Roman
Wir danken der Stadt Zürich und dem Kanton Zürich für deren Unterstützung.
www.diebrotsuppe.ch
ISBN ebook 978-3-905689-87-7
Alle Rechte vorbehalten
© 2017, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne
Umschlag, Gestaltung, Satz: Ursi Anna Aeschbacher, Biel
Herstellung: www.cpibooks.de
Für Lesley Gilb Taplin
6. September 1946 bis 13. April 2009
Erster Teil Ein Jahr davor
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Zweiter Teil
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Dritter Teil
Kapitel XVIV
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Vierter Teil
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel XXVIIII
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Kapitel XXXII
Kapitel XXXIII
Fünfter Teil
Schluss
Kapitel XXXIIII
Kapitel XXXV
Kapitel XXXVI
VERSPRECHEN DER WIEDERKEHR
Die Autorin
Später berichteten Einheimische, Touristen und Wüstentrecker, die sich zu jenem Zeitpunkt auf halber Höhe des Hohen Atlas, jedenfalls über dem Sandnebelmeer, befunden hatten, in diversen Blogs, sie hätten am Himmel über der Hamada eine schwarze Wolkenwand auffahren sehen. Mit hoher Geschwindigkeit habe sie sich auf den Nordrand der Sahara zubewegt. Ein Triangel Zugvögel und zarte Schlieren seien ihr voran geschwebt, fast wie Bannerträger, die eine Prozession ankündigen. Bald darauf sei der Himmel erzittert. Man habe phantastische Blitze gesehen, die sich zuhauf über der Ebene entladen hätten, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnerschlag, der einem bis ins Gebirge hinauf einen Schauer über den Rücken gejagt habe.
Im Schritttempo erreichten Chaya und Tarik den Platz vor dem Ksar Kulshi, dessen Umrisse diffus zu erkennen waren. Unter den Pneus knirschte Kies, als Chaya durch die Nebelsuppe auf einen Sandplatz fuhr, den ein schiefes Schild am Eingang als Parkplatz kennzeichnete; bis auf zwei Kastenwagen von Hertz war er leer. In dieser Minute schob sich eine dunkle Wolkenwand von Norden herkommend vor die Sonne – und jäh verwandelte sich jetzt alles in eine düstere Unterwelt. Chaya stellte den Motor ab und knipste das Notlämpchen an.
»Ich habe dich gewarnt«, klagte Tarik, »wir hätten im Hotel bleiben sollen.«
»Sie braucht nur einzusteigen«, murmelte Chaya nervös, griff nach dem Handy, das auf dem Armaturenbrett lag, und wählte Thelmas Nummer. Eine Automatenstimme teilte mit, der Empfänger sei vorübergehend nicht erreichbar. Daraufhin kurbelte sie das Autofenster herunter in der Hoffnung, Thelma rufen zu hören, doch es drang nur Staub herein. Sie hustete und schloss das Fenster. »Was sollen wir tun?«, fragte sie beunruhigt und tastete nach Tariks Hand.
»Ich gehe sie suchen«, sagte er entschlossen, »sie kann nicht weit sein. Dort drüben stehen zwei Autos, eben konnte man sie noch sehen. Die gehören bestimmt zur Filmequipe.«
»Man kann nicht mal mehr seine eigene Hand erkennen! Wie willst du sie da finden?«, sorgte sich Chaya und wählte erneut Thelmas Nummer. Wieder vergeblich.
»Habibdi, ich bin Tetouani, Tanjaoui und Marrakchi, und ebenso bin ich Sahraoui. Seit Jahrhunderten überleben meine Vorfahren auf diesem Boden, ich schaffe das. Sorge dich nicht.« Tarik löste sich aus Chayas Griff, küsste ihre Fingerspitzen und stiess die Autotür auf. Nicht weit weg war dumpfes Grollen zu hören.
»Hast du das Handy?«, rief Chaya ihm nach.
Tarik griff in seine Westentasche und zog es heraus: »Ja, aber der Akku ist leer, habe vergessen, ihn aufzuladen. Egal, die Verbindung funktioniert eh nicht.«
»Das darf nicht wahr sein«, stöhnte sie auf. Schon wieder hatte er es versäumt, so etwas Alltägliches zu erledigen. »Die Verbindung ist vorübergehend blockiert, hörst du? Vorübergehend! Wozu hat man diese verdammten Geräte!?«, schrie sie ihm hinterher, obwohl der Nebel seine Gestalt bereits verschluckt hatte. Sie hörte noch sein unsicheres Lachen.
Verkrampft umklammerten ihre Hände das Lenkrad. Der Nebel war so dicht geworden, dass sie die Spitze der Kühlerhaube nicht mehr erkennen konnte. Sie schaltete das Radio ein und suchte einen französischen oder englischsprachigen Sender, aber sie hörte nur verzerrte Stimmen und ein Knistern und Rauschen, das plötzlich von einem Geräusch draussen übertönt wurde. Starke Windböen schleuderten aufgewirbelten Sand und Kies auf die Karosserie. Im Nu war die Windschutzscheibe von Sand bedeckt. Gleichzeitig wurde an manchen Stellen der Staubnebel aufgerissen, so dass die Sicht auf eine imposante Lehmfestung mit quadratischen Türmen und Zinnen freigegeben wurde. In der Frontalmauer führte ein mit Ornamenten verziertes Portal ins Innere. Chaya spähte durch das Seitenfenster. Von Tarik und Thelma war nichts zu sehen.
Ein pflaumengrosser Regentropfen zerplatzte auf der Windschutzscheibe und zeichnete eine Rinne in den Staub. Gleich danach setzte der angekündigte Regen ein. Chaya betätigte die Scheibenwischer und wartete auf Tarik und Thelma. Während sie den Blick gebannt auf das Ksar-Portal heftete, verwischte sich dessen Kontur durch den Wasservorhang erneut. Der Regen wurde stärker. In der Nähe entluden sich Blitze, gefolgt von Donnerschlägen. Vor dem Ksar bildeten sich Rinnsale, die Schutt und Pflanzenmaterial mit sich schwemmten und zu Tümpeln zusammenliefen. Endlich gewahrte Chaya eine Gestalt, die aus dem Portal gestürzt kam. Sie stiess die Autotür auf – sofort peitschte sandiger Regen herein – und schrie Tariks und Thelmas Namen, doch die Person reagierte nicht. Sie hielt eine grüne Jacke über den Kopf und lief der Festung entlang, bog an deren Ende um die Ecke und verschwand.
Wieder und wieder wählte Chaya Thelmas und Tariks Nummer. Als nach vier Stunden noch immer keine Verbindung zustande kam und die Automatenstimme nur noch als schwacher Pfeifton zu hören war, resignierte sie. Inzwischen hatte der Regen sintflutartige Ausmasse angenommen. Myriaden von Tropfen peitschten gegen die Karosserie, und ringsum begann das Wasser zu steigen. Verzweifelt versuchte sie, den Motor anzulassen, um näher an den Ksar heranzufahren, aber ausser einem Heullaut machte er keinen Wank mehr. Wie paralysiert vergrub sie das Gesicht in den Armen über dem Lenkrad und lauschte auf das unheimliche Rauschen und Trommeln des Regens und das Ächzen und Heulen des Windes. Lange blieb sie in dieser Haltung. Es gab nichts, was sie hätte tun oder unternehmen können, ausser abzuwarten und zu hoffen, dass das Unwetter sich bald legen und alles wieder normal werden würde.
