Im trüben Wasser

Ein Neusiedler See Krimi

Ronnie Bresich


ISBN: 978-3-902975-66-9
1. Auflage 2020
© Verlagshaus Hernals, Wien 2012, www.verlagshaus-hernals.at

Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagfoto: Lany Schnabel
Grafik: Walter Kaufmann
Bildbearbeitung: Johannes Ebner

Die Handlung, Namen und Personen dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind reiner Zufall und keinesfalls beabsichtigt.

Inhalt

1. KAPITEL


 

September 1970

 

Eleonore war sich der Wirkung ihrer Reize auf die Burschen wohlbewusst, besonders wenn sie ihren kirschroten Bikini trug und ihr von der Sommersonne aufgehelltes honigblondes Haar offen über die Schulter fiel. Fast ebenso sicher war sich die junge Frau der aufrichtigen Zuneigung von Bobbie, dem stattlichen Weinbauernzögling aus der Nachbarortschaft. Schon seit Wochen wollte er sie ausdauernd und unnachgiebig zu einem Rendezvous bewegen, wobei sie ihm die längste Zeit nur die kalte Schulter gezeigt hatte.

Schließlich hatte sie seinem ungestümen Drängen aber doch noch nachgegeben und den ganzen sonnigen Spätnachmittag mit ihm in einem kleinen Ruderboot am Neusiedler See verbracht. Ab und zu hatten sie sogar einen Sprung in das vom ausklingenden Altweibersommer angenehm erwärmte Wasser gewagt. Nun neigte sich der Tag jedoch dem Ende zu und im Westen verbargen die sanften grünen Hügel des Leithagebirges nach und nach die glühende Sonnenscheibe, die mit ihren letzten Strahlen die ruhige Seelandschaft noch in ein stimmungsvolles Abendrot tauchte, bevor endgültig die Nacht über den Tag hereinfallen würde.

Während das Boot auf der beinahe wellenlosen Wasseroberfläche dahin glitt, zogen ausgedehnte Formationen von halbtransparenten, rot leuchtenden Cirruswolken gemächlich über das Firmament, unter dem mit majestätisch anmutenden Flügelschlägen ein Grüppchen von Weißstörchen auf ihrem Weg in ihr afrikanisches Winterquartier über den dunklen See dahinzog.

Eleonore atmete den aromatischen Geruch des wilden Steppensees tief ein. Die Stille der romantischen Abendstimmung wurde bloß durch vereinzelte ferne Rufe eines Silberreiherpärchens unterbrochen. Dass laut dem Wetterbericht von heute Mittag schon in ein paar Stunden das Wetter umschlagen würde, erschien ihr bei dieser prächtigen Abendszenerie mehr als unwahrscheinlich, ja geradezu absurd. Freilich hatte es sich ihr strenger Vater aus diesem Anlass wieder einmal nicht nehmen lassen, sie vor dem See zu warnen, der launenhaft wie ein altes Weib sei und sein lächelndes Antlitz blitzschnell in eine hässliche Fratze wandeln könne.

Anstatt sich Gedanken über das bald aufziehende Unwetter zu machen, überlegte Eleonore nun, wie sie den Abend ausklingen lassen wollte. Denn bislang, ja bis heute Abend, war sie - trotz zahlloser Verehrer in den vergangenen Jahren - sittsam geblieben, ganz so, wie ihre Eltern es erwartet hatten. Freilich hatte sie auch gefürchtet, den Zorn ihres Vaters auf sich zu ziehen, wenn sie mit Burschen herummachte. Nur allzu gut war ihr die eine oder andere „gesunde Watsche" in Erinnerung, die sie für noch so kleine Unartigkeiten als Kind von ihm kassiert hatte. Diesen Sommer aber war sie siebzehn geworden und fühlte sich damit nicht mehr so sehr an die Regeln des behüteten Elternhauses gebunden. Das ungewöhnlich warme Wetter des Altweibersommers tat sein Übriges und weckte ihre Lust auf mehr als nur Händchenhalten.

Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach, dachte sie mit einem nicht zu unterdrückenden unbeschwerten Lachen und legte sich mit dem Rücken auf die über dem gewölbten Holzboden des Bootes ausgebreitete flauschige Decke.

„Willst du mich nicht küssen?" Kokett blinzelte sie ihren Begleiter an.

„Nein, ich würde lieber mit deiner älteren Schwester schmusen", neckte er sie und drehte sich weg. Sie schlug ihm für diese fiese Bemerkung auf den muskulösen Oberarm. Dann wandte auch sie sich schmollend ab, nur um gleich darauf noch näher an ihn heranzurücken. Eine luftige Brise ließ das hellbraune, leicht gelockte Haar des jungen Mannes kurz aufwallen.

