Feuer des Schicksals

Fantasy Roman

Serena S. Murray


ISBN: 978-3-95764-221-9
2. Auflage 2017, Altenau (Deutschland)
© 2017 Hallenberger Media GmbH, Altenau.

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Bildquelle Umschlagsabbildung: www.depositphotos.com (© inarik)
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

 

1.

Savannah dachte, dass heute ein ganz normaler Tag sei. Doch wie sehr sie sich irrte, zeigte sich bereits am späten Vormittag.

Es war Montagmorgen, der Wecker klingelte und riss sie aus einem Traum, in dem sie am Strand von Hawaii mit nackten Füßen entlang lief. Fast konnte sie den heißen weißen Sand noch auf den Fußsohlen spüren. Als sie die Decke zur Seite zog und sich langsam und noch ein wenig schlaftrunken aufsetzte, fiel ihr Blick auf das Buch, das auf ihrem Schreibtisch direkt neben dem Bett lag.

„Mist.“ Ärgerlich schloss sie die Augen und strich sich die unordentlichen Haarsträhnen ihres rot-blonden Haares hinter die Ohren. Vielleicht sollte sie ihre Mähne wirklich abschneiden. Doch so flüchtig dieser Gedanke gekommen war, so schnell verschwand er auch wieder. Heute stand in der 4. Stunde eine Matheklausur an. Auch wenn die Schulfächer nicht schwer für sie waren, sie langweilte sich im Unterricht und träumte immerzu vor sich hin. Sie waren vor etwa einem halben Jahr nach Chicago gezogen, um ein neues Leben anzufangen. So nannte ihre Mutter ihre ständigen Umzüge, ein neues Leben begann auch immer mit einer neuen Stadt oder einem neuen Land. Dadurch hatte sie im Laufe ihres Lebens mehrere Klassen wiederholen müssen. In einigen Tagen würde sie ihren 20. Geburtstag feiern. Die Schule würde sie bald beenden und endlich könnte sie ein wenig Geld verdienen, um ihre Mutter zu unterstützen.

Als sie aufstand, knarrte eine der Dielen unter ihren nackten Füßen. Das Haus, in das sie gezogen waren, wurde dem Aussehen nach nur an Leute vermietet, die gut mit ihrem Geld haushalten mussten. Nach mehrmaligem Drehen am Wasserhahn kam erst ein dunkler, sandiger Strahl aus dem Wasserhahn, der bestimmt schon über ein Jahrhundert alt war. Savannah hatte gelernt, geduldig auf das saubere Wasser zu warten, auch wenn es nie wirklich heiß aus der Leitung kam. Schnell erledigte sie ihre Morgentoilette und lief dann die Treppe hinunter in die Küche. Ihre Mutter würde erst in ein bis zwei Stunden aufstehen, um dann wieder die Zeitung nach eventuellen Stellenangeboten zu durchforsten.

Sophie O’Sullivan hatte mal wieder ihren Job verloren, da sie zu oft zu spät gekommen war und den Getränkeladen gleich um die Ecke nicht rechtzeitig geöffnet hatte. Savannah stellte ein Glas Milch, das Brot, die heiß geliebte Erdnussbutter ihrer Mutter und die aktuelle Zeitung auf ihren Platz am Tisch. Noch während sie die Tür hinter sich zuzog, steckte sie sich ihre Kopfhörer ins Ohr und ließ sich von der Musik ablenken, um nicht an die Prüfung denken zu müssen. Es war jetzt Anfang Mai und die Temperaturen waren für diese Jahreszeit immer noch zu niedrig. Dazu kamen die ständigen Regengüsse und der eiskalte Wind, der einem die Tränen in die Augen trieb. Kein Wunder, dass sie von Hawaii träumte.

 

Gerade, als Savannah das Schulgebäude betrat, öffnete der Himmel seine Schleusen vollends. Das ungute Gefühl, das sie beim Anblick der schwarzen Wolken am Himmel befiel, hielt die ganzen nächsten Stunden an. Irgendetwas würde bald passieren. Kurz dachte sie an ihren Großvater. Er war ein waschechter Potawatomi-Indianer gewesen und hätte das Wetter und ihr ungutes Gefühl bestimmt als ein schlechtes Omen angesehen. Ihre Großmutter, eine Irin, war als junge Frau nach Amerika ausgewandert. Doch als ihr Mann vor einigen Jahren verstarb, zog es sie zurück in ihre Heimat. Da sich Sophie im Laufe der Jahre immer mehr von ihrer Mutter distanziert hatte, war auch der Kontakt nach deren Umzug nach Irland völlig zum Erliegen gekommen. Die Frauen in dieser Familie waren einfach nur starrköpfig.

In den ersten Stunden schaute Savannah immer wieder gedankenverloren aus dem Fenster. Der Regen hielt den ganzen Vormittag an und verwandelte die Wege in eine Landschaft aus Matsch und tiefen Wasserlöchern. Als sie nach vorn zu ihrer Lehrerin sah, bemerkte sie einen Schatten, der sich an der Gestalt der älteren Frau nach oben schlängelte. Dunkel, leicht durchsichtig schmiegte sich der Schatten an den Körper der Frau. Ihren Namen hatte sie wieder vergessen, da sie bereits die fünfte Lehrerin im Fach Geschichte war, die Savannah allein im letzten halben Jahr gehabt hatte. Wie immer in so einer Situation schaute sie sich vorsichtig um, ob einer der anderen das Gleiche sah wie sie. Und wie immer war sie anscheinend die Einzige. Schon als Kind hatte sie seltsame Schatten gesehen. In der Regel war der Mensch, bei dem sie dieses merkwürdige Etwas entdeckt hatte, kurze Zeit später gestorben. Das erste Mal war es ihr richtig bewusst geworden, als sie als fünfjährige mit ihrer Mutter einen Rummel besucht hatte. Eine hagere Frau war an ihnen vorbeigegangen und Savannah zeigte ihrer Mutter, dass sie Schatten an der Frau sehen konnte. Sophie nahm sie zur Seite und kniete sich vor sie hin. Sie erinnerte sich noch, wie ihre Mutter ihr sanft über das Gesicht gefahren war. Instinktiv spürte sie, dass Sophie ihr jetzt etwas Wichtiges sagen würde.

„Schätzchen, auch wenn du diese Schatten siehst, musst du darauf achten, dass niemand etwas davon mitbekommt.“ Sie hatte verständnislos ihren Kopf geschüttelt.

„Was bedeuten die Schatten?“, fragte sie leise. Auch wenn sie Angst vor der Antwort hatte, so wollte sie es doch wissen. Ihre Mutter schaute sie traurig an. Erst dachte Savannah, sie würde ihr nicht antworten, doch dann hatte Sophie ihr die Wahrheit gesagt.

„Kannst du dich noch an unseren Nachbarn Mr. Eldridge erinnern?“ Savannah nickte. Der Mann hatte sie immer so böse angesehen. Sie hatte ihn nie gemocht. Andere lächelten sie zumindest an.

