Herausforderung für die Biomedizin:
Das biopsychosoziale Konzept

Reflexionen seit der Emeritierung (2001–2016)

Rolf H. Adler

Der Autor

Der Schweizer Internist und Psychosomatiker Prof. em. Dr. med. Rolf H. Adler gilt als einer der bekanntesten Vertreter des biopsychosozialen Konzepts, das er als langjähriger Chefarzt des Lory-Hauses am Berner Inselspital umsetzte. Adler absolvierte seine Assistenzzeit sowohl in einer medizinischen als auch in einer psychiatrischen Klinik. Die Kontakte mit George L. Engel und Thure von Uexküll öffneten ihm den Blick dafür, dass nur die Synthese beider Fachrichtungen und die Berücksichtigung der biopsychosozialen Zusammenhänge eine optimale Behandlung ermöglichen.

Aus dem Inhalt

Ohne Theorie ist die Medizin blind und ohne Praxis lahm

Das biologische ist ein Teilsystem des biopsychosozialen Systems

Die Anamneseerhebung, ein «unmögliches» Unterfangen

Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient: Kunst oder Wissenschaft?

Die Individuelle Wirklichkeit und der Arzt

Visite am Krankenbett ist Aufgabe des Arztes

Was ist gute Medizin?

Therapeutische Wirksamkeit ist kein dehnbarer Begriff

Kann, soll, muss der Arzt ärztliche Aufgaben delegieren?

 

Herausforderung für die Biomedizin:
Das biopsychosoziale Konzept

Reflexionen seit der Emeritierung (2001–2016)

Rolf H. Adler

EMH Schweizerischer Ärzteverlag

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Titelbild: «Der gute König Eysteinn» (Regierte Norwegen von 1103 bis 1123.

Foto: Nina Aldin Thune. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Oeystein.jpg. Bild freigestellt.)

Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel

ISBN 978-3-03754-107-4

ISBN E-Book 978-3-03754-110-4

 

E-Book: Schwabe AG, www.schwabe.ch

 

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Inhaltsverzeichnis

Engels biopsychosoziales Konzept ist auch heute noch bedeutsam

Die zwei Seiten medizinischer Evidenz

Die Anamneseerhebung – ein «unmögliches» Unterfangen

Eine isländische Saga aus dem 12. Jahrhundert n. Chr.

Die Diagnose im Lichte von Charles S. Peirce, Sherlock Holmes, Sigmund Freud und der modernen Neurobiologie

Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient: Kunst oder Wissenschaft?

Die Individualität der Wirklichkeit und der Arzt: Eine Reflexion, aus Anlass von Mani Matters 75. Geburtstag und seinem Lied «Ir Ysebahn»

Der klinische Zugang zum Patienten

Es fällt kein Spatz vom Dach (Matthäus 10,5–33) oder: Es entsteht kein Symptom ohne …

Doch, doch, das gibt es!

Das Einfache ist nicht das Simple, sondern das Komplexe, das sich nichts anmerken lässt

Telmed: gefährlich, unwirtschaftlich und entbehrlich

Notfallanruf: Grenzen und Gefahren

Soll der Arzt während der Abteilungsvisite stehen oder sich ans Krankenbett setzen?

Argumente zum Sitzen in der analytischen Psychotherapie und in der Arzt-Patient-Beziehung überhaupt

Qualitätssicherung und Vernetzung: Kritische Gedanken zu zwei Begriffen in der Medizindebatte

Multiple chemical sensitivity

Informed Consent: eine Utopie?

Hausarzt und Traum

Der Patient verlangt Untersuchungen! Wie soll sich der Arzt verhalten?

Die Sehnsucht nach dem Hausarzt

Was ist ein Vertrauensarzt?

Therapeutische Wirksamkeit ist kein dehnbarer Begriff

Der Arzt, der stets das Gute meint und doch das Böse schafft

Zur Diskrepanz zwischen dem autobiographischen und dem gefühlten Alter

Einleitung

Die Wissenschaft vom Menschen ist die Wissenschaft von der Natur des Menschen – und diese ist nicht eine rein biologische, sondern eine BioPsychoSoziale.

