
Holger Thurm
Roman

Berlin.
Claire hatte in den vergangenen Tagen immer wieder versucht, Marie zu erreichen. Ohne Erfolg. Es war über zwei Wochen her gewesen, dass sie zuletzt von ihrer Schwester gehört hatte. Und auch an diesem Vormittag schaltete sich nur die Mailbox ein. Diesmal hinterließ Claire eine Nachricht.
»Marie, ist alles in Ordnung bei dir? Bitte melde dich! Ich habe seit Tagen nichts von dir gehört. Langsam mache ich mir Sorgen. Also, ruf zurück!«
Claire legte ihr Telefon beiseite. Kopfschüttelnd sah sie aus dem Fenster ihrer Praxis. Auf der anderen Straßenseite parkte ein schwarzer Mercedes. Zwei Männer saßen regungslos darin. Claire runzelte die Stirn. Hatte der Wagen nicht schon tags zuvor dort geparkt? Ihre Finger tippten nervös auf der Glasplatte ihres Schreibtischs. Sie starrte auf ihr Handy. Entschlossen griff sie nochmals danach und wählte Maries Nummer bei der Arbeit.
Franziska, Maries Kollegin, ging ans Telefon. »Nein, Marie arbeitet zurzeit nicht. Ich habe sie länger nicht gesehen. Sie wissen ja vermutlich, dass ihr gekündigt worden ist.«
»Jaja«, entgegnete Claire. »Ich kann sie gerade nicht erreichen. Ist denn ihr Chef zu sprechen?«
»Das ist im Augenblick schlecht, glaube ich …«, hörte sie Franziskas verunsicherte Stimme. »Wir haben gerade die Polizei da. Bei uns ist eingebrochen worden.«
Claire horchte auf. »Kann ich ihn bitte dennoch kurz sprechen? Es ist wichtig!«
»Okay.«
Es tutete in der Leitung. Joachim Esser nahm ab. Er war kurz angebunden. Als er jedoch hörte, dass es Claire um ihre Schwester Marie ging, zeigte er sich offener.
»Ich versuche auch, Marie zu erreichen. Mein Büro ist durchwühlt worden. Mir sind Unterlagen gestohlen worden, wichtige Dokumente, die Marie recherchiert hat.«
»Ich mache mir große Sorgen um Marie!«, räumte Claire ein. »Sie meldet sich nicht. Kann es sein, dass es um Dokumente der Firma Grau Cura geht?«
Es herrschte einen Augenblick Schweigen in der Leitung.
»Sie kennen die Dokumente?«, hörte sie schließlich Essers Stimme. Er schien verblüfft zu sein.
»Ich habe eine Kopie davon.« Claire biss sich auf die Zunge und drehte sich zur Straße um. Sie sah auf den Mercedes auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Eine dunkle Ahnung überkam sie. »Zu Hause«, fügte sie hinzu.
Der Fahrer startete den Motor. Der Mercedes fuhr aus der Parklücke heraus. Claire ließ den Hörer sinken. Durch den Lautsprecher hörte sie den Chefredakteur plärren:
»Um Gottes Willen, bringen Sie sie her! Und reden Sie mit niemandem darüber.«
Claire legte auf. »Zu spät!«, sagte sie für sich. Sie öffnete eine Schublade ihres Schreibtisches und nahm Maries kopierte CD heraus. Sie hatte sie natürlich nicht zu Hause aufbewahrt. Dann schnappte sie sich ihren Mantel und verließ die Praxis. Im Hinausgehen wählte sie die Nummer der Polizei.
*
»Herr Professor?«
Die Stimme drang nur langsam in Varlands Bewusstsein vor.
»Herr Professor Varland?«
Tageslicht blendete Varland, als er die Augen öffnete. Sogleich schloss er sie wieder. Er stöhnte.
»Machen Sie ruhig langsam, Herr Professor! Sie haben lange geschlafen.«
Varland sog tief Luft durch die Nase und drehte den Kopf seitlich. So blendete das Licht weniger. »Was ist passiert?«
»Sie sind in der Charité. Sie waren vier Tage ohne Bewusstsein.«
Varlands Kopf schmerzte. Er war sehr müde. Dennoch versuchte er sich zu erinnern. Er war im Krankenhaus in Berlin? Wie war er hierhergekommen? Die letzten bewusst wahrgenommenen Bilder kreisten in seinem Kopf: Da war das Jesus-Kreuz in der Apsis, der unterirdische Felsentunnel, die Teufelsfratze, die glitzernde Höhle mit dem See. Pfarrer Bundschuh und Gilbert kamen ihm in den Sinn – und Hanna.
»Wo sind die anderen?«, wollte Varland wissen. Er wagte nun, die Augen ganz aufzuschlagen. Er sah einen Arzt mit quadratischem Kopf und einer ebensolchen Brille, grauem Seitenscheitel und einem akkurat rasierten Gesicht. Er trug einen Kittel. Im Hintergrund stand eine Krankenschwester.
»Ich bin Professor Lautenschlager«, stellte sich der Arzt vor.
Varland zögerte, noch leicht benommen, dann nickte er zum Gruß. »Was ist passiert?«
»Erinnern Sie sich an gar nichts? Wissen Sie, wo Sie zuletzt waren?«
Varland kniff die Augen zusammen, als er nachdachte. »Ich war in dieser Höhle …«
Professor Lautenschlager nickte. »Sie waren toxischen Faulgasen ausgesetzt, haben eine Menge Kohlendioxid, Methan und Ethan eingeatmet. Das kann euphorische Zustände und Halluzinationen hervorrufen. Der Sauerstoffmangel hat Sie allerdings frühzeitig ohnmächtig werden lassen.«
Varland musste an die Teufelserscheinung denken. Und an Thea. Es war also nicht Thea gewesen, realisierte er, offenbar nur eine Halluzination. Ebenso der Teufel. Alles nur ein Hirngespinst. Es war Varland, als würde er erst in diesem Augenblick aus einem langen Traum erwachen.
»Sie hatten Glück, dass Sie da jemand herausgeholt hat. Ein Feuerwehrmann.«
Martin Stetz, dachte Varland, der Neffe von Fanny Althaus. Nur er konnte es gewesen sein. Wie hatte er von ihrem Unterfangen wissen können? »Was ist mit den anderen?«, wiederholte Varland die Frage.
»Die Höhle ist eingestürzt. Mehr weiß ich nicht. Sie sind der einzige Patient, der eingeliefert worden ist.«
Varland schwieg einen Augenblick betroffen.
Professor Lautenschlager setzte sich. »Die Polizei war hier, aber Sie waren noch nicht ansprechbar. Auch ein Herr vom Auswärtigen Amt und Ihre Mutter haben nach Ihnen gefragt.«
Varland sah an sich herab. Er entdeckte eine Kanüle, die in den Unterarm führte. Er bekam offenbar über einen Tropf Medikamente verabreicht. »Was fehlt mir eigentlich?«
Der Arzt räusperte sich. »Zunächst zeigten Sie Vergiftungserscheinungen. Sie wären da unten irgendwann erstickt, hätte man Sie nicht gerettet. Aber man hat Sie hierhergebracht …«, Lautenschlager knetete mit den Händen, »… weil Sie ernstlich krank sind.«
Varland blickte erschrocken zu Lautenschlager hinüber. Sofort musste er an sein Gespräch mit Doktor Schuppart vor einigen Wochen denken, der ihn zu einem Onkologen überwiesen hatte. Varland war niemals hingegangen.