„Du hast Schatten bei ihm gesehen und einige Tage später ist er gestorben.“ Savannah wusste, was verstorben bedeutete. Die Menschen waren dann einfach weg und sie kamen nicht wieder. Schweigend sah sie noch einmal zu der hageren Frau, an deren Gestalt ein ziemlich dunkler Schatten klebte. Es kam darauf an, wie dunkel die Schatten waren. Je dunkler, desto schneller verstarben sie.

Wieder zurück in der Gegenwart, schaute Savannah sich die Frau vor der Klasse etwas genauer an. In ihren Haaren waren nur vereinzelt graue Strähnen zu sehen. Eine große Brille saß auf einer Hakennase. Immer wieder wurde sie durch einen Finger nach oben geschoben, da sie anscheinend zu schwer war und immer wieder nach unten rutschte. Draußen blitzte und donnerte es, und das Schattenwesen zog sich bei der plötzlichen Helligkeit ein wenig zurück.

Fast hätte sie das Vibrieren ihres Handys nicht gehört. In ihrem Magen bildete sich ein schwerer Klumpen, als sie es schnell und geräuschlos aus ihrer Tasche holte. Als sie auf das Display schaute, sah sie, dass ihre Mutter ihr eine Nachricht geschrieben hatte. Und das war schon sehr merkwürdig. Auf dem Display erschien die Nachricht: Schatz komm bitte schnell nach Hause. Liebe dich, Mom.

Savannah schnappte sich ihre Tasche und verließ eilends den Raum, ehe die Lehrerin sie aufhalten konnte. Sie hatte noch nie im Leben den Unterricht geschwänzt. Sie war immer zuverlässig, immer pünktlich und pflichtbewusst gewesen. Und doch war sie schon immer anders gewesen als andere. Sie schien nirgendwo richtig hinzugehören und hatte das Talent, sich in großen Menschenmengen fast unsichtbar machen zu können. Anders als ihre Mutter Sophie. Wo auch immer sie hinging, fingen die Leute ein Gespräch mit ihr an. Manchmal fand Savannah sie in einer Menschentraube vor, aus der sie sie erst einmal retten musste. Doch ihre Mutter würde sie niemals bitten, früher nach Hause zu kommen, wenn nicht etwas passiert wäre.

Den Heimweg schaffte sie in der Hälfte der Zeit als sonst. Als sie die Hintertür zur Küche öffnete, fiel ihr Blick auf den Küchentisch. Das Glas Milch, das sie heute Morgen dort hingestellt hatte, war bis jetzt noch nicht angerührt worden. In der Mitte des Tisches lag ein Umschlag. Was jetzt kam, das kannte Savannah schon. Langsam öffnete sie den Umschlag und heraus kamen zwei Flugtickets. Um 18:45 Uhr ging der Flug von Chicago nach Dublin in Irland.

„Mom, wo bist du?“ Ihre Stimme zitterte ein wenig. Oben hörte sie ein Poltern, dann waren auch schon die Schritte ihrer Mutter auf der Treppe zu hören. Als Sophie vor ihrer Tochter stehenblieb, spielte sie nervös mit ihren Fingern und nestelte an ihrem Rock. Ihre Mutter konnte ihr noch nicht einmal in die Augen schauen. Zu müde, um etwas zu sagen, schüttelte Savannah nur den Kopf, legte den Umschlag wieder auf den Tisch und ging nach oben.

Sie fühlte sich, als würde sie eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern tragen. Geübt wie sie war, packte sie ihre Sachen innerhalb einer Stunde zusammen. Das einzige Gute an diesem Tag war, dass sie die Klausur nicht schreiben musste. Savannah liebte ihre Mutter. Auch wenn ihr schon ein paar Mal durch den Kopf gegangen war, dass niemand sie zwingen konnte, wieder einmal umziehen zu müssen, so war sie ihrer flatterhaften Mutter immer gefolgt. Sie hätte die Schule abbrechen und einen Ganztagsjob annehmen können, doch ihrer Mutter war es wichtig, dass sie einen Schulabschluss in der Tasche hatte. Sophie musste den letzten Rest ihres Ersparten zusammengekratzt haben, um die Tickets bezahlen zu können. Außerdem liebte Savannah ihre Mutter sehr. Sie waren immer zu zweit gewesen. Mutter und Tochter gegen die Welt.

 

Die ganze Zeit während der Reise sprachen sie kein Wort miteinander. Der Abflug verzögerte sich durch das schlechte Wetter um eine Stunde, sodass sie am nächsten Morgen um 09:30 Uhr in Irland landeten. Savannah hatte kaum ein Auge zugetan und fühlte sich nun wie gerädert nach dem langen Flug. Am Flughafen wartete bereits ein Mietwagen auf die beiden Frauen. Während der Fahrt zu ihrem unbekannten Ziel fielen Savannah die Augen zu. Durch ihre Träume spukten immer wieder die schwarzen Schatten, die den Tod ankündigten. Unabwendbar holten sie sich die Seelen der Menschen, denen es nicht mehr gestattet war, weiter auf der Erde zu leben. Als sie schlaftrunken ihre Augen öffnete und aus dem Fenster schaute, bemerkte sie einen Mann, der sich mit einem Bein auf eine Steinmauer stützte. Der Fremde wäre ihr eigentlich nicht aufgefallen, doch er blickte sie direkt an, als sie an ihm vorbeifuhren. Seine Augen schienen durchdringend und unheimlich tief in ihr Innerstes zu sehen. Savannah unterdrückte einen leichten Schauer. Und mit einem Mal war er verschwunden. So, als habe er sich in Luft aufgelöst.

Tief einatmend versuchte Savannah, sich wieder zu beruhigen. Nun leicht genervt drehte sie die Lautstärke des Radios herunter. Ihre Mutter hatte die Angewohnheit, nicht nur das Auto, sondern auch die gesamte Umgebung im Umkreis von einem Kilometer mit ihrer Musik zu beschallen. Loreena McKennitt sang in einer Lautstärke, die ihr beinahe in den Ohren wehtat, das Lied ‘Stolen Child‘. Da Savannah sonst eigentlich eine Schwäche für die Gedichte von W.B. Yeats und dieses Lied hatte, ärgerte es sie umso mehr, dass sie es momentan nicht ertragen konnte. Am liebsten wäre ihr jetzt absolute Ruhe. Ruhe und Einsamkeit. Immer, wenn ihr alles zu viel wurde, musste sie sich zurückziehen. Nur für sich sein, ihre Gedanken ordnen. Ein wenig verdrängen, dass sie Schatten sehen konnte. Verdrängen, dass sie Dinge konnte, von denen niemand außer ihrer Familie wusste.

