Eine anspruchsvolle, liebevolle Geschichte. Man erhält tiefe Einblicke in Rons Gefühls- und Gedankenleben, in seine Zerrissenheit, in seinen Wunsch auf ein erfülltes Dasein. Eine Geschichte mit psychologischen und philosophischen Aspekten. Die Suche nach sich selbst, wie sie uns alle etwas angeht. (Nina Heick)
Schriftstellerische Sternschnuppen sind überall im Text zu finden, mal witzig, mal nachdenklich, mal skurril. (Herrmann Christen)
Realität, Traum und Fantasie vermischen sich in diesem Roman, der eine Reise in Rons Welt ist, die allmählich aus den Fugen gerät. (Literaturpodium)
Robin Becker ist am 07.04.1975 in Bielefeld geboren. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr bereist er mit Rucksack und Feder die Welt. Nach Beendigung der Schulzeit absolvierte er bei den Bielefelder Stadtwerken die Ausbildung zum Industriemechaniker. 1996 zog er nach Köln, wo er im Sozial Psychiatrischen Zentrum seinen Zivildienst machte und danach auf der Fachoberschule sein Fachabitur nachholte. Ab 2003 studierte er zwei Jahre in Potsdam und drei Jahre in Bielefeld Sozialpädagogik. Nach dem Studium ging er nach Bern und arbeitete in einem anthroposophischen Kinderheim. In der Schweiz las er auf diversen Bühnen aus seinem gesellschaftskritischen Roman Komfortzone. Während einer längeren Reise durch Südindien und in Berlin – wo er 2013 hingezogen ist – entstand der Roman Das Kino bin ich. Seit 2015 lebt er wieder in Köln.
Roman
3. Auflage (vom Autor überarbeitet) Juli 2017
Copyright: © Dezember 2015 Robin Becker
Umschlaggestaltung: Michael Peters, Robin Becker Umschlagfoto: Victoria Knobloch
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Autor kann für Lesungen gebucht werden.
E-Mailadresse des Autors: beckerrobin@freenet.de
Dieses
Buch
ist
der
Angst
und
der
Liebe
gewidmet
Schreiben ist so eine Sache. Baden auch. Beides habe ich schon lange nicht mehr getan. Doch nun sitze ich betrunken in der Wanne und möchte einen Abschiedsbrief an mich selbst schreiben. Ralph meinte, wir müssen immer wieder der Vergangenheit sterben, um ein neuer und frischer Mensch sein zu können. Ich habe keine Ahnung, woher er das hat, aber die Vorstellung das Vergangene loszulassen, klingt gerade sehr verlockend. Nur leider funktioniert der verdammte Kugelschreiber nicht.
Im Gang gehen die hellen Lichter aus, ich schließe die Augen, bin sehr müde, weiß aber, dass ich hier im Flugzeug mit Sicherheit nicht einschlafen werde. Im Gegensatz zu den beiden Kindern und ihrer Mutter, deren Kopf an meine Schulter sackt. Ich lasse es geschehen, kann der Nähe sogar etwas abgewinnen, ihr sprödes braunes Haar, das nach Mango oder Papaya duftet, kitzelt an meinem Hals. Mir fällt auf, dass ich schon länger nicht mehr an Melek gedacht habe, mag auch jetzt nicht an sie denken, was mir aber völlig misslingt. Bei einem unserer letzten Streits hat Melek mir gesagt, sie habe noch nie einen Orgasmus gehabt, es wäre immer nur Pippi gewesen. Das tat weh, wo wir so häufig miteinander gekuschelt und geschlafen haben, und sie danach immer ganz selig war.
Ich möchte mich ein wenig strecken, doch bei dem Versuch die schlafende Mutter von meiner Schulter wegzuschieben, wacht sie auf. Zunächst ist sie irritiert. Wir kommen ins Gespräch. So erfahre ich, dass sie für zwei Wochen in Chennai in einen Ashram zu ihrem Guru möchte, bei dem sie schon öfter war. Ihre hellbraunen Augen werden feucht, als sie das sagt. Ich nehme mir aus Verlegenheit die Werbezeitschrift zur Hand, ärgere mich, dass ich den Roman nicht ins Handgepäck gepackt habe.
„Warst du schon einmal in Indien?“, sagt sie.
„Nein.“
„Und was zieht dich dahin?“
Ich sage ihr nicht, dass ich auf der Suche nach meiner ehemaligen Freundin bin, die ich in Mamallapuram vermute. Stattdessen sage ich: „Gute Frage.“
Sie kramt aus ihrer Tasche eine Packung Bio-Kekse und bietet mir einen an, den ich dankend ablehne. Ich entschuldige mich, muss zur Toilette, frage sie, ob ich ihr etwas zu trinken mitbringen solle, vielleicht einen Tee?
„Ja, gerne … einen Kamillentee und Wasser.“
Als ich mich mit meiner Cola, ihrem Tee und Wasser wieder zu ihr setze, schaut sie gerade nach ihren Kindern, die immer noch schlafen. Wir schweigen einige Minuten. Draußen wird es allmählich hell, vereinzelte Sonnenstrahlen funkeln durch den Flieger.
„Hast du von den Vorfällen in Indien gehört?“, sagt sie.
