ISBN: 978-3-938097-94-6
1. Auflage 2017, Drochtersen (Deutschland)
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„Die Wahrheit ist ein kostbares Gut. Man kann gar nicht sparsam genug damit umgehen.“
Ulrich Tukur als Millionenbetrüger Jürgen Harksen in Dieter Wedels „Gier“
Als er ihn endlich auf den Beifahrersitz gehievt und mit dem Anschnallgurt aufrecht sitzend fixiert hatte, lebte der Mann noch. Er stöhnte – erstaunlich leise angesichts der Schmerzen, die er haben musste – und bewegte ab und zu den Kopf. Die Augen waren halb geöffnet, die Pupillen erweitert. Einmal schien es, als wolle er etwas sagen. Aber er brachte kein Wort heraus, nur eine Art Gurgeln.
Hamms Kleidung war über und über blutbefleckt, als spiele er ein Opfer in einem Splatter-Movie. Er zitterte in der Kühle der Nacht, gleichzeitig rann ihm Schweiß den Rücken und die Schläfen herunter. Nicht, dass der Transport des Mannes vom Seitenstreifen ins Auto ihn körperlich überfordert hatte. Der Verletzte war ein kleiner, schmächtiger Mann, kaum größer als einen Meter siebzig, wie Hamm schätzte, der selber nur mittelgroß war, aber kräftig und gut in Form durch die Arbeit, mit der ihn sein Resthof unablässig auf Trab hielt.
Was ihn zittern, beinahe schlottern machte, war vielmehr das Gefühl, keinen Körper, sondern eine gallertartige Masse zu bewegen. Die Arme baumelten schlaff von den Schultern wie dicke Hanfseile. Es war keinerlei Spannung in dem Körper zu fühlen gewesen. Alle möglichen Knochen mussten gebrochen sein. Am linken Oberschenkel war ein Stück durch die Jeans gestoßen und guckte hervor wie ein Menetekel. Der Mann musste wirklich höllische Schmerzen haben.
Hamm ging durch den Kopf, dass es hieß, extremer Stress bewirke einen Ausstoß irgendwelcher körpereigener chemischer Substanzen, die schmerzunempfindlich machten, wenigstens für eine Weile. Eines dieser genialen Programme, die das Überleben des Homo sapiens ermöglichen, selbst unter schlimmsten Konditionen. Hoffentlich wusste der Körper des Verletzten, wie er sich zu verhalten hatte.
Hamm zitterte noch aus einem anderen Grund. Er hatte sich mit dem Transport des Verletzten eine Verantwortung aufgeladen, die ihm immer stärker bewusst wurde. Was, wenn der Mann während der Fahrt in die Kreisstadt starb? Was, wenn sich herausstellte, dass er nie und nimmer hätte bewegt werden dürfen? Dass ihn die Stöße, die von der seit vielen Jahren vernachlässigten, immer nur notdürftig ausgebesserten Fahrbahn stammten und die selbst ein komfortables Auto wie das von Hamm nicht völlig abfedern konnten, letzten Endes umgebracht hatten? Dass das Opfer, so schwer es – von wem auch immer – verletzt worden war, noch leben könnte, wäre nicht ein verdammter Idiot namens Bernhard Hamm auf den Gedanken gekommen, es in diesem prekären Zustand zu transportieren. In einem ganz normalen Auto, statt auf den Krankenwagen zu warten!
Für einen Moment sah sich Hamm zerknirscht vor einer Richterbank stehen, von wo aus man ihn anbellte: „Was haben Sie sich in dieser Situation bloß gedacht, Mann? WAS?!“
Aber wo war die Alternative? Natürlich hatte Hamm, wie im Erste-Hilfe-Kursus gelernt, den Verletzten sofort auf die Seite gelegt, nachdem er ihn mit grotesk verrenkten Gliedern auf dem Seitenstreifen zwischen zwei Begrenzungspfosten liegen gesehen hatte. Er war derart auf die Bremse gestiegen, dass trotz staubtrockener Straße das ABS anschlug. Danach hatte er getan, was alle in seiner Situation getan hätten: er hatte auf dem Handy die 110 gedrückt und gewartet. Auf Profis setzen, nicht selber dilettieren wollen, das machte schließlich den Erfolg einer Industriegesellschaft aus, oder? Alles andere war Dritte Welt, oder Landkommune.