»Ernstlich krank?«
Ab der Sekunde, in der ihm Professor Lautenschlager die Diagnose übermittelt hatte, breitete sich ein Gefühl von Taubheit wie ein Spinnennetz über Varlands Gesicht aus: Blutkrebs im Endstadium. Alle folgenden Informationen hatte er nur noch wie ein entfernt Beteiligter aufgenommen, als gälten sie gar nicht mehr ihm, sondern irgendeiner Person. Das Immunsystem sei geschwächt. Die Lymphknoten seien ebenfalls bereits befallen, Therapien in diesem späten Stadium wenig erfolgversprechend.
Der Patient hatte zu den Ausführungen stumm genickt. Sein Verstand übersetzte das Gehörte schließlich so, als ob es eben eine veränderte Situation sei, mit der Varland ab nun zu leben hätte. Dass er aber gar nicht mehr lange leben würde, das kam ihm erst, als Professor Lautenschlager in einem Nebensatz dazu geraten hatte, die verbleibenden Wochen zu nutzen, um alles zu regeln, was es zu regeln galt.
»Wir sollten auf jeden Fall ein paar Therapieansätze durchsprechen«, hatte der Arzt ausgeführt. »Es gibt Formen der Chemotherapie, kombiniert mit Bestrahlung der Hirnhaut und des Rückgrats, die wir noch versuchen sollten. Da die Leukämie nun aber schon fortgeschritten ist, möchte ich Ihnen nicht Hoffnung auf Heilung machen. Das Leben verlängern, das ist das Äußerste, was die Medizin in solchen Situationen vermag.«
Mit diesen Worten hatte ihn Professor Lautenschlager alleingelassen. Nun blickte Varland aus dem Fenster. Es war Nachmittag und dämmerte bereits. Die Bäume vor der Klinik waren kahl. Die Zweige wehten im Wind. Autos fuhren über die vom Regen überschwemmte Straße. Im Berufsverkehr kamen sie über den zweiten Gang nicht hinaus.
Varland fixierte die klare Flüssigkeit im Beutel, der an dem Ständer neben seinem Bett hing. Er folgte dem Verlauf des Schlauchs vom Tropf bis zu seinem Unterarm. Langsam hob er die Hand vor seine Augen. Er beobachtete, wie er die Finger zur Faust ballte und wieder streckte. Alles funktionierte nach seinem Willen. Doch das Blut, das durch seine Adern floss, war krank. Über kurz oder lang würde Varland keinen Willen mehr haben. Dieser Körper würde nicht mehr gesteuert werden. Er würde absterben und verwesen.
Varland spürte keine großen Schmerzen, er war nur ziemlich ermattet. Er rief sich die Strapazen der vergangenen Tage und Wochen in Erinnerung. Wozu hatte er die Suche nach dem Grabschatz noch einmal aufgenommen? Um wieder eine Aufgabe zu haben, die seinem Leben nach Theas Tod Halt gab, um wieder selbst zu leben nach dem Jahr des unproduktiven Dahinvegetierens und der Lethargie. Den Schatz hatte er genauso wenig gefunden wie den Halt in seinem Leben. Seine Aufgabe hatte er nicht erfüllt. Stattdessen war er nun ein Todgeweihter.
Was sollte das heißen, Tod? Er hatte viele Monate darüber nachgedacht, nachdem Thea gestorben war, aber alle Ergebnisse seines Grübelns und Philosophierens waren abstrakt geblieben. Nicht mehr sein … es wollte seinem Verstand einfach nicht gelingen, dieses Nichtexistieren auf das eigene Dasein zu übertragen.
Varland legte den Kopf zurück und spürte ein Ziehen im Nacken. Den würde er nicht mehr spüren können, wenn er tot war, dachte er. Die Autos im Berufsverkehr, er würde sie nicht mehr sehen. Auch den Regen nicht und die sich in den Pfützen spiegelnden Scheinwerferlichter. Musik würde er nicht mehr hören. Sturmwind oder Sonnenlicht nicht mehr spüren. Gefühle, Gedanken, Erinnerungen … nichts von alledem würde Bestand haben. Wozu das Ganze?
Und das, was er hinterlassen würde? Seine Forschungen, seine Bücher und Schriften? Die wiedergefundene Beutekunst? Die Erinnerungen der Lebenden an ihn? Was hatte er im Moment des Todes davon? Er konnte die Wertschätzung, die Liebe, das Gedenken nicht mit sich nehmen. Er würde einsam vorausgehen, wohin auch immer, vermutlich ins Nichts, und alles zurücklassen müssen. Ob man nun vor seinem Grabstein stünde oder vor seinem Denkmal, er würde beides nicht erleben. Wie konnte ihm das ein Trost sein?
Er hatte sich das ganze Leben für irgendwelche Ziele abgerackert. Und als er diese dann erreicht hatte, wollte sich keine Befriedigung einstellen. Nein, immer wieder mussten neue Ziele her. Sonst hätte es keine Bewegung in seinem Leben gegeben, nur Stagnation. Ein Teufelskreis.
Hatte er gelebt? Hatte er seine Zeit genossen? Hatte er getan, was er wollte? Oder nur das, was er glaubte, tun zu wollen? Jetzt, da die Zeit plötzlich so knapp werden sollte, wurde sie unendlich wertvoll für Varland. Die Vorstellung kam ihm immer noch absurd vor: Er sollte nur noch sechs bis acht Wochen zu leben haben? Unsinn! Wie ein schlechter Scherz kam ihm das Ganze vor. Wie ein Irrtum. Ein trauriges Versehen.
Er war doch erst in der Mitte seines Lebens angekommen, rechnete Varland sich vor. Es gab noch so viel zu tun! Projekte, die er noch zu erledigen hatte, eine Vortragsreihe, ein Buch, die Vorlesungen. Vielleicht würde er sich ja doch noch einmal verlieben in seinem Leben. Er war noch nicht zu alt, um Vater zu werden … Umsonst! Er würde schon bald sterben, auch wenn er sich das nicht vorstellen konnte. Es war immer so selbstverständlich gewesen zu leben, dass der Tod jetzt absolut unverständlich erschien.
Nun, da es keine zweite Lebenshälfte mehr geben würde, kam ihm die erste verschwendet vor. Er hatte das Glück gesucht, doch sobald er es gefunden hatte, war es ihm wieder entschlüpft, hatte er es nicht halten können. Vielleicht war der Fehler gewesen, es halten zu wollen? Vielleicht hatte er auch an der falschen Stelle das Glück gesucht? Die falschen Schätze gehoben? Er hatte gekämpft, Siege erfochten, Trophäen davongetragen, die ihn keinen Deut glücklicher gemacht hatten. Er hatte nur in Etappen gedacht. So war er auch nie angekommen. Nie hatte er einen Augenblick bewussten Friedens erlebt. Immer weiter sollte sich die Welt um ihn drehen.
Ja, sie hatte sich gedreht, schneller und schneller. Nur nicht um ihn. Statt im Mittelpunkt hatte er an der Peripherie ihrer Kreisbahn gestanden. Und nun, da die Kräfte schwanden, wurde er aus der Bahn geschleudert. Am Ende stand immer der Tod und stellte das zuvor geführte Leben infrage. Und vielleicht hatte Varland sich durch sein ewiges Streben auch noch näher an die Ewigkeit herangebracht.
