aus dem Französischen von
Yla M. von Dach
Originaltitel: Le Tapis de course, 2013
© Editions Zoé, CH-1227 Carouge-Genève
www.editionszoe.ch
Wir danken der Oertli-Stiftung und Pro Helvetia für die Unterstützung.
www.diebrotsuppe.ch
ISBN ebook 978-3-905689-94-5
Alle Rechte vorbehalten
© 2017, verlag die brotsuppe, Biel/Bienne
Übersetzung: Yla M. von Dach, Biel/Bienne
Umschlag, Gestaltung, Satz: Ursi Anna Aeschbacher, Biel
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Notes
Der Autor
Die Übersetzerin
Um ein Haar hätte ich ihm die Faust ins Gesicht geschlagen. Mein Arm spannte sich, wurde stocksteif. Der junge Mann vor mir hatte ein weisses Gesicht und schwarze Haare, deren Strähnen in alle Richtungen wegstanden. Nie hat mich jemand als armes Schwein tituliert. Ich stellte mir meine Faust vor, die sich wie ein Sporn ins Fleisch dieser lässigen parfümierten Visage bohrte, wobei ich wusste, dass ich nicht zuschlagen würde. Ihn beschimpfen, ihn bedrohen, ja, das hätte ich gekonnt, das weiss ich, ich finde mühelos Spitznamen, um meine Mitmenschen zu verletzen, um einen Menschen auf einen Ekelnamen zu reduzieren, der ihm an den Schläfen und am Hintern kleben wird.
Dem jungen Mann gegenüber blieb ich mit dem Mund auf Halbmast stehen.
Hilflos machte mich, dass in seiner Beleidigung keinerlei Feindseligkeit mitschwang. Er hat mich mit einer glatten, neutralen Stimme als armes Schwein tituliert, mit einer Stimme, die durch keinerlei Bissigkeit aufgeputscht war. Was der junge Mann sagte, kam einer Feststellung gleich, im selben Tonfall ausgesprochen, wie wenn er zum Beispiel einen Kunden darüber hätte informieren wollen, dass der Laden um zwanzig Uhr schliesse oder dass ein Geldstück aus meinem Portemonnaie gefallen sei. Der Satz hatte die Klarheit einer Beglaubigung, etwas, das man akzeptierte, wie man akzeptiert, dass eine Rose Dornen hat, oder dass das Gras nicht blau ist. Dieses Armes Schwein hatte die Brutalität einer unumstösslichen Tatsache.
Was mich betrifft, wenn ich in den Supermarkt gehe, dann tu ich das nicht als Statist, sondern um die Vorratskammer aufzufüllen, um Reserven anzulegen für zwei oder drei Wochen, ein mit Schwergewichtigem vollgepackter Einkaufswagen. An der Ladenkasse hatte ich zwei Kunden vor und zwei hinter mir. Der Caddie war randvoll beladen. Ich hatte nicht darauf geachtet, was der junge Mann sagte, als er sich durch die Warteschlange nach vorn drängte, ich hatte ihn kaum bemerkt. Er schlängelte sich bis auf meine Höhe durch, zeigte mir den Liter Orangensaft und sagte: Erlauben Sie? Er hatte bereits zwei Plätze gewonnen, wollte noch zwei dazugewinnen. Ich habe ihn aufmerksam gemustert, dann habe ich den Zwischenraum abgeriegelt. Mit dem ganzen Körper. Ich hätte es auch nicht tun können. Wie oft habe ich meinen Platz einem älteren Menschen überlassen oder einer jungen Mutter mit nur zwei, drei Kleinigkeiten in ihrem Korb. Dieses Mal habe ich den Durchgang versperrt, instinktiv, und genau in diesem Moment ertönte dieses Armes Schwein. Wenn in der Stimme des jungen Mannes irgend etwas gewesen wäre, nicht Hass, bloss der kleinste Anflug von Wut, ein Fäserchen Rage oder Rachlust, dann hätte ihm niemand die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Doch so, mit diesem friedlichen Tonfall, dieser liebenswürdigen Ungezwungenheit, positionierte er sich in einem anderen Raum, in einer Sphäre, die einen entwaffnet und zu Boden wirft. Die Kassiererin, die Kunden, alle, die es wie ich gehört hatten, gaben dem jungen Mann Recht. Es war müssig, antworten oder argumentieren zu wollen, müssig, an ein Abwehrmanöver zu denken. Der junge Mann hatte ein unwiderrufliches Urteil gefällt: Ich war ein armes Schwein.