Während Sturm und Dunkelheit ihr zusetzten und die Minuten endlos schienen, ereignete sich etwas Eigenartiges: Gefangen im Sturm eröffnete sich Chaya die Stille. Wie eine Wohltat trat sie aus dem Toben heraus und hüllte sie ein. Mit einem Mal nahm sie die plötzliche Kälte, das Rütteln der Böen und das Heraufziehen der Nacht nicht mehr wahr. Und so wie einem Träume lang erscheinen, obwohl sie in Wirklichkeit Bruchteile von Sekunden dauern, kam es Chaya vor, als schwebte sie zeit- und schwerelos in der Stille des Universums. Es gab keinen Anhaltspunkt, keine Richtung und keine anderen Lebewesen mehr. Nur noch ein Vakuum aus Stille und Reglosigkeit.
Ein schmerzhaftes Pulsieren im Mittelohr holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie merkte, dass sie mit den Zähnen klapperte. Zitternd kletterte sie auf den Hintersitz, fischte einen Pullover aus dem Kofferraum und zog ihn an. Als sie hinausblickte, stellte sie fest, dass der Wasserspiegel weiter stieg.
Wie oft hatte sie in den Medien von Leuten gelesen und gehört, die solche Naturkatastrophen durchgemacht und sie nicht überlebt hatten. So war das also. Jetzt erfuhr sie es am eigenen Leib. Wetterleuchten und Blitzschnüre durchzuckten die Finsternis. Aus Furcht, die Autobatterie könnte sich entleeren, löschte sie das Lämpchen. Zur Orientierung blieben nur noch die fluoreszierenden Zeiger ihrer Armbanduhr. Und diese schienen nicht von der Stelle zu rücken. Nach einer Weile plagte sie unerträglicher Druck auf die Blase, und sie erleichterte sich auf dem Sitz umständlich in eine Plastiktüte. Als sie den Urin aus dem Fensterspalt schüttete, bemerkte sie, dass das Wasser bereits bis zur Türschwelle reichte. Fieberhaft begann sie sich auszumalen, was noch passieren könnte und wie sie sich am klügsten verhalten sollte. Sie kam jedoch zum Schluss, dass der Höchststand erreicht sein musste, es konnte einfach nicht sein, dass der Wasserpegel in der weiten Ebene noch höher stieg. Diese Vorstellung beruhigte sie ein wenig.
Auf dem Hintersitz kroch sie unter eine Wolldecke und starrte in die Dunkelheit. Hoch über den Gewitterwolken tanzten jetzt Elfen und Kobolde mit den Elementen. Ein grandioses Schauspiel. Chaya zog Arme und Knie an sich und staunte, wie beherrscht sie war. Angesichts solcher Übermacht der Natur schien der Mensch ganz ruhig zu werden. Keine Hysterie, nicht einmal das Gefühl von Panik brach aus. Nur eine Art Sprachlosigkeit, als hätte sie auf einen Schlag das Alphabet verlernt. Wurde man am Ende zum Tier, das mit stummer Angst in den Augen, aber würdevoll zum Schlachter trabt?
Je weiter die Nacht fortschritt, desto mehr verwandelte eine frostige Kälte das Auto in eine Gefriertruhe. Zitternd sammelte Chaya alles zusammen, was sie finden konnte, Kleidungsstücke, Papiertaschen, einen Regenschirm und Bücher, und versuchte, sich damit zuzudecken. Zuletzt krümmte sie sich wie ein Embryo zusammen, legte den Ärmel eines Pullovers über Gesicht und Ohren und begann die Melodie des Schlagers »Eviva España« zu summen. Ein Lied, das sie schon als Kind immer dann gesungen hatte, wenn alles aus den Fugen zu geraten drohte. »Die Sonne scheint bei Tag und Naaacht. Eviiivaaa Españaaa! Der Himmel weiss, wie sie das maaacht, Eviiivaaa Españaaa!« Erst summte sie das Lied, dann begann sie es wütend zu singen, laut und aus voller Kehle, bis ihre Stimme aus Erschöpfung allmählich erstarb und das Toben des Sturms sie in einen oberflächlichen Schlaf lullte.
Beim Einnicken – oder träumte sie bereits? – hörte sie das Rattern eines Zugs, der mit Hochgeschwindigkeit in einen Tunnel raste. Unmittelbar danach spürte sie eine heftige Erschütterung wie bei einem Erdbeben. Der Tunnel war eingestürzt und hatte alles unter seinem Schutt begraben. Und wieder zog Stille auf.
Winter, verschlossen.
Wieder werde ich lehnen
An diesem Pfosten.
Matsuo Bashô
Übersetzt von Ralph-Rainer Wuthenow
Das Rufen des Nymphensittichs im Käfig drang wie die Spitze eines Federkiels in die Behaglichkeit seines Schlafs. Er drehte sich zur Wand und versuchte die Traumbilder zurückzuhalten, Bilder einer lieblichen Landschaft, von denen er sich ungern trennte. Aber das Licht und der Lufthauch weckten ihn endgültig und liessen ihn die Brettunterlage des Sofas spüren. Im Sonnenstrahl, der durch den Spalt der Schiebefenster fiel, glitzerte Staub. Unwillkürlich zog er die Decke mit dem Rosenmuster über den Kopf. Nur noch eine Minute Schonzeit, ehe der Tag für ihn begann. Die Steinfliesen reflektierten die Kälte des Januars in den Raum, in dem niemand auf ihn wartete. Ans Alleinsein hatte er sich so sehr gewöhnt, dass er sich nichts anderes mehr vorstellen konnte. Schon ein halbes Leben lang wiederholte sich sein Erwachen in ähnlicher Form, er hätte lieber weiter träumen wollen, doch irgendetwas stiess ihn ins Wachsein hinein. Er schwang die Beine auf den Boden und ging ins Hockklo, wo er ins Loch pinkelte. Ohne sich zu waschen, zog er die Socken an, schlüpfte in die Schuhe mit den schiefen Absätzen, warf den Mantel über die Kleider, in denen er geschlafen hatte, griff nach den Zigaretten und eilte die Stufen zur Haustür hinunter.
Draussen fuhr ihm ein steifer Wind ins Gesicht und fegte seine Benommenheit weg. Im Vorhof jagten sich Plastiktüten und Papierfetzen, und zwischen zwei Blumentöpfen schepperte eine leere Cola-Dose hin und her. Durch das ausgebesserte Metalltor, das in den Angeln quietschte, trat Tarik auf die Seitenstrasse hinaus. Auch hier wirbelte der Wind allerlei Müll im Kreis herum, den Jungen in Schuluniformen johlend zu erwischen suchten. Ein Mann mit einer Schafwollmütze, der mit einem Stab die Jalousie seines Gemischtwarenladens hochschob, grüsste ihn.