Er hatte den falschen Götzen gedient.
Wutentbrannt schleuderte Varland das Tablett auf seinem Schoß vom Bett. Der Becher und der Teller mit dem Besteck darauf landeten klirrend und scheppernd auf dem Boden des Zimmers. Der Schlauch war von der Kanüle im Unterarm abgerissen, der Ständer mit dem Tropf umgefallen. Die Krankenschwester kam angelaufen, um der Ursache des Lärms auf den Grund zu gehen.
*
Iseltwald.
Heinrich Grau schlürfte im Wintergarten eine Schokolade, als Cornelius ihm ein Headset brachte. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Sonne hatte sich bereits über die Berge erhoben und brachte den Brienzersee zum Glitzern.
Verwundert klemmte der alte Mann sich den Hörer ans Ohr. »Ich erwarte eine Erklärung dafür, dass Sie diese Nummer wählen!«
»Die Operation ist schiefgegangen!«, tönte eine dunkle, männliche Stimme aus dem Hörer. »Semjon ist verschollen. Keine Nachricht seit fünf Tagen. Dafür Medienberichte über ein lokales Erdbeben in Ingelsgmünd und eingeschlossene Höhlenkletterer. Nur zwei seien befreit worden. Die Zielperson und der Pfarrer.«
Grau starrte stumm auf den See hinaus.
»Das ist noch nicht alles«, fuhr die Stimme fort. »Gestern ist die Gruppe Lars aufgeflogen. Die Polizei hat sie bei einem Wohnungseinbruch festgenommen. Unsere Leute hatten eine CD mit Ihren Unterlagen in der Wohnung von Claire Gold, der Schwester, gesucht. Offenbar hat uns jemand gelinkt.«
»Wie dilettantisch!«, gab Grau spöttisch zur Antwort.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann ertönte die Stimme abermals. »Wir brechen alle Tätigkeiten vorerst ab. Sobald wir nähere Erkenntnisse zum Verbleib Semjons haben, melden wir uns wieder.«
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Grau. »Ich wünsche keinen weiteren Kontakt.«
Die Person am anderen Ende der Leitung schien einen Augenblick zu benötigen, die Aussage zu erfassen. »Erwarten Sie unsere Schlussrechnung.« Dann legte sie auf.
Grau nahm das Headset vom Ohr und rief Cornelius.
»Gérôme möge mit unserem Fräulein Gold doch eine Bootspartie auf dem See machen bei diesem herrlichen Wetter. Unserem Gast ist sicher langweilig.«
Cornelius schenkte Schokolade nach. »Gérôme ist erst am Abend zurück. Sie haben ihn wegen des Motorschadens am Boot nach Thun geschickt, erinnern Sie sich?«
Grau winkte mit den Fingern ab. »Dann morgen. Das Gleiche wie mit diesem Amerikaner. Und senden Sie dann auch eine SMS von Fräulein Golds Handy an ihre Schwester, sie mache sich morgen auf den Rückweg. Lassen Sie das Handy auf der deutschen Seite im Zug verschwinden. Ich will, dass die Sache über die Bühne gegangen ist, ehe ich nach Stockholm reise.«
Cornelius nickte.
*
Berlin.
Die Nachricht, dass Gilbert und Hanna vermisst würden, traf Varland hart. »Wie kann das sein?«, fragte er den ermittelnden Beamten, der an seinem Krankenbett saß und Fragen stellte. »Gilberts Verschwinden ist mir schon unverständlich. Aber Hanna? Sie war gar nicht in der Höhle!«
»Das hat Pfarrer Bundschuh auch ausgesagt«, bestätigte der Polizist. Er war aus Reutlingen angereist. »Er hat sie aber nicht in der Kirche angetroffen. Da ihn jemand niedergeschlagen hat, hat er auch nichts weiter zu berichten gewusst, außer dass Herr Gilbert ebenfalls halluziniert hat. Deswegen hat er Hilfe holen wollen.« Der Mann sah in seinen Unterlagen nach. »Der Feuerwehrmann hat aber zu Protokoll gegeben, dass ein Unbekannter in der Höhle Sprengkörper gezündet habe und dabei selbst ums Leben gekommen sei. Möglicherweise ist Frau Siemers vor ihm geflüchtet. Wir kennen seine Identität nicht. Er hatte wohl unter falschem Namen ein Zimmer in der Pension angemietet. Mehr Spuren gibt es nicht. Aber aufgrund der Detonationen ist die Höhle eingestürzt – mitsamt derjenigen, die sich möglicherweise noch darin befunden haben.«
»Gibt es eine Chance, die Eingeschlossenen zu befreien?«, fragte Varland kreidebleich nach.
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Da liegt tonnenweise Gestein. Geologen untersuchen das zurzeit. Aber wir wissen ja nicht einmal, ob noch jemand da unten ist. Für den Fall, dass ja, käme jede Hilfe zu spät.«
Varland rang um Fassung. Hanna und Gilbert? Sie sollten ihr Leben verloren haben für ein paar spätantike Gerippe, Grabschmuck und Gold?
»Wie auch immer«, ergänzte der Beamte seufzend, »die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Unbekannt aufgenommen.« Der Ermittler lehnte sich zu Varland vor. »Wer könnte Sie verfolgt haben?«, hakte er nach. »Wer könnte ein Interesse daran gehabt haben, die Höhle zu sprengen, um Sie darin einzuschließen?«
Varland blickte ins Leere. Er hatte keine Antwort.
*
Am Abend war Varland auf eigenen Wunsch hin aus der Klinik entlassen worden. Die Ärzte hatte er wissen lassen, dass er auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichten wollte, nachdem aus medizinischer Sicht eine Heilung nicht mehr möglich war. Chemotherapie und Bestrahlung hätten vielleicht noch zwei bis drei Monate, vielleicht sogar ein halbes Jahr gebracht. Der Patient hätte allerdings erhebliche Einschränkungen, Schmerzen und Übelkeit als Nebenwirkungen der Behandlung erdulden müssen. Dazu war Varland nicht bereit.
Trotz seines angegriffenen Gesundheitszustands hatte Varland darauf bestanden, nach Hause zu fahren. Im Taxi musste er zum wiederholten Male an Hanna und Gilbert denken. Was mochte ihnen widerfahren sein? Die Ungewissheit nagte an ihm. Er machte sich schwere Vorwürfe. In was für eine Geschichte hatte er die beiden hineingezogen? Sie hatten ihr Leben noch vor sich gehabt. Wie hatte das alles nur so eine schreckliche Wendung nehmen können? Wer um alles in der Welt hatte ein Interesse daran haben können, sie in der Höhle für immer einzuschließen?
Er rief sich Hannas Schönheit in Erinnerung, ihren Körper, ihre jugendliche Frische. Tränen schossen ihm in die Augen. Dass er selbst auch nicht mehr lange zu leben hatte, drückte vollends auf Varlands Gemüt. Die vorbeifliegenden Lichter der Straßenlaternen, die erleuchteten Wohnungsfenster, die Leute auf den Bürgersteigen – alles, was sich so selbstverständlich um ihn herum abspielte und Normalität vorgaukelte, kam ihm plötzlich unwirklich vor. Er bat den Taxifahrer anzuhalten, obwohl es noch ein ganzes Stück zu seiner Wohnung zu laufen war. Nachdem er ausgestiegen war, konnte er allerdings nur noch ein paar Meter gehen. Seine Schritte verlangsamten sich. Geschwächt lehnte er sich gegen einen Laternenmast, krümmte sich und begann hemmungslos zu weinen.