Das Handy schwieg. Er nahm es vom Ohr und sah, dass keine Betreiberkennung auf dem Display stand. Kein Netz! Hamm fiel ein, dass es hier, hinter dem Deich, zwischen der historischen Schwebefähre und der Mündung des Flusses in den großen Strom, auf langen Abschnitten keinen und nur sehr schwachen Mobilfunk-Empfang gab. Keine der Telefongesellschaften deckte den Bereich wirklich gut ab. Mehr Stationen einzurichten als die bereits existierenden, lohnte sich für die Versorger nicht, zu dünn war die Gegend besiedelt. Hamm fluchte auf die profitgeilen Konzerne, die an jeden schönen alten Kirchturm ihre hässlichen Antennen schraubten, wenn ein Geschäft zu machen war, aber die Bewohner entlegener Landstriche kaltherzig im Tal der Ahnungslosen beließen. Dreckspack!
Was jetzt?
Auf Hilfe warten, die vielleicht zufällig kommen würde? Das konnte Stunden dauern. Hamm kannte die schmale Straße, die parallel zum Fluss viele Kilometer mit ihm mäanderte. An der Straße lagen Bauerhöfe, Reetdachkaten von zumeist älteren Einheimischen und Wochenendhäuser von Städtern. Keine Kneipe, kein Gasthof, nirgends.
Es war jetzt fast ein Uhr früh. Unwahrscheinlich, dass vor sechs Uhr, wenn auf den Höfen die Arbeit begann und bettflüchtige Zugezogene ihre Joggingrunden begannen, jemand vorbei kommen würde. Hamm war auf sich gestellt. Er musste etwas tun, was schon lange nicht mehr auf den Lehrplänen stand. Eine einsame, schnelle Entscheidung fällen, ohne Zustimmung eines Teams oder Kollektivs, auf das er sich notfalls berufen könnte.
Hamm entschied, den Schwerverletzten ins Krankenhaus der Kreisstadt zu fahren. Es hatte kaum eine Chance, aber er würde sie nutzen.
„Augustinus sagt: wer sich zu sehr bemüht, hinter die Dinge zu sehen, sieht am Ende die Dinge selbst nicht mehr.“
Heinz Rühmann als Pater Brown in „Er kann´s nicht lassen“
„Junger Mann, könnten Sie mal ein Foto von meinen Mann und mir machen? So, dass auch die Olle mit den Fischen drauf ist?“ Die Frauenstimme klang quäkend, irgendwie nach Bohnerwachs und Flurgetratsche am Treppenputztag. Gab es das überhaupt noch, Treppenputztag? Hamm saß auf einem Alustuhl unter einem Sonnenschirm des „Speicher-Cafés“ am Alten Hafen und war derart in einen Artikel des „Küstenboten“ vertieft, dass der Satz einfach an ihm vorbeiwehte.
Als die Quakstimme insistierte, begriff er, dass er gemeint war. „Junger Mann... könnten Sie... vielleicht...“ Er sah genervt auf. Ein idealtypisches Bustouristenpaar im schauderhaften beigen Windjacken-Freizeitlook stand vor ihm, eine Digitalkamera präsentierend. Was sie wollten, war ein Foto von ihnen vor der Skulptur, mit der ein eher bescheiden talentierter Sohn der Kreisstadt die Figur der Ilsebill aus dem Grimmschen Märchen vom Fischer und seiner Frau dargestellt hatte.
Die Geißel des sinnfreien, ununterbrochenen Herumknipsens im öffentlichen Raum, am liebsten auch bei Sonne mit eingeschaltetem Blitz, selbst dann blitzend, wenn die Motive kilometerweit entfernt waren, löste bei ihm einen jähen Aggressionsschub aus. „Meinen Sie mich, gute Frau?“ fragte er tückisch. „Brauchen Sie eine neue Brille? Dahinten“ – er wies in Richtung des hölzernen Replika-Krans, den eine private Trägergemeinschaft aufgestellt hatte – „ist ein Optiker. Der hat auch Gläser für die ganz schweren Fälle.“ Was er außer der Knipserei nicht ausstehen konnte, war die Marotte älterer Leute, jeden, der ein Jahr jünger als sie aussah, mit „junger Mann“ oder „junge Frau“ zu titulieren. Was sollte das? Er war Anfang 50. Wie konnte man ihn für einen jungen Mann halten? Er wusste, dass er keineswegs geschmeichelt zu sein brauchte. Er sah nicht wirklich jünger aus als er war. Die Anrede war einzig und allein aus der typischen Unverschämtheit alter Leute geboren, die nicht mehr willens sind, ihren Mitmenschen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
Einfach drauflos brabbeln, das war ihre Devise. Vielleicht sollte dieses jaunerige „junger Maaahnn“ auch eine Art Mitleids- und Hilfsappell darstellen, nach dem Motto „du bist noch jung und stark, ich hingegen, ach, bin sehr alt und schwach.“ Wie auch immer, Hamm hasste das Geseire. Je älter er selber wurde, desto mehr erbosten ihn die Wehleidigkeit und die Gedankenlosigkeit vieler alter Leute.
