Aus dem Italienischen von Julika Brandestini
Die italienische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel L’incontro bei Giulio Einaudi editore in Turin. Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 2014 als SALTO im Verlag Klaus Wagenbach in Berlin.
E-Book-Ausgabe 2017
© 2012 Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino
© 2014, 2017 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © DreamPictures/gettyimages. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
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ISBN: 9783803142306
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2780 8
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Für Massimo Falcone, zur Erinnerung an unser gemeinsames Spiel
Wir haben in derselben Straße gespielt.
Auf diese Weise findet man in Crabas wahre Geschwister, denn von derselben Mutter geboren zu sein, hat noch niemals Zugehörigkeit gestiftet, nicht einmal unter Katzen. Geheiligt werde der Respekt für das Fleisch von unserem Fleische, doch die Straße und die Tatsache, zusammen gespielt zu haben, schmiedet die Kinder durch festere Bande zusammen, die bis ins Erwachsenenalter halten. Zeugung ist nichts, was sich von selbst versteht. Das Blut folgt verschlungenen Wegen, und darum glaubt kein Kind ernsthaft daran, dass ein gemeinsamer Familienname auch Garant für einen gemeinsamen Ursprung ist.
Wie man geboren wurde, das muss man sich mehrfach erklären lassen, und vermutlich deshalb versuchen viele Erwachsene ihr Leben lang, sich von der zufälligen Verwandtschaft zu befreien und sie durch eine andere, durch pure Willensakte angenommene, zu ersetzen. So werden Trauzeugen zu Brüdern. Patenonkel und Patentanten der eigenen Kinder werden zu Gelegenheitseltern. Gefährten und Gefährtinnen finden sich zu Beginn jedes Sommers, in der Johannisnacht, wenn die ganze Insel im Widerschein der vielen Feuer leuchtet, die man Hand in Hand überspringt, um eine Verwandtschaft zu stiften, die keiner Mutter etwas schuldig ist. Ganze Stammbäume sprießen aus Feuer und Wein, aus Schuld und Weihwasser. Doch nicht einmal diese uralten Rituale binden die Erinnerung des Herzens so sehr wie die gemeinsamen Kinderspiele auf der Straße.
Welche Familienbande könnten es mit gewissen Sommernachmittagen aufnehmen, an denen man zum ersten Mal unter dem Jubel der Spielkameraden einen Ball ins Tor schoss oder eine Riesenlibelle befreite, die sich in einem Schmetterlingsnetz verfangen hatte? Was kann der Ruf des eigenen Blutes ausrichten gegen das Bewusstsein, Auslöser für das erste blutige Knie eines Freundes zu sein? Kein Weihnachtsfest im Kreis der Familie behauptet sich in der Erinnerung gegen den Wind im Gesicht bei bestimmten freihändigen Abfahrten auf dem Fahrrad, gegen die Lichtreflexe auf dem dunklen Zopf des schönsten Mädchens im Dorf oder die glühende Scham, mit der man gemeinsam, sprachlos und schweigend, eine im Gebüsch gefundene Erwachsenenzeitschrift durchblätterte. Aus dieser verlorenen Unschuld entsteht der geheime Pakt der wahren Komplizenschaft, die maßgebliche Kraft der ersten gemeinsamen Gewissheiten, die keine Familie außer Kraft setzen kann.
In den Cafés hört man so tatsächlich manch Erwachsenen reden, Männer, die vom Leben schon tausendmal belohnt und enttäuscht worden sind und die sich gegenseitig noch immer der kindlichen Verbindungen von der Straße versichern wie einer gemeinsamen Geburt – Wir haben zusammen gespielt.
Maurizio war zehn Jahre alt und spielte auf der Straße mit niemandem. Er wohnte ein wenig außerhalb des Dorfes auf dem Land, weit weg vom Geschrei der anderen Kinder und den staubigen Straßen, auf denen solche einzigartigen Kameradschaften entstanden. Nach der Schule machte er Hausaufgaben, sah fern und schnippte alleine Murmeln gegen die Wand, aber vor allem wartete er sehnsüchtig darauf, dass die Brombeeren entlang der nahe gelegenen Wassergräben reiften, denn wenn sie schwarz genug wurden, dass man sie essen konnte, ging das Schuljahr bald zu Ende, und dann brachten ihn seine Eltern für den Sommer zu den Großeltern nach Crabas.
