Foto: Karolina Novitska
Catherine Lowell studierte Kreatives Schreiben an der Stanford University. Noch vor Studienabschluss erhielt sie den Mary Steinbeck Dekker Award for Fitction sowie zwei Stanford University Arts Stipendien, aus denen ihr Debütroman Die Kapitel meines Herzens hervorging. Die Autorin lebt und arbeitet in New York.
Für meine wundervollen Eltern
Am Abend meiner Ankunft in Oxford erfuhr ich, dass mein Zimmer im Wohnheim aus dem Jahr 1361 stammte und ursprünglich dazu genutzt wurde, Pestopfer in Quarantäne zu halten. Der Porter des College entschuldigte sich aufrichtig dafür, als er mich die fünf Stockwerke zu meinem Turm hinaufführte. Ein nervöser Mann – klein, geschwätzig, Zähne wie ein Hai. Mit einem kehligen Akzent erklärte er, dass das Old College in diesem Jahr überbelegt sei und die Deans sich gezwungen sähen, Raum für die Studenten zu schaffen, wo immer sie konnten. Der Turm war ein Nebengebäude des Old College. Angeblich hatten vor mir dort viele tragische und wichtige Persönlichkeiten gewohnt. Ob ich Timothy den Schrecklichen kannte? Sir Michael »The Madman« Morehouse? Ich schüttelte den Kopf: »Tut mir leid, ich bin Amerikanerin.«
Marvin – so hieß der Porter – stellte meine Taschen ins Zimmer. Auf den Treppen war er ins Schnaufen gekommen, Schweiß glänzte auf seiner zerfurchten Stirn. Mir fiel auf, dass er meinen Blicken auswich. Ich war mir nicht sicher, ob er angesichts des Zustandes meines Zimmers verlegen war, oder ob er sich, als ich mich vorgestellt hatte, fast an meinem Nachnamen verschluckt und noch nicht wieder richtig erholt hatte.
Ich ließ meinen Blick rasch durch das Zimmer wandern. Wer auch immer hier Pestopfer eingesperrt hatte – er hatte ganze Arbeit geleistet. Der Raum war in roter Farbe gestrichen, die von den Wänden abblätterte, und sah aus wie ein riesiges blutunterlaufenes Auge. In der Ecke stand ein vernagelter Kamin, darüber hing das grässliche Gemälde einer Frau, die gerade zu ertrinken schien.
»So, Miss Whipple«, sagte Marvin mit erzwungenem Optimismus. Struppige, ungepflegte Borsten bedeckten die untere Hälfte seines Gesichts wie ein Stoppelfeld. »Werden Sie sich hier wohlfühlen?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Das hier war kein Zimmer in einem Wohnheim. An einen solchen Ort wurden Menschen verbannt, die man insgeheim für verrückt hielt.
»Ganz bestimmt, vielen Dank«, sagte ich. »Die Frau auf dem Bild – wer ist das?«
Er blickte an mir vorbei. »Die Gouvernante. Schön, nicht wahr?«
»Können wir sie bitte abhängen?«
Marvins Augen weiteten sich, als hätte ich ihm mit Kastration gedroht. »Wie bitte?«
»Sie erinnert mich an jemanden«, erklärte ich.
»Sie gehört hierher, Miss Whipple.«
»Aha«, erwiderte ich knapp. Wieso kam mir die Frau auf dem Bild nur so bekannt vor? Es entstand ein kurzer Moment des Schweigens. Ich merkte, dass er gehen wollte, seine Oberlippe zuckte. Ich konnte es ihm nicht verdenken – auch ich wollte hier weg. Nach einem letzten Blick durchs Zimmer erinnerte Marvin mich an das Meet & Greet morgen im Kolleghof, wünschte mir eilig eine gute Nacht und schloss die Tür hinter sich.
Jetzt war ich allein mit der Gouvernante. Irgendetwas stimmte hier nicht, so viel war sicher. Von den zwei Tagen, die ich letzten Dezember hier für meine Bewerbungsgespräche verbracht hatte, wusste ich, dass die anderen Zimmer nicht nach Fußschweiß und ranzigem Fleisch stanken. Außerdem hatten sie Fenster. Das Zimmer, in dem ich geschlafen hatte, war sogar in einem freundlichen Blau gestrichen gewesen. So freundlich, dass alle Bewerber für Englische Literatur mein Zimmer abends als Anlaufstelle nutzten. Wir saßen auf meinem Bett, betrachteten die hellblauen Wände und waren uns einig, dass die Bewerbung für das Old College wohl eines der unseligsten Dinge war, die wir je tun würden. Ich fühlte mich zu Hause in diesem gemütlichen blauen Zimmer – zumindest bis Shelly aus Portsmouth mich fragte, ob ich wirklich eine Whipple sei und ob das heiße, dass ich automatisch allen anderen vorgezogen werden würde. Meine Wangen glühten. Shelly aus Portsmouth war eine langbeinige Rothaarige, und ihre Arme waren mit rätselhaften Leberflecken bedeckt. »Natürlich nicht!«, sagte ich und fügte beleidigt hinzu: »Gute Nacht, ich bin ziemlich müde.«
Doch am nächsten Morgen überlegte ich, ob Shelly aus Portsmouth nicht doch recht gehabt hatte. Schon zu Beginn meines Gesprächs mit Dr. Margaret King vom Fachbereich Englische Literatur am Old College wurde klar, dass sie mich am liebsten nur über meine Familie ausgefragt hätte. Ich fand es beeindruckend, dass sie sich doch so lange beherrschen konnte. Dr. Margaret King war eine verhärmte Frau mit krummen Flamingobeinen, die in zwei spitzen schwarzen Schuhen endeten. Auf ihren Lippen und auf dem Vorderzahn klebte mädchenhafter Lipgloss, und sie roch nach Wassermelone. Ihre Fragen bezogen sich auf eine gewisse Aphra Behn, eine Person, über die ich nichts wusste. Doch da überall in diesem Büro Bücher wie Belinda, Love in Excess und Emma herumlagen, nahm ich an, dass Behn eine Frau, Schriftstellern und tot sein musste. Ich lenkte die Diskussion auf die Anfänge des Feminismus und machte eine irrsinnig schlaue Bemerkung zu patriarchalischen Strukturen, doch das reichte nicht. Die spitzen Schuhe begannen, auf den Boden zu klopfen.