Als ich an die Reihe kam, lud ich meine Einkäufe aufs Band, füllte recht und schlecht meine drei Einkaufstaschen und bezahlte. Ich habe es geschafft, mich durchzulavieren, das heisst, von meinen Gefühlen nichts durchblicken zu lassen. Ich ging zum Parkplatz, stiess meinen Caddie vor mir her wie ein freier Mann, der sich um die ganze Welt foutiert. Doch kaum hatte ich das Auto angelassen, mit Blick auf das bei jeder Kurve an seinem Metallkettchen schaukelnde Foto, auf dem die ganze Familie sich gerade einen Grimassenwettkampf liefert, habe ich begriffen, dass es zu spät war. Ich hätte ihm das Mundwerk stopfen sollen.
Am Abend nicht selten, am Wochenende immer, beginne ich, sobald ich kann, allein mit mir selbst, die Lektüre. In gewissen Nächten ebenfalls. Im schwarzen Sessel in meinem Büro sitzend, in das niemand kommt, eine Thermosflasche mit Kaffee griffbereit, eine Karaffe Wasser in Reichweite, trichtere ich mir Hunderte von Seiten ein, so viele wie möglich, so schnell wie möglich, systematisch, klar, sauge ich den Sätzen das Blut aus, quetsche aus den Absätzen die Substanz heraus, verschlinge sie wie andere sich mit Fasern vollstopfen. Ich höre die Wörter in die Fallgrube meines Kopfes stürzen, tonnenweise Wörter, die sich am Grund meines Wesens türmen, Sätze, die in meinem Fleisch zu Fall kommen, meinen Sturmangriffen erliegen. Ich lese, ohne schwach zu werden. Ich schaffe die Bewegung. Hin und Her. Neue Zeile. Neue Seite. Ich meistere die Strukturen, die Verfahren, erkenne die Nahtstellen, die Verbindungsstücke, die Mängel, das leicht Hingeworfene, ich begutachte das Gerüst, die Erfindungsgabe, die Neuheit, ich taxiere den Text wie ein Holzfäller seinen Schlag, ein Züchter sein Vieh. Es kommt vor, dass ich mich überraschen, mich von der einen oder anderen Geschichte mitreissen lasse, dann schrecke ich hoch, schnell fasse ich mich wieder, mache mir diesen Augenblick der Schwäche zum Vorwurf. Dann lasse ich die Bücher liegen, ich trage sie auf den Dachboden, wie man Scheiter auf den Scheiterhaufen trägt, Müll auf die Müllkippe, und ich weiss, dass ich morgen wieder damit anfangen werde, noch schlimmer, unermüdlich. Ich lese wie andere ihr Geld zählen, an ihren Wunden kratzen. Die Bücher werden geschrieben, um gelesen zu werden. Das ist ihr Schicksal. Und ich bin wohl dazu geboren, die grösstmögliche Anzahl zu lesen. Ich errichte meine Zitadelle, und das verleiht mir Macht und Einfluss in der Zentralbibliothek.