 

Sie passierten wunderschöne Landschaften, kamen an Torffeldern vorbei. Die engen Straßen wurden von kleinen Steinmauern umgeben. Immer wieder kam es vor, dass ihre Mutter wegen einer Herde Schafe, die es sich auf der Straße gemütlich gemacht hatte, anhalten musste. Noch immer sprachen sie kein Wort miteinander. Als Savannah die Stille nicht mehr aushielt, brach sie das Schweigen.

„Wo fahren wir eigentlich hin?“ Sie versuchte, ihre Stimme teilnahmslos klingen zu lassen. Sophie fing an, nervös mit den Fingern den Takt des aktuellen Liedes auf dem Lenkrad mit zu tippen.

„Wir fahren deine Großmutter besuchen.“

Hätte ihre Mutter gesagt, dass sie einen Kobold besuchen gehen würden, hätte sie nicht erstaunter sein können. Sicher, sie hatte Nola vermisst, aber Savannah hatte nicht so bald mit einer Versöhnung zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter gerechnet. Auch wenn sie bei ihrem Reiseziel an ihre Großmutter hätte denken können. Nola O’Sullivan war dickköpfig, starrsinnig, liebevoll und vor allem darauf bedacht, dass niemand wusste, wie alt sie wirklich war. Als Kind hatte Savannah ihre Großmutter immer ‘Grandy‘ genannt, doch eines Tages nahm ihre Großmutter sie zur Seite, setzte sie auf ihren Schoß und handelte einen Deal mit ihr aus. Wenn sie versprach, sie ab sofort nur Nola statt Grandy zu nennen, würde sie ihr ein Geheimnis verraten. Savannah, jung, wie sie war, stimmte begierig zu. Was gab es auch spannenderes als ein Geheimnis für eine Vierjährige?

Versonnen lächelnd dachte sie an diesen Tag zurück. Nola hatte sich vorgebeugt, damit sie in das Ohr ihrer Enkelin flüstern konnte. Ihre Worte lauteten: „Du, meine kleine Savannah, bist eine Cailleach, eine Verhüllte.“ Als Kind wusste sie nicht, was diese Bezeichnung zu bedeuten hatte. Wochenlang hatte sie über nichts anderes mit ihrer Mutter gesprochen. Im Nachhinein wurde ihr bewusst, dass diese Geschichte der Anfang des Streits ihrer Mutter mit ihrer Großmutter war.

Savannah konnte sich viele Sachen wirklich gut merken. Vorausgesetzt, das Betreffende interessierte sie auch. Als sie später in die Schule kam und lesen und schreiben lernte, suchte sie im Internet nach der Bezeichnung ‘Cailleach‘. Dort stand, dass mit dem Wort eine Gruppe gälischer Sagengestalten aus Schottland, Irland und von der Isle of Man bezeichnet wird. Die Cailleachs sind hexenartige Riesinnen und werden zumeist mit dem Wetter in Verbindung gebracht. Einige Cailleachs gelten als Verkörperung des Winters, andere sind Verursacherinnen von Stürmen, Beschützerinnen der Tiere oder Schöpferinnen bestimmter Seen, Flüsse, Berge oder Inseln. Übersetzt heißt es in etwa „Hexe“ oder „die Verhüllte“. Aus dieser Erklärung war sie als Kind nicht besonders schlau geworden und ihre Mutter hatte ihr verboten, dieses Wort je wieder laut auszusprechen. Bald darauf tat sie das sogenannte Geheimnis als Trick ihrer Großmutter ab, nur, damit sie sie nicht Grandy nannte. Erst im Laufe der Jahre hatte sie eine kleine Vorstellung davon bekommen, was ihre Großmutter meinte.

Mittlerweile hatten sie ein kleines Dorf erreicht, dessen Häuser typisch irisch, gemütlich und heimelig aussahen. An vielen waren Schilder mit der Aufschrift B&B befestigt. Hier und dort wurden die Cliffs of Moher als Sehenswürdigkeit angepriesen. Sie fuhren an Feldern mit Kühen und Bauern auf Traktoren vorbei, bis sie vor einem Cottage hielten. Um das kleine Häuschen herum wuchsen Blumen in den unterschiedlichsten Farben. Das Grundstück wurde von einer kleinen Steinmauer umgeben. In den Fenstern hingen zitronengelbe Vorhänge. Typisch Nola eben.

„Weißt du Schatz, wir können das als kleinen Urlaub ansehen. Morgen könnten wir die Ailwee Höhle besuchen gehen. Das ist eine der schönsten Attraktionen hier in der Gegend.“ Savannah ignorierte das nervöse Geplapper ihrer Mutter, denn in diesem Moment trat eine Frau aus der Tür. Nola, nun mit rot statt schwarz gefärbtem Haar, stand im Eingang und schaute sie abwartend an. Jetzt bemerkte auch Sophie ihre Mutter und gab den Versuch auf, ihrer Tochter den Besuch schmackhaft zu machen. Mit einem aufgesetzten Lächeln ging sie auf die ältere Frau zu.

„Hi Mom.“ Nola, königlich in dieser Disziplin, nickte ihrer Tochter zu und hielt ihr eine Wange für den Begrüßungskuss hin. Erst als ihre Enkelin auf sie zukam, erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. Auch Savannah küsste ihre Großmutter zur Begrüßung auf die Wange.

„Hi Nola.“ Danach nahm sie eine rote Strähne in die Hand und schaute sie fragend an. Die ältere Frau zuckte mit den Schultern.

„Ich wollte einmal etwas Neues ausprobieren.“ Savannah wusste, dass Nola jede einzelne graue Strähne ihres Haares abgrundtief hasste. Also nickte sie pflichtbewusst und verkniff sich insgeheim ein Lächeln. Es war schön, die ältere Frau wiederzusehen. Savannah hatte sie wirklich vermisst. Immerhin waren die beiden Frauen die einzige Familie, die sie besaß. Als sie den Kopf leicht zur Seite drehte, hätte sie schwören können, dass sie den Mann von vorhin in den Augenwinkeln bemerkt hatte. Doch als sie genauer hinschaute, konnte sie niemanden sehen. Ein kleines Schaf hob nicht weit von ihnen entfernt seinen Kopf, doch ansonsten konnte Savannah nichts entdecken.

„Kommt doch rein, oder wollt ihr den ganzen Tag hier draußen verbringen?“ Mit diesen Worten drehte sich die älteste der O’Sullivan-Frauen um und ging zurück in ihre Küche, um zwei weitere Tassen Tee aufzusetzen. Als Savannah das Heiligtum ihrer Großmutter betrat, atmete sie tief den Geruch von frischem Brot und verschiedenen Gewürzen ein. Die Küche war modern mit Herd, Backofen und sogar einer Mikrowelle eingerichtet. Im Ofen befand sich ein Laib Brot und auf dem Küchenfenster standen kleine Töpfe mit Küchenkräutern. Erleichtert aufseufzend setzte Sophie sich auf einen Stuhl und roch beiläufig an der Tasse von Nola. Kräutertee, wie sollte es auch anders sein. Savannah, abgelenkt von einem Foto von ihnen Dreien, das an der Wand hing, hörte zuerst nicht die Worte ihrer Großmutter, doch nach und nach drangen sie zu ihr durch.