„Kann ich dir etwas anvertrauen?" Sie war plötzlich ganz aufgedreht.

„Sicher, ich schweige wie ein Grab", witzelte er.

„Ich träume davon, von hier wegzugehen." Es klang ernsthaft.

„Wohin?"

„Irgendwohin. Vielleicht eine Modelkarriere im Ausland machen."

„Aber sicher", bemerkte er sarkastisch.

„Nein, wirklich! Ich habe Pläne", beharrte sie. „Ich sehe alles schon deutlich vor mir."

Sie malte mit ihren Händen irgendetwas in die Luft, als ob dort eine unsichtbare Leinwand stünde.

„Ein kleines Appartement über den Dächern von Paris, am lebhaften Boulevard Saint-Germain. Mitten im Künstler- und Literatenviertel. Ich könnte nebenbei Kunstgeschichte oder Musik an der Sorbonne studieren. Auch Claude Chabrol, Romy Schneider und Yves Montand leben in der Stadt der Liebe. Vielleicht lerne ich ja sogar Jim Morrison kennen. Er hat angeblich vor Kurzem eine

Wohnung dort angemietet. Das wäre etwas!" Sie geriet ins Schwärmen. „Und im Sommer will ich an die Cote d'Azur, nach Monte Carlo. Oder flanieren am Hafen von St. Tropez und baden in Pampelonne, wo sich auch Brigitte Bardot am Strand sonnt. Zum Schilaufen würde ich im Jänner nach Cortina d'Ampezzo fahren, wie die ganze Hautevolee es tut!"

Sie blickte auf die Weiten des Sees hinaus, als ob dort die große Welt nur auf sie wartete.

„Naja, dann mach das", meinte er. Insgeheim tat er es aber als unrealistische Schwärmerei einer Teenagerin ab. Tatsächlich gab es doch keine Chance diesem Kaff hier zu entfliehen. „Und wann soll es soweit sein?", fragte er, um weiteres Interesse vorzugaukeln.

„Bald schon", sagte sie leise zu sich selbst und widmete sich dann gleich wieder ihrem attraktiven Begleiter.

Lange Schatten zeichneten sich auf seinem naturgebräunten Oberkörper ab, als das kleine Boot gemächlich in den ruhigen Seitenkanal mit auf beiden Seiten mannshohem Schilf trieb, wo rote und gelbe Sumpflilien auf der beinahe glatten Wasseroberfläche friedlich dahin schwammen. Je tiefer das Boot in den Schilfgürtel eindrang, desto mehr verbarg das Zwielicht die beiden Körper vor neugierigen Blicken vom Ufer und anderen Booten. Gleichzeitig schärfte es die Sinne der Verborgenen. Entspannt lauschte Eleonore dem Anklopfen des sanften Wellenschlages an die hölzerne Außenwand und fühlte sich hier an diesem wahrhaft paradiesischen Plätzchen abseits von jeder Menschenseele unendlich behaglich. Dennoch gab sie sich nur kurz dem rhythmischen Auf und Ab des Bootes hin. Dann tastete sie im Halbdunkel nach dem Unterarm ihres Begleiters und zog ihn tief zu sich herunter auf den Boden des Bootes. Das Restlicht des Tages reichte gerade noch aus, um aus der Nähe seine klaren blauen Augen erkennen zu können. Sie schloss ihre Augenlider.

Mit nur ein klein wenig geöffneten Lippen hauchte sie ihm einen Kuss auf seine Schulter, ein weiterer auf seinen Hals folgte. Endlich näherten sich ihre Lippen den seinen und hielten nur einen Fingerbreit davor inne. Sie hatte Bobbie zwar schon einmal geküsst, allerdings eher im Spaß und ohne viel Gefühl. Nun aber zitterte sie am ganzen Leib vor der Erwartung seines ersten richtigen Kusses. Doch eine endlose Sekunde lang geschah nichts. Gar nichts. Die Zeit schien einfach stillzustehen.

Einen flüchtigen Moment lang zog sie sogar in Erwägung, selbst die Initiative zu ergreifen, aber es ziemte sich für eine junge Frau einfach nicht, den ersten Schritt zu machen. Mit fest geschlossenen Augen konzentrierte sie sich nur mehr auf die Spitzen ihrer Lippen und hörte nicht einmal mehr das gemächliche Plätschern des Seewassers. Doch für einen weiteren endlos scheinenden Augenblick geschah nichts und quälende Ungeduld machte sich in ihr breit.

Küss mich doch endlich!