Im 19. Jahrhundert schrieben sich die bedeutenden Physiologen von Brücke und Du Bois-Reymond auf ihre Fahne, sie wollten nicht eher ruhen, als bis alle Lebensvorgänge chemisch/physikalisch erklärt sein würden. Harvey W. Cushing, Neurochirurg (1869–1939), betonte im Gegensatz dazu, dass der Arzt nicht nur die Krankheit, sondern die Krankheit mit dem Menschen, und nicht nur diese beiden, sondern den Menschen mit seiner Krankheit in seiner Umwelt beachten solle. Francis W. Peabody (1927) formulierte kurz und bündig: «The care of the patient is in caring for the patient.» Viktor von Weizsäcker prägte den Satz: Die Medizin wird eine psychosomatische sein, oder sie wird nicht sein.

Seit dem Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts macht die Medizin mit dem Einbezug psychischer und sozialer Faktoren in Theorie und Praxis wesentliche Fortschritte. George L. Engel (1977) und Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack (1988) schrieben dazu bedeutende Texte über die Grundlagen der BioPsychoSozialen Medizin. Ahnefeld, einst Anästhesist an der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm, hielt einmal treffend fest, dass eine Zunahme an Technik in der Medizin nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an Berücksichtigung psychischer und sozialer Faktoren verlange.

Die BioPsychoSoziale Medizin gerät aber durch die weitere Technisierung der Medizin und die Sparanstrengungen der Ökonomen, Manager und Politiker in eine Krise, die sich derzeit bedrohlich ausweitet.

Joseph Weizenbaum, einst Physiker am Massachusetts Institute of Technology, meinte 1984 zur Technologisierung in unserer Zeit, dass sich Fehler einschleichen werden, die so komplex sind, dass sie niemand mehr beheben kann und die Folgen verheerend sein werden. Ein Wunder müsse geschehen, um diese Gefahr abzuhalten. Er schlug vor, der Einzelne möge sich so verhalten, dass er, falls das Wunder eintreten wolle, diesem nicht im Wege stehe. Im Sinne von Weizenbaum fasse ich seit meiner Emeritierung 2001 geschriebene Artikel zum Thema «BioPsychoSoziales Konzept der Medizin» in diesem Buch zusammen, denn ich verspreche mir davon eine Unterstützung des Paradigmawechsels von einem Bio-Konzept zu einem BioPsychoSozialen Konzept.

Eine Anamnese, die biologische, psychische und soziale Gegebenheiten integriert, ist ein bedeutsamer Baustein des BioPsychoSozialen Konzepts. Sie wird beispielsweise im Kapitel «Die Anamneseerhebung – ein ‹unmögliches› Unterfangen» erwähnt. Das Kapitel «Das Einfache ist nicht das Simple, sondern das Komplexe, das sich nichts anmerken lässt» beleuchtet den Wert der integrierten Diagnose. Das Kapitel «Eine isländische Saga aus dem 12. Jahrhundert n. Chr.» zeigt, wie ein König (Symbol hier für den Arzt) im 12. Jahrhundert n. Chr. zum Verständnis kommt, was die Arzt-Patient-Beziehung ausmacht. Die weiteren Kapitel sind Variationen zu diesen Themen.

Der Paradigmawechsel ist also Weizenbaums Wunder, dem dieses Buch die Türe offen halten möchte.

Erstpublikation: J Psychosom Med. 2009;6:607–11. (Von mir rückübersetzt.)

Engels biopsychosoziales Konzept ist auch heute noch bedeutsam

Ohne Theorie ist die Medizin blind und ohne Praxis lahm.