„Was für Vorfälle?“
„Die indischen Frauen sind im Moment sehr erbost, weil eine Studentin in einem Bus von mehreren Typen vergewaltigt wurde … Über eine halbe Stunde ging das. Und niemand hat der Frau geholfen. Der Freund der Studentin lag mit einer Eisenstange halb erschlagen in der Ecke und musste zuschauen.“
„Puh. Harte Nummer.“
„Die Frauen fordern jetzt mehr Rechte und Schutz. Das Problem ist unter anderem die Aussteuer, Mädchen kosten zu viel, die Familien bekommen sie nur schwer verheiratet … Ich hätte beinah den Flug storniert. Aber eine Freundin meinte, da könne ich im Prinzip nirgends mehr hin.“
„Da hat sie recht.“
„Angeblich ignorierte die Polizei diesen Vorfall vorerst. Die schreitet meistens erst ein, wenn sie bestochen wird.“
„Hmm.“
Sie schaut nach ihrer Tochter, die aufgewacht ist. Ich schließe die Augen. Nicht lange, da wird schon die Landung angekündigt.
***
Ich helfe der Mutter, deren Namen ich noch immer nicht weiß, trage zwei Taschen voll Kinderzeug und meinen eigenen Rucksack aus dem Flugzeug. Sie humpelt, meint, das Knie tue ihr seit Düsseldorf weh. Sie trägt den Jungen auf dem linken Arm und hält ihre Tochter an der Hand. Die beiden Kinder sind erstaunlich still, glauben wohl, sie träumen noch, der Schnuller und der Daumen wirken Wunder. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich viereinhalb Stunden hinter der indischen Zeit zurückhänge. Wir sind also der Sonne entgegengeflogen, das macht Sinn, schließlich liegt Indien südöstlich von Deutschland. Es ist also nicht mehr Viertel vor sieben, sondern Viertel nach elf.
Ein Inder mit Oberlippenbart und Handfunkgerät in der Hemdtasche tritt an uns heran, sagt kein Wort, bedeutet mir lediglich, ihm zu folgen. Einem Gespräch weicht er aus, er macht Handzeichen, hat es eilig, vielleicht ein Zollbeamter. Wir gehen zur Gepäckausgabe. Der Inder zieht unser Gepäck vom Band, stapelt es auf einen Rollwagen, fährt ihn zur Passkontrolle an den Wartenden vorbei, füllt für uns die Einreisepapiere aus, winkt uns durch. Als er von mir Geld will, schüttelt die Mutter den Kopf und meint, der würde hier arbeiten. Ich habe eh nur Euro, fällt mir ein. Der hilfsbereite Mann trabt davon. Das Mädchen möchte geschoben werden. Ich setze sie oben auf das Gepäck, sage ihr, sie solle sich gut festhalten. Zunächst guckt ihr kleiner Bruder skeptisch, dann will auch er auf den Rennwagen.
Wir brauchen beide Geld, schauen uns nach einem Bankautomaten um, aber es gibt keinen, nur eine Geldwechselstube von Thomas Cook.
„Der Kurs ist super schlecht“, sagt sie, „für hundert Euro müssten wir eigentlich mindestens siebentausend Rupien bekommen, nicht sechstausend.“
„Ohne Geld ist auch keine Lösung“, sage ich, und wechsle.
Vor dem Flughafen wird sie erwartet. Ein Mann mit Vornamen Martin aus dem Ashram winkt ihr über das Absperrgitter hinweg. Er ist groß, überragt die Inder um sich herum wie eine Statue.
„So, ihr beiden Abenteurer, ich bräuchte jetzt mein Gepäck“, sage ich. „Kommt ihr da alleine runter?“
„Nee“, sagt das Mädchen und zieht ein trotziges Gesicht, das ihr Bruder ulkig nachmacht.
„Könnt ihr noch nicht klettern?“
„Das ist doch puppig.“
„Glaube ich nicht.“
Die Mutter hebt mit zwei raschen Bewegungen ihre Kinder vom Rollwagen und stellt sie vor sich hin, was das Mädchen mit Genörgel quittiert.
„Ruhe im Karton“, sagt sie auf eine Art, die mich an meine Mutter erinnert, die ebenfalls sehr bestimmend sein konnte.
Ich greife mir mein Gepäck. Die Frau umarmt mich zum Abschied wie einen alten Freund, wünscht mir Glück, schöne Momente, neue Erfahrungen und Gesundheit.
„Das wünsche ich euch auch.“
Sie gehen Martin entgegen, der sich einen Weg durch die Inder und um das Absperrgitter herum bahnt.