»Und natürlich«, sagte ich, »hat Behns Schaffen den Weg für die Brontës geebnet.«
Wahrscheinlich stimmte das nicht – aber das war egal, denn der Name Brontë war wie ein Trommelwirbel. Margaret King hatte nun eine Rechtfertigung gefunden, um mich mit Fragen zu bombardieren – Fragen, die man mir schon oft gestellt hatte und die ich allesamt beantworten konnte: »Welchen Einfluss hatte das Leben der Brontës auf ihr Schreiben?« – »Ja, das ist wohl wahr, Miss Whipple, ein interessanter Gedanke.« – »Auf welche Weise hat Emily Brontë den europäischen Roman revolutioniert?« – »Ja, das stimmt, genau so ist es.«
Dann bekamen die Fragen eine persönlichere Note: »Ich gehe davon aus, dass Sie die Berichterstattung über die Familie Brontë kennen, besonders über ihre Nachfahren …« – »Du liebe Güte – Tristan Whipple war Ihr Vater?! Nun gut, ich gebe zu, ich hatte mir schon gedacht, dass Sie verwandt sein könnten … Standen Sie sich nahe, wenn ich fragen darf? Oh, verstehe, ein faszinierender Mann, Ihr Vater.«
Und wie es dann immer so ist, wurde aus Dr. Margaret King wieder Maggie, das Schulmädchen, das ihre literarischen Vorbilder anhimmelte. Die Brontës zogen ihren Verjüngungs-Zaubertrick ab – und prompt war sie das großäugige kleine Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünschte, als durchs melancholische englische Moor zu schlendern wie Catherine und Heathcliff. Ich nickte lächelnd und bot meine Vorfahren feil, bis wir uns jeder einzelnen Facette von Jane Eyre gewidmet hatten. »Aber was hat es denn nun wirklich mit dem Hochzeitsschleier auf sich, Miss Whipple?« – »Ach du meine Güte, wie clever! War Ihr Vater auch dieser Ansicht? Oh, ich bin so unsensibel, verzeihen Sie mir, meine Liebe.«
Für gewöhnlich wurde ich an diesem Punkt des Gesprächs ein »Schätzchen«, aber »meine Liebe« war auch in Ordnung. Und immer wenn ich zur »Lieben« wurde, verstummte ich. Eine »Liebe« kann nicht sagen, was sie wirklich über ihre Verwandtschaft denkt.
Als Dr. Margaret King am Ende des Gesprächs aufstand, erhob auch ich mich. Selbst mit Absätzen war sie einige Zentimeter kleiner als ich. Sie lächelte – scheu wie ein altkluges Kind, das vergessen hat, wie man Freunde gewinnt.
»Nun gut, Miss Whipple«, sagte sie strahlend. »Sind alle Amerikanerinnen so groß?«
»Nur die großen.«
Ich ging zur Tür. »Darf ich fragen, ob Sie auch selbst schreiben?«, rief sie mir hinterher.
Ich verneinte und suchte schnell nach einer Entschuldigung – das Talent habe sich in den letzten hundertfünfzig Jahren in meiner Familie leider erschöpft, mein Vater sei die Ausnahme gewesen, nicht die Regel. Mit klackernden Absätzen kam Dr. Margaret King auf mich zu. Ich dachte, sie wollte noch etwas sagen, aber sie öffnete lediglich die Tür und neigte den Kopf nach links, genau wie meine Mutter es tat, wenn ich etwas richtig gemacht hatte. Doch nicht ich hatte Eindruck bei der Professorin hinterlassen. Während ich in meinen Turnschuhen den gewienerten Korridor hinunterging, zog ich wieder einmal den Hut vor meinen drei verstorbenen Vorfahrinnen. Selbst aus dem Grab übten sie noch eine Macht aus, die mir selbst versagt blieb.
Das Handy auf meinem Schoß brummte wild und wies mich auf drei neue Mails hin. Mein Turm hatte zwar keine Fenster, war aber offensichtlich mit dem Internet verbunden. Die erste Nachricht besagte, dass das morgige Meet & Greet um 10.30 Uhr im Kolleghof begann, man solle bitte nicht den Rasen betreten. Die zweite Mail lieferte mir eine Entschuldigung, nicht dort hinzugehen, denn mein Professor, ein gewisser Dr. James Timothy Orville III., hatte für morgen Vormittag einen Besprechungstermin angesetzt, um die Voraussetzungen und Ziele unseres Tutoriums zu klären und mir eine Liste wichtiger Abgabetermine zu geben, die ich in Ruhe durchgehen sollte. Er unterschrieb seine Nachricht mit »O«.
Die letzte Mail war von B. Howard von der Abteilung »Trusts and Estates« der British National Bank. Ich wurde blass. B. Howard hatte mich heute Abend schon einmal angerufen, als ich gerade in Heathrow gelandet war. In dem kurzen Gespräch hatte sie mich darüber informiert, dass es nun, da ich in England war, an der Zeit sei, endlich über das verworrene Testament meines Vaters zu sprechen. »Ich weiß, es muss schmerzlich für Sie sein, Miss Whipple, und vermutlich sind Sie eben erst gelandet … Ja, der Zoll ist direkt geradeaus, folgen Sie einfach den Hinweisschildern … Aber wie Sie wissen, ist das eine heikle Angelegenheit, und da Sie nun hier sind, müssen wir uns zeitnah darüber unterhalten. Hören Sie mich noch, Miss Whipple? Miss Whipple?«
Ich hatte ihr gesagt, ich sei schrecklich in Eile und würde sie später zurückrufen, obwohl ich in Wahrheit gelangweilt in der Gepäckausgabe gesessen und auf einem matschigen englischen Sandwich herumgekaut hatte. Allein bei dem Gedanken an ein Gespräch über das Testament meines Vaters rutschte mir das Herz in die Hose – ich war noch nicht über Dads Tod hinweg. Ich hatte eine ebenso vage wie unangenehme Vorstellung vom Inhalt dieses Testaments, und ich wollte nicht darüber sprechen. Nicht mit Marvin, nicht mit Maggie der Leichenbestatterin und auch nicht mit B. Howard von der British National Bank.
Ich ging zum Bett hinüber. Unter meinen Schritten quietschte und knarrte der alte Dielenboden. Ich entdeckte einige Schrammen und Kratzer an der Wand, Strichmännchen und etwas, das sich als römische Ziffern herausstellte. Ich erwartete fast, den Namen Byron zu entdecken, doch die einzigen lesbaren Buchstaben waren die Initialen J.H.E.
Ich setzte mich. Mein Blick blieb auf der Gouvernante haften. Eine Weile starrten die Frau auf dem Bild und ich einander verlegen an, als wären wir uns schon einmal begegnet. Sie hielt etwas in der Hand – eine Mappe? Ein Buch? Die Bibel? Hinter ihr ragte ein halb versunkener Mast aus dem Wasser, auf dem ein Vogel saß, groß und dunkel, die Flügel mit Gischt besprenkelt. Im Schnabel hielt er ein Goldarmband. Der Vogel sah die Gouvernante an, doch die Gouvernante blickte mir ins Gesicht. Sie hatte helle Augen, feine Gesichtszüge und den verschreckten Blick eines gefangenen Tieres. Ich erinnerte mich an sie. Ich hatte irgendwann einmal etwas über sie gelesen – oder zumindest über jemanden, der ihr sehr ähnlich war: »Es nützt nichts, wenn man sagt, der Mensch soll sich bescheiden, wenn er Ruhe und Frieden hat«, hatte sie mir auf den Seiten eines alten, fürchterlichen Buches gesagt. »Er muss sich auch betätigen, und er wird sich die Tätigkeit, die er zum Leben braucht, schaffen, wenn er sie nicht vorfindet.«
Mit einem Mal konnte ich ihren Anblick nicht länger ertragen. Ich löschte die Lampe auf dem Nachttischchen, und Dunkelheit umhüllte mich.
Die Sonne hätte es geschafft, die Erinnerung an den vorigen Abend verblassen zu lassen. Doch als ich am Morgen nach draußen ging, war sie nirgends zu sehen. Der Himmel war trübe und grau wie Beton.