Alle waren jetzt alt, wie es schien; alle in diesem vergreisenden Land, und alle fuhren in Bussen pausenlos kreuz und quer durch dieses alte Land und beglotzten es. Und alle kamen irgendwann auch in die alte Kreisstadt mit ihrem berühmten Kern aus Fachwerkhäusern, wo sie herumknipsten, mitgebrachte Stullen mampften, die kopfsteingepflasterten Gassen verstopften und mit ihren scheußlichen Klamotten das Straßenbild verschandelten. Hamm hasste Bustouristen von Herzen. Besonders, wenn sie alt waren. Er hasste sie schon deshalb, weil er in nicht ferner Zukunft selber alt sein würde. Er hatte sich vorgenommen, später keinesfalls in Bussen durch die Gegend zu fahren und Fotos zu machen.
„Komm Robert“, rief die Frau empört und zerrte am Arm ihres Gatten. „Wir gehen. Unfreundliche Leute sind das hier.“ Schon wieder die typische Selbstgerechtigkeit der Alten. Statt sich zu fragen, ob sie selber es waren, die etwas gesagt oder getan hatten, was eine Abfuhr provozieren musste – nichts als Beleidigtheit. Hamm ertappte sich, dass er anfing, alle Alten in Bausch und Bogen zu hassen. Er glaubte den weinerlichen Fernsehberichten nicht mehr, in denen sie immerzu nur als Opfer von Abzockern dargestellt wurden, allein gelassen von ihren Kindern, ausgegrenzt und traurig am Rande der Gesellschaft siechend. Sicher, solche Schicksale gab es, aber viele hatten sie sich selber zuzuschreiben. Das Desinteresse der Alten an anderen Menschen, ihre Egozentrik, ihre Selbstgerechtigkeit und ihre permanent um sich selber kreisenden Geschichten rächten sich irgendwann. So war das Leben. Hamm war froh, dass seine eigenen Eltern ganz anders gewesen waren.
Die beiden beigefarbenen Windjacken verschwanden im Gewimmel anderer beiger Windjacken. Schon waren sie in der Herde nicht mehr auseinander zu halten, wie Zebras aus der Perspektive eines Löwen. Hamm wandte sich mit einem unbestimmten Gefühl der Befriedigung wieder dem Boten zu. Fast die gesamte erste Seite des Lokalteils war einem Verkehrsunfall gewidmet. Ungewöhnlich.
Sicher, das Blatt berichtete regelmäßig über Unfälle. Es mangelte nicht daran, wahrhaftig nicht. Die Region war berüchtigt dafür; sie stemmte sich mit aller Macht gegen den bundesweiten Abwärtstrend bei Unfällen mit Toten oder Schwerverletzten. Kreuze an den Straßenrändern kündeten von Katastrophen. Viele Opfer waren jung gewesen, Fahranfänger mit reichlich Selbstvertrauen und wenig Respekt vor den Gefahren der schmalen, von Bäumen gesäumten Straßen.
Jeden zweiten Tag druckte der Bote Unfallberichte, die mit Fotos von Autowracks illustriert waren. Die Leser verlangten nach solcher Kost. Besonders, wenn in schauerlich zertrümmerten Fahrzeugen – manche hatten sich regelrecht um Straßenbäume gewickelt – Insassen wie durch ein Wunder überlebt hatten. Das kam vor und wurde ausgiebig diskutiert. Unfälle waren wie das Wetter. Immer ein Thema.
Aber dieser Aufmacher im Boten – „Fahrerflucht? Mysteriöser Unfall am Deich“ – konnte nicht mit dem Foto eines bizarren Schrotthaufens punkten. Stattdessen zeigte ein über drei Spalten gezogenes Bild einen idyllischen Deichweg, auf dem nicht einmal Trümmer lagen. „Auf der Landstraße zwischen Bargwisch und Söderfleth in Höhe von Schöpfwerk vier wurde gestern gegen ein Uhr früh ein Schwerverletzter gefunden“, lautete die Bildunterschrift.
Der Bericht der Zeitung walzte die offizielle Darstellung der Polizei aus: ein Mann aus der Umgebung von Söderfleth habe auf der Fahrt zu seinem Haus das Opfer gefunden, aber wegen der bekannten Funklöcher in der Region zunächst keine Hilfe herbei telefonieren können. Er habe den Verletzten, einen Clemens W., dann in seinem „Privat-PKW“ – sie druckten das hölzerne Beamtenwelsch wörtlich ab – über die nahe Bundesstraße in Richtung Kreisstadt „verbracht“. Während der Fahrt habe der Retter dann die Polizei per Handy erreichen können.