Kaum hatte sie den fordernden Gedanken gefasst,

spürte sie schon seine warmen Lippen auf den ihren. Plötzlich kam ihr der süße Geschmack von schweren dunkelroten Weintrauben, die einen Sommer lang an einem sanften Südhang nahe dem Seeufer gereift waren, in den Sinn. Sie griff mit der Hand auf seinen Rücken und konnte seine angespannte Muskulatur fühlen. Stück für Stück zog sie seinen Körper an sich heran, sodass sie auch die Wärme seiner Haut fühlen konnte. Während der Kuss immer intensiver wurde, schmiegte sie sich mit ihrem ganzen weichen Körper eng an ihn. Sie vermochte nicht einzuschätzen, wie lange sie so verharrten.

Die Zeit war nun auch bedeutungslos, denn sie hätte diesen Moment am liebsten stundenlang ausgekostet. Nach dem fast endlosen Kuss trennten sich ihre Lippen nur unwillig, um sich dann aber sogleich wiederzuvereinen.

Eleonore spürte seine Hand auf ihrem flachen Bauch und prickelnde Erregung machte sich in ihr breit. Mit kaum merklichen Berührungen strich er langsam zum Oberteil ihres Bikinis. Gerade als sie ein süßes, prickelndes Gefühl in ihrem Bauch fühlte, pochte es plötzlich laut an die hölzerne Außenwand des kleinen Bootes. Sie dachte zuerst, sie hätte sich das Klopfen nur eingebildet, doch noch während sie darüber nachdachte, hörte sie abermals das seltsame Geräusch. Eleonores berauschte Stimmung war sofort verflogen. Klamme Beunruhigung erfasste sie. War etwa jemand neben dem Boot und hatte sie beobachtet? Sofort schossen ihr alle möglichen Warnungen ihres strengen Vaters durch den Kopf.

Da sie noch immer flach auf dem Rücken lag, konnte sie nichts außer einem unendlich weiten und mittlerweile dunklen Abendhimmel sehen. Sie drückte Bobbie sanft zur Seite, hob vorsichtig den Kopf bis über die Holzplanke des Bootes und suchte die Wasseroberfläche nach etwas Ungewöhnlichem ab. Langsam kamen ihre Sinne wieder zurück. Gleich einem schwarzen Schleier hatte sich die Dunkelheit gepaart mit einem leichten Dunst über den See gelegt. Das nahe Schilf erschien ihr nun sogar ein wenig bedrohlich. Nachdem sie sich aus der Deckung des Bootes erhoben hatte, spürte sie auch, dass der Wind stärker geworden war. Sie fröstelte. Das Wasser schlug nun auch deutlich lauter gegen die Wände des Bootes. Sie überlegte, ob sie zuvor nur vom Geräusch der Wellen verschreckt worden war. Ja, genau so musste es gewesen sein. Dummes Mädel, hast schon Angst vor einer kleinen Welle, ermunterte sie sich.

Fast hätte sie sich wieder in die ach so wohlig warmen Arme ihres jungen Begleiters geschmiegt, als sie einen seltsamen Gegenstand auf der Wasseroberfläche erspähte. Und gleich darauf, als eben dieser, von den Wellen getrieben, an das Boot stieß, folgte wieder das beunruhigende Klopfen. Sie beugte sich über die Planke, um in der Dunkelheit das rätselhafte Ding näher untersuchen zu können. Schon beim ersten genaueren Hinsehen kam es ihr dann aber doch irgendwie seltsam vertraut vor. Sie konnte nicht sofort sagen, warum. Weiter vorgebeugt stellte sie an der schemenhaften Silhouette fest, dass es sich nur um einen einfachen Stöckelschuh handelte, der mit dem langen, spitzen Absatz nach oben auf der Oberfläche dahinschwamm. Die Besitzerin wird ihn schon vermissen. Wobei sie ihn wohl verloren hat? Sie musste bei dem Gedanken an ihre eigene Liebelei etwas verlegen schmunzeln.

Neugierig fasste sie nach dem Stöckel und versuchte ihn aus dem dunklen Wasser zu ziehen, aber es schien ihr, als halte ihn irgendetwas unten fest. Verblüfft zog sie die Hand wieder zurück. Der noble Schuh musste sich mit dem Lederriemen in einer Wasserpflanze verheddert haben. Auch Bobbie beugte sich nun über die Planke und fasste an den Stöckelschuh, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Kaum hatte er einmal fest daran gezogen, riss er jedoch, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen hätte, seine Hand panikartig wieder aus dem trüben Wasser. Ungläubig starrte er auf die dunkle Wasseroberfläche.

„Was ist los?", fragte Eleonore besorgt. Sein Gesicht war kreidebleich geworden.