Zu meinem ersten Treffen mit Dr. James Timothy Orville III. ging ich ganz in Schwarz. In seiner Mail hatte er sich als »Fellow«, als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Old College für die englische Literatur des 19. Jahrhunderts, vorgestellt. Ich hoffte inständig, seine Interessen mochten sich auch auf das 20. Jahrhundert erstrecken – ich hatte in meinem Vorstellungsschreiben deutlich gemacht, dass ich einen ausgeprägten Hass auf das Viktorianische Zeitalter hegte. Sollte sich Dr. James Timothy Orville III. also als Fan von George Eliot herausstellen, müsste ich wohl auf der Stelle wieder gehen. Es würde keinen Dozententausch und keinen Kurstausch geben. Das Old College war einzigartig – und berühmt für seine Strenge. In anderen Colleges in Oxford wurden zusätzlich zu den Tutorien Vorlesungen und Seminare angeboten, die Studenten des Old College hingegen mussten die wöchentlichen einstündigen Termine allein bei einem einzigen Dozenten erleiden. Die Intensität dieser Beziehung sollte über jede differenzierte Lehre triumphieren. Doch in Wirklichkeit bedeutete es, dass mein gesamtes Studium und meine geistige Gesundheit in den Händen einer einzigen Person lagen.
Ich spazierte über den Campus und achtete darauf, mich von den Rasenflächen fernzuhalten – ich hatte gelesen, dass der letzte Student, der den Rasen des Old College betreten hatte, vom Porter mit einem Stock verjagt worden war. Ich fand das Exit Gate, das, wie Marvin mir am Abend erklärt hatte, bitte schön auf gar keinen Fall mit dem Entry Gate zu verwechseln sei. Ein paar College-Angestellte trugen Tischtücher in den Kolleghof – vermutlich für das Meet & Greet. Ich war erleichtert, dass ich nicht hingehen musste. Bei solchen Veranstaltungen fiel immer nur auf, wie sehr ich mich von anderen Leuten meines Alters unterschied. Mein Vater hatte mich zu Hause unterrichtet, also hatte ich die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens in einem angenehmen Anachronismus verbracht. Seine Vorstellung von einem Freitagabend bestand darin, das Planschbecken im Vorgarten zu füllen, sich eine Margarita zu mixen und mir Shelley vorzulesen, bis es dunkel wurde. Dad mochte Shelley nicht – übrigens der zweite Vorname meiner Mutter – und las deshalb jeden Vers mit beißendem Sarkasmus. »Oh, heb mich auf als Woge, Wolke, Blatt! Ich stürz in Dornen! Ach, mein Blut, es quillt!« Das war die Art von Humor, die nur wir beide lustig fanden. Warum wir das Planschbecken brauchten, weiß ich nicht mehr.
Broad Street Nr. 28 – der von Dr. James Timothy Orville III. vorgeschlagene Treffpunkt – stellte sich als Kellerkneipe heraus. Am Eingang standen zwei Töpfe mit skelettartigen Pflanzen und eine lebensgroße Statue von Hereward the Wake, dem legendären Kämpfer gegen die normannischen Eroberer, der seinen Kopf auf einem Pfahl trug. Ich ging durch eine zweite Tür und stand unvermittelt vor der Bar. Eine einsame Bedienung – rothaarig, mit irrem Blick und Lippen von der Farbe halbgaren Rindfleischs – trocknete mit einem Tuch Geschirr ab.
»Entschuldigen Sie bitte, ist das hier The Three Little Pigs?«, fragte ich.
Unbeeindruckt musterte mich die Frau und reichte mir die Speisekarte. Darauf stand: The Three Pigs’ Heads. Ich beglückwünschte mich dazu, zwanzig Sekunden zu früh zu sein. Als ich mich umschaute, erblickte ich ein zeterndes Paar, das Irish Coffee in sich hineinkippte, eine Frau, die ihre Zähne mit der Zunge zu zählen schien, und einen Mann mit Doppelkinn und bellendem Lachen. Ich suchte den Raum nach einem welken alten Mann mit ordentlich getrimmtem grauem Oberlippenbart und einem dazu passenden goldenen Monokel ab, der möglicherweise Dr. James Timothy Orville III. heißen könnte.
Mein Blick landete auf einer Gestalt in der hinteren Ecke. Der Mann saß da, eine Hand auf der Tischplatte, die andere auf dem Schoß. Zuerst dachte ich, er sei ein Freund von Hereward the Wake, ausgestopft, fast lebensecht. Doch als ich die Augen zusammenkniff und genauer hinsah, bemerkte ich, dass sich seine Brust langsam hob und senkte. Ich sah ihn an, er sah mich an. Seine Augen verengten sich, und plötzlich geriet ich in Panik, denn mir wurde klar, dass dieser nicht alte, nicht graue, nicht hässliche Mann womöglich Dr. James Timothy Orville III. war.
An einem nahen Tisch erhob sich dröhnendes Gelächter. Eine Frau mit einem lächerlichen Hut schob ein Papiertaschentuch in ihren Ärmel. Mein Tutor – Gott, war er es wirklich? – sah zu, wie ich über ein Tischbein stolperte. Er wirkte wie ein Tier, das bei einer Safari unerkannt bleiben wollte.
Ich blieb stumm vor ihm stehen. Er hatte eine edle, hohe Stirn. Als ich mich nicht rührte, ergriff er das Wort: »Nun, setzen Sie sich doch.«
Ich sank auf einen Stuhl. Er war jung, nicht über dreißig, und schien in seinem tadellosen Anzug fest eingezwängt zu sein.
»Ich bin James Orville«, sagte er.
Ich hatte keine Gelegenheit zu reagieren, denn ein grauhaariger Kellner näherte sich und blieb vor mir stehen. Er schien auf meine Bestellung zu warten, also sagte ich: »Nur eine heiße Milch bitte.«
»Eine was?«, fragte der Kellner nach. Seine Augen waren trüb und milchig, als hätte er die sechziger Jahre in einem Dauerrausch verbracht.
»Heiße Milch«, wiederholte ich.
Der Kellner sah zu meinem Dozenten, der mich nicht aus den Augen ließ. »Zweimal Fish and Chips und ein Glas Bier, Hugh«, sagte er.
Hugh verzog sich, wir beide saßen schweigend da. Orville sah mich an, und mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie schwierig es war, in zwei Augen zur gleichen Zeit zu blicken. Ich fragte mich, ob ich es je geschafft hatte. Orville zog einen schmalen blauen Ordner aus seiner Aktentasche und legte ihn wortlos auf den Tisch. Seine Miene war ungerührt. Ich war mir sicher, dass er irgendwo eine Schar unehelicher Kinder hatte, die alle Bartholomew hießen.
»So«, sagte er und lächelte – fast. »Erzählen Sie mir von sich.«
Ich lachte nervös auf. »Nein danke.«
»Das war keine Frage.«
»Ich will lieber nicht über mich sprechen, wenn das in Ordnung geht«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen?«
Er blinzelte. Ich legte mein linkes Bein über das rechte, dann bewegte ich es wieder zurück. Es schien mir ungerecht, dass er so jung war – und ich noch jünger. Orville antwortete nicht auf meine Frage, also schwiegen wir wieder.