20 Kilometer vor der Stadt sei er von einem sofort alarmierten Rettungswagen gestoppt worden, in dem das Opfer notversorgt und zum Kreiskrankenhaus transportiert wurde. Dessen Zustand sei „stabil“, wiewohl noch immer „kritisch“. Die Polizei ermittle „in alle Richtungen“. Es sei noch unklar, ob Clemens W. angefahren wurde oder ob ihm seine sehr schweren Verletzungen „anderweitig beigebracht“ wurden. Ein Anfangsverdacht, dass der Mann, der das Opfer in Richtung Krankenhaus gefahren hatte, selber der Unfallverursacher war, habe noch in der Nacht ausgeräumt werden können, da dessen Wagen keinerlei Spuren eines Aufpralls aufwies.
Hamm seufzte. Ja, sie hatten ihn in die Mangel genommen. Nach dem Verladen des Verletzten in den Rettungswagen musste er einem Polizeiauto, das auch vor Ort war, zur Hauptstation der Stadtpolizei folgen. Dort machten sich Streifenbeamten sofort über seinen Wagen – „Privat-PKW“ – her, während er in der Wache vernommen wurde. Ob er das Opfer kenne? Nein, nie gesehen. Was er so spät noch am Deich gemacht habe? Ganz einfach, er sei von der Arbeit aus Bremen gekommen. Stirnrunzeln. Aus Bremen? Von der Arbeit? Die müsse dann ja erst um halb zwölf Uhr nachts geendet haben? Hamm verkniff sich billiges Beamten-Bashing von der Art, dass man in der freien Wirtschaft eben manchmal lange ackern müsse. Man könne seine Angaben leicht nachprüfen, er sei bis zum Schluss mit Kollegen zusammen gewesen. Warum er zu seinem Haus nicht den Weg über die Kreisstraße genommen habe, der Deichweg sei doch schmal und kurvenreich? Oh, sie waren nicht schlecht, diese Provinz-Sheriffs! Hatten sofort ermittelt, wo sein Haus lag und scharf auf die Karte geschaut.
„Der Deichweg ist für mich eine Abkürzung“, hatte er erklärt. „Aber nur nachts, wenn einem keiner entgegenkommt.“
Schließlich war einer von denen, die sein Auto nach Beulen oder Kratzern oder Blutspuren abgesucht hatten, in die Tür getreten und hatte wortlos den Kopf geschüttelt. Fünf Minuten später wurde Hamm mitgeteilt, er dürfe nach Hause fahren, müsse allerdings vorher den Beamten noch jene Stelle am Deich zeigen, wo er den Verletzten gefunden hatte.
Sie fuhren im Konvoi. Als sie den Deichweg erreichten, hatte er keine Mühe, die Stelle zu finden. Fluss und Deich knickten an dieser Stelle scharf nach Osten ab. Teufelsbucht nannten die Einheimischen die Stelle, weil die Strömung auf dem Fluss starke Wirbel entstehen ließ, die Booten mit schwachen Motoren das Manövrieren schwer machte. Die Beamten stiegen aus ihrem Fahrzeug. Hamm zeigte ihnen die Stelle. Sie begannen, die Umgebung mit starken Stablampen auszuleuchten und abzusuchen. Aber da war nichts. Keine Glasscherben, keine Lacksplitter, kein abgerissener Außenspiegel. Blut, ja. Sie nahmen Proben. Bremsspuren gab es nicht.
Einmal fischte der jüngere der beiden Polizisten etwas aus dem Gras. Hamm trat näher. Es war ein zerknitterter Fahrschein für den Metronom-Doppeldeckerzug mit einer metallisch glänzenden Leiste an einer Seite. Der Beamte strich ihn glatt.
„Nur ein Ticket“, sagte er. „Kann praktisch jeder hier weggeschmissen haben.“ Hamm war einen Blick auf den Aufdruck. Von der Kreisstadt nach Hechthausen, einfache Fahrt, 1. Klasse, Datum von gestern. Trug nicht gerade zur Wahrheitsfindung bei. Der konnte von jedem stammen, der hier durchgefahren war. Er murmelte etwas, hob die Hand in Richtung der Polizisten und ging zu seinem Wagen.
