Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
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Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-55002-7
ISBN E-Book 978-3-688-10480-2
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Diese und alle folgenden Zahlen unmittelbar hinter den Autorennamen verweisen auf die laufende Nummer des Literaturverzeichnisses im Anhang dieses Bandes.
Von den Biologen hat A. PORTMANN diesen Zusammenhang klar erkannt: ‹Die andauernde Wirkung der geschlechtlichen Komponente, der auffälligsten unter diesen hormonalen Wirkungen, führt zu einer stetigen, dauernden Sexualisierung aller menschlichen Antriebssysteme einerseits – aber auch zu einer bedeutungsvollen Durchdringung der sexuellen Aktivität mit den stetig wirkenden anderen Motiven menschlichen Verhaltens› (14a, S. 61f bzw. rde Bd. 20, S. 63 f).
The Science of Society, Bd. 1. 1927.
R. LINTON, The Study of Man, 1936, p. 117.
Vgl. O. KLINEBERG, Social Psychology, 1940.
Berichtet bei O. KLINEBERG, a.a.O., S. 269.
Artikel ‹Psychische Geschlechtsmerkmale› im Handwörterbuch der Sexualwissenschaft, 2. Aufl., 1926, S. 243.
Vgl. diese These bei EUGEN ROSENSTOCK, Soziologie I, 1925, S. 143, und ‹Heilkraft und Wahrheit›, 1952, S. 169.
Für eine ausführliche Behandlung des Themas vgl. W. BERNSDORF, ‹Soziologie der Prostitution› in 25, S. 548–599; dort auch umfangreiche Literaturangabe.
Vgl. dazu die vorzügliche Kritik von L. TRILLING, 69.
Diese Natur der sozialen Gebilde ist im Grunde schon von HEGEL mit seinem Begriff des ‹objektiven Geistes› erfaßt und von einem ‹Hegelianer› wie HANS FREYER in seiner ‹Theorie des objektiven Geistes› (3. Aufl., 1934) zu retten versucht worden; die inflationistische Abwertung dieser Begriffswelt und der Verfall der Institutionen, die diese Denkweisen stützten, macht es aber erforderlich, diese Einsichten der Sache und den modernen Fachdisziplinen neu abzugewinnen.
Leider hat BÜRGER-PRINZ seine Thesen zu diesem Thema bisher nicht zusammengefaßt dargestellt, sondern in einer Reihe von Fachpublikationen zur Sexualität und Sexualpathologie, zur Frage der Homosexualität und des Transvestitismus usw. (47 a–g) geäußert, die für den Laien kaum zugänglich sind, so daß wir seine Ansichten hier stärker als die anderer Autoren auch referieren wollen.
Vgl. meine Abhandlung ‹Wo liegen heute die Interessen der Frau?› in SCHELSKY, 34 b, 3. Aufl., 394–418.
Wie sehr der Mensch primitiver Gesellschaften in diesen Exogamiegeboten die Chance zu höherer sozialer Solidarität und Kooperation sieht und wie wenig zuweilen die damit verbundenen sexuellen Einschränkungen überhaupt beachtet werden, zeigt MARG. MEAD (23 b, p. 67f.) in sehr anschaulicher Weise: In ihren Untersuchungen bei dem Südseestamm der Arapesh hatte sie außerordentliche Mühe, ihren Gewährsleuten überhaupt den Tatbestand des Inzests klarzumachen; als es ihr endlich gelang, den älteren Männern hypothetisch die Frage zu stellen, was sie denn sagen würden, wenn ihr Sohn ihre eigene Tochter heiraten wolle, erhielt sie die Antwort: ‹Was, du willst deine Schwester heiraten, was ist denn los mit dir? Willst du denn gar keinen Schwager haben? Begreifst du nicht, daß, wenn du eines anderen Mannes Schwester heiratest und ein anderer deine Schwester, du dann zwei Schwäger hast, während du, wenn du deine Schwester heiratest, gar keinen hast? Mit wem willst du denn jagen, mit wem deinen Garten bebauen und wen willst du besuchen gehen?› So kommt die Verfasserin zu dem Urteil, daß ‹der Inzest bei den Arapesh keineswegs mit Schrecken oder Abscheu gegen eine Versuchung des Fleisches betrachtet wird, sondern als eine sehr dumme Ablehnung der Annehmlichkeit, durch eine Heirat die Anzahl der Personen zu vermehren, denen man Liebe und Vertrauen entgegenbringen kann.›
Zur Theorie der ‹gegenläufigen Prozesse in der industriellen Gesellschaft› vgl. H. SCHELSKY, 34 a, S. 347ff.