„Hast du es ihr schon gesagt?“ Das Kopfschütteln ihrer Mutter bemerkte sie nicht.

„Savannah, komm und setz dich zu uns.“

Manchmal wünschte sie sich, ein ganz normaler Mensch zu sein. Jemand anderes wäre seine Großmutter besuchen gegangen und es hätte eine freudige Umarmung zur Begrüßung gegeben. Man hätte sich darüber unterhalten, was in letzter Zeit so alles passiert war und die Großmutter hätte eine Schale mit Keksen hingestellt. Zumindest stellte sich Savannah das so vor.

Doch als sie sich ihrer Mutter und Großmutter gegenüber hinsetzte, wusste sie, dass sich nun ihre ungute Vorahnung bewahrheiten würde. Sie spürte, dass Nola mental versuchte, ihren Gemütszustand einzusehen. Wie schon so oft schirmte sie sich davor ab. Mit einem zufriedenen Nicken bedeutet Nola ihr, dass sie ihre Sache gut gemacht hatte. Ihre Großmutter hatte die Gabe, die Gefühle eines Menschen zu erspüren. Wenn man sie berührte, dann konnte sie auch die Gedanken des anderen „hören“. Schon als Kind hatte Savannah von ihr Unterricht darin erhalten, wie sie ihre Gedanken und Gefühle vor fremden Einflüssen abschirmen konnte.

„Was hat Mom mir nicht gesagt?“ Sophie schwieg und spielte immer noch nervös mit ihren Fingern. In Nolas Augen tauchte erst ein mitleidiger Blick auf, doch dann setzte sie ihre gewohnt kontrollierte Maske auf. Sie liebte ihre Enkeltochter, doch was nun kam, das konnte sie ihr nicht abnehmen.

„Sie hat dir nicht die Wahrheit gesagt.“ Verwirrt schaute Savannah ihre Mutter an. Doch Sophie sah weiterhin auf ihre Hände. Sie kannte ihre Mutter. Auch wenn sie es ihrer Tochter schonender beigebracht hätte, so hatte ihre Mutter recht. Ihnen blieb keine Zeit mehr. Doch eigentlich war es ihre Aufgabe, die Verworrenheit ihrer aller Leben ihrer Tochter zu erklären. Sie wusste, dass sie keinen Orden als Mutter bekommen würde. Doch sie liebte Savannah über alles und hatte all die Jahre versucht, sie zu schützen. Nun schaute sie ihre Tochter an. Eine stumme Bitte in den Augen, die Hände wie zum Gebet gehalten.

„Savannah, du musst mir bitte bis zum Schluss zuhören.“ Das ungute Gefühl verstärkte sich bei den Worten ihrer Mutter nur noch mehr. Sophie, die sonst immer so ein fröhliches Gemüt hatte, strahlte Wellen von Angst und Anspannung aus. Auch Savannah hatte die Gabe, starke Gefühle zu „erspüren“. Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, nickte sie ihrer Mutter zustimmend zu. Nach einer kurzen Zeit, in der Sophie mit ihren Gedanken in die Vergangenheit abschweifte, begann sie zu erzählen.

„Weißt du, du hast die Augen deines Vaters geerbt.“ Nun war sie noch verwirrter. Ihre Mutter hatte nie ein Wort über ihren Vater gesagt. Als Kind hatte sie Sophie gefragt, wer es denn gewesen sei, doch diese hatte sich geweigert, ein Wort über ihn zu verlieren. Also hing dieses ominöse Geheimnis mit ihrem leiblichen Vater zusammen. Sophie fuhr fort: „Deine Großmutter und ich waren vor etwa 21 Jahren zu Besuch in Irland. Dein Großvater war wegen Stammesangelegenheiten auf Reisen und da schlug deine Großmutter vor, ihre alte Heimat zu besuchen. Auch mir wurde damals ein Geheimnis offenbart.“ Sophie schluckte schwer, doch sie spürte die Ungeduld ihrer Mutter neben sich. Wenn sie es nicht tat, dann würde Nola alles erzählen.

„Deine Großmutter erzählte mir, dass sie eigentlich aus einer anderen Welt, einer Parallelwelt kommt. Dort gab es Gestaltwandler, die über die Menschen herrschten. Ein Krieg brach aus und sie wurde in einem Kampf von den Klippen gestoßen.“ Wieder unterbrach Sophie ihre Erzählung. Sie wusste, dass das, was sie gerade erzählte, unvorstellbar und kaum zu glauben war. Nun übernahm Nola einen Teil der Erzählung.

„Als ich nach dem Sturz wieder zu mir kam, lag ich nass und frierend an einem Strand. Ein älteres Ehepaar fand mich bei einem Spaziergang und nahm mich bei sich auf. Sie dachten, ich hätte mir den Kopf an den Klippen geschlagen, da ich wirres Zeug redete und nicht wusste, wo ich mich befand. Meine Eltern waren in einer grausamen Schlacht getötet worden und so blieb ich ein paar Tage bei dem Ehepaar. Sie erzählten mir von einem Land, in dem man gut leben konnte. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Amerika. Damals sagte ich mir, dass ich diese mir fremde Welt erkunden wollte. Danach würde ich schon einen Weg finden, in mein altes Leben zurückzukehren, doch alles kam anders. Ich traf deinen Großvater, verliebte mich unsterblich in ihn und blieb in Amerika.“ Nun schaute auch Nola ganz versonnen, tief in Gedanken an die Vergangenheit. Als Sophie weiter erzählte, war ihre Stimme wieder ruhiger.

„Als sie mir das erzählte, lief ich hinaus in den Regen. Ich wollte nur weg. Entweder war meine eigene Mutter verrückt geworden oder all das, was sie mir erzählte, war wahr. Ich wusste so wie du immer, dass ich anders war als andere. Ich sehe Dinge, noch bevor sie geschehen. Und das ist der Grund, warum wir hierher nach Irland gekommen sind.“

Sophie suchte nach den richtigen Worten.

„Als ich damals vor meiner Mutter weglief, nahm ich das Auto, obwohl ich noch keinen Führerschein hatte. Ich fuhr in strömendem Regen los. Irgendwohin, hauptsache weg. Ich fuhr zu den Cliffs of Moher. Jung und dumm, wie ich war, stieg ich aus dem Wagen und lief bei diesem Wetter den Weg zu den Klippen hoch. Und da sah ich ihn. Ohne Vorwarnung, ohne eine Vision, einfach so.“ Nun lächelte Sophie und eine Liebe, die Savannah zuvor nicht gesehen hatte, sprach aus ihrem Gesicht.