Tarik ging zu Alis Café in der Rue Aljazaer, wo er sich wie jeden Morgen an die Sonne setzte und Ali ihm unaufgefordert ein Glas Kaffee brachte. Er schlug den Kragen hoch, schlang den Mantel um sich und zündete in der Kuhle der Hand eine Zigarette an. Bevor er inhalierte, stiess er vorsorglich einen Teil des Rauchs aus dem Mund, aber schon nach zwei Zügen schüttelte ihn der übliche Morgenhusten. Die anderen Männer im Café, einige bereits ins Brettspiel vertieft, blickten auf und nickten ihm zu. Tarik nickte zurück. Allmählich fing er an, sich an den Tag zu gewöhnen. Alles war wie immer, nichts hatte sich verändert.
Auch das Treiben auf der Strasse wiederholte sich im gewohnten Ablauf. Die Jbala-Bäuerinnen, die mit Bündeln und Körben beladen in die Stadt strömten, strebten im Gedränge der Schulkinder durch den Verkehr zu ihren Marktstandorten. Um die Hüfte trugen sie den rotweiss-gestreiften Wickelrock, über den Schultern ein Frottiertuch und auf dem Kopf den Strohhut mit Kordeln. Neben der Autoschlange tauchte auch schon der Minzehändler mit seiner beladenen Karriole auf. Von Zeit zu Zeit musste er anhalten, um zu verschnaufen.
»As-salam-u aleikum, gib mir einen Bund«, bat Tarik, als der Alte an ihm vorbeischlurfte. Er hatte nicht die Absicht, das Kraut zu verwenden, er wollte nur am Duft der frischen Erde riechen, der daran haftete, denn dieser erinnerte ihn an seine Kindheit in Bab Taza, einem Dorf inmitten sonnendurchfluteter Wälder voller Insektengesang im Gebirge von Chefchaouen.
Die Nase in der Pfefferminze verharrte er in Erinnerungen. Die Geräusche ringsum waren ihm so vertraut, dass er sie nicht mehr hörte. Erst die Knabenstimme Hichams, der von der Autowerkstatt seines Vaters herübergeschlendert kam, holte ihn in die Gegenwart zurück.
»Sbah el-kheir, mein Freund!«, sagte Hicham gutgelaunt und liess sich neben Tarik nieder. Wie üblich trug er seinen dünnen Blouson mit dem aufgedruckten Ferrari-Pferd und eine modische Haarrasur. »Spielen wir eine Partie?«, fragte er und hauchte sich in die klammen Finger.
Tarik wusste, dass das nur ein Vorwand war, um ihn festzunageln. Was sie beide verband, war unter anderem, dass Brettspiele sie langweilten. Aber ihre Unterhaltungen begannen stets mit einem Spiel, das dann im Lauf des Gesprächs unverrichteter Dinge liegen blieb.
»Heute nicht«, winkte Tarik ab, »ich muss weg.«
»Schade, ich hätte dir gerne etwas vorgelesen.«
»Lerne besser Englisch, statt Geschichten zu schreiben. Wen interessieren schon deine Liebesgeschichten? Wenn du eine Arbeit finden und eines Tages eine Familie gründen willst, musst du Fremdsprachen und ein Handwerk beherrschen«, entgegnete Tarik streng. Aber insgeheim lächelte er, denn er mochte den Jungen, gerade weil er Geschichten schrieb.
»Warum hast du eigentlich noch keine Familie?«, platzte Hicham heraus und erschrak über seine Frage, die ihm einfach so über die Lippen gerutscht war. Neugierig und bange zugleich schielte er zu Tarik hinüber, aber dieser saugte scheinbar ungerührt an seiner Zigarette.
Es ging einfach nicht in Hichams Kopf, dass einer wie Tarik Bousselham, der eine Stelle beim Staat hatte und der, hamdulillah, gesund und kräftig war, freiwillig auf eine Frau verzichtete, während er selbst Tag und Nacht an nichts anderes denken konnte. Würde er nicht wenigstens über die Mädchen schreiben, er würde glatt verrückt werden. Aber Hicham wusste, dass er nicht der Einzige war, der Tariks Lebensweise nicht begreifen konnte. Die meisten Leute im Quartier hielten den alleinstehenden Professor für einen Sonderling.
»Ich bin ein Sufi«, erwiderte Tarik, »ich brauche keine Frau, und ich verspüre auch keinen Drang, mich fortzupflanzen.«
»Ein Sufi raucht und trinkt aber nicht, du hingegen rauchst und einmal sah ich dich sogar betrunken«, wagte Hicham einzuwenden.
»Auch ein Sufi ist nur ein Mensch, Hicham«, belehrte ihn Tarik und blies den Rauch durch die Nasenlöcher, aus denen verfärbte Härchen wuchsen.
»Ich verstehe dich nicht! Du bist im besten Alter und hast einen guten Lohn, du könntest dir längst eine schöne junge Frau leisten.«
»Ich sag dir was, mein Freund: Bücher sind mir lieber als eine Frau. Frauen wollen Kinder, ein Auto, Schmuck und Möbel und sie machen viel zu viel Lärm. Ich brauche Ruhe, ich muss nachdenken.« Tariks Stimme verriet jetzt leisen Unmut. Er war nicht mehr länger gewillt, sich mit einem Grünschnabel über diese Angelegenheit, die weiss der Himmel keine einfache war, zu unterhalten. Als er Hicham einen strafenden Blick zuwarf, verstand dieser und biss sich auf die Zunge.
Eine Weile sassen sie wortlos nebeneinander. Die Sonne war gestiegen und streichelte ihre Wangen und Nasenspitzen. Tarik nahm abwechslungsweise einen Schluck Kaffee und einen Zug an der Zigarette und versuchte, sich auf die kommenden Tage einzustimmen. Heute Mittag würden die Teilnehmer der Konferenz eintreffen. Einerseits fürchtete er sich bei der Vorstellung, sie könnten ihm Zeit stehlen, anderseits brachten sie vielleicht ein wenig Abwechslung in sein Dasein. Bei diesem Gedanken spürte er eine flaue Welle im Bauch. Am Himmel wirbelte eine schwarze Wolke von Zugvögeln, stieg empor, verschwand im Licht, tauchte wieder auf und stürzte in einer eleganten Schlaufe in die Tiefe, um sich erneut aufzuschwingen; gerade so, als wollten die Vögel mit ihrer Flugschau das vollendete Zusammenspiel von Freiheit und Gemeinschaft vorführen.
»Wohin fliegen sie?«, fragte Hicham.
»Zum Berg Qāf«, murmelte Tarik. Er hatte sein Gesicht mit halb geschlossenen Augen der Sonne zugewandt und gab sich den tanzenden Punkten unter den Lidern hin.
»Berg Qāf?«
»Da, wo auch wir hingehen.«
»Unsereins kommt nirgendwohin.«
»Unsinn«, sagte Tarik, »du und ich, wir reisen im Geiste, ich lese und du schreibst, das ist die höchste Art zu reisen.« Er setzte sich gerade hin und streckte ächzend die Arme, dann zertrat er mit der Schuhspitze den Zigarettenstummel. Inzwischen war der Strassenverkehr abgeflaut. Auf dem Gehsteig breiteten einige Landfrauen Gemüse und Früchte auf leeren Mehlsäcken aus und kreierten bunte Augenweiden, die um die Aufmerksamkeit der herbeiströmenden Kundschaft buhlten.
»Ich muss mich beeilen, mein Freund, die Amerikaner kommen.« Tarik erhob sich und legte einen Augenblick die Hand auf Hichams Schulter: »Lies mir deine Geschichte vor, wenn ich wieder zurück bin, einverstanden?«
»Die Amerikaner kommen?«, wiederholte Hicham verdutzt.