Illustration eines biopsychosozialen Modells im Vergleich zu einem biologischen

Die Novelle Murder at the Gallop von Agatha Christie, mit Miss Marple als Hauptperson, bietet Gelegenheit, die Merkmale eines biopsychosozialen Modells (BPS) einem biologischen gegenüberzustellen [1]: Miss Marple und ihr Freund, der Bibliothekar, verkaufen in den Strassen einer kleinen Stadt Abzeichen für eine wohltätige Institution. Sie gelangen zum Wohnsitz eines reichen Mannes, Mr. Enderby, und treten durch das unverschlossene Tor in den Schlosspark, dann durch den Haupteingang in die grosse Empfangshalle. Sie rufen nach dem alten Mann. Er erscheint auf der Galerie, greift sich ans Herz, fällt zusammen, stürzt die Freitreppe herunter und endet mit gespreizten Armen und Beinen zu Füssen der beiden Besucher. Miss Marple stellt sofort den Tod Enderbys fest. Um mehr zu erfahren, erklimmt sie die Freitreppe, erreicht die Galerie, öffnet eine angelehnte Türe. Aus dieser springt eine hässliche, wilde Katze, setzt über die Schulter von Miss Marple und verschwindet.

Miss Marples Hypothese lautet sofort auf Mord. Mr. Enderby leidet seit langem an einem kranken Herzen (bio), zudem weiss man weitherum von seiner Angst vor Katzen, einer Phobie (psychisch), weshalb er, erschreckt von der Katze, zu Tod gekommen ist, die ein Besucher (soz), vermutlich einer seiner erbgierigen vier Neffen, ins Schloss geschmuggelt hat, mit der Absicht, ihn zu Tode zu bringen. Miss Marple begibt sich auf den Polizeiposten und setzt den Polizeiinspektor ins Bild. Dieser belächelt die alte Dame, besteht eisern auf der Überzeugung, dass es lediglich um einen Herztodesfall geht (bio), und fügt an, dass er den Todesfall auf keine Art und Weise weiter zu verfolgen gedenke (er verzichtet, psychische und soziale Gegebenheiten einzubeziehen).

Miss Marple beharrt auf einem BPS-Konzept: Mr. Enderby war aufgrund seiner krankhaften Phobie unfähig, das unerwartete Auftauchen einer Katze zu ertragen. Sein Zentralnervensystem setzte unvermittelt die Flucht-Kampf- und die Rückzug-Konservierungs-Reaktion in Gang, die ihrerseits hyper- und hypozirkulatorische Reaktionen auslösten. Auf Gewebsebene erfolgte eine Ischämie des Herzmuskels, eine elektrische Instabilität und schliesslich wohl ein Kammerflimmern. (Im Verlauf der Novelle lesen wir, dass Miss Marple auf der richtigen Spur war.)

Ihre Überlegungen folgen einer hierarchischen Ordnung. Abb. 1 zeigt diese (nach Engel, [2]). Ein Mann mit akutem Myokardinfarkt wird in die Notfallstation eingeliefert. Sein Herzrhythmus ist stabil und die präkordialen Schmerzen haben nachgelassen. Ein Assistenzarzt versucht mehrere Minuten lang vergeblich, einen arteriellen Katheter zu legen. Unvermittelt verlässt er den Patienten, um den Oberarzt beizuziehen. Die vergeblichen Versuche verärgern den Kranken, und nachdem ihn der Arzt verlassen hat, fühlt er sich aufgegeben und hoffnungslos, worauf Kammerflimmern einsetzt. Die Ärzte kehren zurück und reanimieren erfolgreich. Später beglückwünschen sie den Patienten, dass sein Herz nicht während des Transports ins Spital, sondern erst in der Notfallstation zu flimmern begann. Beide Ärzte überlegten gemäss einem Bio-Modell.

Abb. 1. Unsuccessful attempt at arterial puncture [4].

(Aus: Adler RH: Engel’s biopsychosocial model is still relevant today. Journal of Psychosomatic Research. 2009;67:607–11.)

Der Einfluss psychosozialer Faktoren auf das erkrankte Herz von Hunden und Schweinen ist von Lown et al. [3] 1977 gezeigt und von Engel [4] Jahre vorher aufgrund klinischer Beobachtungen vorweggenommen worden im Artikel «Sudden and Rapid Death During Psychological Stress: Folklore or Folkwisdom?».

