Das Buch
Eine internationale Finanzverschwörung und die packende Suche nach dem verlorenen Privatschatz von Napoleon Bonaparte führen den ehemaligen Agenten Cotton Malone nach Paris. Gemeinsam mit Sam Collins, einem früheren Secret-Service-Mann, soll er dort im Auftrag des dänischen Multimillionärs Henrik Thorvaldsen der ominösen Verbindung »Paris Club« auf die Spur kommen.
Thorvaldsen will an den beiden Mördern seines Sohnes Cai endlich Rache nehmen. Cai, ein junger dänischer Diplomat, war zwei Jahre zuvor mit seiner Freundin, einer mexikanischen Staatsanwältin, auf offener Straße in Mexico City erschossen worden. Cais Freundin führte damals Ermittlungen gegen zwei international bekannte Kunsträuber durch, den Spanier Amando Cabral und den Briten Lord Graham Ashby. Alles deutet hin auf eine Verbindung zwischen den Kunsträubern und dem »Paris Club« …
Der Autor
Steve Berry war viele Jahre als erfolgreicher Anwalt tätig, bevor er seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckte. Mit jedem seiner hochspannenden Thriller stürmt er in den USA die Spitzenplätze der Bestsellerliste. Steve Berry lebt mit Frau und Tochter in Camden County, Georgia.
Bei Blanvalet von Steve Berry erschienen:
Das verbotene Reich; Die Washington-Akte; Die Kolumbus-Verschwörung; Der Lincoln-Pakt; Antarctica; Geheimakte 16; Die Napoleon-Verschwörung
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Steve Berry
Die Napoleon-
Verschwörung
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Barbara Ostrop

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel
»The Paris Vendetta« bei Ballantine Books, New York.
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1. Auflage
Taschenbuchausgabe Dezember 2017 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright der Originalausgabe © Steve Berry, 2009
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2011 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieser Roman erschien 2011
unter dem Titel »Der Korse« im Blanvalet Verlag
This translation published by arrangement with Ballantine Books,
an imprint of Random House Publishing Group,
a division of Random House, Inc.
Umschlaggestaltung: © Johannes Frick
unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com
(© Velishchuk Yevhen)
JB · Herstellung: wag
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-22701-2
V001
www.blanvalet.de
Mit Dank und tiefer Wertschätzung
für Gina Centrello, Libby McGuire, Kim Hovey, Cindy Murray, Christine Cabello, Carole Lowenstein und Rachel Kind
Geld hat kein Vaterland;
Finanzleute kennen weder Patriotismus noch Anstand;
ihr einziges Ziel ist der Gewinn.
– Napoleon Bonaparte
Die Geschichte zeigt uns, dass Geldwechsler jede Form von Missbrauch, Intrige, Verrat und Gewalt benutzt haben, um ihre Kontrolle über Regierungen aufrechtzuerhalten.
– James Madison
Lasst mich das Geld einer Nation emittieren und kontrollieren, und mir ist es gleichgültig, wer die Gesetze schreibt.
– Mayer Amschel Rothschild
Prolog
Gizeh-Plateau, Ägypten
August 1799
General Napoleon Bonaparte stieg vom Pferd und ließ seinen Blick die Pyramide hinaufwandern. Daneben lagen noch zwei weitere Pyramiden, doch dies hier war die größte der drei.
Welchen gewaltigen Lohn seine Eroberung doch erbracht hatte!
Der gestrige Ritt von Kairo – erst durch Felder, die an schlammige Bewässerungskanäle grenzten, und dann rasch über eine Strecke windgefegten Sandes – war ereignislos verlaufen. Zweihundert Bewaffnete hatten ihn begleitet, da es tollkühn gewesen wäre, sich allein so weit nach Ägypten hineinzuwagen. Er hatte seine Truppe in einem Kilometer Entfernung zurückgelassen, wo sie für die Nacht lagerte. Der Tag war wieder heiß und trocken gewesen, und er hatte seinen Besuch absichtlich bis zum Sonnenuntergang aufgeschoben.