Tarik legte das Minzenbündel vor ihn auf den Tisch: »Koch dir Tee, der wird dich aufwärmen«, dann hob er grinsend die Finger an die Schläfe und ging davon.
Kopfschüttelnd, aber nicht ohne Bewunderung schaute Hicham ihm nach.
Der Nymphensittich gab schrille Töne von sich, als Tarik seine Wohnungstür aufschloss. Mein Kind, dachte er und streifte den Vogel, dessen Käfig so klein war, dass er nicht einmal die Flügel ausbreiten konnte, mit einem zerstreuten Blick. Der Fussboden war von Kernschalen übersät. Seit Wochen wollte er ihn wischen und auch die Vogelscheisse im Käfig wegputzen, aber dauernd kam ihm etwas Wichtigeres dazwischen. Deshalb blieb der Schmutz liegen und vermehrte sich von Tag zu Tag. Im Kamin und den Wänden entlang stapelten sich turmhoch Bücher. Auf dem verstaubten Kaminsims standen ein taiwanesischer Christbaum und eine Glaskugel, in der ein blasser Goldfisch über einer Plastikpflanze seine erste und letzte Runde drehte. Der Salontisch lag unter Zeitungen, Zetteln und Zigarettenasche verborgen. Mittendrin ragte eine Messingfigur des tanzenden Shiva Nataraja hervor, die ein Rucksacktourist einst zum Dank für die Beherbergung dagelassen hatte. In den Küchenschränken, die Tarik schon lange nicht mehr geöffnet hatte, da er irgendwann aufgehört hatte zu kochen, obwohl er eigentlich ein guter Koch war, tummelten sich Spinnen, Silberfischchen und Küchenschaben. Im Schüttstein türmte sich schmutziges Geschirr, und der Kühlschrank war voller verdorbener Lebensmittel.
Tarik übersah das alles genau so geflissentlich wie die übrige Unordnung in seiner Behausung. Er hatte sich angewöhnt, während des Lesens auf dem Sofa (seinem Schlafplatz und Lieblingsort) gelegentlich einen hoffnungsvollen Blick an die Zimmerdecke zu werfen, wo eine aus einer Scheibe und sieben Stäben aus Holz kreierte Sonne hing. Denn die Sonne stand für sein eigentliches Ziel. Ja doch, er wusste, dass er in vollkommener Vernachlässigung lebte. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als eines Tages jenen viel beschriebenen Zustand innerer Ruhe und Gelassenheit zu erlangen, der ihm erlauben würde, mit einem Stück Brot, einigen Früchten und Wasser, kurz, mit dem Allernotwendigsten, was der Mensch zum Leben braucht, auszukommen. Dass er davon noch weit entfernt war, war ihm schmerzlich bewusst, es fiel ihm nicht leicht, der Welt des sinnlichen Genusses und des Besitzes ganz zu entsagen. Ihre Verlockungen bereiteten ihm ständig Qualen, und sein Widerstand entpuppte sich immer wieder als aussichtsloser Kampf mit lauter Niederlagen.
Tarik drehte in der Küche den Wasserhahn auf, netzte sein Gesicht und schäumte mit einem Stück Seife seine Wangen ein. Sorgfältig zog er die Klinge des Rasiermessers in Bahnen vom Hals bis unter die Augen, wobei der gesprenkelte Schaum auf das Geschirr im Spülbecken tropfte. Als seine Wangen glatt waren, trocknete er sie mit einem schmutzigen Lappen ab und betupfte sie mit After Shave. Nachdem er sich auch noch die Härchen gestutzt hatte, die wie kleine Drähte aus Nase und Brauen ragten, zog er die Kleider aus und wusch sich prustend Achselhöhlen und Füsse. Dann nahm er den Anzug, der an einem Nagel hing, klopfte den Staub ab und fischte aus einem Haufen Wäsche am Boden eine Krawatte, die er neulich von einem Strassenhändler in der Mellah erstanden hatte. Schliesslich trat er ans Fenster und hielt Ausschau nach Rachid. Sein Nachbar hockte wie erwartet im Hof auf einer Holzkiste und beobachtete gerade eine alte Frau, die an ihrem Stock schwerfällig über die Schlaglöcher im Boden humpelte.
»Rachid, hilfst du mir mal mit der Krawatte?«, rief Tarik ihm zu, trat ins Treppenhaus hinaus und zog die Wohnungstür hinter sich zu.
»Wir sollten die Unterschriften der Anwohner sammeln und den Kaïd auffordern, die Strasse zu asphaltieren«, schimpfte Rachid, als er die Treppe hochgestiegen kam.
Aber Tarik hielt ihm nur stumm die Schleife entgegen.
»Dreh dich um«, brummte Rachid und sprach nicht mehr weiter von seinem Anliegen. Er wusste, dass Tarik sich keinen Deut um die Strasse scherte. Sorgfältig legte er die beiden Enden der Krawatte übereinander, bildete eine Schlaufe und band sie zu einem lockeren Knoten.
»Danke.« Tarik reckte angewidert den Hals, als er den Knoten festzog.
»Gehst du auf Brautschau?«, fragte Rachid scheinheilig.
»Kümmere du dich um deine eigene Braut«, entgegnete Tarik, wohl wissend, dass Rachids Frau, eine nörgelnde Matrone, drei offene Mäuler hinter sich herzog und unablässig drohte und jammerte, weil kein Geld da war.
Rachid seufzte: »Manchmal denke ich, du bist der Klügste von uns allen, du weisst nicht, was dir erspart bleibt.«
»Ich ahne es«, erwiderte Tarik in einem Tonfall, der anzeigte, dass er die Unterhaltung für beendet hielt. Er drückte Rachid eine Münze in die Hand und schob ihn dem Ausgang zu.
Ein wenig verdrossen verabschiedete sich Rachid. Tarik, der den Annäherungsversuchen seines Nachbarn wieder einmal entkommen war, kehrte in seine Wohnung zurück, stellte sich nochmals vor den Spiegel und zog hastig den Kamm durchs Haar, während er in Gedanken bereits zum Taxistand eilte.
Das Flugzeug holte in einem grossen Bogen aus, bevor es in den Landeanflug überging. Von oben sah Madrid aus wie ein Perserteppich mit Ornamenten gebildet aus Swimmingpools, Fussballstadien, geometrisch angeordneten Häuserfluchten mit schneegepuderten Ziegeldächern und Vorgärten und vier Wolkenkratzern, die wie Totempfähle aufragten. Am Rand ging das Stadtbild in ein Patchwork aus verblichenen braunen Feldern über und endete in einem wie hineingenähten, sich verzweigenden Aderwerk aus Wasserläufen, die weiter draussen im Land versickerten.
Der Pilot machte die Durchsage, dass sie in fünfzehn Minuten landen würden, und bedankte sich für das Vertrauen in seine Fluggesellschaft. Während des Sinkflugs wurde die Maschine heftig geschüttelt. Chaya bemerkte, dass ihr käsigbleicher Sitznachbar ein Kruzifix zwischen die Fäuste presste; seine Knöchel traten weiss hervor und in seinem wulstigen Nacken bildeten sich Schweisstropfen.