Die Novelle, Engels [4] Fallbericht und Lowns Experimente werden am besten mit dem biopsychosozialen Modell verstanden, das als Hauptmerkmal eine hierarchische Organisation aufweist.

Aber seien wir vorsichtig: Psychosoziale Faktoren sind weder unverzichtbar noch genügend, um eine somatische Störung auszulösen (s. Lown et al. [3] und Mr. Enderbys Herzerkrankung).

Weitere Entwicklung des BPS-Konzepts

Betrachten wir Mr. Enderby aus dem biopsychosozialen Konzept herausgelöst: Plötzliche zentralnervöse Veränderungen, wie wir sehen werden, sind nicht die einzigen Ursachen für seinen akuten Tod. Auf dem System-Niveau der Ein-Person haben seine Katzenphobie, sein Reichtum und auf dem Mehrpersonen-Niveau seine gierigen Neffen zu einer neuen Interpretation geführt – derjenigen Miss Marples.

Engel hat die Emergenz neuer Charakteristika durch die Integration tieferer Systeme nicht besonders erwähnt [1, 2]. Von Uexküll und Wesiack [5] nehmen an, dass die Emergenz auf den Hemmungen niedrigerer Systeme beruht.

Engel [1] hat weder die Frage speziell erwähnt, wie niedrigere und höhere Systeme gekoppelt, noch, wie sie auf höherem Niveau entkoppelt werden. Er war sich der Bedeutung dieser Fragen aber bewusst. Von Uexküll und Wesiack [5] führten die Begriffe von Koppelung und Entkoppelung von Systemen ein. Nach meiner Auffassung sind diese beiden Konzepte das Hauptanliegen der psychosomatischen Medizin. Von Uexküll und Wesiack [5] schlugen das klassische Konditionieren nach Pawlow als einen möglichen Koppelungsvorgang vor. Ader [6] wies solche Koppelung bei Mäusen nach. Er injizierte Mäusen intraperitoneal Cyclophosphamid und gab ihnen eine Saccharinlösung ins Maul. Wurden die Mäuse einige Tage später mit Schaf-Erythrozyten immunisiert und ihnen gleichzeitig Saccharinlösung ins Maul verabreicht, so entwickelten sie weniger Antikörper verglichen mit Mäusen, denen der konditionierte Reiz Saccharin nicht verabreicht worden war [6]. Die Anamnese und die Geschichte des Organismus sind für Koppelungen entscheidend.

Konstruktivismus und Semiotik

Auf einen definierten Reiz reagiert der Organismus nicht uniform, mechanisch und voraussagbar. Ein psychobiologisches System, das sich während der Ontogenese entwickelt und das der Mathematiker Peirce (1834–1914 [7]) mit «Interpretant» bezeichnete, prägt dem angeregten Rezeptor eine Bedeutung auf. Er konstruiert seine Umgebung. Der Interpretant entspricht dem «Ich» Freuds. Der Interpretant umfasst die unbewussten, vorbewussten und bewussten Erinnerungen im impliziten, Arbeits- und autobiographischen Gedächtnis. Nachdem der Reiz auf den Rezeptor gestossen ist, wird er mit Bedeutung belegt und alsdann dem Interpretanten zugeleitet. Jetzt verarbeitet der Organismus Reiz plus Bedeutung. Ein Reiz, ob chemischer oder physikalischer Natur, der mit Bedeutung beladen ist, nennen wir semiotisch ein Zeichen. Die Bedeutungs-Erteilung hängt von den Motiven, Beziehungs-Bedürfnissen, Stoffwechsel-Bedingungen, Gedanken und Fantasien ab. Das Zeichen ist nichts Physikalisches. Die körperliche Erscheinung «Katze» trägt für Mr. Enderby die Bedeutung Schreck, jedoch für einen Liebhaber von Katzen hat die Erscheinung die Bedeutung eines hochgeschätzten Begleiters.