Es ist schwül, die Sonne ist durch Hochnebel oder Smog verdeckt. Ich ziehe meinen braunen Pulli aus, schmeiße ihn in meinen großen dunkelroten Plastikhartschalenkoffer der Firma Thomson, den ich mir vorgestern am Salierring für fünfzehn Euro in dem Trödelladen der sozialistischen Selbsthilfe gekauft habe. Das Ding ist nicht einmal halbvoll, nur mit Klamotten, einem Buch und Fernglas beladen, das ich für fünf Euro in dem sympathischen Trödelladen obendrauf bekam. Der Thomson hat vier Räder und eine Schnur, an der man ihn hinter sich herziehen kann, wenn es der Untergrund zulässt. Ich überlege, ob ich auch meinen kleinen Rucksack, in dem der Laptop, der Camcorder und meine Geldbörse sind, im Koffer verstauen soll, entscheide mich aber dagegen. Ich frage zwei junge Touristinnen, die in indischen Gewändern stecken und sehnsüchtig auf jemanden zu warten scheinen, ob sie wüssten, wie man nach Mamallapuram kommt. Drei Taxifahrer kommen ihnen zuvor, bieten mir die Tour für eintausendzweihundert Rupien an. Ich versuche, zu handeln. Die beiden Schönheiten mischen sich ein, haben Augen zum Hypnotisieren, ich gebe mir Mühe, freundlich zu wirken. Sie raten mir, mit dem Bus zu fahren, der irgendwo hinter der Menschentraube abfahren soll, das koste nur achtzig Rupien und ginge genauso schnell. Die Taxifahrer geben nicht auf, während ich ich mich auf den Weg zum Bus mache. Sie unterbieten sich gegenseitig, bekommen sich gar in die Haare darüber, wer meinen Koffer ziehen darf. Ich sage immerzu: „Thank you, I take the bus.“
***
Der fahrende Schrotthaufen ist ungemütlich, rumpelt und hupt sich durch eine Stadt, die schon nach wenigen Minuten aussieht, als hätte sie einen schlimmen Bombenangriff hinter sich. Die Fassaden sind vielfach nicht vorhanden, Menschen bewegen sich in den Ruinen und wirken auf den ersten Blick wie Puppen in einem unaufgeräumten Puppenhäuschen. Kurzum, die Stadt liegt in Schutt und Asche, wer nicht auf seinem Steinhaufen kauert oder durch kaputte Räume geistert, ist Maurer, vermute ich. Alles wirkt wie inszeniert, die Bühne großartig, die Komparsen reichlich. Manche fegen die Straße mit selbstgebastelten Besen, andere klopfen mit winzigen Hämmerchen auf Steinen herum, fünf alte Frauen stapeln rote Ziegelsteine. Viele Menschen hocken einfach nur am Straßenrand und warten möglicherweise auf Anweisungen von ganz oben. Leicht bekleidete junge Männer sitzen auf Gerüsten aus Bambus, manche in schwindelerregender Höhe an gigantischen Betonpfeilern und scheinen die Aussicht zu genießen.
Ich frage mich, ob dieser Bus wirklich nach Mamallapuram fährt. Mich beschleicht immer mehr das Gefühl, wir dringen tiefer und tiefer in die Baustelle ein. Der Mann, der die Tickets verkauft, nickt mürrisch, sagt etwas von einem Busbahnhof, den Rest verstehe ich nicht. Ich wende mich dem Fahrgast hinter mir zu, auch er nickt, macht eine beschwichtigende Handbewegung. Alles ist gut. Ich bedanke mich, zeige aus dem Fenster, möchte wissen, was hier passiert sei. Er versteht nicht, was ich meine. Der junge Mann hinter ihm mischt sich zaghaft ein, erklärt mir mit wenigen Worten und vielen Gesten, dass eine Hochstraße gebaut würde. Immer mehr ärmlich aussehende Menschen drängen in den Bus, sie wirken verschlossen und sprechen kein Wort miteinander. Das Schlimmste an all dem ist aber nicht, dass Menschen ganz offensichtlich unter solchen unwürdigen Bedingungen leben müssen, sondern, dass ich hier stumpf sitze und kaum schockiert bin. Sie machen es einem aber auch nicht leicht, niemand weint, schreit oder beschwert sich, nicht einmal die Kinder. Die wenigen Kinder, die ich bisher aus dem Fenster gesehen habe, spielen zwischen den Trümmern Kricket oder führen mit einem Stock im Laufschritt einen Reifen spazieren.
Ich biete einer alten Frau meinen Platz an, die ihn nicht annimmt, also bleibe ich sitzen. Die Menschen riechen hier anders als in Deutschland, würziger, finde ich. Der Verkehr hat zugenommen, ist nicht zum Aushalten. Die Hupe dient als Kommunikationsmittel. Der Bus hält an, weil fünf Wasserbüffel seelenruhig die Straße überqueren. Sie sehen anmutig und stolz aus.
Das Bild der Stadt ist im nächsten Moment ein anderes, Häuser stehen dicht, rahmen die Straße, jedes trägt aufgepinselte Reklame. Am Straßenrand werden alle möglichen Waren und Speisen angeboten. Die Leute, die sich hier aufhalten, wirken lebhaft, unterhalten sich, lachen, feilschen, einige spielen Backgammon, trinken Tee. Mir fällt auf, dass beinah alle Männer Schnauzbart tragen. Zwei Straßen weiter zieht mir ein übler Geruch in die Nase. Wir nähern uns einem Slum, Schulter an Schulter stehen schiefe Baracken aus Bambus, Lehm und Wellblech, um die herum Berge aus Müll sind, auf denen kaum bekleidete dürre Menschen herumwühlen. Ein bärtiger Mann hisst eine zerfledderte weiße Flagge. Zwei Kinder werfen sich einen Ball zu.