Von Zeit zu Zeit – oh Wunder! – wird mir eine Offenbarung zuteil. Wie durch Zauberhand finde ich das Goldklümpchen, den Ausdruck, der mich fesselt, nicht mehr loslässt, ein paar Worte, die aus dieser ungeheuren unendlichen Wortwoge zu retten sind, ein, zwei Sätze, die mich vom Schmerz erlösen und die ich sogleich meinem Kleinen privaten Pantheon einverleibe. Gestern Abend zum Beispiel habe ich dieses Juwel erhascht: »Seinen Nächsten zu lieben, ist etwas Unvorstellbares. Verlangt man denn von einem Virus, dass er einen anderen liebt?« (1) Doch für ein Ergebnis, und sei es ungewiss, ist das pausenlose, methodische, gewissenhafte Abholzen, dem ich mich seit meinem ersten Arbeitstag vor jetzt einundzwanzig Jahren unterziehe, eine unbedingte Notwendigkeit.
Meine Frau ist nicht schön. Neunzehn Jahre leben wir schon zusammen. Mehr oder weniger überall in der Stadt schlägt man Plakate an, auf denen Frauen mit perfekten Kurven zur Schau gestellt werden, vor Schönheit aufreibende Frauen. Auf die Strasse gehe ich möglichst nicht. Ginge ich mehr aus, würde ich das Risiko erhöhen, einer dieser Frauen über den Weg zu laufen, doch ich mag die Grossstadt nicht, ich schere mich einen Dreck darum, irgendwen anzutreffen. Wir wohnen weit weg von der Zentralbibliothek, in einem Eigenheimviertel, kleine Einfamilienhäuser in Ocker-, Vanille- oder Brauntönen mit einem gemeinsamen Pool. Ideal für die Kinder. Ich weiss nicht, ob diese Häuser einen ästhetischen Wert besitzen. Ich glaube nicht. Meine Frau hat gesagt, das Haus sei funktionell. Sie kam und ging von einem Zimmer ins andere, sie lief kreuz und quer herum, öffnete die Schränke, krempelte ihre Hosen hoch, zog Schubladen auf und wiederholte in alle Richtungen ihr fonctionnelle, als wäre es das kraftvollste Wort der französischen Sprache, das unanfechtbarste, das zuallererst an mich zu richten sie sich schuldig war, wenn sie jeden Widerspruch meinerseits verhindern wollte. Doch das alles war mir vollkommen egal. Warum hätte ich hier weniger gerne wohnen sollen als dort? Wir haben das Haus gekauft, ein guter Kauf, und sind seit siebzehn Jahren hier, zuerst sie und ich, dann die beiden Jungs Grégoire und Gustave. Je grösser sie werden, desto mehr gleichen die beiden ihrer Mutter. Wenn ich sie anschaue, sehe ich sie. Anfänglich brachte mich das zum Lachen, doch diese Ähnlichkeit, das muss man zugeben, ist kein Geschenk. Eines Tages habe ich auf einer Café-Terrasse diesen Satz gehört: »Vielleicht gibt es nur eine Art, schön zu sein, doch es gibt tausend Arten, Charme zu haben«, eine Dummeputenstimme, Teeniestimme von einer, die sich schon als Schlagerstar sah. Hatten die jungen Mädchen, die sich da unterhielten, Charme? Ich weiss es nicht mehr. Sie waren jung, und in der Frische ihrer Stimmen lag eine sorglose Ungeniertheit, die mich nervte, wie das nervt, was sich uns immer entziehen wird. Aus Prinzip setze ich mich nie auf eine Terrasse, ausser ich habe eine berufliche Verabredung oder wenn meine Frau darauf besteht. Es war der Direktor der Zentralbibliothek, die meine Bibliothek werden sollte, er hatte mich auf einer Café-Terrasse treffen wollen. Es ging natürlich nicht an, dass ich den Treffpunkt mit meinem möglichen Direktor in Frage stellte, obwohl der einzige Ort, um über ein berufliches Engagement zu sprechen, mir ein Büro zu sein schien (und immer noch zu sein scheint), ein geschlossener, vor Neugierigen geschützter Ort. Ich war jung, ich hatte Prinzipien, und die meisten dieser Prinzipien finde ich immer noch gut. Originalität missfällt mir. Ich wartete auf meinen zukünftigen Direktor, als ich den Satz über die Schönheit hörte. Ich