»Stellen Sie sich vor, wir sitzen im Bauch eines Wals und schwimmen durchs Meer«, versuchte Chaya ihn aufzumuntern. Aber der Dicke bedachte sie nur mit einem verwirrten Blick aus den Augenwinkeln.
Bald darauf setzte die Maschine auf der Landebahn auf und brauste mit hochgestellten Landeklappen gegen die Luftmassen auf das regenbogenfarbige Flughafengebäude zu. Einige Passagiere klatschten erleichtert Beifall. Chaya suchte ihre Sachen zusammen und verstaute sie in der Handtasche, dann zog sie die Lippen nach und band ihr rotes Lockenhaar zu einem Pferdeschwanz. Schnell parfümierte sie noch das Handgelenk und atmete den Duft ein, während ihr Sitznachbar sich mit einem Taschentuch den Nacken trocken rieb. Er sah aus wie ein dicker Junge, der nach einem Hindernislauf als Letzter durchs Ziel keucht.
Wenig später quetschte sie sich mit den anderen Passagieren in den Verbindungszug zum Terminal. Jugendliche teilten sich die Kopfhörer eines MP3-Players. Auffallend viele Paare gaben sich verliebt. Vielleicht verstärkt das Fliegen menschliche Bindungen, überlegte Chaya. Hyperkontrolle, Luxus und Hightech kamen nicht an gegen die Unheimlichkeit des Himmels. Auf einmal fühlte sie sich allein. Mit Sergio war sie zwar schon in Florenz und einmal in Rom gewesen, aber Reisen waren ihm ein Gräuel. Deshalb musste meistens sie zu ihm fahren, wenn sie sich sehen wollten. Gewiss, ihre Fernbeziehung hatte Vorteile, aber in Momenten wie diesem sehnte sie sich nach einem Mann an ihrer Seite. Obwohl sie das Single-Dasein als ein Zustand optimaler Freiheit hielt, frei von der Abhängigkeit, die eine Mutterschaft erzwang, und frei vom Besitzanspruch eines Ehemanns, fühlte sie beim Anblick der Liebespaare einen Stich. Und die Argumente, in Wahrheit sei ohnehin jeder allein und die meisten Ehen und Partnerschaften hätten weniger mit Liebe als mit Zweckgemeinschaft zu tun, konnten nicht verhindern, dass sie sich wieder einmal leidtat. Erst als der Zug anhielt und sie im Gedränge über die Rolltreppe in den oberen Stock des Flughafengebäudes zur Passkontrolle befördert wurde, verflog die Wehmut.
Es war beim Anstehen vor der Passkontrolle, als Chaya Thelma zum ersten Mal bemerkte. Ihre hohe Gestalt ragte unübersehbar aus allen heraus. Obwohl die Frau ungeschminkt und unauffällig gekleidet war, musste Chaya sofort an einen Paradiesvogel denken, der sich unter unauffällig grauen Federn zu verstecken suchte. Minuten später entdeckte sie die schöne Unbekannte erneut am Gate des Flugs nach Tanger. Mit einer Lesebrille auf der Nasenspitze sass sie in einem Chrom-Stuhl, in ein Buch vertieft. Die milchige Wintersonne schien wärmend durch die hohe Glasfront. Eine Vielzahl von Kindern und Babys, von Frauen und Männer in Djellabas und Kaftans kündigten den Orient an. Chaya setzte sich absichtlich neben Thelma und beobachtete, wie draussen die Metallvögel über die Piste zur Startbahn rollten und abhoben. Nicht ins Leere, wie es schien, sondern in ein Meer aus Gaswolken und Staub.
»Verzeihen Sie«, hörte sie sich plötzlich sagen, »ich möchte Sie nicht unterbrechen, aber …«
Thelma hob den Kopf und blickte Chaya über den Rand der Lesebrille hinweg versonnen an. »Sprechen Sie mit mir?«, fragte sie mit einer überraschend dunklen Stimme.
»Ja«, sagte Chaya, »Ihr Buch …« Sie zeigte auf das Cover, auf dem ein blühender »Königin der Nacht«-Kaktus abgebildet war, in den ein Kolibri seinen Schnabel steckte. »Möglicherweise haben wir das gleiche Ziel.«
»Stopp Desertifikation?«, fragte Thelma und strich sich eine honigfarbene Haarsträhne hinters Ohr.
»Ja, stoppen wir die Wüsten!«
»Wunderbar, dann können wir in Tanger zusammen ein Taxi in die Stadt nehmen. Steigen Sie auch im Nejma ab?«
Chaya nickte. Nichts wies darauf hin, dass sich gerade etwas Besonderes ereignete, trotzdem spürte sie ihr Herz höherschlagen. »Ich war erst einmal in Tanger, da war ich sieben Jahre alt. Das ist schon eine Weile her, wie man sieht«, erklärte Chaya lächelnd, »damals kursierten wilde Gerüchte über die Stadt. Ich habe keine Ahnung, wie das heute ist. Jedenfalls bin ich froh, wenn ich die ersten Schritte nicht allein machen muss.«
»Mir geht es ähnlich, ich fliege auch erst zum zweiten Mal hin.« Thelma stockte und fuhr fort: »Diesmal reise ich allein. Aber ich habe nichts dagegen, wenn sich das ändert!« Mit einem breiten Lächeln, das makellose Zähne entblösste, streckte sie Chaya eine schmale Hand mit kurzen Fingernägeln hin: »Thelma Guiberman aus Arizona. Ich bin Botanikerin, Sukkulentenspezialistin. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ah, Sie sind Thelma Guiberman«, gab Chaya zurück, »ich erinnere mich, Ihren Namen auf der Teilnehmerliste gesehen zu haben. Ich bin Chaya Klein aus der Schweiz.«
»Oh ja, Ihr Name ist mir auch noch im Kopf. Sind Sie nicht Ornithologin?«
»Ja, auf Zugvögel spezialisiert.«
»Von den Vögeln lernen wir, dass wir uns entwurzeln müssen«, seufzte Thelma, klappte ihr Buch zu und steckte es in die Reisetasche neben ihren Füssen.
»Ein poetischer Gedanke. Als Zoologin bin ich es gewöhnt, die Vögel als Teil des Ökosystems zu betrachten. Leider fehlt mir Zeit und Musse, sie auch unter anderen Aspekten zu studieren.«
»Es lohnt immer, die Dinge und Ereignisse durch fremde Brillen zu betrachten. Oft überraschend, was dabei herauskommt.«
Chaya blickte Thelma erstaunt an und schwieg. Am Gate Desktop begannen zwei Flughafen-Beamte die Tickets der Fluggäste zu kontrollieren. Thelma erhob sich.
»Kommen Sie? Wir können einsteigen«, sagte sie munter.
»Sie müssen müde sein von der langen Reise.«
»Es geht, ich habe im Flugzeug ein paar Stunden geschlafen, doch taufrisch bin ich nicht.« Thelma liess ihren Blick umherschweifen, um ihn zwischendurch kurz auf Chaya ruhen zu lassen. »Eher aufgekratzt. Adrenalin!«, setzte sie verschmitzt hinzu.