»Was wollen Sie denn wissen?«, fragte ich schließlich, obwohl ich die Antwort kannte. Wie Maggie die Leichenbestatterin würde auch Orville über meinen Nachnamen sprechen wollen. Über meinen Vater diskutieren. Über das Feuer, den Besitz, die Legende. Er wollte wissen, was Emily Brontë am Morgen des 5. Dezember zum Frühstück gegessen, welche erotischen Gedichte Anne in ihrer Freizeit geschrieben und was Charlotte sich heimlich auf den Hintern hatte tätowieren lassen. Es war mein ureigener Fluch, mit den drei berühmtesten verstorbenen Frauen Englands verwandt zu sein.
Ich schluckte. »Ich wurde in Boston geboren.«
Seine Miene veränderte sich nicht. Als Jugendlicher musste er wohl Akne gehabt haben, unter seinem rechten Auge war eine Reihe kleiner Narben.
»Ich bin Einzelkind«, fuhr ich fort.
Schweigen.
Ich holte Luft. »Ich bin in Vermont in ein kleines Internat gegangen, von dem Sie wahrscheinlich noch nie etwas gehört haben, denn es ist wirklich sehr klein, und ich war noch nicht oft in Europa, wenn man Paris einmal ausnimmt, denn dort lebt meine Exmutter, Entschuldigung – die Ex, das heißt die Exfrau meines Vaters. Meine Mom. Ich kann sie nicht oft besuchen, denn, wie gesagt, ich lebe in Vermont, nein, in Boston, aber das sagte ich schon. Ich …«
»Miss Whipple«, fiel Orville mir ins Wort.
»Ja?«
»Können wir zum Punkt kommen?«
»Wie bitte?«
»Ich bin Ihr Tutor, nicht Ihr Therapeut«, sagte er einigermaßen gelangweilt. »Denken Sie bitte in Zukunft daran.«
»Entschuldigung«, murmelte ich.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen.«
»Entschuldigung.«
»Erzählen Sie mir von Ihrem akademischen Selbst«, sagte er. »Ich würde gern wissen, was Sie interessiert, abgesehen von Sätzen ohne Punkt und Komma. Warum sind Sie nach Oxford gekommen?«
»Irgendwo muss man ja sein.«
»Sollte das jetzt witzig sein?«
»Ich weiß nicht. War es witzig?«
Ich lachte verlegen. Ich beneidete Menschen, die sich mit wichtigen Leuten ganz normal unterhalten konnten. Ich bin noch nie besonders umgänglich gewesen. Im fahlen Licht war Orvilles Gesicht ausdruckslos.
»Ich bin hier, um Englische Literatur zu studieren«, sagte ich.
»Und warum das?«
»Ich mag Bücher.«
»Sie mögen Bücher.«
»Ich kann gut lesen.«
»Ich habe nicht gefragt, ob Sie des Lesens kundig sind. Ich habe gefragt, warum Sie Englische Literatur studieren. Was erhoffen Sie sich davon?«
»Arbeitslosigkeit.«
»Wie bitte?«
»Ein Witz, war nur ein Witz.«
Meine Wangen glühten. Auf einmal beugte er sich vor, das Gewicht ganz auf seine Unterarme gestützt. Er sah aus wie ein Chirurg, der auf der Suche nach der Seele des Menschen festgestellt hatte, dass da gar keine war.
Er runzelte die Stirn. »Worin sehen Sie den Sinn von Literatur?«
Er hätte mich auch fragen können, ob ich an Gott glaubte.
»Das Studium der Literatur klärt uns darüber auf, was uns zu Menschen macht.« Diesen Satz hatte ich aus Standardtests.
»Die Humanbiologie erklärt uns, was uns zu Menschen macht«, sagte er. »Versuchen Sie es noch einmal.«
»Das Literaturstudium ist das Studium der Zivilisation.«
»Geschichte ist das Studium der Zivilisation«, stellte er richtig.
»Das Literaturstudium ist das Studium der Kunst.«
»Kunstgeschichte ist das Studium der Kunst.«
Ich atmete tief durch. »Die Literatur erzählt uns Geschichten.«
»Wenn Ihnen nichts Intelligentes einfällt, dann sagen Sie besser gar nichts.«
Ich klappte den Mund zu. Orville lehnte sich zurück. Der Kellner namens Hugh kam und stellte zwei Teller vor uns hin. Darauf lag etwas, das aussah, als wäre es eines tragischen Todes gestorben, ertrunken in seinem eigenen Fett. Der Geruch war irgendwie brutal – salzig und prähistorisch, aus einem Zeitalter, als Menschen sich noch gegenseitig aufgefressen haben. Als Letztes schob Hugh ein großes Glas Bier über den Tisch.
Orville legte sich die Serviette auf den Schoß. Er hatte ein kräftiges Kinn und dünne Lippen, die er zu einer geraden Linie verzog. Im Moment waren sie beinahe unsichtbar. Orville wirkte nicht wie ein Mann, der schon am Vormittag in schummrigen Kneipen verkehrte. Im ganzen Lokal hing der Gestank nach Bier und Jahrhunderten an anzüglichen Verabredungen.
»Vielleicht können wir versuchen, das Ganze anders anzugehen«, sagte er. »Welche Autoren bewundern Sie?«
»Nennen Sie mir ein paar Namen, und ich sage Ihnen, ob ich sie mag.«
Er hob die Augenbrauen und griff nach seiner Gabel. Ich fragte mich, ob ich unhöflich gewesen war.
»Milton«, sagte er. »Mögen Sie John Milton?«
»Nein.«
»Chaucer?«
»Nein.«
»Thoreau?«
»Also bitte!«
Orville hielt inne. Er schien zu überlegen, ob ich wohl eine Kriminelle war. Dann schob er sich einen kleinen, gut portionierten Happen in den Mund.
»T.S. Eliot?«, fragte er. »Jane Austen?«
»Nein und nein. Aber netter Versuch.«
»Coleridge, Keats, Wordsworth?«
»Nein. Geht so. Und nein.«
Orville zögerte, dann fragte er: »Brontë?«
Schweigen. Ich hatte recht. Orville wollte tatsächlich über meine Verwandten reden. Wie könnte er auch widerstehen? Wir sahen einander an. Er wusste, wer ich war. Ich wusste, dass er es wusste. Und er wusste, dass ich wusste, dass er es wusste.
Ich verschränkte die Arme auf eine Weise, die selbst mir kindisch vorkam. »Kommt drauf an. Welche Brontë?«
»Charlotte.«
»Ha.«
»Ist das ein Nein?«
Ich antwortete nicht. Der Name Brontë hatte mal wieder alles verändert. Orville runzelte noch immer die Stirn, doch nun wirkte er neugierig. Am anderen Ende des Lokals ertönte erneut das bellende Lachen.
»Schätzen Sie denn gar keine Autoren?«, fragte Orville.
»Ich schätze sie, aber ich mag sie eben nicht.«
»Warum?«
»Aus persönlichen Gründen.«
»Die da wären?«
»Ich dachte, Sie wären nicht mein Therapeut.«
Er legte die Serviette auf den Tisch. Fast lächelte er. Fast. Das Studienjahr erstreckte sich vor mir wie ein schwarzer Fluss geistiger Diktatur. Je mehr Zeit Orville und ich zusammen verbrachten, desto mehr würde ich zu einem dieser bleichgesichtigen Vampirkinder werden, die in Filmen nur auftauchten, um flüsternd irgendeine verstörende Prophezeiung von sich zu geben.