habe mir gesagt, dass er für viele ein Trost sein muss, für Frauen vor allem, dass eine solche Aussage Balsam sein muss für Körper, die nichts standzuhalten vermögen, nicht einmal dem ersten Blick. Was meine Frau betrifft, so gebe ich zu, dass sie zwar keine Schönheit ist, aber auch nicht wirklich Charme besitzt. Jedes Mal beim Erwachen kann ich diese Feststellung machen. Ich habe es aus allen Blickwinkeln versucht, erfolglos. Es ist ein totes Wasser. Was nie existiert hat, wächst nicht einfach so über Nacht heran. Wenn die Dinge sich mit den Jahren auch nicht bessern, so werden sie doch nicht schlimmer. Meiner Frau diesen Satz über die Schönheit und den Charme zu sagen, hätte nicht viel Sinn gemacht. Körperlich ist meine Frau nicht völlig unscheinbar, sie kann Beachtung finden, nicht Anerkennung, aber Beachtung, ja, bestimmt. Zum Beweis: sie hat ein sehr eckiges Gesicht, Kinn, Augenbrauenbogen, Wangen, die ganze Form, es ist nichts Rundes an ihrem Gesicht ausser der Nase, sie hat eine Nase wie eine kleine Knolle. So viel Spitzes und Scharfkantiges mit dieser Kugel mittendrin, das zieht die Blicke auf sich. Diejenigen, die sich einen Spass daraus machen, ein menschliches Gesicht in die Nähe eines Tieres zu rücken, würden für sie zunächst einen Vogel wählen, das heisst, einen Raubvogel, den Falken zum Beispiel, wenn nicht gar den Adler, doch sie würden schnell sehen, dass das nicht geht, denn meine Frau hat nichts Königliches an sich. Gewiss, sie ist eher gross, auch eher schlank, doch ihre Grösse und ihre Schlankheit haben nur wenig Reiz, es ist Grösse und Schlankheit ohne Glanz. Die Schönheit zählt nicht, sage ich mir am Abend, wenn ich die Frau betrachte, die meine Frau ist.
Dass er ausgerechnet dort sein musste. Und meine Borke massakrieren! Eine Rotznase blickt einem geradeheraus in die Augen und klatscht einem ein Armes Schwein mitten ins Gesicht. Da kann man noch so gepanzert sein, kann chinesische Mauern um sich hochgezogen, kann Gewohnheit und Übung in kleinen Infragestellungen haben, in solchen, die ungefährlich und folgenlos sind, in solchen, die einem die Illusion geben, über sein Leben nachzudenken, seine Entscheidungen abzuwägen – man ahnt, dass hier eine Bresche geschlagen worden ist. Und zum ersten Mal droht, penetrant, ein Gift, das einem die Tage und Nächte unterhöhlen könnte, das einem Woche für Woche in jede Pore dringen, einem das Fleisch leersaugen, den Atem rauben, unnötigerweise etwas offenbar werden lassen könnte von dem, der man ist. Sich nicht erschüttern lassen. Die Welt muss so sein, wie ich will, dass sie ist. Wenn ich diesen Bengel bloss in die Finger bekäme, ihn abwürgen könnte, seine Stimme, sein Bild.
Um mit dieser Geschichte bezüglich meiner Frau abzuschliessen: Das Wichtigste ist zu schweigen, sie soll glauben, dass man ihren Busen lieben kann für das, was er ist, ihre Beine für das, was sie sind, ihre Arme für das, was sie sind, undsofort. Sie ahnt nicht, wie dürftig ihre Reize sind. So ist es, und es ist besser so. Ich selbst habe ein ziemlich durchschnittliches Äusseres, zu weisse Haut, zu hängende Schultern, zu kurze Beine, ein zu rotes Gesicht, rasch feuchte Hände, rasch schwitzender Körper. Die Mädchen sind nicht verrückt: Keine Frau ist mir je in die Arme gefallen, keine hat mir je glühende Liebesbotschaften geschickt, nicht einmal meine, die ich vier Monate habe belagern müssen, bis sie unsere Verbindung akzeptierte. Die ersten Tage sagten wir einander, dass wir uns gefielen. Mit der Zeit haben wir diese Art Maskerade fallen lassen. In gewissen Punkten, das gilt für sie wie für mich, hält uns das Schweigen quälende Fragen vom Leib.