„Ein Mann lag verletzt am Wegesrand. Aus einer Wunde an seinem Bein lief das Blut ins Gras. Er hatte strahlend graue Augen, die mich im Fieberwahn ansahen. ‚Mein Engel‘. So nannte er mich, als er mich das erste Mal ansah. Ich brachte ihn mit dem Auto in ein verlassenes Cottage ganz in der Nähe. Irgendwie spürte ich, dass er etwas Besonderes war, eben nicht von dieser Welt. In seinem Fieberwahn sprach er immer wieder von seinem Volk. Dass er es beschützen müsse vor einem Mann namens Alec. Er sprach von einem Kampf in einer anderen Welt und von einem Fluch. Eines Nachts lag ich neben ihm. Ich konnte nicht schlafen und ich traute mich nicht, ihn allein zu lassen. Noch immer war sein Fieber nicht verschwunden. Er bewegte sich neben mir und ich wusste, dass er wach war.“ Sophie errötete bei dem Gedanken an diese Nacht. Verlegen spielte sie mit der halb vollen Tasse Tee, die Nola ihr zuvor hingestellt hatte. Auch Savannah konnte sich vorstellen, was dann passiert war.

„Am nächsten Morgen entschied ich, dass ich meine Mutter holen sollte. Ich ließ ihn schlafend in dem Cottage zurück. Als wir wieder zurückkamen, war das Bett leer. Er war verschwunden.“ Die Röte, die zuvor Sophies Gesicht bedeckt hatte, wich nun einer weißen, bleiernen Traurigkeit. Savannahs Brust zog sich vor Mitgefühl für ihre Mutter zusammen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie schrecklich sich Sophie gefühlt haben musste.

„Ich wusste und ich weiß es noch jetzt, dass der Fremde nicht aus dieser Welt stammte. Das war wohl der beste Beweis, um die Geschichte meiner Mutter zu belegen. Kurze Zeit später fand ich heraus, dass ich schwanger war und wir kehrten nach Amerika zurück.“

Noch immer schwieg Savannah. Sie konnte kaum fassen, was die beiden Frauen ihr da erzählten. Es stimmte, sie war anders, doch in zwei Generationen von Menschen abzustammen, die aus einer anderen Welt kamen, das war dann doch zu viel des Guten.

„Meine Kräfte veränderten sich nach deiner Geburt. Konnte ich früher Dinge nur ein paar Minuten voraussagen, so konnte ich ab diesem Zeitpunkt Geschehnisse sehen, die weit in der Zukunft lagen. Natürlich nicht jedes Ereignis, doch es war ein riesiger Unterschied. Außerdem begann ich, die schlechten und guten Gefühle der Menschen in meiner Umgebung zu absorbieren. Ich gewann immer mehr Freunde, da die Menschen sich in meiner Umgebung wohl fühlten. Doch je länger wir zwei an einem Ort blieben, desto mehr Gefühle zog ich an, bis ich krank wurde. Ich schaffe es nicht, mich davor abzuschirmen. Das ist der Grund, warum deine Großmutter dir als Kind beigebracht hat, deine Emotionen und Gedanken vor Einflüssen abzuschirmen.“

„Ist das der Grund, warum wir so oft umgezogen sind?“

Sophie nickte.

„Warum hast du mir nicht schon früher etwas davon erzählt?“ Savannah spürte, wie ihr Magen sich zu einem Knoten zusammenzog. Die richtige Frage lautete aber, warum hatte sie das nicht vorher herausgefunden. War sie so blind gewesen? Als sie nach draußen schaute, sah sie, dass dunkle Wolken aufgezogen waren. Ein leichter Nieselregen hatte bereits eingesetzt. Sie musste ruhig bleiben. Eine weitere ihrer nicht erwünschten Gaben war, dass sie ein Unwetter heraufbeschwören konnte. Als Kind war sie einmal eine Woche mit einer Magen-Darm-Krankheit zu Hause geblieben. Es hatte die ganze Zeit gehagelt, weil sie sich so schlecht gefühlt hatte.

„Ich dachte, ich schütze dich vor all dem, wenn du nichts weißt. Du solltest, so gut es eben ging, eine normale Kindheit haben. Als du zu einer jungen Frau herangewachsen bist, schob ich es immer vor mich her. Immer habe ich mir gesagt, dass wir noch Zeit hätten.“ Savannah bekam eine Gänsehaut bei dem verzweifelten Tonfall ihrer Mutter. Nola strich ihrer Tochter einmal kurz über den Arm, bevor sie das Wort an ihre Enkelin richtete.

„Deine Mutter rief mich vor eurer Abreise an. Sie hatte eine Vision von uns beiden in der Welt, in der ich geboren worden bin. Doch du warst nicht da. Eine Möglichkeit, dass sie dich nicht gesehen hat, ist, dass wir aus irgendeinem Grund die Welten wechseln werden und du hier zurückbleibst. Die andere Möglichkeit ist, dass du stirbst. Beide Möglichkeiten wurden deiner Mutter offenbart.“

Das Unwetter brach gewaltig und herrschsüchtig aus. Nola musste das Licht einschalten, so dunkel wurde es in der Küche. Der Regen prasselte mit Gewalt auf das Haus. Blitz- und Donnerschläge wechselten sich ab. Savannah schloss die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus. Erst da ließ das Tosen des Windes ein wenig nach und der gewaltige Regen klang zu einem leichten Schauer ab. Das Küchenradio schaltete sich mit einem Mal an. Die Nachrichten fingen gerade an und ein Mann warnte die Bewohner der Umgebung vor dem plötzlich aufkommenden Unwetter. Savannah zwang sich zur Ruhe. Ihre Großmutter war in der Zwischenzeit aufgestanden und schaltete das Radio aus. Sie murmelte noch etwas über die Technik von heute vor sich hin, ehe sie einen Schluck ihres Kräutertees trank. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, ehe Savannah wieder völlig ruhig geworden war und die dunklen Wolken durch einen strahlend blauen Himmel vertrieben wurden. Normalerweise konnte sie sich besser beherrschen, doch heute war nichts normal. Nola, die bemerkte, wie sehr ihre Enkelin sich bemühte, ihre Gefühle nicht noch einmal nach außen dringen zu lassen, stand von ihrem Platz auf und schaute im Ofen nach dem Brot. Beiläufig sagte sie: „Savannah, vielleicht solltest du einen kleinen Spaziergang machen, während deine Mutter und ich das Mittagessen vorbereiten.“

Ohne weiter Zeit zu verlieren, stand sie auf, drückte ihrer Mutter einen Kuss auf den Kopf und verschwand schnell durch die Tür. Draußen atmete sie erleichtert die gereinigte Luft ein. Durch die Sonne glitzerten die Wassertropfen wie tausend kleine Diamanten. Der Nachteil bei diesem Wetter war, dass ihre Haare anfingen, sich zu kräuseln und sie sich immer wieder mit den Fingern durch ihre Mähne fuhr, um sie ein wenig zu glätten. Ein Blick in den Spiegel würde ihr sagen, dass dies jedoch nichts brachte, das wusste Savannah. Schnellen Schrittes ging sie einen Weg lang, der sie über Felder bis zu einem kleinen Wald führte. Um noch mehr Energie zu verbrauchen, rannte sie ein Stück den Weg hinauf.