»Wollen Sie mir nicht etwas von sich erzählen?«, fragte ich.
Er zog erneut seine Augenbrauen nach oben. Ich hoffte fast, er würde gar nichts sagen oder mich zurechtweisen. Doch zu meiner Überraschung wurde er ziemlich freundlich.
»Was wollen Sie denn wissen?«, fragte er. »Ich wurde in London geboren, meine Eltern sind beide Akademiker. Mit fünfzehn habe ich mich in Cambridge eingeschrieben, mit achtzehn habe ich meinen ersten Abschluss gemacht, ich habe in den USA weiterstudiert und bin nun seit acht Jahren Fellow am Old College. Mit der These, dass ein perfekter Roman ein Beweis für die Unsichtbarkeit des Autors ist, forsche ich über die strukturelle und sprachliche Integrität von Texten.«
»Klingt spannend.«
»Ich verabscheue stilles Wasser und rohen Fisch und treibe nie Sport außer am frühen Morgen. Ich halte John Knowles’ Ein anderer Frieden für eines der außergewöhnlichsten und bewegendsten Werke des 20. Jahrhunderts.«
Ich nickte. Ich hatte den Eindruck, dass Orville diesen Lebenslauf schon oft und vor vielen Studentinnen zitiert hatte. Ich fragte mich, wie viele er wohl schon unterrichtet hatte und wie viele davon seiner teuflischen Schönheit erlegen waren.
»Sie waren schon mit fünfzehn in Cambridge?«, fragte ich nach.
»Ja.«
»Ach. Früher haben Sie es nicht geschafft?«
Er aß noch ein Stück Fisch. »Sagen Sie mir doch, womit Sie sich in diesem Studienjahr beschäftigen wollen.«
»Mit der Postmoderne.«
»Das ist eine sehr kleine literarische Strömung.«
»Mit einem großartigen umfassenden Konzept: Bücher liefern keine Antworten, weil das Leben keinen Sinn hat.«
Sein Blick huschte über mein Gesicht, als würde er ein Buch mit leeren Seiten überfliegen.
»Haben Sie zum Beispiel Weißes Rauschen gelesen?«, fuhr ich fort. »Es ist …«
»Ja, habe ich gelesen.«
»Entschuldigung.«
»Hören Sie auf, sich zu entschuldigen. Sind Sie wirklich der Meinung, das Leben hätte keinen Sinn?«
»Ist das ein Problem?«
»Wie alt sind Sie?«
»Zwanzig.«
Kurzes Schweigen. Er beugte sich vor, automatisch lehnte ich mich zurück. Ich rechnete damit, dass er nun fragen würde, warum eine Studienanfängerin zwanzig und nicht achtzehn Jahre alt war, doch er sagte nur:
»Ich vermute, Sie halten sich für sehr kompliziert.«
»Wie Sie meinen.«
»Bitte?«
Ich antwortete nicht.
»Sie haben Weißes Rauschen – und ich wette, die ganze Postmoderne – falsch verstanden«, sagte er und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »Was wie fehlender Sinn erscheint, ist in Wirklichkeit ein Beispiel für die Kunstfertigkeit des Autors. DeLillo führt die Unmöglichkeit der Kommunikation durch ein Kommunikationsmittel vor. Er behauptet, die Welt sei zu komplex, um sie in einer Sprache zu verstehen, die ungewöhnlich simpel ist. Er demonstriert Bedeutung eben genau durch das Fehlen offenkundiger Bedeutsamkeit. Ich vermute, Sie können den Sinn darin nicht finden, weil Ihnen die Leidenschaft fehlt, es zu versuchen.«
Leidenschaft. Da war es, das Wort, das ich am wenigsten leiden konnte. Der trügerische, ja bedeutungslose Begriff, den Leute benutzen, wenn sie glauben wollen, dass sie menschlicher seien als andere.
Die Lampe über uns flackerte und warf Schatten auf Orvilles Gesicht. Ich schwieg. Er nahm den blauen Ordner – war das meine Bewerbung? – und blätterte ihn durch wie ein Daumenkino.
»Unser Termin ist jeweils donnerstagmorgens von halb neun bis halb zehn«, sagte er. »Bis nächste Woche lesen Sie bitte das Buch Überblick über disziplinarische Maßnahmen am Old College. Sie werden es in den nächsten Tagen in Ihrem Postfach finden. Und erstellen Sie eine Analyse von Robert Brownings Gedicht Porphyrias Buhle. Wenn Sie zu spät abgeben, bekommen Sie höchstens die halbe Punktzahl. Wenn Sie die Lektüre nicht vollständig zu Ende bringen, brauchen Sie erst gar nicht zu erscheinen.«
Ich nickte. »Sir?«
»Ja?«
»Browning war kein postmoderner Autor.«
»Das habe ich auch nie gesagt.«
Er warf mir mein Studienbuch hin und wünschte mir einen schönen Tag.
Mein Vater hatte mit mir nur ein einziges Mal über mein Erbe gesprochen. Ich erinnere mich gut daran. Ich war vierzehn Jahre alt. Meine Mutter hatte uns ein Jahr zuvor verlassen, und so war die einzige Frau in meinem Leben meine Mathelehrerin Rebecca, die immer mittwochs und sonntags zu uns kam.
Es war ein Donnerstag, mein Vater und ich saßen in »The Heights«, seiner Bibliothek, die er nach Heathcliffs Zimmer in Sturmhöhe benannt hatte. Es war sein privater Rückzugsraum und als solcher mit Bergen von Krempel vollgestopft: überschüssige Saucieren, Pullover mit Schildkrötkragen, Ausgaben von The Republic und eine Hemingway-Voodoo-Puppe. Am Fensterrahmen baumelte kopfüber ein Strauß getrockneter Rosen. Dad sagte, jede stehe für eine Absage, die er früher von großen Verlagen bekommen hatte. Für mich sahen sie einfach nur aus wie unglückliche Fallschirmspringer.
An jenem Morgen frühstückten wir auf dem Teppich. Normalerweise erklärte Dad mir morgens irgendetwas, von dem er meinte, ich sollte es wissen: das Übel der Adverbien, der Vorteil der Einäscherung, legale Möglichkeiten, Steuern zu umgehen. Er war damals einundvierzig Jahre alt, zwei Meter groß, und er goss Whiskey in seinen Kaffee. Ich war eins achtzig, und ich war unmöglich.
»Sammy«, sagte er.
»Dad.«
»Eines Tages werde ich sterben.«
»Gib mir mal den Sirup.«
Vor uns auf dem Boden stand ein Teller mit selbstgebackenen Pancakes. Daran erinnere ich mich, weil Dad sie zu lange auf dem Herd gelassen hatte und die verkohlten Unterseiten aussahen wie die braunen Flecken einer Kuh. Er reichte mir Vermont’s-Finest-Ahornsirup.
»Wenn du älter bist, wirst du die ›Warnungen aus Erfahrung‹ erben«, sagte er.
»Die ›Warnungen aus Erfahrung‹?«, fragte ich.
»Genau.«
»Warum wenn ich älter bin?«
Ich hätte eher fragen sollen: Was sind die »Warnungen aus Erfahrung«? Aber wenn man jung ist, denkt man nicht daran, das Absurde zu hinterfragen.