Schriften vgl. Literaturverzeichnis S. 138ff.
Schriften vgl. Literaturverzeichnis S. 138ff.
Schriften vgl. Literaturverzeichnis S. 138ff.
Schriften vgl. Literaturverzeichnis S. 138ff.
Über geschlechtliche Verhaltensweisen vor einer breiteren Öffentlichkeit zu sprechen oder zu schreiben, gehörte einmal zu den Dingen, die für einen Privatmann als ungehörig, für einen Gelehrten nur in ganz gewichtigen Ausnahmefällen als zulässig angesehen wurden. Die wissenschaftliche Erörterung der Probleme und Zusammenhänge der Sexualität erfolgte in kleinen Kreisen spezialisierter Fachwissenschaften, die sich zudem noch durch eine für den Laien kaum durchdringbare fremdwortreiche Fachsprache gegen ein allzu breites Verständnis ihres Gegenstandes abschirmten. Die Berechtigung einer solchen Einstellung gegenüber der Erörterung sexueller Dinge ist als eine gefühlsmäßige Hemmung heute noch weit verbreitet, gilt aber gerade unter den modernen, sich ihrer allseitigen Bewußtheit und unvoreingenommenen geistigen Offenheit sicheren Intellektuellen und in den Kreisen, in die ihr Einfluß reicht, als eine hoffnungslos altmodische Ansicht. Nachdem die Psychoanalyse zum interessanten gesellschaftlichen Gesprächsstoff, ja, schon zu einem Gesellschaftsspiel geworden ist und die Statistiken der Kinsey-Berichte einen Bestseller und ein jahrelang bevorzugtes Thema aller Tageszeitungen abgegeben haben, scheint jene Einstellung so veraltet und überholt zu sein, daß ihr Vorhandensein nur als Anzeichen eines nicht bewältigten Trieblebens und eines unfreien Charakters gedeutet und das Bekenntnis zu ihr als eine geistige Kastration oder als ein Verharren in muffig-kleinbürgerlicher Geistesenge angesehen werden kann. Schließlich gehören ja die Einsichten in die Verdrängung sexueller Antriebe heute zu dem geistigen Rüstzeug und dem Wortschatz, mit dem anerkannte geistige Führer, Kirchenleute und Politiker die Schlechtigkeit menschlicher Zustände öffentlich erklären und aller Welt den Weg zum jeweiligen Heil weisen.
Und trotzdem halte ich jene altmodische Ansicht für die einzig richtige.