Vor fünfzehn Monaten war er mit 34.000 Mann, 1.000 Kanonen, 700 Pferden und 100.000 Schuss Munition in der Nähe von Alexandria gelandet. Er war rasch nach Süden marschiert und hatte die Hauptstadt Kairo eingenommen, wobei es sein Ziel gewesen war, jeden Widerstand durch Schnelligkeit und den Überraschungsmoment im Keim zu ersticken. Dann hatte er die Mamelucken nicht weit von hier in einem glorreichen Kampf besiegt, den er »Die Schlacht bei den Pyramiden« genannt hatte. Jene ehemaligen türkischen Sklaven hatten Ägypten fünfhundert Jahre lang regiert, und was für einen Anblick sie geboten hatten – Tausende von Kriegern in bunten Gewändern auf großartigen Hengsten. Noch meinte er, das Schießpulver zu riechen und das Donnern der Kanonen, die Schüsse der Musketen und die Schreie der Sterbenden zu hören. Seine Truppen, darunter viele Veteranen aus dem Feldzug in Italien, hatten tapfer gekämpft. Und während seine eigenen Verluste sich auf nicht mehr als zweihundert Gefallene belaufen hatten, hatte er praktisch die ganze feindliche Armee gefangen genommen und die vollständige Kontrolle über Unterägypten erlangt. Ein Reporter hatte geschrieben: Eine Handvoll Franzosen hat ein Viertel der Welt unterworfen.
Das war natürlich übertrieben, aber es klang wundervoll.
Die Ägypter hatten ihn Sultan ElKebir genannt – ein Ehrentitel, wie sie ihm versichert hatten. Während er diese Nation in den vergangenen vierzehn Monaten als Oberbefehlshaber regiert hatte, hatte er entdeckt, dass er die Wüste so liebte wie andere Menschen das Meer. Außerdem liebte er die ägyptische Lebensart, wo Besitz wenig zählte und Charakter viel.
Und genau wie er vertrauten die Ägypter der Vorsehung.
»Willkommen, Général. Was für ein wunderbarer Abend für einen Besuch«, rief Gaspard Monge auf seine übliche fröhliche Art. Napoleon mochte den kämpferischen Geodäten, einen älteren Franzosen, Sohn eines Hausierers, der mit einem breiten Gesicht, tief liegenden Augen und einer fleischigen Nase gesegnet war. Obwohl er ein Wissenschaftler war, trug Monge stets Gewehr und Pulverhorn mit sich herum, als wäre er allzeit bereit, in eine Revolution oder in eine Schlacht zu ziehen. Er war einer von hundertsechzig Gelehrten, Naturwissenschaftlern und Künstlern – Savants hatte die Presse sie genannt –, die mit Napoleon aus Frankreich hierher gereist waren, denn der General war nicht nur gekommen, um zu erobern, sondern auch, um zu lernen. Sein geistiges Vorbild, Alexander der Große, hatte es bei seinem Einmarsch in Persien genauso gehalten. Monge hatte Napoleon schon in Italien begleitet und dort schließlich die Plünderung des Landes überwacht, weshalb der General ihm vertraute.
Bis zu einem gewissen Grad.
»Wissen Sie, Gaspard, als Kind wollte ich Naturwissenschaften studieren. In Paris habe ich während der Revolution mehrere Vorlesungen in Chemie besucht. Aber leider haben die Umstände mich zum Armeeoffizier gemacht.«
Einer der ägyptischen Arbeiter führte Napoleons Pferd weg, aber vorher nahm der General noch eine Ledertasche herunter. Er und Monge standen jetzt allein da, im leuchtenden Staub, der im Schatten der großen Pyramide tanzte.
»Vor ein paar Tagen«, fuhr Napoleon fort, »habe ich eine Berechnung durchgeführt und festgestellt, dass diese drei Pyramiden genug Steine enthalten, um ganz Paris mit einer drei Meter hohen und ein Meter breiten Mauer zu umgeben.«
Monge schien über diese Behauptung nachzudenken. »Das könnte durchaus stimmen, Général.«
Napoleon lächelte über die ausweichende Antwort. »So spricht der zweifelnde Mathematiker.«
»Ganz und gar nicht. Ich finde es einfach nur interessant, wie Sie diese Bauwerke betrachten. Wichtig sind Ihnen nicht etwa die Pharaonen oder die in den Pyramiden angelegten Grabstätten oder zumindest die verblüffenden bautechnischen Leistungen, die zu ihrer Errichtung nötig waren. Nein, Sie sehen sie nur im Hinblick auf die Interessen Frankreichs.«
»So drängt es sich mir auf. Ich denke an kaum etwas anderes.«
Seit Napoleons Aufbruch war Frankreich tief erschüttert worden. Die einstmals große Flotte war von den Briten zerstört worden, so dass er nun hier in Ägypten abgeschnitten war. Das herrschende Direktorium schien fest entschlossen, mit jeder Monarchie in seiner Nachbarschaft Krieg zu führen, und machte sich Spanien, Preußen, Österreich und Holland zum Feind. Konflikte erschienen dem Direktorium als Möglichkeit, seine Herrschaft zu verlängern und den dahinschmelzenden Staatsschatz aufzufüllen.