Langsam wurde es hell. Auf dem Beifahrersitz bemerkte er Blutflecken. Er würde ihre Beseitigung seiner Werkstatt überlassen. Was hatte der Mann, den er vielleicht gerettet hatte, sagen wollen, während Hamm – vorsichtig wie bei Glatteis, um jeden unnötigen Stoß zu vermeiden – durch die Nacht zum Krankenhaus fuhr? Rahb? Schaab? Der Verletzte hatte immer wieder einen Laut mit langem Vokal herausgepresst. Ein Namensfragment? Oder war das nur ein Stöhnen gewesen?
Es war vier Uhr früh geworden, als er heimkehrte. Er war so erschöpft gewesen, dass er seiner Katze wortlos das Futter hingestellt hatte, ohne sie wie üblich ausgiebig durchzukraulen. Aber Susi tat so ausgehungert, dass sie sich ohnehin für nichts anderes als Nahrungsaufnahme interessierte.
*
Er legte die Zeitung beiseite und bestellte noch einen Milchkaffee. Sie machten einen guten Milchkaffee in der Kreisstadt. Das Zeug schmeckte besser als bei Starbucks in Hamburg, war noch dazu deutlich billiger. Er blinzelte in die Sonne, schaute wieder auf die Zeitung und wunderte sich plötzlich. Warum brachte der Bote den Unfall, oder was immer da am Deich geschehen war, so groß? Warum überhaupt? Sie hatten, erstens, kein Horrorfoto, das zu einem saftigen Unfallbericht gehörte wie das Palästinensertuch zur Soziologiestudentin. Und es bestand, zweitens, gar kein Grund, über den Unfall zu berichten. Er war im Nachbarkreis passiert, somit im Beritt vom „Tageblatt“. Die beiden Lokalblätter in den aneinandergrenzenden Landkreisen beschränkten sich, um keine unnötige Konkurrenz zu befördern, auf ihre angestammten Verbreitungsgebiete. Söderfleth gehörte definitiv nicht zum Turf des Küstenboten.
Hatten sie das Stück aus blanker Verzweifelung gedruckt, weil am Vortag nichts, aber auch gar nichts im eigenen Kreis passiert war? Schwerlich. Irgendeine Veranstaltung oder ein Jubiläum, auf denen ein paar wichtigtuerische Vereinsmeier sich selber belobhudelten, lief auf dem Land immer. Notfalls hätten die Boten-Redakteure eine Betrachtung über das Für und Wider neuer Deichschaf-Rassen oder einen Bericht über eine Initiative zur Rettung eines alten Leuchtturms aus dem Stehsatz befreien können.
Die Sache war ihm ein Rätsel.
Wie aufs Stichwort tatschte ihm jemand von hinten freundschaftlich aufs Schulterblatt.
„Bernhard, alter Junge! Long time no see! Was treibt dich aus deiner räucherigen Kate in unsere Großstadt?“
Hamm drehte den Kopf und blickte auf, hatte die Stimme jedoch bereits zugeordnet. Sie gehörte Kurt Gillmann, dem leutseligen Chefredakteur des „Küstenboten“. Er war fülliger geworden, wie es schien. Hamm hatte mit ihm vor Jahren zu tun gehabt, als es beim Streit um die Aufstellung riesiger Windparks zu mysteriösen Vorfällen gekommen war. Gillmann hatte ihm damals geholfen, einem Typen auf die Schliche zu kommen, der im Auftrag der Windkraftindustrie mit allerlei schmutzigen Tricks gegen Windrad-Gegner gearbeitet hatte. Ganz abgerissen war der Kontakt nie. Gillmann hatte Hamm ein seiner Porträt-Serie „Köpfe der Region“ vorgestellt, die er jede Woche verfasste. Anlass des Porträts war der frische Wind, den Hamms Firma, der Bremer Reiseveranstalter Transwelt, dem lange brach gelegenen Regionalflugplatz MoorPort eingehaucht hatte.
Die Idee, Touristenflüge direkt von und nach MoorPort zu führen und so neue Reisekunden im ländlichen Raum zu gewinnen, stammte von Hamm, was Gillmann auch gebührend herausgestellt hatte. Hamm hatte es dank des Artikels zu einer gewissen Lokalprominenz gebracht, die erstaunlicherweise anhielt. Jedenfalls bekam er seither Einladungen zu Veranstaltungen mit Politikern und Unternehmern, auf denen es um die regionale Wirtschaftsförderung ging, ein immergrünes Thema in der strukturschwachen Gegend.
Natürlich ging er nie hin.
„Kurt!“, rief Hamm ehrlich erfreut. Er schätzte den alten Schluckspecht. Trotz vielerlei Rücksichten, die er in seiner Zeitung auf alle möglichen Interessen nehmen musste, und bei allem Herumeiern und Lavieren war er als Typ doch eine angenehme, ehrliche Haut.