Im Flugzeug zog sie ihren Seidenschal vom Hals und entblösste auf ihrem Decolleté ein ungewöhnliches Schmuckstück: einen Schmetterling aus Porzellan, dessen winziger Thorax einen Frauenkörper darstellte. »Mein Talisman«, erklärte sie, als sie Chayas neugierigen Blick wahrnahm, »ich trage ihn, wenn ich länger unterwegs bin.«
»Zauberhaft«, bemerkte Chaya. Gerne hätte sie Thelma gefragt, ob sie tatsächlich an die Wirkung eines Talismans glaubte, doch sie wollte ihr nicht zu nahe treten und unterliess es. »Möge er Sie stets behüten«, erwiderte sie deshalb nur.
Als ob Thelma ihren Gedanken erraten hätte, fuhr sie fort: »Vor einigen Jahren habe ich das Schmuckstück in Sedona einer Indianerin abgekauft. Sie behauptete, der Talisman beschütze reisende Frauen. Seither trage ich ihn unterwegs immer, obwohl ich Halsketten eigentlich nicht mag. Aber ich bin mit dem Ding in guter Gesellschaft. Sogar Niels Bohr, der Physik-Nobelpreisträger, der die bedeutende Rolle des Zufalls im Reich der Atome erkannt hat, besass über seiner Tür ein Hufeisen. Darauf angesprochen, soll er geantwortet haben: ›Ein Talisman wirkt auch, wenn man nicht daran glaubt!‹« Sie lachte vergnügt.
Es heisst, Tanger sei wie ein Spiegel: Wer sich darin erblickt und nicht aushält, was er sieht, muss unverzüglich abreisen. Wer es aber schafft zu ertragen, was der Spiegel ihm zeigt, der muss immer wieder zurückkehren, den lässt die Stadt nicht mehr los.
Auf dem Flugplatz von Tanger blies ein scharfer Wind. Gemeinsam mit den anderen Passagieren kämpften Chaya und Thelma sich gegen die Böen auf das Flughafengebäude zu. Die Palmen und Sträucher, die den Flugplatz säumten, rauschten im Azurblau des Himmels, der nur so sprühte vor Licht. Chaya atmete die feuchte Luft tief ein. Es roch nach Salz, Erde und Gras.
In einem Mercedes-Taxi aus den Siebzigern fuhren sie dann an Blumenfeldern vorbei, auf denen Schafe und Ziegen weideten. Mitten im Verkehr aus meist fabrikneuen Autos trabte ein Maultier, das einen Mann mit Kapuze im Damensitz trug. Ein Motorrad preschte vorbei, in dessen Anhänger Frauen und Kinder kauerten. Bald kündigten zunehmend dichtere Überbauungen die Stadt an, viele davon standen noch im Rohzustand auf Erdhügeln. Gigantische leerstehende Mehrfamilienhäuser- und Villen-Anlagen, wohin das Auge reichte, deuteten auf eine bevorstehende Ansiedlung Tausender und Abertausender von Zuzügern hin. Vorerst zog der Wind noch durch viele kahle Wände, und es machte den Anschein, als ob manches Gebäude unbewohnt zerfallen würde.
Aus dem Lautsprecher des Kassettenrecorders im Taxi ertönte eine Knabenstimme, die in wunderlichem Singsang Verse skandierte. Sie schien den Fahrer mit Ruhe zu erfüllen, er lenkte den Wagen gelassen durch das Verkehrschaos, als ob nichts ihn aus der Bahn werfen könnte.
Im Stadtinnern herrschte reges Treiben. Der Verkehr rollte nur noch zähflüssig voran. Zwischen den Autos trillerte ein stattlicher Polizist herrisch auf seiner Pfeife, ohne dass jemand Notiz von ihm nahm.
Schliesslich kam das Taxi vor einem mehrstöckigen Gebäude mit gelben Fensterläden in einer ruhigen Strasse zum Stehen.
»Hotel Nejma«, brummte der Chauffeur und zeigte auf den Eingang, vor dem ein Marokkaner mit Pumphosen und Fes seine Füsse vertrat. Chaya und Thelma kletterten aus dem Wagen. Als Erstes fiel ihnen das Schaufenster eines Souvenir-Ladens auf, in dem ein Arsenal an Schätzen aus Tausendundeiner Nacht seit einer Ewigkeit auf Käufer zu warten schien; nebenan strömte eine heisse Dampfwolke aus einer Wäscherei. Es folgte ein Restaurant, auf dessen Eingangstür jemand von Hand einen Fisch gemalt und Bodega Espagnola geschrieben hatte. Aus einem Schulhof hinter hohen Mauern drang das Geschrei von Jugendlichen, die Ball spielten.
»Marhaba, mes dames, soyez les bienvenues.« Mit diesem Willkommensgruss hielt der Portier den Ankömmlingen die Tür auf und rief nach dem Gepäckträger. Doch Thelma winkte ab, sie wollte ihren Koffer eigenhändig über die Schwelle befördern. »Symbolisch!«, erklärte sie und zwinkerte Chaya zu. Obwohl diese nicht verstand, was sie meinte, tat sie es ihr nach. »Da sind wir«, rief Thelma, und mit einem Seufzer stellten sie ihr Gepäck ab.
Eine weitläufige Halle tat sich vor ihnen auf. Auf abgenutzten Sofas und Fauteuils, die einem Möbelkatalog aus den Fünfzigern entsprungen schienen, sassen Hotelgäste in ihr Smartphone, Notebook, eine Zeitung oder in leise Gespräche vertieft. Neben einer Bar aus Spiegelglas lief in einem Grossbildfernseher eine National Geography-Reportage über Erdmännchen in der Kalahari Wüste. Niemand schaute hin. Vor der Rezeption warteten einige Gäste. Thelma nahm den Koffer wieder auf, um sich ihnen anzuschliessen, als sich aus einem der Sofas am anderen Ende der Halle ein Mann mit aprikosenfarbenem Haar erhob und auf sie zueilte.
»Thelma!«
»Oh, Jeremy«, sagte Thelma. Chaya bemerkte, dass ihre Stimme den Ton wechselte. »Gerade angekommen«, setzte sie hinzu, während sie sich umarmen liess.
»Endlich«, erwiderte der Rothaarige, »weisst du, wie lange ich schon auf dich warte?«
»Ich habe dir gesagt, dass du nicht auf mich warten sollst«, entgegnete Thelma ungerührt. Dann wies sie auf Chaya: »Darf ich euch bekanntmachen? Chaya Klein, Ornithologin aus der Schweiz – Jeremy O’Connor, Verleger von wissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften aus San Francisco.«
»Willkommen in Tanger«, erwiderte Jeremy O’Connor galant.
»Danke, es ist aufregend.«
In der Art, wie er sie ansah, registrierte Chaya diese vermeintliche Vertrautheit, die ihr rotes Haar bewirkte. Sie kannte das.
»Ornithologin? Dann müssen Sie in der Kunst des Fliegens bewandert sein. Sie werden uns hoffentlich in diese Kunst einführen. Wann halten Sie Ihren Vortrag?«
»Sie sehen nicht aus, als ob Sie auf dem Gebiet unerfahren wären«, erwiderte Chaya, ohne eine Miene zu verziehen.
Thelma war inzwischen an die Rezeption gegangen.
»Ich möchte Chayas Vortrag mit dir zusammen anhören. Thelma, hast du gehört?«, rief er ihr nach.