Individuelle Wirklichkeit

Die Erfahrung Mr. Enderbys betont ein weiteres Charakteristikum des Interpretanten: die «Individuelle Wirklichkeit». Es ist Mr. Enderbys individuelle Wirklichkeit, die eine Situation kreiert, die ein anderes Individuum niemals geschaffen hätte. Also: Engels [1] Modell kann durch Konstruktivismus und Semiotik erweitert werden. Durch die immaterielle Natur des Zeichens erübrigt sich die Unterscheidung eines Reizes als somatisch oder psychisch.

Dies kann an Tom, dem Laborgehilfen von Wolf und Wolff [8], deutlich gemacht werden, der als 9-Jähriger seine Speiseröhre mit einer heissen Suppe so verbrannte, dass sie vernarbte und eine epigastrische Fistel erzwang. In der Operation wurde die grosse Magenkurvatur an die Bauchwand angenäht. Magenschleimhaut wuchs in die Öffnung ein, die 3 cm Durchmesser aufwies. So konnte die Magenschleimhaut von blossem Auge beobachtet werden. Toms Magen wurde durch die Fistel mit Prostigminlösung gefüllt. Er reagierte mit Krämpfen und Durchfall. Später reagierte er auf Plazeboinstillation identisch. Sogar Atropin, das gewöhnlich zu einer Atonie des Magens führt, löste Krämpfe und Durchfall aus. Toms Interpretant hat die Erfahrung mit Prostigmin auf das Plazebo und dann auf Atropin übertragen. Tom hat dem Atropin eine Bedeutung aufgeprägt, die den chemischen Effekt dieser Substanz übertraf. Semiotisch gesprochen wirkte die Atropinlösung als ein Bedeutungsträger. Die Bedeutung ist durch den Interpretanten dem Träger aufgeprägt worden. Aus den beiden Gliedern der mechanistischen Ursache-Wirkungs-Kette sind drei Glieder geworden. Der Träger als erstes Glied stimuliert den Rezeptor. Der Interpretant als zweites Glied prägt dem gereizten Rezeptor eine Bedeutung auf. Der Organismus verarbeitet das Zeichen. Der Organismus prägt anschliessend der Umgebung ein sogenanntes Wirkmal auf. Er wirkt als drittes Glied und schliesst den Reiz-Reaktions-Kreis.

Widerstände gegen die Einführung des BPS-Modells

Die Furcht vor dem Emergieren (Auftauchen) eigener Gefühle (Gegenübertragungs-Gefühle gemäss der Psychoanalyse), also Trauer, Scham, Ärger, Ekel, Angewidertsein, Ungeduld, Verwirrung, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Todesangst, Furcht vor Kontrollverlust, ist von manchen Autoren angeführt worden. Diese Bedrohungen haben zum Verzicht auf die Anerkennung des individuellen Elements (des Interpretanten) geführt und zu einer eher mathematisch ausdrückbaren Generalisierung [9]. Der Grund dafür ist augenfällig. Diese Neigung, die individuellen Aspekte zu entwerten, ist proportional zur Distanz des Beobachters und der Vereinfachung des Problems. Die Medizin muss entscheiden, ob der randomisierte Patient ihr Kennzeichen ist oder ob jeder Patient als Organismus mit einer individuellen Wirklichkeit und einer eigenen persönlichen Geschichte behandelt werden soll.

Der Entschluss, eine mechanistische Evidenz und eine Evidenz der Bedeutung einzuführen, folgt auf die Einsicht, dass der Mensch gleichzeitig ein offenes und ein geschlossenes System darstellt. Ein offenes System meint, dass der Mensch wie eine defekte Maschine angegangen werden kann, die untersucht und repariert werden kann, ohne die Notwendigkeit einer Beziehung. In Agatha Christies Novelle wäre die Reanimation am besten einem Algorithmus gefolgt, aufgestellt von Notfallmedizinern. Unmittelbar nach erfolgreicher Stabilisierung von Kreislauf und Atmung hätte Enderby als ein geschlossenes System betrachtet werden müssen, weil sein psychisches Problem, die Katzenphobie, und seine (soziale) Beziehung zu den geldgierigen Neffen nur hätten erfasst werden können, wenn er als Person mit einer individuellen Wirklichkeit wahrgenommen worden wäre. Dafür wäre eine Arbeitsbeziehung (working alliance) zwischen Arzt und Patient Bedingung gewesen. Empathie und das BPS-Interview (Anamneseerhebung) öffnen das geschlossene System. Das Bio- (offene) System und das BPS- (geschlossene) System schliessen sich nicht gegenseitig aus. Ersteres ist ein Sub-System des Letzteren.