Er antwortete nicht. Stattdessen saß er nur da und starrte verwirrt auf den Schuh. Eleonore verstand nichts mehr. Um endlich Gewissheit zu erlangen, griff sie zögerlich selbst noch einmal in das trübe Wasser. Sie lehnte sich weit über den Rand des Bootes, um den Schuh auch von der im Wasser liegenden Seite umfassen zu können. Die junge Frau rechnete damit, ein glitschiges Gewächs zu spüren. Sie nahm sich fest vor, nicht gleich vor Ekel zu schreien. Ihre Finger tasteten aber über etwas, das einfach nicht hierher zu passen schien. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriffen hatte: Ihre Fingerspitzen glitten über vom Seewasser aufgeweichte Zehen. Sie wollte ihre Hand sogleich wieder zurückziehen, stattdessen verharrte sie jedoch wie gelähmt in ihrer Position. Es schien fast so, als habe sie jegliche Kontrolle über ihre Körperfunktionen verloren und statt sich zu lösen, umklammerten ihre Finger immer fester den kalten Fuß. Unterdessen schrie sie so laut sie nur konnte.

2. KAPITEL


 

Aus der leichten Sommerbrise vom Vorabend war in der Nacht ein mittelschwerer Sturm geworden. Eine mondlose Dunkelheit hielt den unruhigen Neusiedler See gefangen und wurde nur durch die Suchscheinwerfer von zwei umgebauten Fischerbooten durchbrochen, die beide auf eine Stelle nahe dem Schilfkanal gerichtet waren. Die Kapitäne hatten alle Hände voll zu tun, die Schiffe auf den zunehmend höher werdenden, windgepeitschten Wellen auf Position zu halten. Unter der dunklen Wasseroberfläche waren die stark gedämpften Lichtstrahlen von zwei Tauchern gerade noch zu erkennen. Ab und zu tauchte ein greller Lichtblitz aus der Unterwasserkamera die Umgebung in surrealistisch anmutendes Licht.

Bezirksinspektor Gerhard Kauffmann beobachtete die Szene vom Nordufer des Sees aus. In seinem fast fabrikneuen Volkswagen Käfer mit der charakteristischen schneeweißen Lackierung der Gendarmerie saß er und überlegte, ob er überhaupt aussteigen sollte. Wieder eine Wasserleiche. Der See schnappte sich stets die Leichtsinnigen und spuckte seine bedauernswerten Opfer je nach Belieben wieder aus. Oder aber er verschlang sie bis in alle Ewigkeit in seinem schlammigen Untergrund. Dieses Mal waren die Vorzeichen aber bereits reichlich ungünstig. Gerade Kauffmanns eigene kleine Nichte Eleonore musste den toten Körper finden. Da würde er nun seinem Bruder, dem Vater von Eleonore, erstmal erklären müssen, dass in seinem Gendarmeriebezirk schon wieder jemand ertrunken war, und dann justament die nicht mal ganz volljährige Tochter beim Rummachen mit irgendeinem dahergelaufenen perversen Dodel aus dem Nachbarort die Leiche finden musste. Gut möglich, dass die arme Eleonore von ihrem Vater dafür wieder einmal eine ordentliche Ohrfeige bekommen würde. Dieser Kerl war schon von Kindheit an ein unberechenbarer Rohling gewesen. Das wusste Kauffmann nur allzu gut. Selbst er hatte als Kind von seinem älteren Bruder die eine oder andere Watsche kassiert und war ihm seitdem aus dem Weg gegangen. Nun fürchtete er um das Wohl seiner geliebten Nichte.

Ja, das mit dem Auffinden der Toten war echt ein unglücklicher Zufall gewesen. Aber abgesehen davon, dass seine Nichte darauf gestoßen war, waren Wasserleichen im Grunde nichts Seltenes. So was hatte er im Sommer alle paar Wochen, heuer immerhin auch schon vier Mal seit Mitte Mai. Ertrunkene Touristen, von einem Sturm überraschte Fischer und nicht zuletzt diese Wahnsinnigen mit ihren flachen Brettern, die diese neue amerikanische Segelart namens Surfen betrieben.

Kauffmann war zwar noch keine fünfzig, aber für so modernes Zeug aus Übersee, wie Surfen, Hippiemode oder diese Drogenmusik, hatte er rein gar nichts übrig. Für derartige Dekadenz konnte man in seiner verantwortungsvollen Position absolut kein Verständnis haben. Als er noch jung gewesen war, hatte der Krieg ganz Europa fest im Würgegriff gehabt. Nach dem Krieg hatte seine Familie dann nicht einmal genügend Essbares zum Stopfen aller Mäuler, geschweige denn Geld für nutzlose Sportgeräte. Von den Entbehrungen der Nachkriegszeit und dem Aufbau des zerbombten Landes hatte die heutige Jugend ja keine Ahnung mehr. Bei dem Gedanken fielen ihm auch gleich seine beiden, gottlob mittlerweile erwachsenen Töchter ein, die sich bei jedem zweiten Sonntagsbesuch noch immer bitterböse über ihn beschwerten, dass er stocksteif, erzkonservativ und mürrisch obendrein sei, ein dinosaurierähnliches Relikt einer aussterbenden Art von Beamten aus längst vergangenen Kaisertagen. Die blöden Gfraster sollen aber selber mal schauen, dass etwas aus ihnen wird, sagte er dann immer zu seiner Frau. Er hätte sie damals als Kinder öfter mal in den Heizkeller einsperren sollen, damit die beiden gute Manieren gelernt hätten. Jetzt war es für solche Erziehungsmaßnahmen aber längst zu spät.