Diese Versicherung muß in einem Buche über die Sexualität, das schon durch seine Erscheinungsweise mit einer breiteren Leserschaft rechnet, einigermaßen widerspruchsvoll erscheinen. Wir befinden uns heute traditionellen Verhaltensweisen gegenüber – und zu ihnen gehört die Tabuierung des Geschlechtlichen im öffentlichen Gespräch – aber in ebendiesem Widerspruch: ihr bloßes, naives und selbstsicheres Durchhalten ist kaum möglich, da sich alle gültigen Motive des öffentlichen Bewußtseins gegen sie wenden, ihre rationalisierende Aufklärung erzwingen und sie als auf bloßer Tradition beruhende Verhaltensformen vor dem Selbstbewußtsein des modernen Menschen diskriminieren. So in den Bereich des kritischen und planenden Bewußtseins des einzelnen Menschen und der Gesellschaft gezogen und der mehr oder minder offenen Diskussion ausgeliefert, verlieren aber diese Verhaltensweisen ihre sinnvolle und für Mensch und Gesellschaft gleich nützliche Funktion, die sie nur unterhalb der, wenn nicht Bewußtseins-, so doch wenigstens Wort- und Diskussionsschwelle auszuüben imstande waren. Ihre Bewußtmachung und deren Popularisierung hat allerdings, anstatt zum freien und beherrschten Leben zu führen, nur neue und weit schwerer greifbare und zu ertragende Notstände, Unsicherheiten und Krankheiten des menschlichen und sozialen Verhaltens geschaffen, als die Enge und Schranken der Traditionen sie verursachten. Wie gegenüber so vielen aufklärerischrevolutionären Emanzipationsbewegungen beginnen wir heute auch gegenüber der Emanzipation der Sexualität aus der hoch- und kleinbürgerlichen Prüderie der Jahrhundertwende zu ahnen, daß wir das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Die menschlichen und sozialen Folgen, die in der Popularisierung der an sich höchst wissenschaftlich spezialisierten Einsichten der Psychoanalyse und in solchen sexuellen Aufklärungswellen liegen, wie sie mit den Namen Vandervelde oder Kinsey verbunden sind, beginnen heute die Wissenschaften vom Menschen nicht minder sorgenvoll zu beschäftigen als einst die Aufklärer die ‹Unvernünftigkeiten› traditioneller Verhaltensmuster. Wir sind auf vielen wissenschaftlichen Gebieten gerade dabei, uns die funktionale Bedeutung der Traditionen durch Einsicht wieder zu erobern.
In diesem Vorgang einer Gegenaufklärung gegen die mangelnde Tiefe des Bewußtseins der Aufklärungszeiten und -bewegungen, in dessen Zusammenhang eine Besinnung über die gegenseitige Rolle von Moral und Sexualität in der Gesellschaft sicherlich zu den notwendigsten und folgenreichsten Aufgaben gehört, gerät nun aber das wissenschaftliche Bewußtsein in das oben genannte Dilemma: die Einsicht in die Bedeutsamkeit einer geschwundenen oder schwindenden traditionellen Verhaltensform stellt diese nicht wieder her; auf eine Konservierung oder Restaurierung von Traditionen durch Verbreitung der Einsichten in die Leistung und ihren Nutzen zu hoffen, erweist sich als eine leicht durchschaubare, aufklärerische Infektion des konservativen Bewußtseins. Umgekehrt bestärkt das Schweigen über solche Einsichten, ihre Hegung in esoterisch-wissenschaftlichen Zirkeln, die traditionszerstörenden Aufklärungsbewegungen nur noch, da diese ja einmal vom wissenschaftlichen Bewußtsein her in Gang gesetzt wurden und sich in ihrem gegenwärtigen Verlauf gegenüber dem Populärbewußtsein immer noch von dort her legitimieren. Auf unser Thema hin verdeutlicht, heißt dies etwa: die Einsicht und Aufklärung über den Schaden, den die umfassende Publizität der Kinsey-Berichte anrichtet, kann diesen nicht verhindern oder wiedergutmachen; umgekehrt würde eine im inneren Zirkel der Wissenschaft bleibende Kritik den Wirkungsgrad der Kinsey-Popularisierungen nur noch verstärken, da diese sich ja als die wissenschaftliche Wahrheit schlechthin dem öffentlichen Bewußtsein aufdrängen. Auch die über den Optimismus ihrer aufklärerischen Wirkung hinausgelangte Wissenschaft muß sich den Konsequenzen ihrer aufklärerischen Popularisierung stellen.