„Ich darf mich einen Moment zu Dir setzen“, stellte der Redakteur fest. „Habe einen irren Brand. Gestern Abend..., oh je. Die Reiterliche Vereinigung gab ihr Sommerfest. Reiter saufen noch mehr als ihre Gäule, war mein Eindruck.“
„Und du musstest dabei pflichtgemäß mithalten“, stellte Hamm fest. „Immer im Dienst, oder?“
„Repräsentieren, mein Lieber, repräsentieren ist alles. Die Honneurs machen, den Grüßaugust geben. Im Reiterclub sind so gut wie alle, die für unser Anzeigengeschäft wichtig sind. Die Großbauern mit ihren Hofläden, die gehobenen Gastronomen, die Einzelhändler, die Baumarktheinis, die Obstbauern von der Genossenschaft, die Landmaschinenhändler... – Maikemäuschen“, mit Handbewegungen schaufelte er die Bedienung zu sich heran, eine dralle Brünette mit beachtlicher Oberweite, welche die darüber festgezurrte Bluse fast bersten ließ, „mach mir doch bitte ein Alsterwasser. Ein großes. Grazie!“
Maike warf ihm ein zauberhaftes Lächeln zu, halb treudoof, halb durchtrieben, und schob in Richtung Lokal ab. Gillmann war zwar nicht gerade ein Adonis mit seiner Wampe und der Halbglatze, die sich ausbreitete wie die Sahara in der Sahel-Zone. Sein Gesicht wirkte teigig und abgegriffen, gezeichnet vom Reiter-Kampftrinken. Er hätte ohne weiteres Maikes nicht besonders gut erhaltener Papa sein können. Doch als Chef des Küstenboten würden ihm Mädchen wie Maike zu Füßen knien, wenn er es nur wollte. Schließlich veranstaltete er in Zusammenarbeit mit der Disco „Royal Flash“ so genannte Showtalent-Wettbewerbe nach dem Muster „Deutschland sucht den Superstar“, bei denen er auch in der Jury saß.
Er schaute Hamm verschmitzt an. „Ich habe jetzt spitz gekriegt, dass es gar nichts bringt, nach einer Sauferei am nächsten Tag nur Mineralwasser zu trinken. Klar, man muss Wasser trinken, sogar viel, aber etwas Alk muss auch dabei sein, verstehst du. Damit der Pegel nicht auf einen Schlag brutal absackt.“
„Stimmt schon, kein Alkohol ist auch keine Lösung“, bemerkte Hamm
„Wahrer Spruch“, krähte Gillmann. „Von den Toten Hosen, wenn ich nicht irre. Aus ihrer Anfangszeit, als sie noch gut waren. Heute...“ Maike kam mit dem Alsterwasser angeflogen. Er nahm einen tiefen Zug aus dem Glas und hatte bereits vergessen, was „heute“ war. Hamm nutzte die Gelegenheit, um auf ein wichtigeres Thema zu kommen.
„Hab gerade diese Unfallgeschichte in deinem Weltblatt gelesen. Sag mal, warum bringt ihr die so groß? Warum überhaupt? Ist doch drüben passiert, in Söderfleth. Da lesen sie doch das Tageblatt, oder?
Die leichte Alkoholzufuhr schien Gillmann zu bekommen. Er wirkte erfrischt, als er das Glas absetzte. Sein Gesicht nahm eine gesündere Farbe an. Sein Grinsen verströmte tiefe Selbstzufriedenheit.
„Aus der Story stricke ich einen Fortsetzungsroman. Und den wird die ganze verdammte Gegend verschlingen. Folge eins hast du dir gerade rein gezogen.“
„Wie jetzt, Fortsetzungsroman? Was soll an einem Unfall so spannend sein?“
„Das Opfer, Bernhard. Das Opfer! Clemens Waschnewski ist ein ziemlich bekannter Mann, bei vielen hier in der Gegend. Und auch ein ziemlich unbeliebter, bei einigen. Dass ausgerechnet der bei Nacht und Nebel fast tot gefahren wird, kann einen schon ins Grübeln bringen...“
„Verstehe nur Bahnhof. Wenn der Typ hier so was eine öffentliche Figur ist, dann ist diese Tatsache jedenfalls an mir vorbei gerauscht. Wenn er aber nun mal eine solche Figur ist, warum hast du davon nichts in dem Artikel erwähnt?“
„Letzter Punkt zuerst: ich eröffne meine lockerere Artikelserie bewusst ganz harmlos. Was weiß ich denn, was da am Deich passiert ist? Nada. Aber morgen gibt´s Neuigkeiten im Boten! Ich meine, irgendwas wird die Polizei schon raus gefunden haben, was wir aufblasen können. Spuren am Unfallort, die Art der Verletzungen, wird das Opfer durchkommen? So in der Art. Und dann, was deine erste Frage betrifft, wir drucken auch den vollen Namen des Opfers. Plus seine Eigenschaft als oberunbequemer BI-Querulant. Da werden wohl einige Leute nicht umhin können, sich einen Reim drauf zu machen. Und übermorgen oder überübermorgen geht´s weiter im Text.“ Er gackerte voller Vorfreude. „Die Auflage wird durch die Decke gehen. Vorausgesetzt...“
Ja, da lag natürlich noch eine gewisse Unwägbarkeit. Würden die Ermittlungen letztlich ergeben, dass jemand den Mann vorsätzlich umgefahren hatte? Dass er ihn womöglich gar umbringen wollte? Und, falls ja, würde auch klar werden, wer dieser Jemand war? Oder würde alles im Sande verlaufen, beziehungsweise im Moor versacken, wie so viele Geheimnisse der dunklen Marschlandschaft?