Freilich hätte dem Bezirksinspektor so ein nächtlicher Spaziergang am See auch nicht unbedingt geschadet. Seine Frau lamentierte schon seit Jahren, dass er langsam aber sicher mit seinem wachsenden Übergewicht und seiner übertrieben cholerischen Ader auf dem Weg zum sicheren Herzkasperl sei. Kauffmann kümmerten diese regelrecht absurden Drohungen seiner Alten aber herzlich wenig. Für ihn gehörte eine kräftige Figur zu einem Hüter des Gesetzes einfach dazu. Als Gendarm musste man etwas darstellen, damit die Verbrecher Respekt hatten. Immerhin fürchtete sich heutzutage absolut niemand mehr vor einem Strich in der Landschaft. Daran änderte weder die blaugraue Uniform noch die deutlich sichtbar getragene Pistole etwas. Außerdem war so ein kleiner Bierbauch für Männer seines Alters ganz adrett, fand Kauffmann.

So beschloss er, erst einmal im Auto zu warten, bis er einen Bericht von seinem Assistenten, dem Hilfsgendarmen Kurt Berger, vom Boot aus bekommen würde. Die Leiche kann mir ja nur schwer davonlaufen, dachte er sich und musste trotz der bedauerlichen Situation schmunzeln, während er sich mit der Außenfläche der Hand über seinen Schnauzbart fuhr.

Um sich die Zeit zu vertreiben, drehte er das Autoradio auf und fand rasch einen der neuen Sender. Mick Jagger von den Rolling Stones sang gerade die letzten Takte von Jumpin' Jack Flash. Nach einer kurzen Pause startete ein neues Lied. Aus dem Monolautsprecher plärrten die Tremeloes Silence is golden. Im krassen Gegensatz zum Songtitel sangen sich die jungen Männer die Seele aus dem Leib. Kauffmann konnte solche aktuellen Lieder nicht mehr hören. Für ihn klang der hohe Gesang so, als ob man den Sängern während der Darbietung mit einer großen Zange in die Eier gekniffen hätte. Bis vor wenigen Jahren hörte man allenfalls in einer Kirche einen solchen Eunuchenchor. Heute kam er rund um die Uhr aus dem Lautsprecher. Wo waren die Tage geblieben, wo noch echte Musiker wie Freddy Quinn über Seemänner und St. Pauli gesungen hatten oder Peter Alexander musikalisch täglich seine Sorgen gezählt hat? Naja, wenigstens gab es hin und wieder ein nettes Lied von dem jungen Roy Black oder dem erfolgreichen Udo Jürgens zu hören, aber selbst die hatten diese grässlich bunten Hemden und bizarren weiten Hosen an. Die heutige Jugend war schon richtiggehend entartet, wo sollte das nur hinführen? Abermals war er froh, dass seine beiden Töchter diesem rebellischen Alter nun schon entwachsen waren. Noch einmal hätte er sich den ganzen Schmarren mit den unberechenbaren Launen von pubertierenden Gören sicherlich nicht angetan. Da war ja selbst seine bissige Alte noch ein Engel dagegen. Sichtlich entspannte er sich, als mit einem lauten Gong endlich die Nachrichten der unerträglichen Musik ein Ende bereiteten.

„Es ist 3 Uhr, Montag, der 7. September 1970. Guten Morgen."

Die Nachrichtensprecherin pausierte kurz. Leise raschelte ein Papierblatt im Hintergrund.

„Paris. Nach dem Tod des Österreichers Jochen Rindt am Samstag im Qualifikationstraining für den Grand Prix von Italien in Monza wird jetzt über die Sicherheit der Formel-1 und des Motorsports diskutiert. Der internationale Automobilverband in Paris überlegt, neue Sicherheitsstandards für die Rennwagen festzulegen."

Kurz rauschte es im Lautsprecher.

„Jammerschade um ihn, er hätte sicher noch Weltmeister werden können", murmelte Kauffmann, hob seine Dienstmütze, die er sogar im Auto stets trug, und fuhr sich mit der Hand über sein in den letzten Jahren zunehmend kahler gewordenes Haupt.