Eigentlich hasste Savannah das Joggen. Sie konnte nicht verstehen, wie man sich dieser Quälerei freiwillig unterziehen konnte. Doch es gab Tage, da staute sich viel ungenutzte Energie in ihr an. Andere Menschen bekamen dann einfach schlechte Laune oder suchten sich eine Beschäftigung, doch Savannah musste dann mindestens eine Stunde laufen gehen, um die Energie abzubauen. Manchmal kochte sie stundenlang oder sie malte einen ganzen Tag. Bei diesen Tätigkeiten konnte sie ebenfalls die Energie abbauen, doch es dauerte dann länger. Das war der Grund, warum sie ab und zu ihre Ruhe brauchte. Wenn sie regelmäßig malte oder sich anders künstlerisch beschäftigte, kam es erst gar nicht dazu, dass sich die Energie so extrem aufbaute. Sie zog die künstlerischen Aktivitäten dem Sport vor, doch ihre Mutter war eine begeisterte Läuferin und überredete sie immer wieder, mit ihr, egal bei welchem Wetter, ihre Turnschuhe anzuziehen und ihre trägen Muskeln zu bewegen.

Oben angekommen, atmete Savannah schwer und verfluchte leise ihre Kondition. Der Himmel verdunkelte sich wieder, doch diesmal war sie nicht daran schuld. Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Die Erde unter ihren Füßen fing an zu beben. Nebel zog auf und waberte um ihre Füße. Savannah kannte sich mit dem Wetter in Irland nicht aus, doch selbst ihr war klar, dass es nicht natürlich war, dass binnen Sekunden solch ein seltsamer Nebel aufzog. Sie versuchte, in die Richtung zu laufen, aus der sie gekommen war, doch der Nebel wurde immer zäher und erschwerte das Laufen. Savannah konnte ihren Puls in den Ohren hören, so laut pochte ihr Herz. Mit den dunklen Schatten lebte sie bereits ein Leben lang, doch die Angst, die sich in ihr Inneres fraß, war nicht normal. Der Nebel stieg nun immer höher und sie versuchte, ihn mit der Hand wegzuwischen. Würde sie es nicht besser wissen, hätte Savannah schwören können, dass da jemand lachte. Das war kein freudiges Geräusch, sondern ein tiefes boshaftes Lachen. Doch sie konnte weit und breit niemanden sehen. Der Nebel schien an ihr zu ziehen. Ihre Schultern, ihr Kopf, ihr gesamter Körper wurden schwer.

Mittlerweile konnte Savannah vor sich gar nichts mehr erkennen. Sie wusste nicht einmal mehr, in welche Richtung sie ging. Sie wusste auch nicht, wie lange sie nun schon unterwegs war, doch mit einem Mal tauchte vor ihr das Cottage ihrer Großmutter auf. Gerade, als sie einen weiteren Schritt vorwärtsgehen wollte, wurde sie durch irgendetwas oder irgendjemanden zur Seite gerissen, sodass sie hart auf dem felsigen Untergrund aufschlug. Der Aufprall trieb ihr den Atem aus der Lunge. Ihr Kopf schlug hart auf den Boden und kleine bunte Sterne tanzten für einige Sekunden vor ihren Augen. Doch als sie wieder sehen konnte, lief ihr erneut ein eisiger Schauer über den Rücken. Neben sich sah sie einen Mann liegen. Nein, nicht irgendeinen Mann, sondern den Mann, den sie auf der Fahrt zu Nola gesehen hatte. Anscheinend war er bewusstlos. Der Nebel war mittlerweile verschwunden. Ein Stück von ihnen entfernt stand ein Schild mit der Aufschrift O'Brien's Tower und einem Pfeil. Direkt vor ihr endete der Boden. Als sie sich etwas aufrichtete, sah Savannah, dass sie sich sehr nah an den Klippen befand. Als sie sich weiter umschaute, sah sie ein weiteres Schild, auf dem Cliffs of Moher und die Zahl 190m stand. Das hieße dann also, wenn dieser Fremde sie nicht aufgehalten hätte, wäre sie 190 Meter die Klippen hinunter gefallen. An die Vision ihrer Mutter wollte sie erst einmal nicht denken. Noch immer bewegte der Fremde sich nicht. Der Nebel war zwar verschwunden, doch der Himmel war immer noch dunkel und der Wind frischte erneut auf, so, als ob etwas oder jemand seine Wut hinausschreien wollte. Die Erde erbebte unter den gewaltigen Donnerschlägen.

„Na dann mal los Fremder. Ich habe keine Lust, hier draußen zu bleiben.“

Savannah sammelte ihre Kraft, nahm den größten Stein vom Boden auf, den sie finden konnte und schnitt sich mit der spitzen Seite in ihren Daumen. Den roten Blutstropfen ließ sie mitten auf den Stein tropfen. Wie bei einem Schwamm verschwand die rote Flüssigkeit im Inneren des Steines und Savannah spürte, wie eine ungeheure Kraft durch ihren Körper schoss. Diesen kleinen Trick hatte sie durch einen Zufall als Kind beim Spielen herausgefunden. Nun konnte sie sich den Mann mühelos auf den Rücken heben. Leider war er viel größer als sie, sodass seine Beine auf dem Boden schleiften. Doch sie hatte keine Zeit, sich etwas anderes auszudenken. Ihre Kraft würde nur ein paar Minuten halten. Sie spürte bereits, dass der Stein, den sie sich in die Tasche gesteckt hatte, kleiner wurde. Je größer der Stein war, desto länger hielt ihre Kraft. Den Weg hinunter entdeckte sie eine kleine Hütte, die verriegelt war. An einer Seite des Cottages hatte jemand die Worte Geister und Verwunschen mit roter Farbe angeschrieben. Mit einer Hand brach Savannah das Schloss auf, mit der anderen hielt sie den Mann auf ihrem Rücken. Gerade, als die alte Holztür quietschend aufsprang, verließ die Kraft sie wieder und Savannah sackte japsend unter dem Gewicht des Mannes zusammen. Sie brauchte eine Weile, um ihn wieder von sich runter zu heben und noch mal doppelt so lange, um ihn auf das Bett, das am Ende des Raumes stand, zu schleifen und hinauf auf die Matratze zu legen. Zweimal hintereinander würde der Trick nicht funktionieren, das wusste sie aus Erfahrung. Das Innere der Hütte wurde kurz durch einen Blitz erhellt und Savannah schreckte alarmiert zurück.