Weshalb reden und schreiben wir also hier so öffentlich über Sexualität und Moral, wenn wir doch der Meinung sind, daß ihr für den einzelnen und die Gesellschaft harmonischstes Verhältnis zueinander gerade unterhalb der öffentlichen Wort- und Diskussionsschwelle liegt? Offensichtlich weder in der aufklärerischen Hoffnung auf Fortschritt noch in der konservativen Hoffnung auf Restauration einer höheren Moral sexuellen Verhaltens, sondern aus Verantwortungsgefühl und der Einsicht, daß die Wissenschaft ihre eigenen Verführungen und Utopismen zurückzunehmen hat. Wenn wir hier die lebenswichtige Funktion der Moral im sexuellen Verhalten für den einzelnen und die Gesellschaft zu verdeutlichen suchen, so also nicht, weil wir hoffen, dadurch diese Moral selbst wieder schaffen und stabilisieren zu können, wohl aber in der Absicht, den Raum für moralische Entscheidungen und Verhaltensformierungen überhaupt erst wieder freizulegen gegenüber dem Nebel und Meinungszwang sowohl fortschrittlich als auch restaurativ planerischen Wissenschaftspopularisierungen. Wir stehen im Bereich der sexuellen Verhaltensweisen – wie in vielen Gebieten unseres sozialen Lebens – vor einer viel schwierigeren Aufgabe, als über veraltete Traditionen hinaus fortzuschreiten oder umgekehrt diese zu bewahren, wir stehen vor der Aufgabe, neue Traditionen zu begründen. Das kann keine Wissenschaft; aber sie kann mithelfen, ein allgemeines Bewußtsein zu schaffen, das diese schöpferische Leistung sozialer Stabilität nicht durch pseudowissenschaftliche Lösung behindert. –
Dieser Abriß einer sozialwissenschaftlichen Theorie der Sexualität versucht, den gegenwärtigen Stand des soziologischen Verständnisses der Geschlechtlichkeit festzuhalten und ihn in Zusammenhang mit den allgemeinsoziologischen Lehren über die Gesellschaft und die menschlichen Verhaltensformen zu bringen. Die Gesichtspunkte, unter denen diese Abhandlung steht, verdanken ihre Klärung nicht zuletzt vielen und eingehenden Gesprächen mit dem Psychiater HANS BÜRGER-PRINZ und dem Philosophen und Soziologen ARNOLD GEHLEN, denen ich dafür auch an dieser Stelle danken möchte. Als Vorarbeiten sind in diese Darstellung folgende Veröffentlichungen des Verfassers eingegangen: Die sozialen Formen der sexuellen Beziehungen, in ‹Die Sexualität des Menschen, Handbuch der medizinischen Sexualforschung›, hg. v.H. Giese, Stuttgart 1954; der Artikel ‹Sexualität› im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 1954; Die Moral der Kinsey-Reporte, in Ztschr. ‹Wort und Wahrheit›, 9. Jg., Heft 6, 1954.
Die neueren sozialwissenschaftlichen Theorien der Sexualität wenden sich zunächst gegen die in der älteren Soziologie vielfach vertretene Ansicht, die Sexualität des Menschen stelle ein biologisch in seinem Ablauf so gesichertes Instinktverhalten dar, daß eine Soziallehre der Geschlechtlichkeit in ihr einen präsozial weitgehend festgelegten Verhaltenskomplex einfach aufzunehmen habe oder gar von ihm soziale Beziehungen und Formen in ihrer Struktur deduzieren könne. Die moderne Anthropologie und die auf ihr aufbauenden Kulturlehren, wie sie in den Werken von BRONISLAW MALINOWSKI, MARGARET MEAD, RUTH BENEDICT, CLYDE KLUCKHOHN, ARNOLD GEHLEN u.a. vorliegen, sehen in der Sexualität wie in anderen biologisch bedingten Antrieben des Menschen eher weitgehend unspezialisierte Grundbedürfnisse, die gerade wegen ihrer biologischen Ungesichertheit und Plastizität der Formung und Führung durch soziale Normierung und durch Stabilisierung zu konkreten Dauerinteressen in einem kulturellen Überbau von Institutionen bedürfen, damit die Erfüllung schon des biologischen Zweckes, so im Falle der Sexualität etwa die Fortpflanzung, sichergestellt ist.