Er sah aus dem Fenster hinaus zu den Booten. Zwei Männer zogen eine Leiche an den Füßen aus dem Wasser. Wozu um Himmels willen brauchte man zwei Männer zum Herausziehen einer Frauenwasserleiche? Ein Mann alleine hätte doch locker ausgereicht! Das war wieder mal typisch für diese Idioten. Denen konnte man wirklich nur Hilfsarbeiten anvertrauen. Kauffmann konnte sich diesen Dilettantismus nicht länger ansehen und widmete sich wieder dem Radio. Sogleich ärgerte er sich, dass er durch die albernen Aktivitäten am See von den bedeutsameren Nachrichten abgelenkt worden war.

„Deutschland. Das erste Love and Peace Open Air Festival ist heute Nacht nach drei Veranstaltungstagen auf der Ostseeinsel Fehmarn friedlich zu Ende gegangen. Die Veranstaltung war nach dem Vorbild der amerikanischen Musikfestivals von Monterrey und Woodstock ins Leben gerufen worden und forderte zum friedlichen Protest gegen militärische Auseinandersetzungen auf. Unterdessen hat Präsident Richard Nixon nach Protesten von Vietnamkriegsgegnern in Washington D.C. angekündigt, in den nächsten Monaten weitere US-Soldaten aus Vietnam abzuziehen."

Wieder raschelt es kurz im Lautsprecher.

„Nun zum Wetter. Eine Schlechtwetterfront überquert Österreich vom Westen her. Im ganzen Bundesgebiet wird es heute bewölkt und stürmisch."

Unvermittelt nach dem letzten Wort fing wieder die Musik an. Irgendeine Band, die Kauffmann nicht kannte, trällerte fröhlich Love grows where my Rosemary goes. Wahrscheinlich schon wieder irgendwelche Musiker, die bis über beide Ohren eingehascht waren. Wenn sie schon unbedingt Lieder mit englischem Text spielen mussten, so sollten sie doch wenigstens ab und zu diesen hüftbeschwingten Elvis bringen, der ging zumindest gut ins Ohr. Aber einen derartigen Variantenreichtum konnte man vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk wohl nicht erwarten. Mit einem entschlossenen Griff drehte Kauff-mann das Autoradio ab und griff zum klobigen Funkgerät, das in der Mitte des Armaturenbrettes montiert war.

„Falke 1 an Falke 2. Bitte um Bericht. Ende."

Lautes Rauschen kam aus dem Funkgerät, sonst tat sich jedoch nichts. Kauffmann sah hinaus auf den See. Mit laut tuckernden Motoren näherte sich eines der beiden Fischerboote dem Leuchtturm am Nordufer, wobei es auf den Wellen dramatisch auf und ab schaukelte.

„Falke 1 an Falke 2. Bitte melden! Ende", fauchte er grantig ins Funkgerät. Kauffmann bemühte sich nicht einmal, die Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen.

Für einige Sekunden folgte wieder nur Rauschen, bis endlich die erregte, kurzatmige Stimme des Hilfsgendarmen Kurt Berger ertönte.

„Hier Falke 2. Leiche geborgen. Junge Frau." Einen Atemzug lang kam kein Laut aus dem Funkgerät, dann wieder die gleiche piepsige Stimme. „Kein natürlicher Tod. Ende."

„Falke 1 an Falke 2. Verstanden. Leiche umgehend zum Ufer bringen. Warte dort beim Leuchtturm. Ende und aus."

Woher wollte dieser Trottel von Hilfsgendarm wissen, dass es kein natürlicher Tod war, ärgerte sich der Bezirksinspektor. Kauffmann wollte sich erstmal ansehen, woran die Frau nun tatsächlich gestorben war. Letztes Frühjahr hatten sie einen fünfzigjährigen Schwimmer mausetot aus dem Wasser gefischt. Dem hatte der halbe Hinterkopf gefehlt. Das war erst eine Sauerei! Später hatte sich herausgestellt, dass er einfach ertrunken und irgendwann danach wohl in die Schiffsschraube eines Ausflugsbootes gekommen war, was bei Leibe nicht verwunderlich war, weil diese schwachsinnigen Touristen sowieso ständig bis fast zur Besinnungslosigkeit besoffen oder bekifft waren, fand Kauffmann. Aber auch damals hatte dieser unfähige Berger einen nicht natürlichen Tod gemeldet und war freilich komplett daneben gelegen.

Längst hätte Kauffmann den jungen Hilfsgendarmen liebend gerne mit einem Tritt in den Hintern aus seinem Dienstposten rausgeschmissen, aber die Entscheidung lag nicht bei ihm, sondern beim Landeskommandanten, und der war dummerweise der Großonkel von diesem Kurt Berger. So musste er wohl oder übel noch länger mit dem Vollidioten auskommen. Aber wenigstens würde er das Fortkommen von Berger solange blockieren, wie es nur ging.