Warum ist Theorie der Medizin nötig? Ohne Theorie ist die praktische Medizin blind, und die theoretische ohne die praktische lahm.

Die Bedeutung des BPS-Modells in der heutigen Forschung

Eine grosse Menge wissenschaftlicher Evidenz ist zusammengetragen worden. Ich zitiere ein paar wenige Belege. Sie betreffen die Beziehung zwischen den Gefühlen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit und somatischen Störungen, ein Gebiet, dem sich Engel besonders gewidmet hat.

Von Känel et al. [10] haben die Beziehung zwischen Gefühlen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit und prokoagulanten Faktoren bei Menschen, die Alzheimer-Patienten pflegen, gezeigt. Schwarz et al. [11] haben eine signifikante Verminderung der hochfrequenten Herzfrequenz-Variabilität bei Meister-Schachspielern während Phasen von Hoffnungslosigkeit im Wettkampf nachgewiesen. Anda [12] hat ein erhöhtes Risiko für ischämische Herzkrankheit bei einer Stichprobe von hoffnungslosen erwachsenen US-Bewohnern beobachtet. Appels und Mulder [13] fanden ein Herzinfarkt-Risiko von 1,68 nach kürzlich erlebten Phasen von Hoffnungslosigkeit. Stern et al. [14] haben nachgewiesen, dass Hoffnungslosigkeit bei älteren Mexikanern und US-Amerikanern erhöhte Sterblichkeit voraussagt. Eine Review der Beziehung zwischen negativen Affekt-Zuständen und kardiovaskulären Störungen findet sich bei Bürki und Adler [15]. Was einem Medizinstudenten im Gebiet der Psychosomatik beigebracht werden sollte, haben kürzlich Novack et al. [16] zusammengefasst: grundlegende psychophysische Mechanismen-Zentralnervensystem-, Autonomes Nervensystem-Psychoneuroimmunologie, und Psychoendokrinologie in drei Gebieten, dem Kardiovaskulären, dem Gastrointestinalen, und dem der HIV-Infektionen.

Die Bedeutung des BPS-Modells im Medizinstudium

Die dramatische, wohl unbremsbare, fortwährend zunehmende Zerstückelung der Medizin mit Einführung immer neuer Spezialfächer, die sich dem menschlichen Leid nicht öffnen und zwischenmenschlichen Kontakt beiseite schieben, lässt die Verankerung des BPS-Modells umso bedeutsamer und nötiger erscheinen.

Das BPS-Modell ist zur theoretischen Grundlage in einer Anzahl von Reform-Curricula für Medizinstudenten geworden (Bern, Maastricht, Harvard, Glasgow, Witten-Herdecke usw.)