Es dauerte eine Stunde, bis Varland zu Hause war. Er war ziellos durch die Straßen gelaufen. Schließlich hatte er sich beruhigt. Nun legte er die Post der vergangenen Tage unbesehen auf die Kommode, hängte seinen Mantel an die Garderobe und machte sich Musik an. Als ob es ein ganz normaler Abend wäre. Er wollte wieder funktionieren. Er wollte Alltag. Er wünschte sich, einen Augenblick lang den Zustand zu vergessen, in dem er sich befand. Durchgefroren stand er mit einer Tasse Tee in der Küche und lauschte den Klängen.
Das plötzliche Hereinbrechen des Todes in sein Leben ließ die Zeit scheinbar zum Stillstand kommen. Jeder Moment war kostbar: jeder Blick aus dem Fenster, jeder Klang, der aus dem Lautsprecher drang, selbst das wohltuende Gefühl des heißen Tees, der seine Kehle hinunterrann und die Kälte aus seinem Körper vertrieb. Die Augenblicke würden niemals wiederkehren. Das gab ihnen ihren Wert. Und die Anzahl der vor ihm liegenden Stunden und Tage war begrenzt. Zukunft gab es keine mehr.
Phasen gelassener Ruhe, in der Varland den Tod zu akzeptieren versuchte, hatten in den vergangenen Tagen immer wieder gewechselt mit Angstzuständen, Weinkrämpfen und Wutausbrüchen, als ob etwas in ihm aufbegehrte gegen das eigene Ende. Etwas, das nicht loslassen konnte und in ihm schrie wie ein uneinsichtiges Kind. Etwas, das Varland immer wieder in einen Zustand des Innehaltens entlassen musste, so als ob seine Macht schwand.
So nahe wie in diesen Momenten war sich Varland selber selten gewesen. Er fragte sich auch in diesem Augenblick, wer er eigentlich gewesen war. Was hatte ihn gelenkt, geleitet und bestimmt? Oder wer? Der Varland, den er jetzt im verschwommenen Spiegelbild des Küchenfensters betrachtete, schien sich doch sehr von dem Varland zu unterscheiden, der bis vor Kurzem noch geplant, vorgesorgt und gestaltet hatte. Der Schaffende in ihm hatte in den vergangenen Tagen wahlweise rebelliert, gefleht, gedroht. Letztlich hatte er resigniert. Das blanke Lebendigsein hatte gesiegt. Warum hatte es dafür erst der Gewissheit des nahenden Todes bedurft?
Das Telefon klingelte und riss ihn aus seinen Gedanken. Varland sah die Nummer im Display. Es war Edith.
*
Seine Mutter öffnete ihm mit verweinten Augen die Tür. Bei ihrem ersten Besuch in Krankenhaus hatte er noch im künstlichen Koma gelegen. Als sie zum zweiten Mal gekommen war, habe Edith angesichts der schlechten Nachrichten über den Gesundheitszustand ihres Sohnes fast einen Zusammenbruch erlitten, so hatte es der Arzt erzählt. Man habe ihr eine Beruhigungsspritze geben müssen. Nun stand sie in der Tür ihrer Wohnung. Gefasst, aber doch gealtert und mit tiefen Falten des Kummers im Gesicht, begrüßte sie ihren sterbenskranken Sohn.
»Sebastian!«, rief sie aus und umarmte ihn. Eine Träne kullerte ihre Wange hinunter.
Sie saßen am Tisch in der Stube und aßen gemeinsam zu Abend. Wer wusste schon, dachte Varland, wie oft sie dazu noch die Gelegenheit haben würden? Dennoch sprachen sie nicht viel. Wenn, dann ging es um Belanglosigkeiten. Es schien, beide mieden das große Thema »Krankheit«.
Varlands Blick fiel auf das Gemälde vom Faustschen Osterspaziergang mit Famulus Wagner. Er deutete darauf. »Du hast es doch aufgehängt?«
Edith seufzte. »Es war im alten Haus geblieben und musste irgendwie entsorgt werden. Aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, Vaters Bild wegzuschmeißen. Und eingepackt stand es auch nur im Weg herum.« Sie reichte ihrem Sohn den Brotkorb. »So verdeckt es wenigstens ein Stück kahle Wand.«
Varland musste an das Goethe-Drama und die Visionen tief unten im Meßbühl denken.
»In der Höhle«, hub er an, »da hatte ich seltsame Träume.«
Edith sah ihren Sohn fragend an.
Varland schmierte sich eine Scheibe Brot. »Ich hatte zu viel in Goethes Faust gelesen. Ich hatte unentwegt diese Reime im Kopf gehabt. Und in meinem Hirn waren die Fantasien mit der Realität in der Höhle verschmolzen.«
»Und? Was ist geschehen?«
»Ich sah die Silhouette einer Gestalt, die sich mir offenbarte, als sei sie Mephistopheles höchstpersönlich.« Varland schüttelte den Kopf. »Sie hatte etwas Schalkhaftes, Verschlagenes, und sprach unentwegt von Sorgen und von Angst. Und dann kam Thea.«
Edith zog die Stirn kraus. »Thea?«
»Es war nicht Thea, eher ein Wunschbild meines Unterbewusstseins«, erläuterte Varland. »Sie war mir erschienen und wieder entwischt. Sie hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst.«
»Das ist wirklich wirres Zeug! Aber so sind Träume ja manchmal.«
Varland blickte gedankenverloren drein. »Träume, ja …« Es war ihm im Gegensatz zu den früheren Albträumen, in welchen Thea vorgekommen war, gar nicht wie ein Traum vorgekommen. Die Halluzination hatte sich ziemlich real angefühlt.
»Und was hat Thea dir erzählt?«
Er blickte auf. »Hm? Oh, sie sagte …« Varland rief sich die Worte der Erscheinung wieder ins Gedächtnis. »Sie sagte so etwas wie: ›Erfahr dein Heil im Jetzt!‹«
Edith blickte befremdet drein. »Und was soll das heißen?«
Varland verstand nun viel besser, was Theas Abbild damit gemeint haben mochte. »Sie meinte wohl, ich solle nicht irgendwelchen fernen Zielen nachjagen, sondern in der Gegenwart bleiben. Die echte Thea hat auch immer sehr gut im Hier und Jetzt leben können. Ihre Musik hat ihr gereicht. Und die war auch nur für den Augenblick. Eben noch berührt von den Klängen ihres eigenen Cellos, war es gleich darauf auch schon wieder vorbei mit dem tiefen, herrlichen Gefühl.«
»Eben! Sie hat nichts Bleibendes geschaffen«, wandte Edith ein, »im Gegensatz zu dir.«
»Alles, was der Mensch schafft, ist vergänglich«, sinnierte Varland, »so wie er selbst. So wie die ganze Welt.«
»Das ist ja hochphilosophisch«, gab Edith zur Antwort. »Aber eigentlich ein alter Hut, nicht wahr?«
Varland nickte. Alles Vergängliche war nur ein Gleichnis, kamen ihm die Schlussworte in Goethes Faust in den Sinn, die auch als Widmung in dem Band seines Großvaters gestanden hatten.