Ich soll auf den Bus 568 C warten. Die Inder trauen sich kaum mich anzuschauen. Ich warte, sehe sie auch nicht an. Aber irgendwo muss ich ja hinschauen, also sage ich mir immer wieder die Busnummer vor und beobachte die Busse, die da kommen. Meiner ist aber nach dreißig Minuten immer noch nicht dabei. Allmählich hat man sich an meine Anwesenheit gewöhnt, einige schauen neugierig, andere lächeln, dritte werfen mir verstohlene Blicke zu. Ich werde ungeduldig, glaube nicht mehr an den verdammten Bus. Außer Gesichtern, Abgasen und Lärm gibt es hier nichts für mich. Das Beste wäre, so schnell wie möglich aus dieser Stadt zu verschwinden. Aber wie? Das Schicksal hat Humor, das muss man ihm lassen, denke ich. Es will mir seinen verdammten Busbahnhof zeigen, und wer weiß was noch alles?
Ich hole mir bei einem der Stände einen Mango Lassi, der mir schmeckt und meine Stimmung etwas hebt. Ein alter Mann tritt an mich heran, er fragt mich in gutem Englisch, worauf ich hier warte. Ich starre ihn ungläubig an, der kleine Mann trägt ein schneeweißes Hemd, gebügelt mit Krawatte. Er erinnert mich an eine Marionette aus dem Kinderfernsehen, deren Name mir leider nicht einfällt. Als ich ihm antworte, lächelt er, als hätte ich gesagt, ich warte auf die Königin von England. Er bringt mich zu dem Busbahnhof hinter dem Busbahnhof und redet mit den Fahrern, die mir bedeuten, zu warten. Mein Bus wird gleich kommen, heißt es. Ich wage ein paar Blicke nach links und rechts. Alles sieht hier so aus wie auf der anderen Seite des Busbahnhofs. Die Busse sehen klapprig aus, wirken, als seien sie in den letzten Atemzügen. Mülleimer wurden noch nicht erfunden, jedenfalls finde ich keinen, also schmeiße ich den Pappbecher in eine Ecke, wo anderer Müll herumliegt.
***
Der Bus fährt die gleiche Strecke zum Flughafen zurück, die ich gekommen bin, kommt mir allmählich der Verdacht. Diesmal ist der Verkehr noch stockender, teilweise geht gar nichts, die Autos, Lkws, Busse, Rikschas und Motorbikes stehen sich gegenseitig im Weg, jeder versucht den anderen zu überhupen. Ich stopfe mir Fetzen eines Taschentuchs in die Ohren, bin mir nicht mehr sicher, ob die Leute mit den leichten Werkzeugen damit beauftragt sind, die Stadt auf- oder abzubauen. So oder so, das Unterfangen wirkt ohne Baumaschinen aussichtslos, kein Bagger, kein Presslufthammer, nichts, die meisten arbeiten mit den bloßen Händen. Neben uns hält ein Bus, der völlig überfüllt mit Fahrgästen, Hühnern und sogar Ziegen ist. Und auch in unseren Bus drängen immer mehr Menschen, weil es anfängt zu regnen. Ein Mann sitzt unangenehm nah an mir dran. Ich schau nach vorne durch die Windschutzscheibe. Der Scheibenwischer gibt den Takt an. Ich spüre einen leichten Druck auf der Blase. Die Stadt liegt mittlerweile hinter uns. Der klappernde Bus nimmt Fahrt auf, verwandelt sich in eine Rennmaschine, die schneller als jedes andere Gefährt mit Dauerhupe die Gegenspur für sich in Anspruch nimmt. Der Fahrtwind macht mir zu schaffen. Merkwürdig unbeteiligt betrachte ich alles, was mich umgibt, mache mir kaum Gedanken um das Leben da draußen, bin sprachlos. Die Landschaft kennt nur Felder und Palmen. Dunkle Menschen hocken oder stehen vor ihren primitiven Häusern. Hunde streuen umher. Kühe und Ziegen liegen erschöpft am Straßenrand. Wenn ich genauer hinschaue, sehe ich wieder reichlich Müll, er flattert in den Büschen, hat sich vielfach festgetreten. Ich weiß aus Thailand, dass die Landbevölkerung sich gerne mit Müll umgibt, er steht für Wohlstand.
Meine volle Blase zwingt mich, vornübergebeugt zu sitzen. Ich denke darüber nach, zu sagen, dass ich aussteigen möchte, kann mich aber nicht durchringen, wer weiß, wann der nächste Bus kommt, und ob er überhaupt anhalten würde. Fast zwei Stunden später hat es der Fahrscheinverkäufer auf einmal ganz eilig, mich loszuwerden. Bevor ich mir noch in die Hose mache, greife ich mir meinen Rucksack, zwänge mich zur Tür. Auf einem Schild steht Mamallapuram und eine Fünf, ich kann mein Glück gar nicht fassen. Eine Fünf … eine Fünf.