Lächerlich.
Die Republik war gescheitert.
Eine der wenigen europäischen Zeitungen, die den Weg über das Mittelmeer gefunden hatten, sagte voraus, es sei nur eine Frage der Zeit, bis ein neuer Ludwig auf Frankreichs Thron sitzen werde.
Napoleon musste nach Hause zurückkehren.
Alles, was ihm teuer war, schien zusammenzubrechen.
»Frankreich braucht Sie«, sagte Monge.
»Jetzt sprechen Sie wie ein wahrer Revolutionär.«
Sein Freund lachte. »Was ich, wie Sie wissen, ja auch bin.«
Vor sieben Jahren hatte Napoleon zugesehen, wie andere Revolutionäre den Tuilerienpalast gestürmt und Ludwig XVI. entthront hatten. Danach hatte er der neuen Republik treu gedient und bei Toulon gekämpft. Im Anschluss war er zum Brigadegeneral, dann zum General der Ostarmee und schließlich zum Befehlshaber in Italien befördert worden. Von dort war er nach Norden marschiert, hatte Österreich eingenommen und war als Nationalheld nach Paris zurückgekehrt. Und jetzt hatte er mit kaum dreißig Jahren als General der Orientarmee Ägypten erobert.
Doch sein Schicksal war es, Frankreich zu regieren.
»Welch ein Überfluss an wundervollen Dingen«, sagte er, erneut die großen Pyramiden bewundernd.
Während seines Ritts vom Lager hierher hatte er Arbeitern dabei zugesehen, wie sie eine halb begrabene Sphinx vom Sand befreiten. Er hatte die Ausgrabung persönlich angeordnet und freute sich über die Fortschritte.
»Diese Pyramide hier liegt Kairo am nächsten, daher nennen wir sie die Erste«, sagte Monge. Er zeigte auf die nächste Pyramide. »Die Zweite. Die, die am weitesten weg liegt, ist die Dritte. Wenn wir die Hieroglyphen lesen könnten, würden wir vielleicht die wahren Namen der Bauwerke erfahren.«
Das sah Napoleon genauso. Keiner konnte die sonderbaren Zeichen verstehen, die auf beinahe jedem der alten Monumente auftauchten. Er hatte befohlen, sie zu kopieren, und es waren so viele Zeichnungen entstanden, dass seine Künstler alle aus Frankreich mitgebrachten Bleistifte verbraucht hatten. Monge war dann derjenige gewesen, der eine Methode ausgetüftelt hatte, geschmolzene Bleikugeln in Nilschilf zu gießen und so weitere Stifte herzustellen.
»Vielleicht gibt es da Hoffnung«, sagte Napoleon.
Er bemerkte Monges wissendes Nicken.
Beide wussten sie, dass ein unscheinbarer, bei Rosetta gefundener schwarzer Stein mit in drei Schriften eingemeißeltem Text – Hieroglyphen (die Sprache des alten Ägypten), Demotisch (das volkstümliche Ägyptisch) und Griechisch – vielleicht die Antwort bringen würde. Letzten Monat hatte er eine Sitzung seines Ägyptischen Instituts besucht, das er zur Ermutigung seiner Savants gegründet hatte, und da war diese Entdeckung verkündet worden.
Aber es waren noch viele weitere Studien nötig.
»Wir legen zum ersten Mal eine systematische Übersicht über diese Fundstellen an«, erklärte Monge. »Alle, die vor uns kamen, haben einfach nur geplündert. Wir werden dem, was wir finden, ein Denkmal setzen.«
Noch so eine revolutionäre Idee, dachte Napoleon. Aber sie passte zu Monge.