Von dem in seiner Auslösung, seinem Ablauf und seinem Gattungszweck instinktgesicherten Sexualverhalten der Tiere, wie es vor allem KONRAD LORENZ in seinen tierpsychologischen Untersuchungen geklärt hat, unterscheidet sich die biologische Situation der menschlichen Geschlechtlichkeit in zwei wesentlichen Merkmalen, die zugleich die Grundlage ihrer sozialen Formung ausmachen: in einer weitgehenden Instinktreduktion, die mit der Bildung eines sexuellen Antriebsüberschusses Hand in Hand geht, und in der Ablösbarkeit des sinnlichen Lustgefühls vom biologischen Gattungszweck, womit die Lust als ein neuer Zweck des Sexualverhaltens unmittelbar intendierbar wird.
Eine der entscheidenden Abweichungen des menschlichen vom tierischen Geschlechtsleben besteht im Fehlen des jahreszeitlichen Rhythmus der sexuellen Antriebe (Brunstzeiten). Infolge der Daueraktualität des menschlichen Geschlechtstriebes, verbunden mit seiner Hypertrophierung unter einigermaßen günstigen Umweltbedingungen, entsteht ein sexueller Antriebsüberschuß, der nur in den seltensten Fällen in rein sexuellen Verhaltensweisen unterzubringen ist. Dieser Erhöhung der sexuellen Triebenergien steht nun auf der anderen Seite ein Abbau der organischen Kontrollen und Sicherungen dieses Verhaltens im Sinne biologischer Zweckmäßigkeit gegenüber: der Mensch verfügt weder im Einsatz noch im Ablauf seines Sexualverhaltens über eindeutige Instinktmechanismen oder feste ‹angeborene Schemata› (LORENZ) der Reizauslösung; obwohl zweifellos in der menschlichen Sinneswahrnehmung einige Reste sexueller Instinktschemata auffindbar sind (sexuelle Düfte, spezifische Formen des weiblichen und männlichen Körpers u.a.), hat die allgemeine Instinktreduktion doch zu einer fast universalen Plastizität (GEHLEN) des menschlichen Sexualverhaltens geführt. In diesem Antriebsüberschuß und der Instinktungesichertheit des menschlichen Sexualverhaltens steckt also eine außerordentliche Gefährdung des biologischen Wesens Mensch, die man als eine Tendenz zur Pansexualität und, sofern alles Sexualverhalten wesentlich auf Kommunikation zwischen mehreren Individuen zielt, als einen Zug zur ungeregelten Promiskuität bestimmen kann. (Die ältere Soziologie hat nie erkannt, daß die Vorstellung einer ungeregelten geschlechtlichen Promiskuität einen vorkulturellen Tatbestand, allenfalls einen Zustand des biologischen Verfalls des Kulturwesens Mensch meint und daher als Begriff einer Sozialform der menschlichen Geschlechtsbeziehungen in einer Kulturwissenschaft von vornherein illegitim ist.)
In dieser biologischen Gefährdung des menschlichen Trieblebens liegt nun aber zugleich seine kulturelle Chance: indem der Mensch dem Zwang der Umweltgebundenheit und der Instinktstarre entronnen ist, kann und muß er über seine Antriebe in bewußten Handlungen verfügen; daß das menschliche Triebleben auf kulturelle Führung und Regelung angewiesen ist, stellt die Grundeinsicht dar, die die neuere deutsche philosophische Anthropologie (MAX SCHELER, HELMUTH PLESSNER, ARNOLD GEHLEN) herausgearbeitet hat und die von der Humanbiologie heute als Grundlage angenommen ist (vgl. z.B. ADOLF PORTMANN, OTTO STORCH u.a.). Dieser Notwendigkeit der kulturellen Führung unterliegen insbesondere alle menschlichen Triebenergien, die auf ein Handeln unter mehreren Individuen zielen: die kulturelle Überformung der sexuellen Antriebe gehört sicherlich ebenso zu den ursprünglichen Kulturleistungen und Existenzerfordernissen des Menschen wie Werkzeug und Sprache, ja, es spricht nichts dagegen, in dieser Regelung der Geschlechts- und Fortpflanzungsbeziehungen des Menschen die primäre Sozialform alles menschlichen Verhaltens zu erblicken.