Keine Makel zwischen uns.
Unsere Herzen in einen Morast zu werfen, kommt nicht in Frage.
Ich weiss mich zu benehmen.
Sie auch.
Ich bin kein Mistfink.
Sie auch nicht.
Wenn man eine Frau als armes Hascherl bezeichnet, fällt einem eine Person ein, die vom Pech verfolgt ist, eine, über der sich ohne Unterlass Unheil zusammenbraut, gegen das sie nichts vermag, man stellt sie sich mit bescheidenen finanziellen Mitteln und ebenso bescheidenen intellektuellen Ressourcen vor. Um zu kämpfen, sich zu wehren, um das Schicksal vom Kurs abzubringen, hat ein armes Hascherl nicht eben viel zur Verfügung, es weckt Mitleid, man möchte ihm zu Hilfe eilen, ihm die Hand entgegenstrecken. Der Ausdruck passt nicht. Und wie ist es mit blöde Kuh? Heute Nachmittag, während ich Bestellzettel ausfüllte, habe ich mich gefragt, ob ein weibliches Pendant zu Armes Schwein existiere, ein Ausdruck, der denselben Gehalt, dieselbe Substanz besässe. Was hätte der junge Mann mir an den Kopf geworfen, wäre ich eine Frau gewesen? Die Frage hat mir keine Ruhe gelassen, hat mich daran gehindert, mit meiner Arbeit so schnell vorwärtszukommen wie gewohnt. Mit Blöde Kuh ist man in der Beleidigung. Das Ressentiment des Sprechenden ist zu offensichtlich und scheint sich auf einen bestimmten Umstand zu beziehen, die blöde Kuh wird das nicht bleiben, sie kann sich wieder reinwaschen, wieder klarkommen. Ich füllte meine Zettel aus und es purzelten Wörter herbei, ohne mich zu überzeugen, ohne dass ich hätte sagen können: Ach, ja! Das ist es! Heureka! … Nein! Es ist mir kein Licht aufgegangen. Ich habe an Dussel gedacht, an Schnatterliese, Idiotin, an Dumpfbacke, dumme Ziege, Schnepfe, Trottelin und vieles andere mehr. Bezeichnungen, denen es weder an Charme noch an Reiz fehlt, doch keine davon hat die Schlagkraft des Armen Schweins, das heisst dessen Absolutheitscharakter, der einen, im richtigen Tonfall ausgesprochen, zu einem Nichts machen kann.
In diesem Moment habe ich Maurice im Gang vorübergehen sehen, sein Gesicht, seine Silhouette. Wie alt Maurice wohl sein mag? Sechzig? Etwas älter, etwas jünger? Er ist ein Mann ohne Format, der nie daran gedacht hat, ein Buch aufzuschlagen, ein Mann, der, wenn er aus der Zentralbibliothek verschwände, kein Bedauern auslösen würde, und noch weniger quälende Fragen. Maurice beschäftigt sich in erster Linie damit, die Bücher wieder an ihren Platz zu stellen und zwischen den Büros hin und her zu pendeln, als eine Art Lagerist-Gehilfe. Er arbeitet langsam, ich wäre versucht zu sagen, sorgfältig, aber weil er sich beständig irrt in den Aufgaben, die man ihm aufgetragen hat, passt dieser Ausdruck schlecht. Manchmal rege ich mich über ihn auf, schlage ihn mit ein paar sarkastischen Verbalattacken vor den Kopf. Ihn anstacheln, ohne ihn kaputt zu machen. Maurice hat nie irgendwie gekontert, er entschuldigt sich und verzieht sich mit gesenktem Kopf, wie eine welke Blume.