Nach den längsten fünf Kilometern meines Lebens steige ich aus dem Bus in das schmuddelige Draußen, öffne die Gepäckklappe und zerre den dunkelroten Koffer hervor. Kaum habe ich die Klappe zugeschmissen, fährt der Bus weiter. Ich eile mit zusammengekniffenen Beinen auf ein Mäuerchen zu, öffne mir hektisch die Jeans und pinkle erleichtert los. Währenddessen kommt eine dreirädrige Rikscha angerumpelt, trötet ohne Unterlass, der Fahrer, beinah ein Kind, ist erfreut, mich zu sehen. Der Junge fährt mich in das Städtchen, er kennt sich aus, redet mit den Einheimischen, bald schon habe ich wenige Meter vom Strand im ersten Stock eines blauen Gebäudes eine sehr günstige Unterkunft mit Bett und eigenem Badezimmer. Das Ganze war eine schlechte Wahl. Aber das begreife ich erst später. Die Wände sind bei genauer Betrachtung verschimmelt, das Bad ist völlig verrostet, es tropft und schmiert aus allen Ritzen, zum Anfassen ist hier nichts. Die Matratze ist nicht durchgelegen, wie man es sonst aus billigen Absteigen kennt, sondern hart wie ein Brett.
Trotz des leichten Regens gehe ich an den Strand, wo es deutlich windiger ist. Der Ozean rauscht laut, schmale bunte Fischerboote, schwere ölverschmierte Motoren und zusammengerollte Netze, die wie riesige Quallen aussehen, liegen kreuz und quer im Sand. Dazwischen Plastikflaschen, abgemagerte Kühe, hinkende Hunde und zumeist hockende Inder. Die Fassaden der Restaurants und Guest Houses, die an den Strand angrenzen, sind in knalligen Farben gehalten.
Der Himmel ist ein hängendes Meer, schwer wie Blei, er drückt, man muss aufpassen, sich nicht den Kopf zu stoßen, denke ich, und fühle mich kreativ, bis mir einfällt, dass ich diese Formulierung kürzlich in dem grandiosen Roman Tod auf Kredit von Louis-Ferdinand Céline gelesen habe.
Ich schaue auf den gewaltigen Ozean, super Breitbild, er braust und schwappt, als würde einer das Aquarium hin und her wiegen … Das ist jetzt aber von mir. Großartig. Obwohl, das Bild ist nicht stimmig, schließlich sehe ich ja nicht, was sich unter Wasser abspielt.
Seit knapp dreißig Stunden habe ich nicht geschlafen, rechne ich aus. Gemessen daran, geht es mir gar nicht so schlecht … Zwei fliegende Händler, denen der warme Sprühregen auch nichts ausmacht, sprechen mich an, sie bieten Schmuck und Tücher. Ich habe nicht das geringste Interesse, zeige ihnen das Foto von Melek, auf dem der Wind ihre langen schwarzen Haare verweht, und sie lacht. Es ist das einzige Foto, das ich noch besitze, alle anderen hat sie mitgenommen oder verbrannt.
Einer der Händler hat sie vor einer Woche weiter oben am Strand gesehen, der andere vor drei Wochen bei den roten Felsen, was nicht sein kann, da sie da noch in Köln war. Wo sie gewohnt hat, wissen sie nicht.
Kurz vor meinem Guest House fragt mich ein langhaariger Bursche im Bob Marley-Shirt, der maximal fünfzehn oder sechzehn Jahre alt ist, ob ich Marihuana kaufen möchte. Ich bin nicht abgeneigt und schlage vor, dass er mir seine Ware oben auf meiner Terrasse zeigt. Das Zeug macht einen ganz guten Eindruck. Und eintausend Rupien für zwanzig Gramm Marihuana ist extrem billig. Ich bin dennoch unschlüssig, sollte ich tatsächlich wieder mit dem Kiffen anfangen? Und was passiert, wenn die Polizei mich mit so viel Gras erwischt? Ich sage, dass ich nur fünf Gramm brauche.
„All or nothing, that is the deal“, sagt er, und nimmt die Ware wieder an sich. „A lot of people –“
„Okay, okay.“
***
Kaum habe ich mich hingelegt, ertönt ein ohrenbetäubendes, fürchterliches Getrommel, Getröte und Gejaule, ich kann es gar nicht fassen, so laut ist das. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich keine drei Meter entfernt einen großen Lautsprecher an einem Mast, der genau auf mich ausgerichtet ist. Ich weiß nicht, ob die Musik Propagandazwecken dient oder hier jemand das Unterhaltungsmonopol auf die halbe Stadt besitzt. Ich ziehe mich wieder an, kaufe mir in einem kioskähnlichen Lädchen lange Blättchen, ein Päckchen Drum, Feuerzeug, Toilettenpapier und eine Flasche Wasser. Die Besitzerin, eine ältere Frau, die einen rotgoldenen Sari trägt, weiß auch nicht, wann die Musikdarbietung ein Ende hat. Sie sagt etwas von einem Festival.