Gillmann erklärte Hamm, was es mit Waschnewski auf sich hatte. Er war Mitte Fünfzig, Galerist, Kunsthändler und Herausgeber einer Buch-Edition, die auf Malerei aus dem Norden spezialisiert war, malte wohl auch selber ein bisschen. In seinem idyllisch inmitten von Wiesen und Feldern gelegenen Bauernhaus, das Waschnewskis Familie seit zwei Jahrhunderten gehörte, veranstaltete er Malkurse und Seminare, die sich vor allem bei kunst- und landsinnigen Damen aus Bremen und Hamburg großer Beliebtheit erfreuten. Alles in allem kam er damit gut über die Runden. Und das hätte so bleiben können bis ans Ende seiner Tage.
„Aber jetzt droht ihm die Autobahn“, sagte Gillmann. „Sie würde 500 Meter neben seinem Haus vorbei laufen, wenn sie so gebaut wird, wie es Planungen für die Variante 2 vorsehen. Das heißt, wenn sie überhaupt gebaut wird, was durchaus nicht sicher ist. Wird sie gebaut, ist sie das Aus für Waschnewski. Er könnte seine Bude dichtmachen. Aus der Traum vom gemütlichen Leben, frischer Luft und himmlischer Ruhe. Stattdessen donnern dann direkt vor seiner Nase die Brummis aus halb Europa vorbei. Die Autobahn soll das letzte Verbindungsstück einer durchgängigen europäischen Ost-West-Verbindung werden.“
„Entzückend“, brummte Hamm. Ja, er hatte von den Planungen gelesen. Die Geschäftsleute in der Region trommelten seit längerem für die Autobahn. Speziell ihre Lobby, die Industrie- und Handelskammer. Aber es gab auch wachsenden Widerstand. Der war schwerlich zu übersehen. In den Dörfern und vor den Häusern, die von der Autobahn tangiert würden, standen blaue Schilder mit der trotzigen Aufschrift „A 17 – hier nicht!“ Der Streit um die Autobahn hatte an Schärfe zugenommen, je konkreter die Planungen geworden waren.
Hamm selber hatte sich dafür nie sonderlich interessiert. Sein Resthof lag weder im Einzugsbereich der Planungsvariante 2 noch in dem der Variante 1, nach welcher die Autobahnachse etwas nördlicher verlaufen würde. Für Hamm würde durch die neue Autobahn seine Anfahrtszeit zum Bremer Büro erheblich kürzer werden. Doch das war Zukunftsmusik. Ob er noch bei Transwelt arbeiten würde, wenn die A 17 fertig war, stand in den Sternen; ebenso, ob er dann nicht längst Rentner sein würde. Hier im Norden dauerte es von den ersten Überlegungen für eine Autobahn bis zur Verkehrsfreigabe manchmal mehr als 40 Jahre.
Waschnewski, erzählte der Redakteur, war durch die Bedrohung zu großer Form aufgelaufen. Sonst eher ein geschmeidiger, verbindlicher Charmeur im ländlichen Kulturbetrieb, war er in wenigen Jahren zum Chefagitator gegen die A 17 mutiert. Hatte organisiert und konspiriert; Dörfer, Gehöfte und Einzelhäuser besucht und die Bewohner zu einer Bürgerinitiative zusammen geschweißt. Er hatte die Website „A 17 – nein danke!“ ins Netz gestellt, auf der sich künftige und bereits jetzt von der Autobahn Geschädigte – Immobilien entlang der geplanten Trasse waren praktisch unverkäuflich geworden – austauschten.