In einer Übersicht über 118 US Medical Schools (1997–1999) untersuchten Waldstein et al. [17] den Einfluss des BPS-Modells auf die Ausbildung der Medizinstudenten. Von den 118 Institutionen antworteten 46%. Von diesen sorgten 41% für Unterricht in BPS-Inhalten – z.B. psychische Faktoren 80–93%, kardiovaskuläre 83%, Arzt-Patient-Beziehung 98%. Im Schnitt betrugen BPS-Themen 10% des gesamten Curriculums. Hindernisse waren begrenzte Ressourcen, Widerstände von Studenten und Fakultät, fehlende Kontinuität des Unterrichts. Von Westeuropa fehlen Daten. Darum erwähne ich drei Beispiele westeuropäischer Curricula. Maastricht [18]: In den 80er Jahren wurde ein Kurs in Arzt-Patient-Beziehung entwickelt. Ein Programm entstand, das vier Jahre des Studiums abdeckt. Studenten treffen sich in Kleingruppen vierzehntäglich und üben Arzt-Patient-Beziehung. In Köln werden 20 Stunden in grundlegenden Aspekten der BPS-Medizin im ersten Semester unterrichtet; im fünften Semester 12 Stunden Arzt-Patient-Beziehung und Medizin-Didaktik. In den gleichen Zeiträumen werden die Studenten ins wissenschaftliche Arbeiten eingeführt und 19 Stunden widmen sich Themen wie Bauchschmerzen, Angst, Depression, Schmerz bei Krebserkrankungen, Essstörungen, Diabetes, Myokardinfarkt usw. Die Widerstände für mehr BPS-Zeit gleichen den von Waldstein et al. [17] erwähnten. In Bern werden 200 Stunden über sechs Jahre verteilt. Die Gebiete sind Arzt-Patient-Beziehung, Interviewen (Anamneseerhebung) bei Patienten, Ethik, Arbeit in Praxen von Ärzten, Vorlesungen über Stress, Coping, ZNS und Emotionen, ZNS und Soziale Systeme, Psychokardiologie, Neurosen, Psychosen, Einführung in die Balint-Gruppen-Medizin. Das BPS-Programm umfasst etwa 5% des Gesamt-Curriculums.

Die derzeitige Bedeutung des BPS-Modells in der Weiterbildung

Die Integration des BPS-Modells in die Weiterbildung (nach Abschluss des Studiums) ist weniger erfolgreich verlaufen als in die Forschung und ins Medizinstudium. Es darf aber erwähnt werden, dass die Einrichtung von Schmerzkliniken und medizinisch-psychiatrischen Einheiten in den USA gelungen ist. In Deutschland sind psychosomatische Abteilungen entstanden. In medizinischen Kliniken werden BPS-gestützte Messinstrumente verwendet (z.B. die Intermed-Methode) [19, 20]. In Bern ist ein Programm für Assistenzärzte in einer Abteilung für integrierte BPS-Medizin eingerichtet worden [21], wo sie auf der Abteilung und poliklinisch arbeiten, gestützt auf Engels Psychische Entwicklung in Gesundheit und Krankheit [22] und seinen Klinischen Zugang zum Patienten [23]. Diese Ärzte arbeiten noch nach fünf bis 28 Jahren als Allgemeinärzte und Internisten nach dem gelernten Konzept. Sie sind im Diagnostizieren von psychophysiologischen Störungen geschickter und arbeiten billiger als Ärzte ohne diese Weiterbildung [24].

Ein Curriculum in integrierender BPS-Medizin ist 2002 entwickelt worden, und zwar in allen fünf Schweizer Medizinischen Fakultäten. Es umfasst 360 Stunden über drei Jahre und ist berufsbegleitend. Psychosoziales Wissen und Arzt-Patient-Beziehung werden vermittelt. Abgeschlossen wird dieser Kurs mit einem Diplom, Fähigkeitsausweis genannt.

Viele Ärzte, auch solche in Schmerzabteilungen, Liaison-Gruppen usw. arbeiten nicht nach den Vorstellungen des Autors und Engels bezüglich BPS. Wir beide betonen, dass die biopsychosoziale Integration im einzelnen Arzt selbst stattfinden muss, und nicht durch eine Streuung auf verschiedene Spezialisten ersetzt werden kann [22, 23]. Eine Bemerkung Engels vor 32 Jahren gibt noch heute die Leitlinie [25]: «Nichts wird ändern – ausser wenn diejenigen, die über die Ressourcen verfügen, weise genug werden, den zertrampelten Pfad der exklusiven Biomedizin zugunsten einer BPS-Einstellung zu verlassen.»