Die Leistungen des kulturellen Überbaus von Sozialformen gegenüber der geschilderten sexuellen Antriebsstruktur des Menschen gehen in zweierlei Richtungen: zunächst bedeutet die soziale Regelung der Geschlechtsbeziehungen eine Kontrolle und Zucht zur biologischen Zweckmäßigkeit, insofern das biologisch ungesicherte Sexualverhalten durch soziale Einschränkungen auf Dauerinteressen und Selektivität der Sexualziele eingestellt wird; ‹culture channels biological process› (CLYDE KLUCKHOHN). Dabei erweist sich die instinktschematisch ungesicherte Plastizität menschlicher Sexualbedürfnisse gerade als eine Chance zur Ausbildung einer höheren Selektivität der Sexualziele, die über den bloßen Gattungszweck hinausführt und die Einfügung von seelischen, kulturellen oder sozialen Differenzierungen in die sexuelle Antriebssphäre ermöglicht. Weiterhin bewirkt der kulturelle Überbau die Ablenkung der im Geschlechtsverhalten nicht unterzubringenden Energien auf nichtsexuelle oder pseudosexuelle Ziele. Indem sich aus den sozialen Institutionen, die das Triebleben regeln, institutionseigene Bedürfnisse entwickeln, die aber in ihrer Energiezufuhr auf sexuelle und andere primär biologische Triebquellen angewiesen sind, pendeln diese Institutionen in ihrer Entwicklung ständig in der Waage zwischen Ent- und Resexualisierung. Dies sowie die Tatsache, daß in den Formen dieses kulturellen Überbaus stets andere als sexuelle Grundantriebe zugleich mit aufgenommen und geregelt sind, macht die Analyse sozialer Gebilde in ihrer Beziehung zur Sexualität so außergewöhnlich schwierig.
Eine weitere Grundlage für die kulturelle Formung des sexuellen Verhaltens müssen wir darin sehen, daß die Lustempfindung des Triebverhaltens beim Menschen vom Gattungszweck ablösbar ist und zum eigenständigen Motiv bewußter Handlungen zu werden vermag. Indem die Sinneswahrnehmung des Menschen ihre organische Verwurzelung in bestimmten umweltgebundenen Funktionskreisen löst, gewinnt sie zugleich die Verfügbarkeit über das alles tierische Triebverhalten nur begleitende Lustgefühl, das jetzt, enthoben der biologischen Zweckmäßigkeit, zum Ziel dieses Verhaltens selbst werden kann. Diese Akzentuierung des Genusses hat O. STORCH (16[*], S. 23f.) für die Funktion der menschlichen Ernährung als Grundlage der menschlichen ‹Kochkultur› nachgewiesen: indem sich die Geschmacksqualitäten von der Funktion der bloßen Nahrungsaufnahme freisetzen lassen und um ihrer selbst willen erstrebt werden können, schaffen sie erst den eigentümlichen menschlichen Anreiz, Geschmacks- und Genußbedürfnisse um ihrer selbst willen zu verfolgen und diese daher als hohe kulturelle Differenzierung in die Formen der Nahrungsaufnahme einzubauen. So gehört das reine Genußmittel von vornherein ebenso zu den Wesenseigentümlichkeiten des Menschen wie die Verfolgung der bloßen geschlechtlichen Lust um ihrer selbst willen. Die primäre biologische Funktionslosigkeit dieser beiden autonomen Genuß- oder Lusttendenzen bedingt dann auch die in beiden angelegte Steigerung in den Rausch als eine nur vom Menschen anzustrebende Befindlichkeit. Von dieser Verselbständigung des Genusses her gesehen wird das menschliche Sexualverhalten mit Recht als Sinnlichkeit schlechthin bezeichnet. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß fast alle menschlichen Sinnesorgane im Dienst der Sexualität stehen und so – trotz der Verdichtung sexueller Lustempfindungen in den primär sexuellen Zonen des Leibes – die gesamte Leiblichkeit dem Menschen als Organ dieses Lustgewinnes zur Verfügung steht. Dieser realisiert sich nun in den sehr verschiedenen Abstufungen und Distanzverhältnissen leiblicher Sinneskommunikation zwischen den Individuen, zugleich aber als leibliches Selbstgefühl des Einzelnen im Hinblick auf dieses Kommunikationserlebnis.