»Bringen Sie mich hinein«, befahl er.
Sein Freund stieg ihm voran an der Nordseite eine Leiter hinauf, die zu einer Plattform in zwanzig Meter Höhe führte. Schon vor einigen Monaten war Napoleon bei seiner ersten Besichtigung der Pyramiden mit einigen seiner Kommandanten bis hierher gekommen. Er hatte sich jedoch geweigert, das Bauwerk zu betreten, da er sonst vor seinen Untergebenen auf allen vieren hätte krabbeln müssen. Jetzt bückte er sich und kroch in einen Korridor, der nicht mehr als einen Meter hoch und ebenso breit war und mit einer sanften Abwärtsneigung durchs Herz der Pyramide führte. Die Ledertasche baumelte von seinem Hals herunter. Sie kamen zu einem weiteren Korridor, der aufwärts ging, und Monge trat gebückt hinein. Die Steigung führte auf ein erleuchtetes Quadrat am Ende des Ganges zu.
Sie verließen den Korridor und konnten sich aufrichten; der erstaunliche Ort erfüllte Napoleon mit Ehrfurcht. Im flackernden Schein von Öllampen erkannte er eine Decke, mindestens zehn Meter über ihnen. Eine Rampe führte durch weiteres Granitmauerwerk steil nach oben. Die Wände liefen zur Decke hin in übereinandergeschichteten Kragsteinen zu einem schmalen Gewölbe zusammen.
»Das ist großartig«, flüsterte er.
»Wir nennen es die Große Galerie.«
»Ein passender Name.«
Am Fuße jeder Seitenwand verlief ein einen halben Meter breiter, oben flacher Sockel die Galerie entlang. Dazwischen führte ein Gang von einem Meter Breite nach oben. Es gab keine Stufen, nur einen steilen Anstieg.
»Ist er da oben?«, fragte Napoleon.
»Oui, mon Général. Er ist vor einer Stunde eingetroffen, und ich habe ihn in die Königskammer geführt.«
Napoleon hielt noch immer die Tasche fest. »Warten Sie draußen, unten.«
Monge wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal stehen. »Sind Sie sicher, dass Sie das allein machen wollen?«
Napoleon hielt die Augen weiter auf die Große Galerie gerichtet. Er hatte den Erzählungen der Ägypter gelauscht. Angeblich waren die Erleuchteten der Antike durch die mystischen Korridore dieser Pyramide gegangen, waren als Menschen eingetreten und als Götter herausgekommen. Dies hier war, so hieß es, ein Ort der »zweiten Geburt«, ein »Schoß der Mysterien«. Die Weisheit wohnte hier – so, wie Gott in den Herzen der Menschen wohnte. Napoleons Savants fragten sich staunend, welche Motivation diesen herkulischen Bauanstrengungen zugrunde gelegen hatte, aber für Napoleon gab es nur eine einzige Erklärung – und diese Obsession verstand er –, den Wunsch, die Enge der menschlichen Sterblichkeit gegen die Weite der Erleuchtung einzutauschen. Seine Wissenschaftler erklärten gerne, dies hier sei vielleicht das vollkommenste Bauwerk der Welt, die ursprüngliche Arche Noah, und habe möglicherweise den Ausgangspunkt für Sprachen, Alphabete, Maße und Gewichte dargestellt.
Doch er sah das anders.
Dies hier war das Tor zur Ewigkeit.
»Nur ich kann das hier tun«, murmelte er schließlich.
Monge ging.
Er wischte sich den Sand von seiner Uniform und ging los, die steile Rampe hinauf. Deren Länge schätzte er auf etwa hundertzwanzig Meter und war außer Atem, als er oben ankam. Eine hohe Stufe führte in eine Galerie mit niedriger Decke, von der eine Vorkammer mit Wänden aus behauenem Granit abging.
Dahinter öffnete sich die Königskammer, auch diese mit Wänden aus poliertem rotem Stein, dessen riesige Blöcke so eng verfugt waren, dass kaum ein Haar dazwischen passte. Die Kammer war rechteckig, etwa halb so breit wie lang, eine Höhlung im Herzen der Pyramide. Monge hatte ihm gesagt, dass es durchaus eine Beziehung zwischen den Maßen dieser Kammer und einigen uralten mathematischen Konstanten geben mochte.