Ein paar Touristen schlappen Richtung Strand, die Verkäufer vor ihren Geschäften nennen sie Freunde und bitten, sie sollen doch eintreten, sich ihre Waren anschauen. „Is very good, very cheap. Everything is possible“, höre ich sie sagen. Mir winkt ein smarter Typ und ruft: „Hello my brother, how are you?“
So hat mich schon lange keiner mehr angesprochen. Ich gehe zu ihm, wir geben einander die Hand wie alte Bekannte. Er führt mich in sein Geschäft, stellt mir einen Stuhl hin, auf den ich mich dankbar niederlasse, und reicht mir einen Milchtee. Der junge Mann möchte wissen, wo ich herkomme, was ich mache, wie es in Deutschland sei, wie lange ich in Indien bleiben werde, wo ich noch überall hin möchte. Ich antworte aufgrund meiner Müdigkeit sehr einsilbig und zeige ihm die Fotografie von Melek, die er sich kurz anschaut und meint, er habe sie vor circa einer Woche das letzte Mal gesehen. Sie war mehrere Tage im Ort und kam immer wieder hier vorbei. Auf meine Nachfrage hin, sagt er noch, dass sie glücklich wirkte und sich viele Freunde gemacht hat. Ich kann es mir lebhaft vorstellen, ihre kontaktfreudige Art nervte mich zuweilen.
Er erzählt, dass sein Geschäft wegen der Weltwirtschaftskrise schlecht läuft, möchte wissen, was ich über sein Ware denke. Seine Klamotten sind nicht mein Fall, über die Qualität kann ich nichts sagen, doch mir fehlt es an einer individuellen Geschäftsidee, denn sein Shop gleicht den anderen doch sehr. Er weiß, was ich meine, sagt, diese Hemden und Hosen seien immer gut gegangen. Ich kaufe schließlich ein grüngraues Tuch, das einen vierarmigen Menschen mit Elefantenkopf zeigt, nachdem der Verkäufer mir erzählt hat, dass Shiva seinem Sohn Ganesha in der Wut den Kopf abgeschlagen hat, als er ihn daran hindern wollte, seine Mutter Parvati beim Baden zu stören. Kurz darauf habe es ihm leidgetan und setzte ihm einen Elefantenkopf auf.
Diese Geschichte verstehe ich auf Anhieb. Ich reagiere auch manchmal über, rede vernichtend, und kaum ist mein Gegenüber verletzt, schäme ich mich und relativiere mein Gequatsche.
Die Schwarzhaarige mit den Schlitzaugen auf dem Foto will ein weiterer Klamottenverkäufer vor zwei Stunden gesehen haben. Ich frage, ob sie alleine war. Die Frage hätte ich mir sparen können, ich sehe es in seinen Augen, ein ganzer Verein indischer Männer war hinter Melek her.
Um halb sieben bricht die Dunkelheit so plötzlich herein, als hätte einer einen Lichtschalter umgelegt. Ich steuere auf eine Gruppe Touristen zu, leiere meinen Text runter und halte ihnen die Fotografie hin. Sie sprechen wie selbstverständlich französisch mit mir. Ich sage mehrmals, dass ich ihre Sprache nicht verstehe, was sie mir nicht glauben, da sie immer weiter in dieser Sprache reden. Aber das allgemeine Kopfschütteln lässt mich glauben, sie hätten Melek noch nie gesehen. Ich bin beinah beruhigt, mir wird klar, dass ich für ein Wiedersehen noch gar nicht bereit bin. Was sollte ich Melek sagen? Sie hat sich endlich und endgültig von mir getrennt, wir haben lange genug für diesen Moment gekämpft. Fünf oder sechs Mal habe ich sie schon in den letzten zwölfeinhalb Jahren verlassen, immer im Dezember. Im März kam ich dann jeweils wieder angekrochen, zuletzt nach drei Jahren Trennung. Sie nahm mir meine Eskapaden von Mal zu Mal übler, von ihren eigenen Dämonen wollte sie nichts wissen.
Ich mache mich trotz der Dunkelheit auf den Weg, sie zu suchen, die Geschichte von der Massenvergewaltigung im Hinterkopf. Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, das merke ich schon nach wenigen hundert Metern, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Die Verkäufer nutzen die Gunst der Stunde, mir ihre Waren darzubieten, was anderes haben sie nicht im Sinn, verständlich. Aber was sollte ich mit Schmuck, bunten Kleidern und frisch in Granit gemeißelten Göttern anfangen? Was Vernünftiges zu essen wäre nicht schlecht.
***
Fünfzehn Minuten später sitze ich unter einem aus Bambus und Palmenblättern gebastelten Dach und esse Reis mit Fisch in zu scharfer Currysoße. Außer mir sind hier fünf weitere Gäste, ich vermute Israelis, die nach Beendigung ihres Militärdienstes gemeinsam Urlaub machen. Sie hocken auf Sitzkissen in der Chillout-Ecke, rauchen Shisha und spielen Karten. Ich winke dem Kellner und bestelle eine Cola, von der ich mir erhoffe, sie hilft gegen die Müdigkeit und das Brennen im Mund. Ich frage ihn auch, ob ich den Ventilator da vorne so stellen kann, dass der Geruch von der Wasserpfeife nicht in meine Richtung zieht. Er guckt mich an, als sei ich etepetete. Und vielleicht bin ich das ja auch. Ich erkläre ihm, dass mir der Geruch von künstlichen Fruchtaromen Übelkeit bereitet, was nicht übertrieben ist. Beinah hätte ich ihm auch noch erzählt, dass diese widerlichen Pfeifen mittlerweile auch in Köln an jeder zweiten Ecke herum stinken. Doch da hat er den Ventilator schon umgedreht und mir zugezwinkert.