Wenn es endlich so weit war, luden sie sein Fahrrad aufs Autodach und packten ihm zwei Sporttaschen voller T-Shirts und kurzen Hosen, haufenweise Strümpfen und Unterwäsche sowie ein paar Badehosen. Dazu das Schulbuch für die Hausaufgaben, doch er hatte nicht die Absicht, Zeit mit Lernen zu vergeuden, wenn er bei den Großeltern war. Der Sommer war für ihn die Zeit, um jene geheimnisvollen Früchte zu ernten, die reiften wie die Brombeeren an den Sträuchern und die jedes Jahr im Juni für ihn zur Ernte bereitstanden. Er konnte es kaum erwarten, die Murmelbrüder und Libellenschwestern zu treffen, die ihm zustanden. Als einziges Kind einer Hausfrau und eines Installateurs brannte er auf unzählige Verschwisterungen durch aufgeschlagene Knie – Blut von seinem Blute – und umklammerte auf dem Rücksitz aufgeregt seine Taschen, zählte die Straßenschilder, bis er endlich das mit dem Ortsnamen auftauchen sah: Crabas.
»Und dass du Oma und Opa keinen Ärger machst, verstanden?«
Maurizio schüttelte mehrmals den Kopf, um wie üblich der brüsken Inszenierung der väterlichen Autorität Genüge zu tun.
Dann luden sie seine Sachen aus und aßen alle gemeinsam zu Mittag, Oma Cristinas Nudelauflauf mit einer Sternanis-Sauce, deren Zubereitung Maurizios Mutter nie gelernt hatte, wie sie stets beklagte. Nach dem Essen verabschiedeten sich die Eltern schläfrig, benommen von dem hausgemachten Verdauungsschnaps, einer fuhr und der andere winkte wie wild aus dem Fenster, um den Sohn zu verabschieden. Ganz so, als würden sie nie mehr wiederkommen, um ihn abzuholen.
Während dieser jährlichen Abschiede auf Zeit, die immer nach demselben Muster verliefen, stand Maurizio reglos neben den Großeltern in der Tür und entspannte sich erst, wenn das Auto der Eltern hinter der Haarnadelkurve der Einbahnstraße Via Messina verschwand. Dann, erst dann, ließ er den heißen Atem aus seiner Brust mit einem Lächeln durch die leicht geöffneten Lippen strömen.
Für Maurizio hatte der Sommer die gewundene Form einer Haarnadelkurve, und er liebte ihn.
Crabas war ein Städtchen von neuntausend Seelen, eine ganz ansehnliche Zahl, verglichen mit den umliegenden Dörfern, die durchschnittlich weniger als dreitausend Einwohner zählten. Zwar beschränkte sich die Wirtschaft des Ortes hauptsächlich auf die Produktion von Lebensmitteln für den eigenen Bedarf, trotzdem konnte er sich eines gewissen Wohlstands rühmen und der historischen Bedeutung, Sommerresidenz von Eleonora d’Arborea gewesen zu sein, die, so sagte man, an der Küste sogar ein Schloss hatte errichten lassen. Von diesem ehemaligen Glanz war in den achtziger Jahren jedoch keine Spur mehr geblieben: Bauern, Fischer und einige wenige Hirten machten zwei Drittel der Wirtschaftskraft aus; wer einen Schreibwarenladen besaß, galt schon als wohlhabend, und die wenigen Angestellten und Akademiker mit ihren höheren Schulabschlüssen bildeten die Oberschicht.