Er sagte nur: »Vierzehn ist eine unschöne Zahl.«
Damit war unser Gespräch beendet. Ich bat ihn, so etwas nicht mehr zu sagen, denn meinen Vater zu verlieren war für mich der größte Albtraum. Seit meine Mutter in Paris lebte und dort Hochzeitskleider entwarf, hatte ich nur noch ihn. Und Dad war toll. Er hatte weiches zerzaustes Haar, passend zu seinem aus der Form geratenen Schriftstellerkörper, der gerade fit genug war, um mich hochzuheben, wenn wir uns umarmten. Er hatte eine viereckige Brille und nur zwei Weisheitszähne, eine kahle Stelle an der rechten Wade und Augen wie ein Adler. Er war toll auf eine Weise, wie nur tote Väter je toll sein konnten.
Soweit ich wusste, kannte kein anderer lebender Mensch die »Warnungen aus Erfahrung«. Ich wollte, dass es so blieb. Die Außenwelt hatte die Familie meines Vaters schon lange in Verdacht, etwas zu verheimlichen, und die stete Aufmerksamkeit der Medien wurde langsam lästig. Brontë-Biographen wiesen gern darauf hin, dass eine enorme Zahl von Brontë-Memorabilien mit den Jahren verschwunden oder sonst wie unauffindbar geworden sei: die alten Porzellanbecher der Mädchen, Gemälde, Notizen, Skizzen, Briefe und ein paar frühe Romanentwürfe. Irgendwie waren sie »verloren gegangen«. Und, natürlich, wo sonst könnten sie sein außer bei meinem Vater? Dad war der einzige lebende Nachfahre von Patrick Brontë, dem Vater der berühmten Geschwister Brontë. Patrick hatte Frau und Kinder überlebt und, der Legende nach, die wertvollsten Besitztümer der Familie für die Nachwelt aufbewahrt. Eines von Patricks Geschwistern hatte einen meiner Urururgroßväter in die Welt gesetzt, dessen Nachkommen letztendlich meinen liebenswerten und ziemlich exzentrischen Dad hervorgebracht hatten.
Die öffentlichen Spekulationen über den »Verbleib des Brontë-Besitzes« hatten in den letzten zwanzig Jahren ein Allzeithoch erreicht. Dieses Rätsel weckte gefährliche Neugier in der eigenartig weiten Welt der Brontë-Fans, die wahrscheinlich als Kinder die Romane gelesen hatten und sie ihr Leben lang liebten. Diese Leute waren allzu leicht davon zu überzeugen, dass die Brontës – da sie ja romantische und leidenschaftliche Menschen gewesen waren – in ihrer Vergangenheit etwas Romantisches und vor allem Wertvolles versteckt hätten. Die Journalisten gossen ständig Öl ins Feuer, die Schlagzeilen wurden immer reißerischer – »Zehn atemberaubende Gründe für Charlotte Brontës heimlichen Reichtum« –, und die Gerüchte steckten schließlich auch normale Leute an, Leute, die zuvor noch nie etwas von den Brontës gehört hatten. Statt zu vermuten, dass mein Vater alte Becher und Zeichnungen hortete, glaubte nun jeder durchschnittliche, schlecht informierte Klatschkolumnist, dass Tristan Whipple Goldminen, Rubinringe und Gutenberg-Bibeln versteckte. Die Brontës selbst verloren darüber irgendwie an Bedeutung.
All das lehrte mich zwei Dinge: Erstens, wenn man einer der letzten Brontës ist, erbt man ungewollt eine außergewöhnlich große und sonderbare Fangemeinde. Zweitens, wenn man ein gut aussehender und zurückgezogen lebender alleinerziehender Vater ist, erbt man eine noch größere und noch sonderbarere Fangemeinde. Als Kind ist die Berühmtheit meines Vaters für mich ganz normal gewesen, so normal wie die üblichen Tatsachen des Lebens, die man mit fünf Jahren kennt, etwa dass der Himmel blau ist, die Sonne im Westen untergeht und Väter eben immer in den Nachrichten erwähnt werden.
Doch die stete Aufmerksamkeit der Medien machte meinen armen Vater verrückt. Schließlich verweigerte er Interviews und mied öffentliche Auftritte, wann immer dies möglich war. Seine Romane wurden noch kryptischer. Er schloss sich stundenlang in seinem Arbeitszimmer ein. Er begann, überall im Haus merkwürdiges Zeug herumliegen zu lassen für den Fall, dass eines Tages Reporter einbrechen könnten, damit sie dann eine Menge verwirrenden Stoff für ihre Geschichten fänden. Ich bin mir sicher, dass die Außenwelt meinen Vater für verrückt hielt.
Die Ironie ist, dass ich in all den Jahren nie gesehen habe, dass mein Vater irgendwo ein verstecktes Brontë-Erinnerungsstück hervorgezogen hat. Es gab keine Becher, es gab keine Rubinringe und es gab keine Goldminen. Wichtig waren meinem Vater nur ihre Romane – Agnes Grey, Die Herrin von Wildfell Hall, Jane Eyre, Sturmhöhe, Shirley und Villette –, und die waren, als ich das letzte Mal nachgesehen habe, alle noch jedermann zugänglich. Dad hatte diese Bücher sein ganzes Leben lang studiert, auseinandergenommen und Wort für Wort analysiert. Er hatte Ehrfurcht vor ihnen – eine Ehrfurcht, wie sie ein Großteil der Menschen vor dunklen, geheimnisvollen Frauen hat. »Diese Romane sind lebendig und alle anderen Bücher tot«, sagte er immer, »verstehst du?« Er gab mir Unterricht über sie, las mir aus seinen abgegriffenen Ausgaben vor und machte dabei unverständliche Randnotizen. Ich war mir sicher, dass er etwas wusste, das andere Menschen nicht wussten. Doch wenn ich ihn danach fragte, sagte er nur: »Ich will dir nur beibringen, richtig zu lesen, Sammy.«
Nach seinem Tod wurden die Brontës auch zu meiner großen Liebe, aber nur vorübergehend und auch nur aus Not. Ich war der Ansicht, dass ich die Arbeit meines Vaters vollenden musste. Schließlich war es sein Lebenswerk, die Romane der Brontës zu interpretieren. Vielleicht gab es da ja wirklich etwas Wichtiges, das ich übersehen hatte, und vielleicht war es meine Aufgabe als letzte Erbin, dies herauszufinden.
Im Alter von fünfzehn bis fünfzehneinhalb verbrachte ich übertrieben viel Zeit mit der Erforschung der Brontës. Ich rekonstruierte ihr Leben und versuchte, sie auf die Weise meines Vaters kennenzulernen – als Verwandte. Ich brütete über den wenigen Biographien aus der Bibliothek meines Vaters, die das Feuer überlebt hatten; ich schrieb eigene Gedichte und Geschichten in einem morbiden Brontë-Stil; ich erfand fiktive Freundinnen in der Gestalt von Anne, Charlotte, Emily und sogar einen Freund wie Bruder Branwell, den Trinker. Vermutlich hatte ich gehofft, meinen Vater damit in gewisser Weise wieder zum Leben erwecken zu können.