Varland senkte langsam Messer und Gabel. Er zögerte. »Die Widmung …«, murmelte er. Rasch wandte er sich Edith zu. »In diesem Faust-Band«, fuhr er fort, »der deines Vaters, da hatte jemand auf der ersten Seite eine Widmung reingeschrieben, ein gewisser ›H.‹ Weißt du, wer das war?«
Edith errötete und senkte den Kopf. »Nein!«
Varland sah seiner Mutter an, dass sie log. »War es nicht Hermann Weiß? Ich bin mir sicher, dass er es war.«
Edith nahm einen Schluck Wein und setzte ihr Glas etwas zu heftig ab. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich diesen Hermann Weiß nicht kenne.«
Varland bohrte weiter. »Vielleicht hieß er anders. Aber er war ein Freund deines Vaters. Er war ein Deutscher. Und er war ein Kriegsverbrecher. Ich bin ihm seit Wochen auf der Spur. Ich habe sogar sein Grab ausgehoben, nur um festzustellen, dass er nicht darin lag.«
Edith schwieg und hielt ihr Glas umklammert.
»Edith?«
»Kannst du nicht einmal jetzt aufhören, diesem Phantomschatz hinterherzujagen? Jetzt, wo du selbst nicht mehr viel Zeit hast?«
Sie brach in Tränen aus.
Varland nahm ihre Hand. Er wartete einen Augenblick, ehe er behutsam antwortete: »Eben weil ich nicht mehr viel Zeit habe.«
Edith war nach ein paar Minuten, die sie gebraucht hatte, um sich wieder zu fassen, vom Esstisch aufgestanden und in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Sie kam wieder mit einem Bilderrahmen und einer kleinen Schatulle in den Händen. Das Bild stellte sie auf den Tisch. Die Schatulle hielt sie umklammert.
Eingerahmt war das Porträtfoto eines ernst dreinblickenden Mannes in den Fünfzigern mit dünnem Haar, das streng nach hinten gekämmt war. Der Mann hatte den Kopf seitlich gedreht. Sein Nasenrücken wies einen leichten Höcker auf wie der von Varland. Seine Augenbrauen waren dicht. Am Revers seines Anzugs steckte eine Nadel mit dem Emblem der Universität Bern. In die Ecke des Rahmens war ein halbes Foto gesteckt worden, das den gleichen Mann in Bergtracht vor einem Alpenpanorama zeigte. Das Foto schien in zwei Teile zerrissen worden zu sein.
»Das ist dein Großvater Victor von Buhr«, stellte Edith vor. »Kein großer Mann, doch sehr beredt und gebildet, ein Gentleman mit feinen Manieren. Stets höflich und zuvorkommend. Ein Schöngeist, der in der falschen Zeit gelebt hat.«
»Ich kenne das Bild«, bekräftigte Varland. »Warum zeigst du es mir?«
»Weil ich möchte, dass du diesen Mann genau betrachtest und mir dann sagst, ob du ihm zugetraut hättest, ein Agent des Dritten Reichs gewesen zu sein, der mit Kriegsverbrechern befreundet gewesen sein soll oder ihnen gar geholfen hat.«
Varland sah prüfend in das Gesicht seines Großvaters. »Das sieht man Menschen nicht immer an. Es sind vermutlich die Umstände, die sie prägen. Auch gute Menschen können zu Bösem fähig sein. Möglicherweise hat er aus Angst gehandelt? In dieser Zeit haben doch … wie hast du dich ausgedrückt? … viele ›mit den Wölfen geheult‹.«
Edith öffnete die Schatulle. Mit zittriger Hand holte sie die andere Hälfte des zerrissenen Fotos heraus. Wortlos schob sie das halbe Bild über die Tischdecke.
Varland nahm beide Hälften und hielt sie zusammen. Auf der linken Seite sah er Victor von Buhr mit Hut und Wanderstock. Auf der rechten Seite erkannte er einen Mann wieder, der ebenfalls einen Wanderstock in der Hand hatte, sich aber eher auf ihn stützte, und einen Hut trug. Er hatte klare Augen und einen forschen Blick. Es war der gleiche Mann, der auf den gefälschten Reisepässen in Ivancyks Rucksack abgebildet gewesen war, nur dass er keinen Bart trug und sehr abgemagert erschien. Auch war er um Jahre gealtert.
»Hermann Weiß!«, murmelte Varland.
»Das mag sein«, hub Edith an, »ich kannte ihn nie unter diesem Namen. Er war ein Freund meines Vaters aus Kriegstagen. Er war in sowjetische Gefangenschaft geraten und einer der Letzten, die 1955 wiederkehrten.«
Varland drehte eine Fotohälfte um. »X/1955« stand mit Bleistift geschrieben auf der Rückseite.
»Er war sofort zu uns in die Schweiz gekommen. Vater hat ihn wochenlang beherbergt. Sogar mit auf den Berggasthof hat er ihn genommen.« Edith schauderte. »Anfangs war er recht freundlich gewesen. Er hatte gesagt, er kenne mich noch, da wäre ich so klein gewesen.« Sie hielt die flache Hand etwa auf Höhe des Esstischs. »Aber seine Blicke waren nicht die eines freundlichen Onkels. Begehrt hat er mich! Weil ich seiner großen Liebe glich.«
Edith zog ihre Strickjacke enger um ihren Oberkörper. »Ein Jahr später war er wieder bei uns auf dem Gasthof. Eines Abends, meine Eltern waren im Ort bei einer Versammlung, hat er mich auf meinem Zimmer besucht.« Ihre Stimme zitterte. »Es war die Nacht vor seiner Abreise. Er wolle sich nur verabschieden, hatte er gesagt. Er hatte wieder diesen Blick. Als er mich anfasste …« Edith stockte.
Ihr Sohn sah sie fassungslos an.
»Ich hatte mich nicht bewegen können. Ich war erstarrt wie eine Leiche. Er verging sich an mir. Ich hatte von diesen Dingen keine rechte Ahnung. Ich hatte mich sehr geschämt und nie etwas gesagt. Erst nach vielen Jahren hatte ich gelernt, damit einigermaßen zu leben. Ich hatte es verdrängt. Aber die Erinnerung daran habe ich nie verloren.«
Varland sah ungläubig auf die rechte Hälfte des Fotos. Da war er, der Mann, den er seit Wochen gesucht hatte, dessen Kamera ihm zugespielt worden war und dessen vermeintliches Grab er geöffnet hatte, und stand neben seinem eigenen Großvater auf der Terrasse eines Schweizer Alpenhofs. Ein Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft. Ein Freund der Familie. Ein Kriegsverbrecher und Vergewaltiger. »H.«
»Er hieß Heinrich Grau. Vielleicht war das nicht sein richtiger Name. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Mein Vater verreiste mit ihm noch im gleichen Herbst und kehrte nicht zurück.« Edith sah ihren Sohn traurig an. »Ich bin sicher, er ist schuld an Vaters Tod!«
*
Iseltwald.
