur als der erste Mensch in die Geschichte eingehen, der einen Weinstock pflanzte. Er war auch der erste, dem Wein zum Verhängnis wurde. Trunken wurde er im Zelt «entblößt» von seinem Sohn Ham gesehen, der daraufhin seine beiden Brüder Sem und Japhet auf den Vater aufmerksam machte, woraufhin diese seine Blöße bedeckten, ohne ihren Vater anzusehen.