3. KAPITEL


 

Bezirksinspektor Kauffmann sah zu den Booten hinaus. Auch das zweite Boot setzte sich nun schleppend in Bewegung und steuerte auf den Kai unweit des Leuchtturms zu. Eine Wasserleiche bedeutete nichts Gutes. Zuerst diese überflüssigen Journalistenkanaillen, dann der altväterische Leichenbeschauer und wenn tatsächlich auch nur irgendeine Unsicherheit die Todesart betreffend bestand, kamen auch noch der großgoscherte Staatsanwalt und die überaus präpotenten Kollegen von der Kriminalpolizei aus Eisenstadt oder gar die noch Schlimmeren aus Wien dazu. Nicht zu vergessen auch noch die ständig heulenden Hinterbliebenen. Ob natürlicher Tod oder nicht, einer von der Gendarmerie musste denen so oder so die schlechte Nachricht überbringen. Kauffmann wusste schon jetzt, dass das bei ihm hängen bleiben würde. Alleine beim Gedanken daran war ihm schon zum Speiben zumute. Angewidert griff er sich ein unhandliches Handfunkgerät und den Leica M3 Fotoapparat, den er immer unter dem Fahrersitz verstaut dabei hatte, und stieg aus dem Käfer aus, wo ihm gleich der von der Gischt des Sees klatschnasse Wind ins Gesicht blies. Kauffmann sog die Luft ein. Wie immer bei solchen Stürmen roch der schlammige See wie eine aus ihrem Schlund nach Tod und Verwesung stinkende Bestie, brackig und ekelerregend.

Als die Boote hintereinander am Kai beim Leuchtturm anlegten, erwartete Kauffmann sie bereits, um die Leiche in Augenschein zu nehmen. Vorher hatte er schon per Funk einen Leichenwagen angefordert und - wie es das Protokoll in solch unsicheren Fällen vorsah - den alten Leichenbeschauer verständigt. Die allzu neugierigen Journalisten würden auch ohne Verständigung schon bald hier am Seeufer aufkreuzen. Denen entging ja auch rein gar nichts. Kauffmann wollte sich mit dem Abtransport beeilen, bevor die Fotografen von der Presse mit ihren aufgeregt klickenden Spiegelreflexkameras eintrafen. Denn egal, von welchem Hersteller die Kameras gebaut worden waren, das nervöse Klicken nach dem Drücken des Auslösers war immer das gleiche stets nervige Geräusch.

Nachdem das zweite Boot am Kai angelangt war, hievten gleich vier Männer - drei von ihnen waren örtliche Fischer, die Kauffmann gut kannte - die Leiche vom Boot und bahrten sie direkt unter dem Leuchtturm auf. Der Bezirksinspektor trat näher an den toten Körper heran und hakte dabei in Gedanken seine Liste für Wasserleichen ab: Weiblich, Alter etwa sechzehn bis zwanzig Jahre, Größe 1,65 bis 1,70 Meter, Gewicht cirka 50 bis 60 Kilogramm, Statur schlank, schulterlanges brünettes Haar, nur mit Unterwäsche bekleidet, rote Stöckelschuhe mit schätzungsweise sieben Zentimeter Absatz, am Ringfinger der linken Hand ein halbtransparenter Ring aus pink gefärbtem Kunststoff, sonst noch dreieckige ockerfarbene Ohrstecker, ferner am rechten Handgelenk ein Armband aus geschmiedetem Messing, ansonsten kein weiterer Schmuck. Die junge Frau sah für Kauffmann beinahe so aus, als ob sie von der Disco-Tanzfläche weg ermordet worden sei.

Nach seiner Erfahrung mit Wasserleichen vermutete er zudem, dass die Frau nicht mehr als vierundzwanzig Stunden im Wasser gelegen haben konnte. Wahrscheinlich waren es sogar weniger als achtzehn Stunden, sonst wäre ihr Leib sicher noch mehr aufgedunsen gewesen.

Sein nächster Blick fiel auf die Hände der Frau, die mit einem mitteldicken, gewundenen Hanfseil an den zarten Handgelenken fest in der Gebetshaltung zusammengefesselt waren. Zwei Fingernägel an der linken und sogar drei an der rechten Hand waren abgebrochen. Die übrigen Fingernägel waren rot lackiert, wobei der Lack an vielen Stellen bereits abgebröckelt war. Tiefe Kerben und rote Abschürfungen auf der Haut zeigten zudem, dass die Frau sich aus den eng gebundenen Fesseln zu befreien versucht hatte. Sein Blick folgte dem Hanfseil bis zu einem flachen kreisrunden Gegenstand mit etwa siebzig Zentimetern Durchmesser, der vollständig mit bräunlichem Schlamm vom Grund des Sees bedeckt war. Ungeduldig schnappte er sich von einem der Fischer eine Taschenlampe, nahm sie in die linke Hand und entfernte mit der rechten einen Teil des Schlammes, bis er die charakteristische Aufschrift Canalisation freigelegt hatte. Er traute seinen Augen nicht. Vor ihm lag ein gusseiserner Kanaldeckel, an dessen ringförmigen Einlässen am Rand das Hanfseil geschickt eingeflochten worden war. Angesichts des immensen Gewichtes und der damit verbundenen beschränkten Transportierbarkeit war der Eisendeckel vermutlich irgendwo aus der näheren Umgebung entfernt worden.