Die Schwingtür geht auf, und ein Typ mit auffälligen Koteletten und viel Gel in den Haaren kommt herein. Er spricht mit dem Personal. Ganz offensichtlich gehört ihm das Restaurant. Kurz darauf ertönt ein Song der Dire Straits, der Sänger singt: „Where do you think you are going.“ Der Schlagzeuger hält sich noch dezent zurück, lässt den beiden Gitarren ihr zärtliches Vorspiel, dann scheppert er los, das Tempo des Liebesaktes steigernd, dass ich prompt eine Gänsehaut am Kopf bekomme.
Der Chef nimmt seinem Angestellten die Cola aus der Hand, bringt sie mir und fragt mich mit Berliner Zungenschlag, ob er sich kurz zu mir setzen könne. Eh ich antworte, da sitzt er auch schon an meinem Tisch.
„Hey, icke bin Axel.“
„Ron, freut mich.“
„Guten Appetit.“
„Danke.“
„Schmeckt es dir?“
Ich nicke und gähne.
„Die Inder, das sind ewige Kinder. Aber wenigstens halten die sich nicht für Rockstars, oder schlimmer noch, für Hippies, so wie die Israelis da.“ Er lacht über seinen Witz. „Immer slow down die Inder, keep cool. Was du heute kannst besorgen, besorgst du besser mal nächste Woche.“
Ich schlucke herunter und putze mir den Mund ab. Im Hintergrund läuft eine weitere Rockballade.
„Schmeckt dir nicht, wa?“
„Doch, doch.“ Ich nehme noch einen Happen wie zum Beweis und lösche mit Cola.
„Kommst du aus Berlin?“
„Nein … Köln … Das liegt in NRW.“ Das Sprechen und Zuhören strengt mich an.
„Oh, ein Jecke, heute ohne Clownsnase unterwegs, wa? … Spaß.“
„Schon okay.“
Er nimmt aus der Brusttasche seiner Lederweste eine Packung Camel und zündet sich eine Zigarette an. Den Rauch pustet er nach rechts über seine Schulter. „Berlin boomt, wer hätte das gedacht. Jetzt regiert das Geld. Aus ist es mit dem Freigeist … Stört es dich, wenn ich rauche?“
„Nein.“
„Mich aber.“ Er schnippt die Kippe auf die Straße. „Bist du auf dem Weg nach Auroville?“
„Wieso?“ Ich erinnere mich vage, vor Jahren etwas über Auroville gelesen zu haben. Die Rede war vom Paradies in kleinen Schritten, ein Prozess. Der Meditationstempel, ein gigantischer goldener Golfball, von einem herrlichen Park umgeben, in dem die Bewohner wandelten, war abgebildet.
„Da wollen sie eigentlich alle hin, die sich hier aufhalten.“
„Was gibt es denn da Besonderes?“, stelle ich mich ahnungslos, was ich im Grunde auch bin.
„Auroville ist ein autonomes Gebiet mit eigener Verfassung und so, das vor über vierzig Jahren von der Mother gegründet wurde.“
„Mother?“
„Die gute Frau war die spirituelle Partnerin von Sri Aurobindo … Kennst du auch nicht, wa?“
„Nee.“
„Der ist in Indien ein berühmter Philosoph und Yogi gewesen.“
Ich stelle meine Ellbogen auf dem Tisch ab und massiere mir die Schläfen.
„Ich glaube, du gehörst ins Bett.“
„Ich glaube auch“, gähne ich.
„Allerdings, wer in Auroville leben möchte, muss bereit sein, das Göttliche Bewusstsein in sich zu entfalten.“
„Und Besucher?“
„Die sind befreit“, lacht er.
„Wie viele Götter leben da denn so?“
„Über zweitausend – die Hälfte sind Europäer, die meisten aus Frankreich und Deutschland.“
Plötzliche ist es stockfinster und die Musik aus.
„Stromausfall.“
„In der ganzen Straße?“
„Nein, in ganz Tamil Nadu. Willkommen in Indien.“
Es werden Kerzen angezündet.