Er hegte keinen Zweifel daran.
In zehn Meter Höhe bildeten flache Granitblöcke die Decke. Aus zwei Schächten, die die Pyramide von Norden und Süden durchzogen, sickerte Licht herein. Der Raum war leer, abgesehen von einem Mann und einem grob behauenen, unfertigen Granitsarkophag ohne Deckel. Monge hatte erwähnt, die runden Löcher von Bohrern und die Spuren von Sägen seien noch immer daran zu erkennen. Er hatte recht. Monge hatte ebenfalls berichtet, dass der Sarkophag einen knappen Zentimeter breiter war als der aufsteigende Korridor, was bedeutete, dass er vor dem Bau der restlichen Pyramide hierhergeschafft worden war.
Der Mann, der mit dem Gesicht zur hinteren Wand gestanden hatte, drehte sich um.
Sein formloser Körper war mit einem losen Überwurf bekleidet, sein Kopf mit einem Wollturban umwickelt; ein Stück Kattun hing ihm über die Schulter. Seine ägyptische Abstammung war unübersehbar, doch seine flache Stirn, die hohen Wangenknochen und die breite Nase zeigten auch Spuren anderer Kulturen.
Napoleon sah auf das tief zerfurchte Gesicht.
»Haben Sie das Orakel mitgebracht?«, fragte ihn der Mann.
Napoleon zeigte auf die Ledertasche. »Da ist es.«
Napoleon trat aus der Pyramide. Er war fast eine Stunde darin gewesen, und inzwischen hatte die Dunkelheit das Gizeh-Plateau verschluckt. Vor seinem Aufbruch hatte er den Ägypter aufgefordert, in dem Bauwerk zu warten.
Er wischte sich erneut den Staub von der Uniform und rückte die Ledertasche auf der Schulter zurecht. Er kam zur Leiter und bemühte sich, seine Gefühle in den Griff zu bekommen, aber die letzte Stunde war entsetzlich gewesen.
Monge wartete allein unten, die Zügel von Napoleons Pferd in der Hand.
»War Ihr Besuch zufriedenstellend, mon Général?«
Er sah dem Savant in die Augen. »Hören Sie zu, Gaspard. Sprechen Sie nie wieder über diese Nacht. Haben Sie mich verstanden? Keiner darf wissen, dass ich hier war.«
Sein Freund schien von dem Tonfall bestürzt.
»Entschuldigung, ich …«
Napoleon hob die Hand. »Sprechen Sie nie wieder davon. Haben Sie mich verstanden?«
Der Mathematiker nickte, aber Napoleon bemerkte, wie er an ihm vorbei nach oben zur Leiter schaute, wo der Ägypter darauf wartete, dass der General aufbrach.
»Erschießen Sie ihn«, flüsterte Napoleon Monge zu.
Er bemerkte den Schreck im Gesicht seines Freundes, und so presste er den Mund an das Ohr des Wissenschaftlers. »Sie laufen gerne mit diesem Gewehr herum. Sie wollen ein Soldat sein. Dann ist es jetzt Zeit. Soldaten gehorchen ihrem Kommandanten. Ich möchte nicht, dass der Ägypter diesen Ort verlässt. Wenn Sie nicht den Schneid dazu haben, lassen Sie es erledigen. Aber eines sollten Sie wissen: Wenn dieser Mann morgen noch lebt, wird unsere glorreiche Mission zugunsten der erhabenen Republik den tragischen Verlust eines Mathematikers zu beklagen haben.«
Er sah die Angst in Monges Augen.
»Sie und ich, wir haben gemeinsam viel geleistet«, stellte Napoleon klar. »Wir sind in der Tat Freunde. Brüder der sogenannten Republik. Aber Sie wollen mir nicht den Gehorsam verweigern. Niemals.«
Er ließ los und bestieg das Pferd.
»Ich kehre heim, Gaspard. Nach Frankreich. Zu meinem Schicksal. Mögen Sie gleichfalls das Ihre finden, hier, an diesem gottverlassenen Ort.«
ERSTER TEIL