Dieses im interindividuellen Kontakt auftretende, von der Bindung an einen biologischen Gattungszweck befreite leibliche Luststreben bildet als Bereich der Erotik eine stets vorhandene Schicht des menschlichen Sexualverhaltens, die ihrerseits nun genau so der sozialen Formung und Institutionalisierung unterliegt wie die primären Geschlechtsbeziehungen. Da dieser universal-leibliche Lustgewinn keineswegs an den Geschlechtsakt gebunden ist, sondern in jeder noch unmittelbar sinneshaften menschlichen Kommunikation erlebbar ist, besteht praktisch für alle sozialen Gebilde und Verhaltensformen, in denen die Menschen in leiblicher Gegenwart miteinander verkehren, die Möglichkeit der Erotisierung dieser Beziehungen. Eine Soziologie der Erotik sieht sich also von vornherein vor der Aufgabe, nicht nur die Anwesenheit erotischer Triebmomente in den verschiedenen personhaften Formen der sozialen Beziehungen zu diagnostizieren, sondern vorwiegend gerade das Ausmaß und die Art ihrer Neutralisierung und Hemmung als die spezifisch soziale und kulturelle Leistung zu verdeutlichen. Erst die von der leiblichen Präsenz der Person entbundenen abstrakten und großorganisatorischen Sozialbeziehungen der modernen Gesellschaft versagen sich grundsätzlicher dieser Erotisierbarkeit.
Die Ausdehnung dieser Art sexueller Lustimpulse auf jede Form der Sinneswahrnehmung des Menschen erklärt weiterhin, weshalb alle kulturellen Gebilde und Verhaltensformen, die auf der Kultivierung und Differenzierung sinnenhafter Ausdrucks- und Eindrucksweisen beruhen – wie jegliche Kunst, aber auch die Rituale des religiösen, des kämpferischen Verhaltens usw. – stets in erotischen Lustgewinn ausweitbar sind. Diese Erscheinung wird nun zum sozialen Tatbestand, insofern diese kulturellen Gebilde zu einem künstlichen Medium sinnlicher Kommunikation, zu einem Vehikel der Leiblichkeit werden und damit neue Bereiche und Formen zwischenmenschlicher erotischer Beziehungen schaffen, wie wir sie vor allem in den Auswirkungen der darstellenden Kunst, von den Frauenstatuetten der Steinzeit bis zur modernen Reklame, studieren können.
Schon diese kurze und durchaus fragmentarische Darstellung der anthropologischen Grundlagen der menschlichen Sexualität zeigt also eine biologisch notwendige Angewiesenheit des menschlichen Geschlechtstriebes auf soziale und kulturelle Formung, offenbart aber zugleich die Vielfältigkeit und Ausfaltung dieser sozialen und kulturellen Befriedigungs- und Kontrollmöglichkeiten. Die allseitige Durchdringung menschlicher Handlungsformen mit sexueller Aktivität wie umgekehrt die Entfremdung geschlechtlicher Antriebe in und durch andere Schichten und Impulse menschlichen Verhaltens[*], beides Vorgänge, die sich zudem in dauerndem Wechsel und dynamischem Widerspiel befinden, lassen daher eine präzise Bestimmung, was soziale Formen der Sexualität sind und was nicht, gar nicht zu; eine Soziologie der sexuellen Beziehungen wird daher wesentlich immer im Nachweis bruchstückhafter und wechselbarer sexueller Bezüge innerhalb funktional vielseitiger und umfassender sozialer Gebilde und Verhaltensformen zu bestehen haben.