Der Mann wachte gerade auf und schaute sie verwirrt blinzelnd an. Wie hypnotisiert konnte sie jede Farbe der ungewöhnlichen Iris erkennen. Da gab es die Farben Hellgrün, dann Grau, Rot, Azurblau, Ocker und ein helles Gelb. Und beim nächsten Blinzeln waren seine Augen mit einem Mal nur noch Azurblau. Auch wenn der Mann sie vor dem Sturz in die tödliche Tiefe bewahrt hatte, so wusste sie nicht, ob er ein Psychopath, ein Mörder oder etwas noch Schlimmeres war. So, als spüre er ihre Angst, richtete sich der Fremde langsam auf. Seine Augen waren weiterhin auf sie gerichtet. Sein Blick war nicht bedrohlich, doch Savannah spürte den Eindruck von Stärke und Entschlossenheit, die er aussandte. Erst jetzt fielen ihr die Muskeln unter seinem Hemd auf. Als sie ihn ins Haus geschleift hatte, war ihr schon aufgefallen, dass er mindestens 1,90m groß sein musste. Doch was sie am meisten erschreckte, waren die Narben. Sein Hemd hatte er sich wahrscheinlich bei der Heldentat auf den Klippen zerrissen. Savannah konnte die Narben bei jedem Blitzschlag deutlich auf seiner Brust sehen. Um ihre Nervosität zu verbergen, umfasste sie mit der Hand die kleine Kugel, die noch von dem Stein in ihrer Tasche übriggeblieben war. Das Kinn vorgestreckt und doch bereit, jederzeit die Flucht in den Sturm nach draußen anzutreten, sah sie ihm genau in die Augen. Als ob ihre Haltung ihn erheitern würde, bemerkte sie ein leichtes Lächeln in seinem Gesicht. Nur ganz leicht hatten sich seine Lippen verformt, doch es machte sein Gesicht gleich viel attraktiver. Das leichte irrationale Kribbeln in ihrem Magen ignorierend, fragte sie ihn mit herausfordernder Stimme: „Wer seid Ihr?“

Doch der Fremde schwieg. Ok, Savannah musste zugeben, dass das hier nicht so gut lief. Ihrer Meinung nach war das ja auch kein perfekter Tag, also was erwartete der Fremde? Hätte sie ihn lieber fragen sollen, wie es ihm gehe, nachdem er sie vor diesem unheimlichen und seltsamen Nebel und natürlich nicht zu vergessen vor dem tödlichen Sturz von den Klippen gerettet hatte? Vielleicht hätte sie sich erst einmal für die Rettung bedanken sollen? Oh man, sie benahm sich wie ein Kind. Die Stimme des Fremden unterbrach ihre Gedanken.

„Mein Name ist Aidan Killian.“ Die rollende Sprechweise des Fremden bescherte ihr eine leichte Gänsehaut. Damit konnte er jedem Iren den Rang ablaufen. Doch er sah nicht aus wie ein typischer Ire. Zumindest so, wie sich Savannah einen typischen Iren vorstellte. Sie hatte zwar einen irischen Nachnamen, doch geboren war sie in der Stadt Savannah in Amerika. Dies war ihr erster Besuch in Irland, wenn man das denn so nennen konnte. Seine schulterlangen Haare waren dunkelblond mit einigen braunen Strähnen. Sein Gesicht war markant, doch nicht zu kantig. Seine Nase schien schon mehrfach gebrochen worden zu sein. Im Großen und Ganzen hätte Savannah ihn als Raufbold betitelt. Doch sie wusste besser als viele andere, dass man Menschen nicht nach ihrem Aussehen beurteilen durfte. Es verwirrte sie zutiefst, dass sie sich zu diesem Fremden so hingezogen fühlte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie darauf geachtet, dass niemand ihr zu nahe kam. Es war sicherer. Sowohl für ihre Familie, als auch für sich selbst.

„Wollt Ihr mir nicht euren Namen verraten?“ Sein dunkler Bariton passte wunderbar zu seinem Gesicht und dem Dreitagebart.

„Ich heiße Savannah. Savannah O’Sullivan.“ Im Stillen trat sich Savannah in den Hintern. Und zwar dafür, dass sie nur ein paar Worte rausbrachte. Sie war kein Kind mehr und konnte durchaus mit dieser seltsamen Situation umgehen. Zumindest sollte sie es.

„Ich danke Euch, dass Ihr mir das Leben gerettet habt. Hättet Ihr mich nicht zur Seite gestoßen, wäre ich jetzt tot.“

Mit einem Nicken nahm Aidan ihren Dank an. Doch ein leicht grüblerischer Ausdruck ersetzte nun seinen ernsten Blick.

„Ich sehe, Ihr habt Euch nun wieder in der Gewalt. Der Sturm da draußen ist wohl nicht Euer Verdienst?“

Etwas Schlimmeres hätte er wohl nicht sagen können. Savannah verschloss augenblicklich alle Emotionen. Niemand wusste von ihrem Geheimnis außer ihrer Familie. Panik durchströmte ihren Körper. Ihre Hände wurden schweißnass. Was sollte sie tun?

„Savannah.“ Aidan sagte nur dieses eine Wort. Sanft, ohne eine Spur der Härte, die sie zuvor wahrgenommen hatte.

„Ich bin nicht Euer Feind. Im Gegensatz, ich bin Euer Verbündeter. Ich habe einen sehr langen Weg auf mich genommen, um Euch zu finden.“

„Warum wolltet Ihr mich finden?“ Savannah bemühte sich, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen und nicht schnurstracks davon zu rennen. Durch ihre Bemühungen bekam ihre Stimme einen eisigen Klang, obwohl sie das so nicht beabsichtigt hatte. Als er von dem Bett aufstand, nahm seine Präsenz den gesamten Raum in der Hütte ein. Und wieder wich die Luft aus ihrer Lunge, ohne dass sie ihre verrücktspielenden Hormone unter Kontrolle bringen konnte. Sie hoffte, dass er nichts davon mitbekam.

„Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, Euch die Wahrheit zu erläutern. Doch so ist es nicht. Nachdem Ihr das Haus eurer Großmutter verlassen habt, muss Alec einen Zauber gewirkt haben, der die beiden anderen Frauen in meine Welt zog. Ich bin Euch gefolgt, da ich ahnte, dass etwas geschehen würde. Ich sah Euch dort oben auf den Klippen und mir wäre beinahe das Herz stehen geblieben.“

Nach diesen Worten schwieg Savannah. Glaubte der Mann ernsthaft, dass sie ihm diese Geschichte so einfach glauben würde? Die Vision ihrer Mutter war ihr zwar im Gedächtnis geblieben, doch Sophie hätte bestimmt erwähnt, wenn sie schon so bald eintreten würde. Mein Gott, sie hatte erst vor ein oder zwei Stunden eine Story erzählt bekommen, bei der jeder andere seine Familie in eine geschlossene Anstalt einweisen lassen würde. Nur sie eben nicht, da sie wusste, dass solche Dinge durchaus im Bereich des Möglichen lagen. Dazu kam, dass sie ihm tief in ihrem Inneren vertraute. Oder wollte sie ihm einfach nur vertrauen? Doch warum? Sie wusste nicht, woher dieses Gefühl kam. Es war völlig irrational und untypisch für sie. In Büchern hatte sie davon gelesen, dass eine besondere Verbindung beim ersten Blick zwischen Menschen entstehen kann. Bis jetzt hatte sie das nur als Humbug abgetan. In der Realität passierte so etwas nicht. Oder? Savannahs Gedanken rasten.