Mit einem Anflug des Bedauerns betrachtete Doktor Prokscher Marie, die in ihrem Bett lag und friedlich zu schlafen schien. Ihre Handgelenke waren noch immer am Gestänge des Bettes fixiert. Seufzend holte Prokscher einen Infusionsbeutel aus einem Schrank und hängte ihn an einen Ständer auf Rollen. Diesen schob er neben Marie.
Die Gefangene schlug die Augen auf. »Was tun Sie?«
Prokscher sah sie weiter traurig an. »Sie machen morgen einen Ausflug. Professor Grau möchte, dass ich Sie vorbereite.«
Marie sah den Genetiker bestürzt an. »Was heißt das?«
»Ich gebe Ihnen etwas, das Sie ruhig werden lässt.«
»Ich brauche nichts, danke!«, erwiderte sie.
Prokscher spürte ihre Angst. »Spätestens nach dieser Nachricht werden Sie etwas brauchen, denke ich.«
Marie schien in Panik zu geraten. Sie zerrte an den Riemen. »Was für einen Ausflug?«
»Sie kommen hier heraus, das ist doch schon etwas! Mehr, als was ich erhoffen darf.«
Das Entsetzen war Marie anzusehen. »Wohin geht es? Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was das Ziel ist.«
Prokscher pochte auf die Vene unterhalb Maries Armbeuge. Er sprühte etwas Flüssigkeit auf einen Wattebausch und fuhr damit über die Stelle. »Halten Sie Ihren Arm ruhig! Ich will Ihnen doch nicht wehtun.« Er setzte eine Hohlnadel an.
Doch Marie wehrte sich. Wie wild zerrte sie an dem Handriemen. »Hören Sie auf! Ich will das nicht!«
»Sie lassen mir keine Wahl, Fräulein Gold!« Er drückte ihren Arm hinunter und hielt ihn mit ganzer Kraft, während er die Kanüle in das Gewebe stach.
Marie schrie auf.
»Ich lege nur einen Katheter«, versuchte Prokscher zu beruhigen. »Das Medikament nimmt Ihnen die Angst. Glauben Sie mir, das macht die Sache für Sie erträglicher.«
Marie begann zu weinen. »Was für eine Sache?«, fragte sie schluchzend.
Prokscher, der den Katheter mit Pflastern fixiert hatte, prüfte mit versteinerter Miene den Sitz des Schlauchs und die Verbindung zum Infusionsbeutel. Er schnippte mit dem Finger gegen die Flüssigkeit, die in den Schlauch zu tropfen begann. Dann ging er in Richtung Tür.
»Ich will leben!«, brachte Marie in seinem Rücken hervor.
Prokscher hielt inne. Er stand mitten im Raum. Langsam drehte er sich um und betrachtete Marie, die am ganzen Körper zitterte. Sie hatte den Kopf zur Zimmerdecke gerichtet.
»Ich … will … leben!«, wiederholte sie stockend. Ihre Lippen bebten. Tränen rannen über ihre Wangen.
Prokscher trat an das Bett heran. Maries grüne Augen starrten ihn flehentlich an. Er ließ seine Blicke über die rötlichen Locken der jungen Frau gleiten. Er bemerkte, wie sich ihr Oberkörper heftig hob und senkte, weil sie so aufgeregt atmete. Ein Menschenleben unter vielen, dachte Prokscher, und doch so einzigartig. Leben – es konnte so leicht vorbei sein. Es war so beliebig in seiner Entstehung und so bedeutungslos in seinem Vergehen. Doch für das Individuum, so klein und unscheinbar es sich auch gegenüber der Unendlichkeit des Universums ausnahm, war das eigene Leben das Einzige, worum es zu kämpfen lohnte. Wie sinnlos und wie bewundernswert zugleich! Wenn der Verstand dienstbar zu machen war für den Erhalt des eigenen Lebens, war er doch zu etwas nutze.
Die Infusionsflüssigkeit tropfte aus dem Beutel.
Mit einer raschen Handbewegung zog Prokscher den Schlauch wieder aus dem Katheter. Er ließ ihn auf den Boden fallen, machte auf dem Absatz kehrt und lief zur Tür.
*
Berlin.
Als Varland spät abends wieder von seiner Mutter zurück nach Hause kam, war sein Kopf voller Fragen. Wer war Heinrich Grau gewesen? Oder lebte er gar noch? Er müsste dann allerdings das gesegnete Alter von einhundert Jahren erreicht haben, überlegte Varland. Ob man ihn wohl noch ausfindig machen könnte?
Varland hängte seine Jacke neben jene, die er in der Höhle angehabt hatte. Diese war noch immer voller Dreck und Staub. Er runzelte die Stirn und steckte vorsichtig eine Hand in die Jackentasche. Hatte er das auch nur geträumt? Er zog den Backenzahn mit der Goldkrone heraus. Nachdenklich hielt er ihn in der Hand. Nein, dieser Zahn war Realität. Welchem armen Menschen er wohl einmal gehört hatte? War Varland es diesem Opfer wie allen Opfern von Hermann Weiß oder Heinrich Grau nicht schuldig, den Kriegsverbrecher von einst ausfindig zu machen?
Der Blick des Professors fiel auf die Post, die er auf seiner Kommode liegen gelassen hatte. Er sah auf die Uhr: kurz nach Mitternacht. Eigentlich zu spät, urteilte er. Die Post konnte er auch am nächsten Morgen durchsehen. Und inwiefern war sie überhaupt noch wichtig?
Doch ein großer Umschlag fiel ihm auf. Laut Absender kam die Post vom Lehrstuhl. Vermutlich hatte Lydia Mokisch die Korrespondenz gesammelt und ihm an die Privatadresse weitergeschickt. Varland setzte sich an seinen Schreibtisch und schlitzte den Umschlag auf. Er schüttete den gesamten Inhalt auf die Tischplatte und besah sich die einzelnen Absender.
Ein Schreiben kam aus der Russischen Föderation, vom Kulturministerium. Neugierig öffnete Varland den Umschlag. Unterschrieben hatte den Brief Dimitrij Levkov, der Verhandlungsführer der russischen Delegation in Sankt Petersburg. Er nahm Bezug auf Varlands E-Mail, die er drei Wochen zuvor an ihn geschickt hatte, um Einzelheiten über den Toten in der Eremitage und dessen Identität zu erfahren.
Varland las konzentriert Levkovs Zeilen. Der Tote, Anatol Ivancyk, sei laut Obduktionsbericht an einem nicht näher bekannten Nervengift gestorben. Er habe das Gift vermutlich über die Mundschleimhaut aufgenommen. Die Staatsanwaltschaft ermittle wegen Mordes. Über Ivancyks Lebensgeschichte gäbe es nichts Spannendes zu berichten: einundvierzig Jahre alt, gelernter Dekorateur, arbeitslos. Er sei Mitte Oktober allerdings nach Bern geflogen.
Das Bankschließfach, erinnerte sich Varland. Er hatte noch die Flugtickets in Ivancyks Rucksack vorgefunden, mitsamt dem Schließfachschlüssel, den gefälschten Pässen und der Kamera. Varland vertiefte sich wieder in Levkovs Schreiben.