All das führte zu nichts. Bis zum heutigen Tag verstand ich nicht, was meinen Vater an den drei lange verstorbenen Cousinen so gefesselt und was er eigentlich gesucht hatte. Jetzt fühlte ich mich mit all dem Wissen gestraft, das ich mir über die Brontës angeeignet hatte. Ich kam mir vor wie eine Olympionikin, die seit Jahren nicht mehr trainiert hatte und deren Muskeln sich nun in Fettgewebe verwandelten. Noch immer kannte ich Charlotte, Emily und Anne so gut, wie kein Mensch einen anderen jemals kennen sollte. Ich kannte ihre Schuhgrößen und ihre Körpergrößen, ich kannte ihre albernen kleinen Geheimnisse, ich wusste, worüber sie gestritten und worüber sie gelacht hatten. Ich kannte sogar Emilys Muttermal am rechten Fuß. Liebe hinterlässt immer Narben – und das war meine: das Wissen, dass ich die Freundinnen, die ich am besten kannte, in Wirklichkeit niemals kennengelernt hatte.
Erst im Internat beschäftigte ich mich in einem wissenschaftlichen Zusammenhang mit den Brontës. Da ich erst mit sechzehn auf die Highschool kam, war ich zwei, drei Jahre älter als meine Klassenkameradinnen. Ich hatte dafür gekämpft, in die Klasse des Junior College aufgenommen zu werden, doch als meine Mutter mich anmeldete, erklärte sie der Schulverwaltung, dass das Schulexperiment meines Vaters ein »totales Desaster« gewesen sei, und empfahl, dass ich mit der ersten Highschool-Klasse anfangen sollte, damit ich mich von dem schulischen Schaden erholen könne, den ich ungerechterweise erlitten hätte.
Ich hatte gehofft, dass mir mein erster offizieller Englischunterricht über die Brontës helfen würde, meine Verwandten besser zu verstehen, oder dass er zumindest einen Hinweis dafür liefern würde, was mein Vater sein Leben lang herauszufinden versucht hatte. Doch ich wurde enttäuscht. In Mr Martins Klasse erlebte ich zum ersten Mal, wie alle anderen die Brontës kannten – nicht mit Leberflecken und Schuhgrößen, sondern als Hollywood-Dramen, schlecht gemachte PowerPoint-Präsentationen im Unterricht und Puppen für kleine Mädchen. Diese Brontës waren alles andere als menschliche Wesen.
Mr Martin dampfte den Charakter jeder einzelnen Brontë-Schwester ein, bis sie alle an Geschmack, Duft und Ausstrahlung verloren hatten. Wir lernten, dass Charlotte die älteste und berühmteste der drei schreibenden Schwestern war. Die Anführerin der Familie. Eins sechsundfünfzig groß, stark, eigensinnig, bewundernswert – die Umtriebige. Ein echter Wildfang in der Version des 19. Jahrhunderts. Jane Eyre war ihres Geistes Kind. Mr Martin machte sich nicht die Mühe zu erwähnen, dass es ein Roman war, den man als Kind liebte und dann für den Rest seines Lebens missverstand.
Die zweite Schwester war Emily. Sie war, wie wir erfuhren, von glühender Leidenschaft, ungestüm und phantasiebegabt. Eine Action-Heldin mit windzerzaustem schwarzem Haar, wogendem Busen und Reifrock, durchnässt von ihren wilden Streifzügen durch das stürmische englische Moor. Ihr größtes und einziges Werk war Sturmhöhe; diejenigen, die es nie richtig gelesen hatten, betrachteten es als das romantischste Buch, das je verfasst worden war.
Und dann gab es noch Anne. Die stille, vergessene Anne. Die letzte Brontë. Die jüngste. Die gescheiterte Sozialreformerin. Zurückhaltend, moralisch, lieb. Autorin des langweiligsten Buchs – Agnes Grey; ein Buch, das es nie in akademische Literaturlisten schaffte. Sie war die Brontë, die von ihren weitaus talentierteren Schwestern in den Schatten gestellt wurde, in anderen Worten: die Loserin.
Eines Tages sprach ich Mr Martin nach dem Unterricht an und beschwerte mich über seine vollkommene Fehleinschätzung meiner Familie. Mr Martin hatte ein herzförmiges Gesicht mit einem struppigen Bart und kurze, dicke Finger, die aussahen wie Cornichons. Auf seinem Pult lagen Plastiktüten, die er sich bei Regen über den Kopf zog.
»Ich denke, Sie waren Anne gegenüber nicht fair«, sagte ich.
»Sie spricht ja!«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln. »Ich dachte, du hättest ein Schweigegelübde abgelegt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich finde, Sie haben unrecht in Bezug auf Annie.«
Er legte den Kopf schräg. Wenn er lächelte, gruben sich tiefe Falten in seine Wangen. »Annie?«
»Ihre Freunde nannten sie Annie.«
»Und woher weißt du das?«
»Mein Vater hat es mir gesagt.«
Damit verschwand sein Lächeln. Seine Miene verriet, was er dachte: Hilfe, ich weiß nicht, was ich sagen soll! Ich kannte diesen Gesichtsausdruck, ich sah ihn bei jedem Mädchen in meinem Wohnheim. Keiner wusste, was er zum Tod meines Vaters sagen sollte, also hielten sich alle von mir fern.
»Sie beschreiben Anne nicht so wie mein Vater«, sagte ich zu ihm. »Sie schildern sie als Langweilerin.«
Er setzte sich und forderte mich auf, es ihm gleichzutun. Ich ignorierte seine Geste.
»Dann hat dein Vater dir also eine Menge über Anne erzählt?«
Ich sah ihn skeptisch an. »Sind Sie ein Journalist?«
»Meine Güte, natürlich nicht!«
Dann verstummte er und wurde verlegen. Ich fragte mich, ob er Zeitung las. Den Gerüchten zufolge drohte das größte literarische Vermächtnis in der jüngeren Geschichte in die Hände einer Jugendlichen zu fallen.
Ich holte Luft. »Wissen Sie etwas über die ›Warnungen aus Erfahrung‹?«
»Worüber?«
»Die ›Warnungen aus Erfahrung‹. Sagen Sie mir bitte, was das bedeutet.«
Er sah mich mitfühlend an, als wäre ich ein armes, verlorenes Kind ohne Freunde – zum ersten Mal eine echte Brontë.
»Samantha, vielleicht sollten wir uns zusammensetzen und darüber sprechen«, sagte er.
Ich wollte sagen: »Ich werde es mir überlegen«, doch es klang wie: »Nie im Leben.« Ich verließ den Raum.
In diesen ersten Monaten auf der Highschool wurde mir allmählich etwas ziemlich Schreckliches bewusst, etwas, das ich danach jahrelang zu verdrängen versuchte. Die Presse glaubte, mein Vater hätte mir etwas Konkretes vermacht – einen Brontë-Schatz. Doch sie irrte sich. Ich hatte lediglich die »Warnungen aus Erfahrung«. Und die »Warnungen aus Erfahrung« waren, wie ich inzwischen vermutete, kein materieller Gegenstand. Sie waren nichts als eine weitere Geheimlehre meines Vaters. Vielleicht hätten es die Journalisten ja herausfinden können, hätten sie nur den Whiskey in Dads Kaffee und die Äderchen in seinen Augen bemerkt. Doch ich war die Einzige, die je »den großen Tristan Whipple« auf der Couch hatte liegen sehen wie einen gestrandeten Seestern. In meinem tiefsten Innern wusste ich, dass sein Abschiedsgeschenk für mich die Warnung war, nicht so zu werden wie er. Es gab einen guten Grund, warum B. Howard von der British National Bank sein Testament nicht verstand, und aus gutem Grund hatte ich wenig Lust, darüber zu sprechen: Ich ging nämlich davon aus, dass einfach nichts dahintersteckte.