Und er hatte sich schlau gemacht. Verdammt schlau gemacht. Er kannte die Habitate seltener Tiere, durch welche die Autobahn schneiden würde; er wusste, wo die ökologischen Schwachstellen der Planung lagen, welche Feuchtgebiete betroffen wären, welche Vogelzüge gestört würden, welche langwierigen Umweltverträglichkeitsprüfungen angemahnt werden konnten. Er hatte die Umweltverbände, die ein Mandat für solche Fragen besaßen, in seinen Kreuzzug eingebunden und organisierte unablässig Veranstaltungen, auf denen hochkarätige Experten den Bau der A 17 mit den unterschiedlichsten Argumenten angriffen.
Neben den ökologischen Schäden ging es um den wirtschaftlichen Nutzen der Autobahn, den Waschnewskis Zeugen rundweg bestritten. Nein, die Autobahn werde keineswegs zur Firmenansiedelung in der Region führen und Arbeitsplätze schaffen. Sie sei eine reine Transitstrecke zum Nutzen der Polen, Skandinavier, Holländer und Belgier. Für die Einheimischen bleibe nur Lärm, Gestank, Landschaftsverbrauch und eine höhere Kriminalität durch reisende Banden.
„Bei der Industrie- und Handelskammer kriegen sie Eiterpickel, wenn der Name Waschnewski fällt“, grinste Gillmann. „Der Typ kostet sie ein Vermögen. Für jede Anti-Autobahn-Veranstaltung, die er auf die Beine stellt, muss die IHK eine Pro-Veranstaltung organisieren. Das Thema ist jetzt derart politisiert, dass es den Parteien langsam mulmig wird. Die großen drei sind prinzipiell für die Autobahn. Aber nächstes Jahr haben wir Landtags- und Kommunalwahlen. Jetzt will kaum einer der Großkopfeten sich öffentlich als Fan der A 17 outen.“
Durch Waschnewskis Umtriebe drohte dem Autobahnprojekt eine erhebliche Verzögerung, wenn nicht das Aus. Wusste man, wie der Bund sich in ein, zwei Jahren zur A 17 stellen würde? Sie besaß keinen Vorrang im Bedarfsplan der Bundesfernstraßen. Wenn dem Bund bei der nächsten Wirtschaftskrise endgültig das Geld ausging, konnte das ganze Projekt ruckzuck in der Tonne landen. Deshalb war es für die Befürworter wichtig, dass endlich mit dem Bau begonnen wurde. Unumkehrbare Fakten sollten geschaffen werden.
„Aber du willst doch nicht sagen, dass ein IHK-Agent mit der Lizenz zum Töten diesen Waschnewski übergemangelt hat“, sagte Hamm.
Gillmann wiegte geheimnistuerisch den Kopf.
„Von Verschwörungstheorien halte ich mich prinzipiell fern. Die Brüder vom IHK-Vorstand kenne ich. Das sind kleine Spießer, die es nicht mal wagen würden, bei Rot über die Ampel zu fahren. Nee, die bringen keinen um die Ecke. Aber es gibt in dieser wunderbar platten Gegend ein paar Leute, denen ich ein paar nicht so wunderbare Sachen zutrauen würde ...“ Ein aufgesetzt-wissendes Lächeln rundete seinen kryptischen Vortrag ab. „ ... Leute mit bestimmten Interessen, verstehst du ...“
Hamm verstand nichts. Es war ihm auch egal. Vage Verdächtigungen, dubiose Andeutungen und dunkles Gemurmel waren ihm nur zu vertraut. In Ohlsens Gasthof bei Söderfleth, wo er gelegentlich ein paar Biere vertilgte, ging es den ganzen Abend nur um solche Gerüchte. Wessen Scheune „warm“ abgebrochen wurde und durch wen, wessen Eheweib unter welchem Kurierfahrer zu liegen pflegte, wessen Grundstück von wem benötigt wurde, um darauf monströse Windräder zu stellen – Ratsch und Tratsch gab es auf dem Land immer im Überfluss.
Sie lesen niemals Bücher, dachte Hamm. Brauchen sie gar nicht. Ihre Romane sind das wahre Leben.
Er wünschte Gillmann viel Glück und machte dem kellnernden Busenwunder das internationale Bezahlen-Zeichen – fiktiver Zettel in der Linken, auf den die Rechte etwas kritzelt. „Ich muss heim“, sagte er. „Ab Montag bin ich auf Dienstreise, und den Sonntag brauch´ ich für Vorbereitung und Kofferpacken.“
„Wo geht´s hin?“
„Nach Ägypten.“
„Glückspilz!“
„Wenn du wüsstest ...“
„Der Kopf ist rund, damit das Denken seine Richtung ändern kann.“
Volksweisheit