***
Es windet und regnet stark, als ich aufwache, meine Füße jucken, sie sind total zerstochen. Ich stehe auf, ziehe mir die Hose an, setze mich nach draußen vor die Tür und drehe mir einen Joint. Ich sehe von meinem Platz einen Fetzen des schäumenden Ozeans, die Straße unter mir ist vom Regen geflutet, weit liegt beides nicht mehr auseinander. Das Dach über mir hält dicht. Der Weltuntergang war eigentlich für letzte Woche angekündigt. Wegen mir kann die Sintflut kommen. Manchmal braucht es einschneidende Veränderungen. So geht es doch nicht weiter. Welcher meiner Träume ist jemals in Erfüllung gegangen? Fußballer bin ich nicht geworden … Revolutionär auch nicht. Ich lache. Anstatt dass ich wenigstens Schriftsteller geworden bin, berate ich für die Arbeitsagentur Arbeitslose. Natürlich tue ich es auf meine Weise, doch das ist nur ein schwacher Trost und überhaupt keine Entschuldigung. Die Wahrheit ist, ich habe mich an den Staat verkauft, damit ich meine viel zu hohe Miete bezahlt bekomme, und ich mir nicht von so einem wie mir blöde reinquatschen lassen muss … Niemand wollte meine Texte, das war hart. Melek haben sie gefallen, auch dafür habe ich sie geliebt. Doch sie mochte es nicht, wenn ich zu viel Zeit auf das Schreiben verwendete, mich in meinem Wahn einschloss, sie und auch sonst niemanden sehen wollte. Ich vergaß zeitweilig selbst zu leben. Helle, meine Hauptfigur, war lange ein anspruchsvoller Freund, ihn konnte ich zuweilen beneiden, aber auch bedauern, eine wunderbare Mischung. Dieser Bursche war ein Phänomen beziehungsweise ein Charakter, der nur schwer zu fassen ist. Ob er sich neu verliebte, polternd philosophierte, als Psychologe, gesellschaftskritischer Redner oder Journalist agierte – von beinah nichts, was er tat und wofür er einstand, war er wirklich überzeugt … Vor über zwei Jahren wurde mein schriftstellerisches Selbstwertgefühl endgültig zu Grabe getragen, als ein österreichischer Verlag ernsthaftes Interesse an einer Veröffentlichung angemeldet hatte, und es kurz vor Vertragsabschluss plötzlich hieß, ich solle mich an der Veröffentlichung mit fünftausend Euro beteiligen. Das war ein harter Schlag für mich, o Jesses, nach einem freudigen Aufflattern fiel ich tief und tat mir sehr weh. Ich habe es eingesehen, meinen Roman will kein seriöser Verlag haben – und zwar zu recht. Die Geschichte ist zu verschachtelt, zu vielschichtig, zu viele Genres auf einmal finden sich dort wieder, unnötige Wendungen, merkwürdige Zufälle, manche Figuren doch zu dünn gezeichnet. Ich solle ihnen bitte nichts mehr schicken, teilten mir damals schon Monate vor dem völligen Knock-out, zwei, drei andere Verlage mit. Eine Verlagslektorin riet mir gar, mir einen Ausgleich zum Schreiben zu suchen, mir würde der gesunde Abstand fehlen, man würde es merken. Sie hatte recht, ich lebte kaum noch für mich oder den Moment, sondern für die Literatur, wollte unbedingt meine Art, zu schreiben, durchziehen.
Ich lächle über mich selbst, was gut tut. Nie werde ich vergessen, wie ich zum ersten Mal von einem kleinen Verlag eingeladen wurde. Dieser Lektor wollte meine ganze Geschichte umstrukturieren, danach wäre sie der totale Pseudolinkenschrott gewesen, Helle einer, der sich und seine Gedanken und Ideen tatsächlich ernst nahm. Ha, ha!, mir kommen die Tränen.
Eine Windböe weht mir die Joint-Mischung samt Blättchen vom Schoß. Ach Shit! Ich fange nochmal von vorne an, denke beiläufig an das Telefonat vor Jahren mit dem Lektor des Suhrkamp Verlags. Er rief in der Früh an. Es war nicht gerade mein Sternstundenmorgen. Seine Stimme war mir gleich unsympathisch, sie klang gekünstelt und aufgeblasen. Er erklärte, die ersten vierzig Seiten meines Manuskriptes hätten ihn neugierig gemacht, ich solle ihm doch bitte mal mit wenigen Worten erzählen, worum es in der Geschichte ginge. Mein Exposé wolle er einmal außer Acht lassen, das sei völlig überladen. Ich versuchte cool zu bleiben und mich der Geschichte zu entsinnen, über die ich mindestens ein halbes Jahr lang nicht mehr nachgedacht hatte. Helle. Angst vor Gedächtnisverlust. Neue Stadt. Neues Leben. Zunächst einsam. Neue Liebe. Neue alte Ängste. Arbeit als Journalist und Redner. Krankheit, Depression, Freiheit. Auf die Frage, wie lange ich denn für die zweihundertachtzig Seiten gebraucht hätte, hustete ich. Zwei Jahre, vierte Fassung. Zwei Lektoren, mit denen ich nicht klar kam. Warum? Prompt übernahm er das Reden, faselte von Kompromissen, die der moderne Künstler eingehen müsste. Nicht zu politisch sollte man sein. Besonnenheit und ein kühler Kopf seien unabdingbar, weniger sei oft mehr. Thomas Mann zum Beispiel, meinte er, der habe jeden Tag eine gute Seite geschrieben, nicht mehr, aber auch nicht weniger. – Ach, rutschte es mir heraus, und warum kam am Ende dann doch kein wirklich lesenswerter Roman dabei herum? Abgesehen vom Zauberberg vielleicht. Und selbst diesen Oberlehrer-Roman wollte ich nicht geschrieben haben.
Er zog sein Interesse zwei Wochen, nachdem ich ihm das gesamte Manuskript zu gesandt hatte, per E-Mail zurück. Ich habe ihm daraufhin geschrieben, dass das System, in dem wir leben, ein krankes Biest ist, das immerzu wachsen möchte. Wo gibt es denn so etwas in der Natur? Uns ist dieses Untier entwachsen, jetzt frisst es mehr denn je munter Seelen. Auch darum geht es in Komfortzone. Um das große Ganze und um Helles Geist, der dabei ist, sich aufzulösen.