Man habe Ivancyks Wohnung aufgebrochen vorgefunden und polizeilich versiegelt, hieß es weiter. Auf der Suche nach Verwandten sei man nur auf den Vater gestoßen. Vladimir Ivancyk sei aber wenige Tage zuvor in einem Sankt Petersburger Krankenhaus verstorben. Levkov schrieb weiter, er erwähne diesen Umstand deshalb, weil der Vater ein Krimtatare sei, der aus dem Dorf stamme, bei welchem 1942 die Gräber ausgehoben worden wären. Er wäre zu Kriegszeiten Gefangener in Auschwitz gewesen und habe nach Kriegsende als Kollaborateur zwei Jahre im Kriegsgefangenenlager 503 in Kemerowo eingesessen. Dort seien auch viele deutsche Kriegsgefangene jahrelang inhaftiert gewesen.
Varland ließ das Schreiben sinken. Er nahm seinen Laptop zur Hand und suchte den Namen Heinrich Grau im Internet. Er fand unzählige Einträge über Menschen dieses Namens, darunter einen bei Wikipedia über einen Arzt und Pharma-Tykoon. »Heinrich Grau«, murmelte Varland und las den Artikel über den Mediziner, Genetiker und Molekularbiologen. »Jahrgang 1914 …«
Varland überflog den Eintrag. Er erfuhr, dass Grau, Gründer des Pharmaimperiums Grau Cura, zurückgezogen in Iseltwald im Berner Oberland leben und seit Jahrzehnten keine Interviews geben würde. In wenigen Tagen sollte er den Nobelpreis für Medizin erhalten.
Varland scrollte mit der Maus über die Lebensgeschichte Graus, die in nur wenigen dürren Worten wiedergegeben wurde. Demnach war Grau ein gebürtiger Deutscher, der nach seiner Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in der Schweiz 1959 Grau Cura gegründet hätte. Später wäre er Schweizer Staatsbürger geworden. Kein Wort über seine Tätigkeiten vor dem Krieg oder währenddessen.
Varland betrachtete lange das Foto des Greises im Rollstuhl. Ein Mediziner in sowjetischer Kriegsgefangenschaft … das war der Heinrich Grau, den er suchte. Varland sah sich das Video anlässlich der Verkündung des Nobelpreis-Trägers für Medizin an. Warum wunderte es Varland nicht, dass Grau am Ende seiner Erklärung Goethe zitierte? Bemerkenswerter aber waren Graus Schlussworte, dass je mehr der Mensch forsche, desto mündiger er werde und desto weniger er verehren müsse. Was hatte Otto Körber über den KZ-Arzt Weiß gesagt? Ein Besessener der Wissenschaft sei er gewesen, der alles habe erforschen und in den Dienst der Menschheit stellen wollen, um jeden Preis!
Um jeden Preis?
Varland nahm den Backenzahn und drehte ihn vor seinen Augen. Dann legte er ihn beiseite und buchte den nächsten Flug nach Bern.
*
Joachim Esser hatte zig Ausdrucke auf dem Boden seines Büros ausgelegt. Mehrere Redakteure standen darum herum und lauschten der morgendlichen Ansprache ihres Chefs.
»Das wird der größte Skandal in der Geschichte der Pharmaindustrie!«, frohlockte Esser und schlug mit der Faust in die flache Hand. »Bestechung, illegale Medikamentenversuche an Menschen in Afrika, Verletzung des Embryonenschutzgesetzes, Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz, illegale DNA-Experimente … ich weiß nicht, was ich noch alles aufzählen soll.«
»Entführung!«, rief Franziska, Maries Kollegin.
Esser sah Franziska ernst an. »Wir haben gestern alle Unterlagen der Staatsanwaltschaft übergeben und unsere Veröffentlichung für morgen angekündigt. Ich habe schon einen Anruf der Staatsanwältin erhalten. Die Sache läuft an. Morgen ist bei Grau Cura die Hölle los!«
Die anderen Redakteure, die die vergangenen achtundvierzig Stunden an dem Artikel gearbeitet hatten, schwiegen betroffen. Euphorie wie bei ihrem Chefredakteur wollte bei ihnen nicht aufkommen. Alle machten sich Sorgen um Marie.
»Hoffentlich ist es nicht zu spät!«, murmelte Franziska und verließ eilig das Büro.
*
Iseltwald.
Es hatte heftig zu schneien begonnen. Dick in Schal und Mantel gepackt, sah Heinrich Grau auf dem Bootssteg zu, wie Gérôme das Boot startklar machte. Der Bootsmann nickte ihm zu und hob den Daumen. Der Motorschaden der Vorwoche schien behoben zu sein.
Grau nickte zurück, wendete seinen Rollstuhl und lenkte ihn den verschneiten Gartenweg entlang nach oben zur Villa. Am Eingang angekommen, hievte ihn Cornelius in den anderen Rollstuhl und befreite ihn von Mantel und Schal.
»Es ist Besuch gekommen«, bemerkte Cornelius.
»Besuch?«, erwiderte Grau argwöhnisch. »Ich erwarte keinen Besuch!«
»Er kam überraschend. Ich habe ihn in die Halle gebeten.«
Grau war ziemlich ungehalten. »Wieso hast du ihn hereingelassen? Gerade heute können wir keinen Besuch gebrauchen, das weißt du doch!«
Cornelius beugte sich vor und raunte dem Greis ins Ohr: »Der Mann sagte, er sei der Sohn Edith von Buhrs. Sie würden mit dem Namen sicher etwas anfangen können, behauptete er.«
Graus Gesichtszüge verwandelten sich kurzzeitig. Der Alte schien verblüfft zu sein. Dann kehrte der feindselige Blick zurück. »So, behauptete er.« Grau steuerte den Rollstuhl ins Innere der Villa, so dass Cornelius zur Seite springen musste.
*
Varland stand mit hinter den Rücken verschränkten Armen in der Halle vor dem Gemälde der Ärzte Cosmas und Damian. Aus einiger Entfernung hörte er das Surren des Rollstuhls und das leise Quietschen der Reifen über den Bodenfliesen.
»Professor Varland!«, rief Heinrich Grau von Weitem. »Ihnen muss ich vermutlich nicht erläutern, um welches Gemälde es sich hierbei handelt.«
Varland drehte sich zu dem Hausherrn um. »In der Tat nicht. Ich kenne das Original.« Er wandte sich wieder der Kopie zu. »Das Beinwunder von Cosmas und Damian. Der arme Mohr, der da sein Bein hergegeben hat!«
»Der Legende nach ein toter Mohr«, gab Grau zur Antwort und rollte neben Varland. »Ohne Opfer kein Fortschritt!«
Beide standen vor dem Bild an der Hallenwand.
Varland kramte in seiner Jacketttasche und holte den Goldzahn hervor. Er reichte ihn dem Greis.
»Meinen Sie auch solche Opfer?«
Grau griff nach dem Zahn und sah verwundert zu Varland herauf.