Kauffmann montierte das externe Blitzgerät auf dem Fotoapparat, stellte die Belichtung mit dem Drehschalter ein und trat zwei Schritte zurück. Wie immer schoss er zunächst ein Foto der Leiche in Gesamtaufnahme. Grelles Licht beleuchtete die nächtliche Umgebung für den Bruchteil einer Sekunde. Aufgewühlt trabte er um die Leiche herum und drückte mit dem Fotoapparat noch zweimal aus verschiedenen Blickwinkeln für Detailfotos ab. Jedes

Mal zog er danach den Film mit einem lauten Ratschen weiter. Er fragte sich, wie der tote Frauenkörper auf den Schwarz-Weiß-Fotos aussehen würde. Das würden definitiv keine Fotos werden, die sich die Eltern der Kleinen zur Erinnerung auf ihren Nachttisch stellen werden. Der Anblick einer Toten auf einem Foto erschien oft fast noch grausiger als die reale Szene, wobei in diesem konkreten Fall hier eine Steigerung kaum mehr möglich erschien.

Nachdem er sicher war, endlich ganz brauchbare Fotos für den Polizeiakt geschossen zu haben, ließ er die Szene auf sich wirken. Offensichtlich war es kein natürlicher Tod. Wie auch sollte eine junge Frau einen schätzungsweise hundert Kilo schweren Kanaldeckel entfernen, eine halbe Seemeile auf den See hinaus schleppen und sich dann selbst damit versenken? Nein, das war definitiv kein Suizid und schon gar kein Unfall. Jemand hatte diese junge Frau an einen Kanaldeckel gebunden und sie vorsätzlich mit dem Kopf nach unten im See versenkt. Kauffmann hoffte inständig, dass ihr Peiniger sie schon vorher kurz und schmerzlos getötet hatte, denn in dem trüben Wasser zu ertrinken, war sicher kein angenehm schneller Tod. Vorsichtig suchte er nach Verletzungen am Hinterkopf oder Hinweisen auf ein gebrochenes Genick. Aber alles schien in Ordnung. Nur an den Unterarmen und Oberschenkeln fand er etwas, das wie Bissspuren aussah. Zwar gab es im Wasser des flachen Steppensees keine für lebende Menschen wirklich gefährliche Raubfische, aber ein wehrloser Körper wurde von einem hungrigen Hecht sicher auch nicht verachtet.

Bei der Untersuchung des Oberkörpers der jungen Frau fiel Kauffmann ein breiter ausgefranster Schnitt zwei Fingerbreit oberhalb des Nabels auf. Der Bezirksinspektor wies zwei Fischer an, die Leiche umzudrehen. Auch auf dem Rücken unmittelbar unter dem Schulterblatt fand sich eine schnittförmige Wunde, die in etwa die gleiche Breite und Gestalt wie der Einstich auf der Vorderseite hatte. Kauffmann war kein Arzt, aber diese Verletzungen konnten kaum von einem Fischbiss stammen. So wie die Wunde am Rücken aussah, war sie zudem wohl tödlich, wenngleich auch nicht sofort. Ob sie nun ertrunken oder doch durch eine Außeneinwirkung vorher getötet worden war, müsste der Leichenbeschauer feststellen, aber dass die junge Frau einem Kapitalverbrechen zum Opfer gefallen war, stand für Bezirksinspektor Kauffmann bereits jetzt außer Zweifel.

Das alleine hätte Kauffmann jedoch nicht derart erschüttert. Morde kamen schon immer wieder mal vor, wenngleich sie in dieser friedlichen ländlichen Gegend echten Seltenheitswert hatten. In diesem Fall konnte er sich gegen die aufkommende Übelkeit jedoch kaum erwehren, denn nachdem er das Gesicht der toten Frau vom Schlamm befreit hatte, erkannte er trotz des verwischten Make-ups und der schwachen Lippenstiftrückstände dieses früher so liebliche Gesicht, das nicht nur ihm, sondern wohl praktisch jedem im Ort ein tagtäglicher Anblick und Grund zur Freude gewesen war.