Referenzen

1 Engel GL. The need of a new medical model: a challenge for biomedicine. Science. 1977;196:129–36.

2 Engel GL. The clinical application of the biopsychosocial model. Am J Psychiatry. 1980;137:5.

3 Lown B, Verrier RL, Rabinowitz SH. Neural and psychological mechanisms and the problem of sudden death. Am J Cardiol. 1977;39:889–902.

4 Engel GL. Sudden and rapid death during psychological stress: folklore or folkwisdom. Ann Intern Med. 1971;74:771–82.

5 von Uexküll T, Wesiack W. In: Adler RH, et al., editor. Uexküll von, T. Psychosomatische Medizin. 7th ed. München, Jena: Urban und Fischer, 2010.

6 Ader R. Psychoneuroimmunology. Basic research in the biopsychosocial approach. In: Frankel RM, et al., editor. Biopsychosocial approach, past, present, future. Rochester, NY: The Rochester University Press, 2003. p. 93–108.

7 Peirce CS. What is a sign? In: Buchler J, editor. Philosophical writings of Peirce. New York: Dower Publications, 1955. p. 98–101.

8 Wolf S, Wolff HG. Human gastric function. New York: Oxford University Press, 1947.

9 Ginzberg C. Spurensicherungen. Berlin: Wagenbach, 1983.

10 Von Kaenel R, Dimsdale JE, Patterson TL, Grant I. Associations of feelings of helplessness and of depressed mood with the procoagulant load in Alzheimer caregivers. Psychosom Med. 2002;64:114.

11 Schwarz AM, Goetz SM, Schächinger H, Adler RH. Changes of high frequency heart rate variability during periods of intensive affects of help-hopelessness in championship chess games. Psychosom Med. 2003;65:658–61.

12 Anda R. Depressed affect, hopelessness and the risk of ischemic heart disease in a cohort of U.S. adults. Epidemiology. 1993;4:285–94.

13 Appels A, Mulder PA. Excess fatigue as precursor of myocardial infarction. Eur Heart J. 1988;9:758–64.

14 Stern SI, Dhanda R, Hazuda HP. Hopelessness predicts mortality in older Mexican and European Americans. Psychosom Med. 2001;63:344–51.

15 Buerki S, Adler RH. Negative affect states and cardiovascular disorders: a review and the proposal of a unifying biopsychosocial concept. Gen Hosp Psychiatry. 2005;27:180–8.

16 Novack DH, Cameron O, Epel E, Adler R, Waldstein SR, Levenstein S, Antoni MH, Rojas Wainer A. Psychosomatic medicine: the scientific foundation of the biopsychosocial model. Acad Psychiatry. 2007;31:388–401.

17 Waldstein SR, Neumann SA, Drossman DA, et al. Teaching psychosomatic (biopsychosocial) medicine in United States medical schools: survey findings. Psychosom Med. 2001;63:335–43.

18 De Jonge P, Huyse FJ, Stiefel FC, Slaets JPJ, Gans ROB. A clinical instrument of biopsychosocial assessment. Psychosom Med. 2003;65:997–1002.

19 Stiefel FC, Huyse FJ, Söllner W, Slaets JP, Lyons JC, Latour CH. Operationalisierung integrierter Betreuung auf einer klinischen Ebene: das Intermed-Projekt. Med Clin North Am. 2006;90:713–58.

20 Stiefel FC. Communication skills training in oncology. Recent Results Cancer Res. 2006;168:1–125.

21 Adler RH. Five- to twenty-eight years follow-up of 99 residents trained in biopsychosocial internal medicine. Psychother Psychosom. 2008;77:126–7.

22 Engel GL. Psychological development in health and disease. Philadelphia, London: WB Saunders, 1962.

23 Morgan WL, Engel GL. The clinical approach to the patient. Philadelphia, London, Toronto: WB Saunders, 1969.

24 Adler RH. Clinical approach of biopsychosocially trained physicians versus physicians not so trained. (Abstract published in Psychosom Med. 2009; APS-Meeting March 2009, Chicago, Ill).

25 Fava GA, Sonino N. The biopsychosocial model thirty years later. Psychother Psychosom. 2008;77:1–2.