»Den hatten Sie wohl übersehen. Oder mein Großvater hatte es. Der Zahn lag noch in einer der Kisten.«
»Ihre detektivischen Fähigkeiten sind bemerkenswert, Professor Varland!«, bemerkte Grau anerkennend. »Ich weiß natürlich, warum Sie hier sind. Ich habe Ihre Recherchen aufmerksam verfolgt. Aber wie haben Sie mich gefunden? Hier aufzukreuzen, ist mutig und leichtsinnig zugleich!«
Varland setzte ein Lächeln auf. »Ich habe nichts zu verlieren, was ich nicht sowieso verlieren würde. Ich wollte dem Mann gegenüberstehen, der Abertausende von Unschuldigen in die Gaskammern geschickt hat, der seine eigenen Soldaten auf dem Gewissen hat und vermutlich auch Pfarrer und Bürgermeister von Ingelsgmünd. Der einen jungen Russen, meinen Freund Joachim und zwei Mitglieder meines Teams hat umbringen lassen, möglicherweise auch einen Rentner in Köln. Nicht zu vergessen, was Sie meiner Mutter angetan haben!«
Grau nickte, als ob er sich erinnerte. »Edith von Buhr … Sie ähnelte meiner Ursel sehr!« Er drehte Varland den Rollstuhl zu. »Was erwarten Sie von mir? Dass ich den ganzen Unfug beichte, den Sie mir hier unterstellen?«
»Warum nicht? Sie gehen doch kein Risiko ein? Sie werden mich wohl kaum wieder gehen lassen. Aber ich will wissen, wofür Sie das alles getan haben.«
»Ah, ich sehe! Das Streben nach Erkenntnis!«, schmunzelte Grau. »Es ist noch immer nicht in Ihnen erloschen, Professor Varland! Sie sind und bleiben ein Gelehrter.«
Grau nickte Cornelius zu. Dieser schloss die Haustür und verriegelte sie.
Varland spürte, wie das Adrenalin in ihm aufstieg. Die Schlinge um seinen Hals hatte sich zugezogen.
»Der Mensch ist nichts ohne ein Ziel«, fuhr der Hausherr fort. »Mein Ziel ist es, die Menschheit von Krankheit, Angst und Tod zu befreien. Für eine bessere Gesellschaft! Was Sie nicht verstehen, ist, dass es dazu Opfer bedarf. Das Individuum zählt nicht. Es geht um das Leben allgemein.«
»Für höhere Ideen den Einzelnen zu opfern, klingt sehr nach dem Gedankengut der Nazis.«
»Diese Parvenüs!«, echauffierte sich Grau. »Ein Kette widerlicher Zufälle hatte sie an die Macht gespült. Man musste sich mit ihnen eine Weile lang arrangieren, ehe sie sich wieder erledigt hatten. Aber ich habe die Zeit genutzt.«
»Für Experimente, die Ihnen sonst nicht möglich gewesen wären?«
»Es war eine Zeit entfesselter Kräfte. Wenn Sie so wollen: Das Böse war losgelassen.« Grau tippte sich auf die Brust. »Hätte ich das verhindern können? Ich habe nur der Medizin im Windschatten der Geschichte auf die Sprünge geholfen. Ich habe das herrenlose Gold genutzt, um einen der größten Pharmakonzerne der Welt aufzubauen. Und heute? Heute besiegen wir den Krebs. Ein Triumpf der Wissenschaft!«
»Sie besiegen den Krebs?« Varland wurde hellhörig.
»Die Medikamente werden in wenigen Monaten zugelassen. Dafür bekomme ich in ein paar Tagen den Nobelpreis«, fügte Grau nicht ohne Stolz hinzu.
Varland wandte sich für einen kurzen Moment ab. Es war schon paradox! Ausgerechnet dieser Mann sollte das Mittel gegen seine Krankheit in Händen halten? Das Ergebnis von Graus menschenverachtender Forschung sollte seine, Varlands Rettung sein? Verfluchte Hoffnung! schimpfte er innerlich. Er hatte sich in der Gewissheit des nahenden Todes in die Höhle des Löwen gewagt, nur um zu erfahren, dass es dort die Chance auf Heilung gab.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Grau.
Varland fasste sich wieder. Von seiner Krankheit und seinen Ängsten konnte er Professor Grau unmöglich erzählen. »Ich habe mich nur gerade gefragt, was wäre, wenn die Weltöffentlichkeit wüsste, dass das Nobel-Komitee einen Kriegsverbrecher und Massenmörder ehrt.«
»Sie reduzieren mich auf das Böse und vergessen darüber, wie segensreich mein späteres Leben für das Wohl der Menschheit gewesen ist.«
»Rechtfertigt das Wohl der Menschheit den Tod von Millionen? Rechtfertigt es ein einziges Menschenleben?«
Grau schüttelte den Kopf. »Das Morden habe ich nicht begonnen. Ich war nur ein Rädchen im Getriebe, das nicht blockiert hat, um seine eigenen Ziele weiterverfolgen zu können. Und diese sind durchaus nobel.«
Beide schwiegen einen Augenblick. Varland betrachtete Grau, der so harmlos und hilfsbedürftig in seinem Rollstuhl saß. Irgendwie wollte man alten Menschen nie etwas Böses zutrauen, wunderte er sich, obwohl man damit deren Lebensgeschichte und die Schuld, die sie auf sich geladen haben mochten, ausblendete. Selbst gegenüber Verbrechern wie Grau mit seiner Weltanschauung konnte Varland noch so etwas wie Mitleid und Menschlichkeit empfinden. Auf der anderen Seite erfüllte es ihn in diesem Augenblick auch mit einem flüchtigen Gefühl des Glücks, ohne Hass zu sein.
»Sie fragten, wie ich Sie gefunden habe«, unterbrach der Historiker schließlich die Stille. »Ich habe Ihren Lebensweg nachgezeichnet bis Ingelsgmünd. Danach verlor sich Ihre Spur. Aber Sie haben einen Fehler gemacht.«
»Der wäre?«
»Die Widmung in einem Faust-Band meines Großvaters. Meine Mutter konnte sich erinnern an Sie und den Schmerz, den Sie ihr zugefügt haben. Ich brauchte nur Ihren jetzigen Namen. Der Rest Ihrer Lebensgeschichte passte perfekt auf Hermann Weiß.«
»›Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis‹«, murmelte Grau. »Eine Losung, die daran erinnert, dass alles Leben auf Erden nur für etwas steht, was höher ist und ewig. Diesem Ewigen bin ich auf der Spur.«
»Warum meine Mutter?«
»Sie erinnerte mich an Ursel, meine große Liebe!«
»Wer war sie?«
»Ihretwegen geriet ich in Gefangenschaft.« Grau erinnerte sich. »Ich war schon auf der Schweizer Seite. Victor hatte mir Pässe und Geld besorgt. Da ereilte mich die Nachricht, dass meine Ursel von den Sowjets in Weimar inhaftiert worden sei wegen Spionageverdachts. Jemand hatte sie denunziert. Grundlos. Mit Spionage hatte sie nie etwas zu tun gehabt.«
Der Alte senkte den Kopf. »Ich gab Victor meine Kamera. Auf ihr hatte ich den Ort fotografiert, an dem wir nach dem Fliegerangriff die Kisten versteckt hatten.« Er winkte ab. »Aber das wissen Sie ja alles. Victor hinterlegte Pässe, Geld und Kamera in einem Schließfach und gab mir den Schlüssel. Wir verabredeten uns für das Folgejahr. Wir wollten abwarten, was mit Deutschland geschehen würde nach der Kapitulation.«
»Aber Sie kamen nicht wieder.«
»Nein.« Der alte Mann lenkte den Rollstuhl vor eine große Flügeltür, welche automatisch aufschwang. »Bitte, folgen Sie mir ins Arbeitszimmer! Da sprechen wir weiter.«
Zögerlich kam Varland der Aufforderung nach.
Cornelius, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, schloss die Tür hinter ihnen.