Im Vergleich zu seinem Leben auf dem Land erschien Maurizio das bäuerliche Kleinstadtleben wie ein buntes und hektisches Treiben. Es gab immer etwas zu tun, etwas zu kaufen, zu verkaufen oder zu entdecken. Die Ufer des Sees, an dem sich der Großteil des sozialen Lebens von Crabas abspielte, waren die Grenzen einer wilden Insel, an deren sanft abfallenden Stränden er mal als verwegener Entdecker, mal als Schiffbrüchiger anlandete. Mit den anderen Jungen aus dem Ort lungerte er die meiste Zeit von Juni bis September in der Nähe der Fischer herum, sie warteten darauf, dass die alten Styroporkisten weggeworfen würden, aus denen sie dann einfache Flöße für ihre Seeschlachten bauten. Die Kinderbande besaß auch stets einen stattlichen Vorrat an Vogelleim, denn das Schilf, dessen Rohre im Mistralwind schwankten, gab hervorragende Fallen ab für Meeresvögel aller Art.
Das Städtchen atmete im Rhythmus der Glocken: Die Pfarrkirche Santa Maria war seine Lunge, aber eher aus organisatorischen Gründen denn aus religiöser Inbrunst. Regulativ des städtischen Lebens waren die wechselnden Heiligen, vom Himmel gesandte Gewerkschafter, die ihre schützende Hand abwechselnd über diesen oder jenen Berufsstand hielten, und die Feiern zu ihren Ehren waren Anlass, Bilanz des vergangenen Arbeitsjahres zu ziehen.
Schutzheiliger der Fischer war Santu Pedru, der Heilige Petrus, der Menschenfischer, dem zu Ehren eine prächtige Prozession mit einem von außerhalb eingekauften Prediger veranstaltet wurde, und vor allem mit zentnerweise gebratenen Meeräschen, die man während der Tänze auf dem Platz zubereitete. Der Duft des gebratenen Fisches zog bis in die Nachbardörfer, und Maurizio verband ihn instinktiv mit den besonderen Festtagen von Crabas, das für seine Meeräschen sogar bis Cagliari berühmt war.
Die Bauern, die beinahe ebenso zahlreich waren wie die Fischer, wurden ehrenvoll von Santu Sidoru beschützt, dem Heiligen Isidor, einer spanischen Gottheit, die wohl selbst Bauer gewesen war und deren Festtag auf das Ende der Drescharbeiten in den letzten Julitagen fiel.
Die Maurer – es gab nur wenige, doch sie feierten sich, als wären sie die Einzigen, die in Crabas arbeiteten – verehrten Santa Lughía, die Heilige Lucia, nicht weil diese in ihrem Leben jemals auf einer Baustelle gearbeitet hätte, sondern vielmehr in ihrer Eigenschaft als Beschützerin der Augen, ohne die keine Mauer jemals senkrecht hochgezogen werden könnte.
Abgesehen vom Pantheon der verschiedenen Berufe gab es noch die wirklich mächtigen Heiligen, diejenigen, die für alle und zu jeder Zeit zuständig waren und die man ganz familiär nur ›der Heilige‹ und ›die Heilige‹ nannte. Die Heilige, das war Maria Assunta, die mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommene Maria, die Schutzheilige des Ortes. Der Heilige, das war Sarbadori, der Erlöser, Jesus Christus persönlich, den man mit einem Lauf der Männer ehrte, die die neun Kilometer von der Stadtmitte in Crabas bis zur Landkapelle auf den steinigen Wegen des Sinis barfuß zurücklegten.
Mit unverhohlenem Neid betrachtete man in den umliegenden Dörfern die Tatsache, dass das wohlhabende Crabas es sich leisten konnte, beinahe jeden zweiten Monat einen Heiligen zu feiern, und die Bewohner von Crabas ihrerseits stellten gerne die eigene Überlegenheit zur Schau und schossen zu jedem Fest immer spektakulärere und aufwendigere Feuerwerke in den Nachthimmel.
Maurizio mochte die religiösen Festtage, einerseits weil man Dinge aß, die den Rest des Jahres verboten waren – der Anblick der Eismaschine, aus der zweifarbiges Softeis quoll, und der Geruch von Zuckerwatte ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen –, aber vor allem wegen der vielen Verkaufsstände mit den neuesten Modellen von