„Ich sehe, Ihr vertraut mir nicht. Ich weiß nicht genau, wie viele Gaben Ihr besitzt. Wenn ich Euch meine Hand reiche, könnt Ihr dann feststellen, ob ich die Wahrheit sage?“

Nachdenklich schaute sie auf die ausgestreckte Hand. Sie hatte keine Ahnung, wozu der Mann fähig war. Die Nachrichten über verschleppte Frauen in den Medien hatten nicht gerade dazu beigetragen, dass man Fremden einfach so folgen sollte. Doch was war, wenn er wirklich recht hatte und ihre Mutter und ihre Großmutter in eine fremde Welt verschwunden waren? Wollte sie das Risiko eingehen, der Sache nicht auf den Grund zu gehen? Die Antwort lautete nein.

Schnell, damit sie es sich nicht wieder anders überlegen konnte, nahm sie ihre rechte Hand aus der Tasche und umfasste damit die größere Männerhand. Dass dabei der letzte Rest des Steins aus der Tasche fiel, bemerkte sie nicht. Als sich ihre Hände berührten, spürte sie erst nichts. Nur die Wärme seiner Haut. Es war ihr noch nie passiert, dass sie bei einer Berührung nichts gespürt hatte. Doch mit einem Mal schien Aidan sich ihr zu öffnen. Und dann tauchte sie unter. Gefühle, Ängste und Gedanken stürmten auf sie ein. Tief in Aidans Seele bemerkte Savannah eine so starke Liebe, dass es ihr fast die Tränen in die Augen trieb. Aidan liebte eine Frau, doch sie spürte auch eine unterschwellige Traurigkeit und zugleich Bitterkeit. Instinktiv wollte sie ihn in den Arm nehmen. Ihn trösten, auch wenn sie ihn nicht kannte. Ihre Gefühle waren so intensiv, dass ihre Augen leicht feucht wurden. Als er merkte, wie tief sie bereits in seine Gefühlswelt eingetaucht war, schob er eine Art Riegel vor. Doch er erlaubte ihr, sein Wesen weiter zu erkunden. Seine Eigenarten, seine Aufrichtigkeit in jedem Wort, das er zuvor gesagt hatte. Je weiter Savannah vordrang, desto mehr achtete sie darauf, dass nichts von ihr preisgegeben wurde. Sie musste sich wieder unter Kontrolle bringen. Als sie sich sicher war, dass er tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, kehrte sie zurück und öffnete ihre Augen. Fast hätte sie schwören können, dass seine Augen wieder dieses Wirrwarr an verschiedenen Farben angenommen hatte. Doch als sie wieder ganz zu sich kam und ihn prüfend anschaute, waren seine Augen so, wie sie vorher gewesen waren.

Aidan verbarg noch so einiges vor ihr, da war sie sich sicher. Aber Savannah hatte bis zu einem gewissen Grad Verständnis dafür. Auch ihr Selbstschutz war ziemlich ausgeprägt. Doch nun war sie sich sicher, dass er die Wahrheit gesagt hatte und ihre Familie ungewollt in eine andere Welt entführt worden war. Als Savannah nachdenklich aus dem Fenster blickte, bückte sich Aidan blitzschnell und hob den kleinen Stein auf, der Savannah aus der Tasche gefallen war. Mit einer fließenden Bewegung ließ er das Fundstück in seine Hosentasche gleiten. Jetzt, da Savannah ihm glaubte, mussten sie sich beeilen. Anscheinend war sie zu der gleichen Meinung wie er gekommen. Gedankenverloren strich sie sich eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr.

„Können wir ihnen folgen?“ Aidan hörte deutlich die Sorge um ihre Familie aus ihrer Stimme.

„Ja, es gibt einen Weg in meine Welt. Doch ich weiß nicht, ob er Euch gefallen wird. Seid Ihr bereit, Euer Leben zu riskieren, um Eurer Mutter und Großmutter zu folgen?“

Aidan war sich eigentlich hundertprozentig sicher, dass ihr beim Übergang nichts passieren würde, doch er wollte ihre Reaktion sehen. Und diese kam, ohne dass Savannah lange darüber nachdachte. Nickend sagte sie: „Ja, natürlich.“

„Gut, dann folgt mir zu den Klippen.“

Verwirrt schaute sie dem Mann nach, der aus der Tür in den Regen hinaus trat. Galant wie ein Gentleman hielt er ihr die Tür auf, als sie sich endlich in Bewegung setzte. Was zum Geier sollten sie auf den Klippen? Als die Erkenntnis sie traf, lief ihr erneut ein Schauer der Angst den Rücken hinunter. Nola hatte erzählt, dass sie einst von einer Klippe gestoßen worden war und dann in Irland aufgewacht sei. Oben angekommen drehte Aidan sich zu ihr um. Mit einem Nicken deutete er in die Tiefe.

„Alec wollte Euch zuvor zu seinen Bedingungen in die Tiefe ziehen, doch nun reist Ihr mit mir. Der einzige Weg, der nicht schmerzhaft ist, ist dieser.“

„Ihr meint also, dass wir freiwillig und bei klarem Verstand die Klippen hinunter springen sollen.“

Savannah formulierte das nicht als Frage, sondern als Feststellung. Aidan nickte und wartete auf ihre weitere Reaktion. Also gut. Entweder, das klappte, oder sie würde als die Verrückte in die Geschichte eingehen, die sich freiwillig von den Cliffs of Moher ins Meer gestürzt hatte. Doch sie konnte und wollte ihre Mutter und Nola nicht im Stich lassen. Es war verrückt, aber Savannah sah keinen anderen Weg. Aidan ging ein Stück zurück und hielt ihr erneut seine Hand hin.

„Vertraut mir.“

Mit wackeligen Beinen ging sie zu ihm und legte ihre Hand in seine.

„Ich schwöre Euch bei allem, was mir heilig ist. Sollte das nicht funktionieren, dann werde ich Euch im nächsten Leben dafür büßen lassen.“ Die Angst ließ ihre Hände zittern.

„Das habt Ihr schon, gewissermaßen.“ Mit diesen seltsamen Worten machte er einen Schritt nach vorn und ehe Savannah sich versah, liefen sie zu zweit rennend auf die Klippen zu und sprangen.