Aber Thelma hörte ihn nicht oder wollte ihn nicht hören. Sie stand in der Schlange vor dem Empfang und unterhielt sich mit einer Inderin in einem giftgrünen Sari, die von ihrer Aktentasche, die sie über der rechten Schulter trug, schier erdrückt zu werden schien.
Jeremy äusserte einen Laut voller Resignation. »Bis später dann.« Er deutete eine Verbeugung an und machte kehrt.
Es stellte sich heraus, dass Chayas und Thelmas Zimmer im gleichen Flur im dritten Stock lagen.
»Wunderbar«, sagte Thelma, »lassen Sie uns nun den Gepäckträger rufen!« Sie winkte einem dürren Männchen in museumsreifer Blaskapellen-Uniform, das neben einem klapprigen Fahrgestell bei der Eingangstür auf seinen Einsatz wartete. »Diese Schlüsselanhänger sind viel zu schwer, finden Sie nicht auch?«, wandte sie sich wieder an Chaya, »so etwas gibt’s bei uns nicht mehr.«
»Bestimmt ein Relikt aus der Kolonialzeit.« Chaya liess die grosse Kugel am Zeigefinger baumeln. »Ich fühle mich auch schwer, ich glaube, ich lege mich noch einen Augenblick hin, bevor es losgeht.«
»Es bleiben Ihnen genau zwei Stunden«, erwiderte Thelma, die es kaum erwarten konnte, sich ins Getümmel zu stürzen. »Ach, lassen wir doch das formelle Siezen, ich bin Thelma.« Erneut streckte sie Chaya ihre offene Handfläche mit den vielen kleinen Fältchen hin.
»Ist mir ein Vergnügen«, lachte Chaya und legte ihre Hand in jene von Thelma.
Um drei Uhr nachmittags wurde die Konferenz eröffnet. Als Chaya aus dem Lift trat, der sie nach der Ruhepause ratternd ins Parterre gefahren hatte, war die Hotelhalle bereits gestossen voll. Durch die gelben Fensterscheiben schien warmes Licht auf die Dampfschwaden, die sich über den Köpfen der Anwesenden schlängelten. Spezialisten aus aller Welt hatten sich eingefunden, um sich über Themen der Wüstenausbreitung auszutauschen. Geologen, Geographen, Meteorologen und Biologen waren am zahlreichsten vertreten, aber auch Musiker und Schauspieler fehlten nicht. Letztere zum Zweck, Erstere an den Abenden zu unterhalten. Das Küchenteam hatte ein Buffet aufgebaut, das sich mitten durch den Saal zog. Mandel-Honig-Kuchen, Briouats, Süssigkeiten aus Krokant, Gasellenhörnchen und Dattelkonfekt spiegelten sich in Silbertabletts, und auf Porzellantellern dufteten B’stillas mit Zimt und Puderzucker und in Öl gebackene Krapfen. Die süsse Schwere des orientalischen Gebäcks vermengte sich mit den Düften von Pfefferminze, Kaffee und unterschiedlichsten Parfums der anwesenden Damen sowie mit beissendem Javelgeruch, der von der Treppe ausging.
Im Foyer händigten Studenten der Essaâdi Universität jedem Kongressteilnehmer ein Namensschild aus, auf dem zusätzlich der Name der Wüste stand, über die referiert wurde. Thelma heftete sich gerade die Aufschrift »Sonora« an die Brust, als Chaya auf sie zutrat. »Willkommen in Tanger. Gut geruht?«, fragte sie und reichte ihr lächelnd das Namensschild, auf dem »Sahara-Sahel« zu lesen war.
»Vor Aufregung konnte ich kein Auge zutun«, antwortete Chaya und steckte sich ihr Schild an.
Ein Afrikaner, dessen Gesichtszüge in seiner Schwärze kaum erkennbar waren, war mit Namib Desert angeschrieben. Eine Mongolin mit Schildpattbrille trug die Bezeichnung Gobi, ein Ecuadorianer Atacama und ein Bulgare Antarktis. Rund sechzig Anwesende aus verschiedenen Ländern versammelten sich als Repräsentanten der Wüsten Death Valley, Negev, Sturt, Patagonien, Karakum, Kysylkum, Arabien, Nazca, Navaja, Mojave, Sechurra, Kalahari, Simpson, Danakil, Tanami, Changtang, Sahara, Salzwüste und anderen mehr. Überdies waren Spezialisten der Fachgebiete Ökologie, Umwelttechnologie sowie Tourismus vertreten.
Der Portier öffnete die Eingangstür, um vier Männer eintreten zu lassen, die zielstrebig auf Jounes Elidrissi, den Hauptinitianten der Tagung, zugingen. Elidrissi, ein bleichgesichtiger Mensch mit einer öligen Strähne über der Glatze, stand in Beobachterposition neben Chaya und Thelma am Ende des Informationstischs. Chaya beobachtete, wie die Männer sich formell küssten und umarmten.
Einer von ihnen war Tarik Bousselham. Nach einer flüchtigen Inspektion des Saals beschloss er, gar nicht erst nach »seinen« Amerikanern zu suchen. Man würde sich schon finden. Im Grunde war es ihm zuwider, sich um die beiden zu kümmern. Er hatte nur zugesagt, um Ärger zu vermeiden, Elidrissis Bitte abzuschlagen wäre einem Affront gleichgekommen. Ausserdem hegte Tarik den Verdacht, dass Elidrissi, der nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass er sein Einzelgängertum missbilligte, ihn unter die Leute bringen wollte. Tarik presste unwillkürlich die Lippen zusammen. Soll er nur, dachte er, ich bin geeicht. Als er eine Zigarette aus der Westentasche klaubte, fiel die Ledermappe, die er unter den Arm geklemmt hatte, zu Boden. Chaya hob sie auf und reichte sie ihm.
»Danke«, murmelte er, ohne aufzusehen.
Chayas Automatismus, alles und jede und jeden sofort einzuordnen, kam einen Moment ins Stocken. Sie war unsicher, ob es sich bei dem Mann um einen vorzeitig gealterten Jungen oder einen jugendlichen Alten handelte. Aber der Gedanke streifte ihr Bewusstsein nur oberflächlich und war vergessen, ehe sie sich abgewandt hatte.
»Hast du Jeremy gesehen?«, fragte Thelma, die suchend den Blick über die Köpfe schweifen liess.
Chaya entdeckte ihn halb verborgen hinter einer Säule, wo er sich mit zwei Damen unterhielt. »Dort steht er. Möchtest du zu ihm?«
»Nein. Lass uns lieber irgendwo hinsitzen«, antwortete Thelma.
Durch die Art déco Glastür konnte man in den Garten sehen, in dem ein kahles Betonbecken lag, umgeben von Agaven mit vernarbten Gravuren. Zwei Zimmermädchen in Hauben und Schürzen mit je einem Stapel Frottiertücher liefen über die Steinplatten. Sogar der Rasen mit seinen ausgetrockneten Flecken wirkte auf theatralische Weise unmodern und antiquiert.
Chaya war Thelma zu einem der Sofas gefolgt. Kaum hatten sie sich gesetzt, tauchte Jeremy auf. Jeremy O’Connor war eine interessante Erscheinung. Seine blasse Haut mit den Sommersprossen, der schräge Bauch und der Mund mit der zu kurzen Oberlippe, die sich selten über den unregelmässigen Zähnen schloss, irritierten zunächst. Doch sein Blick, der die Melancholie des Rastlosen offenbarte, und das angenehme Timbre seiner Stimme machten ihn attraktiv.