Manchmal mache ich mir Vorwürfe, dann klopfe ich ihm auf die Schulter, frage ihn, ob er zufrieden ist, seinen Kaffee schon getrunken hat. Wie geht’s Maurice? Läuft alles rund, Maurice? Und seine Benommenheit schwindet. Von ihm weiss ich bloss, dass er im August Brombeeren pflücken und im Herbst Pilze sammeln geht. In dieser Zeit wird das Lächeln, das er dauernd mitten in der Fassade trägt, um ein paar Grade breiter, ihm steht die höchste Glückseligkeit ins Gesicht geschrieben, wie unauslöschlich. In der Zentralbibliothek neigt Maurice dazu, mir auszuweichen, er gehört zu den Kollegen, die meine Spötteleien fürchten, die Bemerkungen, die ich mit leiser Stimme fallen lasse, die aber lauthals posaunen in den Ohren derjenigen, an die ich sie richte, Fackeln in den Abgründen, Säure in den Eingeweiden. Dass ich Maurice vorbeigehen sah, hat mich von der Frage abgelenkt: Gibt es ein weibliches Pendant zu Armes Schwein?
Heute Nachmittag habe ich es fertig gebracht, die Bibliothek ein bisschen früher zu verlassen, ich versuche immer, da und dort ein paar Minuten herauszuholen, will keine Zeit damit verlieren, mit dem einen oder anderen Kollegen zwei, drei Banalitäten auszutauschen. Ich sehe zu, dass ich so bald wie möglich ins Parkhaus komme. Und dann nichts wie weg. Auf dem direkten Weg nach Hause, ohne am See anzuhalten, um den Liebkosungen der Brise oder sonst irgendwelchen Annehmlichkeiten nachzugeben. Dafür sind die Familienausflüge da. Bei mir weiss ich, woran ich bin, ich weiss, wo es langgeht, bei mir geht nichts aus den Fugen: Da ist meine Frau, ihre Bemerkungen, immer dieselben, ihre Unduldsamkeiten, immer dieselben, ihr Bedürfnis nach Ordnung und Harmonie, ihr Hang zum Praktischen, ihr Sinn für Sauberkeit, da sind meine beiden Söhne, die nicht viel sagen und an die ich jetzt nicht denken will, da sind die Bücher, die mir in der Zentralbibliothek meinen Status und meinen Nimbus geben, und da ist vor allem mein Laufband, auf dem ich in einer halben Stunde schweissgebadet meine täglichen fünfzehn Kilometer ablaufen werde, den Kopf in einer dunklen, angenehm schmerzlichen Einsamkeit versunken, ohne Atempause, bis mich das Flimmern vor den Augen überwältigt. Ja, es gibt bei mir eine Form von Regelmässigkeit, von Exaktheit vielmehr, die die Realität meines Daseins ist.
Da ist meine Kraft.
Da ist mein Leben.
Insgesamt kommt die Zentralbibliothek auf 147 Angestellte, von den Putzfrauen bis zum Direktor. Wenn es auch mehrere Personen gibt, mit denen ich bereit bin, rasch einen Kaffee trinken zu gehen, weil sie meine sardonischen Pfeile, mein Wissen oder meine anzüglichen Bemerkungen über die Mehrheit der Kollegen zu schätzen wissen, weil sie mir erlauben zu sagen, was ich zu sagen habe, so erfüllt mich doch nur der Umgang mit Bernard und Yannis mit Zufriedenheit. Es kommt sogar vor, dass wir uns ausserhalb der Zentralbibliothek treffen. Zum Essen. Um die Dummheit auf die Guillotine zu stellen. Es gibt zwischen uns dieses heimliche Einverständnis, das aus dem Bauch heraus kommt. Ich weiss nicht, ob es das ist, was man Freundschaft nennt. Wahrscheinlich. Bernard ist mir am ähnlichsten. Auch er arbeitet in der Abteilung Literatur und Philosophie