Rückblickend hätte ich auf Mr Martins Lächeln und seinen Versuch, mir zu helfen, eingehen sollen. Er machte nur seine Arbeit, und die bestand darin, junge Menschen in die Literatur einzuführen. Doch damals hasste ich nichts mehr als seinen Unterricht über Sturmhöhe. »Es ist ein Buch tobender Gegensätzlichkeiten«, sagte er immer. »Natur gegen Zivilisation, Himmel gegen Hölle, Liebe gegen Gewalt.« Angeblich brachte er uns das »genaue Lesen« bei. Aber wir lasen nicht genau. »Genaues Lesen« war, wenn Dad zwei Stunden lang Kapitelüberschriften analysierte. Einmal sagte ich zu Mr Martin, dass er den Sinn des Buchs nicht verstehe. Er erwiderte, der Sinn des Buchs liege darin, dass wir es niemals zur Gänze begreifen könnten. Dies war eine entschieden andere Denkart als die meines Vaters, und ich fand sie fürchterlich verwirrend. Am Ende führte meine gesamte schulische Bildung nur zu einem: einer ganzen Menge weißen Rauschens.
Am Donnerstagmorgen ging ich zum ersten Mal in das Fakultätsgebäude des Old College. Es war ein Miniaturschlösschen mitten auf dem Campus, umringt von einem weitläufigen Rasen von der Größe eines Sees. Ich kannte das Gebäude von Plakaten, Postkarten und BBC-Filmen. Es war riesig und viereckig, gespickt mit Türmchen und vier bedrohlichen Wasserspeiern. Das Gebäude war eines der Wahrzeichen von Oxford und wurde im Lauf der Jahre mit so vielen Skandalen in Verbindung gebracht, dass es nun fünfzehn Prozent des Tourismusaufkommens in England ausmachte.
Dass es ein Fakultätsgebäude gab, war ungewöhnlich in Oxford. In den meisten Colleges lebten und arbeiteten Dozenten und Studenten zusammen in den Wohnbereichen. Am Old College war dies bis 1811 der Fall gewesen, dann war der Lehrkörper in dieses ehemalige Herrenhaus gezogen.
Ich ging hintenherum, um den Reisegruppen aus dem Weg zu gehen. Wegen des wuchernden Unkrauts war der Spaziergang nicht allzu beschaulich. Als ich mich dem Gebäude näherte, fand ich einen Brunnen. Er war alt und hässlich. Bei meinem letzten Besuch hier war er mir nicht aufgefallen. Er erinnerte mich an die mobile Toilette, die ich einmal hinter dem Buckingham Palace erspäht hatte. Auf den Postkarten wurde er wohl wegretuschiert.
Ich ging weiter, bis ich vor dem Fakultätsgebäude ankam und den Eingang fand. Die ehrwürdigen Mauern waren zerschunden und vernarbt, als wären sie zu oft mit Katapulten beschossen worden. Die Eingangshalle war groß und düster, es roch nach altem Honig und Rum. Über dem Portal hingen die Köpfe zweier ausgestopfter Hirsche, in der Mitte des Raums stand eine alte Urne, aus der ein paar nackte Zweige ragten wie ein Geweih.
Orvilles Büro befand sich im dritten Stock des Westflügels, wie er mir in seiner letzten Mail erläutert hatte. Ich stieg eine prachtvolle breite Treppe hinauf. Über dem Eingang zum Fachbereich Englische Literatur stand auf Latein: Aus einem Beispiel lerne alles. Ich ging einen menschenleeren Korridor entlang. Er war von geschlossenen Türen gesäumt, an denen Namensschilder angebracht waren: Milton, Norris, Northington. Und dann Orville. Die Tür war zu, draußen hing ein Schild: »Tutorium. Bitte nicht stören.« Ich setzte mich auf einen wackeligen Stuhl neben der Tür und wartete. Ich begann zu schwitzen.
Plötzlich flog die Tür von Orvilles Büro auf, eine Studentin stürmte weinend und wütend hinaus. Ihr Blick war wild, ihre Stiefel klackten zornig, als sie den Gang hinunterrannte, ihr Zopf hüpfte hinter ihr her. Ich blieb sitzen, bis das Geräusch ihrer Absätze leiser wurde und schließlich verklang. Ich wischte mir die Handflächen an meinen Jeans ab und betrat Orvilles schlecht beleuchtetes Zimmer. Es roch, als hätte man hier gerade ein Tier geräuchert. Die blutroten Vorhänge waren zugezogen. Das hier war kein Büro – es war eine kleine Bibliothek, die sich über zwei Stockwerke erstreckte, mit schmalen Leitern, Galerien und einem kostbaren Deckengemälde, das eine Schar nackter Griechen zeigte. Es war die Art Bibliothek, für die man einen Mann heiraten würde.
Orville saß in einem orangefarbenen Sessel am Kamin, er lächelte nicht. Auf dem Tisch vor ihm lagen neben einer Teetasse ein kleiner Papierstapel und eine Magna Carta im Taschenformat. Ich ging langsam auf ihn zu.
»Willkommen zu Ihrem ersten Tutorium«, sagte er.
»Danke.«
Er machte eine einladende Geste. »Kaffee oder Tee?«
»Haben Sie Kakao?«
»Das ist kein Restaurant.«
»Entschuldigung.«
»Setzen Sie sich«, sagte er. »Nein – nicht dort. Weiter drüben, bitte. Ja, so ist es gut. Sie sitzen dort, ich sitze hier.«
Ich erhob mich aus dem Sessel neben ihm und ging zur gegenüberliegenden Couch.
»Schönes Büro«, sagte ich.
»Ja, nicht wahr?«, sagte er. »Es war ein Kampf, es zu bekommen. Man hat von hier den schönsten Blick über den Park. Sehen Sie? Ach, die Vorhänge.«
»Gehören alle diese Bücher Ihnen?«, fragte ich.
»Selbstverständlich gehören sie mir.« Er reckte das Kinn. Er hätte auch über seine Kinder sprechen können. Sein Gesicht war peinlich sauber rasiert.
»Was haben Sie mit dem Mädchen gemacht, das gerade gegangen ist?«, wollte ich wissen.
»Eliza hat James Joyce’ Ulysses nicht zu Ende gelesen. Ich nehme meinen Unterricht sehr ernst, Samantha. Wenn Sie das Gefühl haben, der Sache psychisch nicht gewachsen zu sein, möchte ich Sie bitten, gleich wieder zu gehen.«
»Wird schon.«
»Sehr schön«, sagte er. »Dann fangen wir jetzt an. Erzählen Sie mir etwas über Porphyrias Buhle.«
»Gern«, sagte ich. »Es ist ziemlich schlecht.«
»Wie bitte?«
»Ich halte es für ein fürchterliches Gedicht. Wirklich grauenhaft.«
Er blinzelte. »Erläutern Sie das bitte genauer.«