»Da seid ihr ja«, rief er, »Frau Dr. Thar hat mich eben belehrt, dass die Sahara neun Millionen Quadratkilometer gross ist, grösser als der gesamte Nordamerikanische Kontinent. Wusstest du das, Thelma?«
»Ach, Jeremy«, seufzte sie.
»Entschuldige, meine Liebe«, lachte er und sein Zahnfleisch wurde sichtbar. »Sag mal, wo bleibt eigentlich der Eingeborene, der uns die Stadt zeigen soll?«
»Eingeborener«, wiederholte Thelma vorwurfsvoll.
»Stimmt doch!«
Thelma erwiderte nichts mehr und schaute weg.
»Am besten fragen wir Idrissi, er wird wissen, wo er steckt.«
»Nein, lass. Ich hab sowieso keine Lust, wie ein Schaf herumgeführt zu werden. Ich möchte lieber auf eigene Faust losziehen und zusehen, was sich ergibt. Okay? Wir brauchen niemanden, der uns die Geschichte historischer Plätze herunterbetet«, entgegnete Thelma rasch, »wir brauchen keinen Stadtführer.«
»Da bin ich anderer Meinung. Er kann uns bestimmt etwas zeigen, wo man als normaler Tourist nicht ohne Weiteres hinkommt.«
»Wenn du meinst«, lenkte Thelma ein, »aber wenn er anfängt, mich zu langweilen, setze ich mich ab.«
»Natürlich, meine Liebe, daran zweifle ich keinen Augenblick.«
Chaya, die der Unterhaltung nur mit halbem Ohr zuhörte, betrachtete Jeremy. Sein Mund faszinierte sie. Er erinnerte an eine Bühne, über der sich der Vorhang nicht ganz schloss, so dass etwas zum Vorschein kam, was hätte verborgen bleiben sollen.
»Darf ich mich euch anschliessen?«, unterbrach sie die beiden.
»Davon bin ich ausgegangen, Chaya«, sagte Thelma.
»Du darfst nicht, du musst, ohne dich gehen wir gar nicht«, doppelte Jeremy galant nach und warf einen Blick auf die Uhr, »es ist schon ziemlich spät, meine Schönen. Wartet einen Augenblick!« Er stand auf und kämpfte sich erneut durch die Leute, die mit Tassen und Gebäck beladen die Halle belagerten.
Kurz darauf kehrte er in Begleitung von Tarik Bousselham zurück. Chaya erkannte ihn wieder. Obwohl Jeremy von Natur aus blass war, wirkte Tariks dunkler Teint neben ihm fahl. Ein merkwürdiger Mensch, dachte sie. Sein Anzug sass schlecht und die lila Krawatte beleidigte das Auge. Seine grau melierten schwarzen Locken standen in alle Richtungen und verlangten nach einer Coiffeurschere.
»Darf ich vorstellen: Tarik Bousselham von der Universität Essaâdi. Thelma Guiberman aus Phoenix – Kakteen-Spezialistin – und Chaya Klein, Zoologin aus der Schweiz.«
»Chaya?«, wiederholte Tarik, »ein arabischer Name.«
Chaya schüttelte den Kopf: »Ein hebräischer Name.«
»Nun, er hat dieselbe aramäische Wurzel: Chaya bedeutet Leben.«
»Ich bin Ornithologin«, fuhr Chaya rasch fort.
»Sie interessieren sich für Vögel?« Tarik schaute sie zurückhaltend an. Es fiel ihm auf, dass das Licht durch ihre Haut schimmerte. Und er musste an seine Tauchgänge im Meer denken, wo Sonne und Himmel verschwommen durch die Wasserdecke leuchteten. Ihr karottenfarbenes Haar, das sie im Nacken gebändigt trug, erinnerte ihn an den Hennabrei, mit dem sich seine Mutter Haare, Fingerbeeren und Füsse färbte. Wie sehr er dessen Geruch verabscheut hatte! Allerdings schien Chayas Haarfarbe echt zu sein, er erkannte es am Flaum ihres Haaransatzes und an ihren albinobleichen Brauen. »In der Dichtung der Sufi spielt der Vogel eine entscheidende Rolle«, fuhr er fort, während er einen Finger knetete.
»Sie auch?«, erwiderte Chaya erstaunt.
Doch bevor er fragen konnte, was sie meinte, richtete Thelma sich an ihn: »Sufi sind Mystiker, nicht wahr? Mystik interessiert mich sehr, obwohl die Naturwissenschaften ihr den Garaus machen wollen.«
Thelma konnte nicht ahnen, dass sie Tarik mit ihren Worten eine Art Rettungsring zugeworfen hatte. Dankbar ergriff er das Thema, das Dozieren half ihm, seine Verlegenheit zu verbergen: »Ja, genau. Sufismus ist die spirituelle Bewegung im Islam. Es geht um die persönliche Erfahrung mit dem Göttlichen. Deshalb hat diese Bewegung etwas Modernes oder vielmehr Zeitloses. Sie haben ganz Recht, Mystik und Naturwissenschaft spalten die Menschheit immer deutlicher in zwei Teile. Während die einen die Transzendenz verteidigen, fixieren die anderen die Materie. Was beide Seiten leider oft verkennen ist, dass es zwei unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen sind. Meiner Meinung nach sollte die eine die andere nicht ausschliessen. Denn sehen Sie, der Westen hat die Spiritualität dem Materialismus geopfert, während der Orient vor lauter Spiritualität den Anschluss an die Moderne verpasst hat und deshalb heute ausserhalb der Geschichte steht.« Tarik verstummte und richtete umständlich seine Manschetten an den Hemdsärmeln.
»Mich stört das Entweder-Oder. Ich meine, es könnte sein, dass es noch etwas Drittes gibt, nicht wahr?«, gab Thelma zurück.
Thelmas und Tariks Augenpaare lagen etwa auf gleicher Höhe. Sie hatte einen sonnengebräunten Teint und blondes Haar, er war bronzefarben, sein Haar grau meliert mit dunklen Locken. Chaya betrachtete die beiden. Da standen sie inmitten der schwatzenden Leute im stickigen Hotel Foyer, begegneten sich zum ersten Mal und erörterten gleich das schwierigste Thema der Welt.
Ihr ratloser Blick fiel auf Jeremy, der ihr gegenüber stand und einen Stadtplan studierte. Er schaute auf und sagte lächelnd: »This is Tangier, welcome to the Magic City! Das ist erst der Anfang.«
»Es ist denkbar, dass zwischen Geist und Materie noch etwas existiert, das bisher nicht erfasst wurde«, redete Tarik weiter, »vielleicht so etwas wie die Dunkle Materie, mit deren Annahme die Physiker gewisse Gravitationseffekte zwischen Himmelskörpern erklären.«
Er vermied es, Thelma in die Augen zu schauen.
»Halten Sie es für möglich, dass das Konzept der Dunklen Materie auch spirituelle Phänomene erhellen könnte?«, fragte Thelma selbstvergessen zurück, während sie mit den Fingern lasziv ihr feines hellgoldenes Haar kämmte.