Über das Buch:
Nashville, 1871: Die junge Musikerin Rebekka kehrt nach ihrer Ausbildung in Wien in ihre alte Heimat zurück. Doch sie weiß, dass ihr ihr früheres Zuhause in Nashville keine Zuflucht mehr bietet. Dort herrscht mittlerweile ihr Stiefvater. Und so macht Rebekka sich auf die Suche nach einer Anstellung. Ihr größter Herzenswunsch ist es, im Sinfonieorchester ihrer Heimatstadt Violine spielen zu dürfen. Aber Nathaniel Whitcomb, der Dirigent, lehnt Rebekka ab. In seinem Orchester ist kein Platz für Frauen.
Nach und nach jedoch erkennt er, dass Rebekka nicht nur äußerst reizend ist, sondern auch eine außergewöhnliche Gabe besitzt …
Über die Autorin:
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.
Kapitel 6
Blitzschnell durchquerte Rebekka das Zimmer und musste feststellen, dass sich die Tür langsam öffnete. Die Truhen erwiesen sich als schlechte Abwehr. „Wer ist da?“, fragte sie ängstlich.
„Mach die Tür auf, Rebekka! Ich will mit dir reden.“
Als sie den Gestank nach Alkohol und altem Zigarrenrauch roch, schob sie mit aller Kraft an der Tür und brachte sie wieder zu. Aber kaum schnappte das Schloss ein, drehte sich der Türgriff erneut. Dieses Mal hartnäckiger.
Sie setzte ihre ganze Kraft ein, lehnte sich mit dem Rücken an die Truhen, stemmte ihr ganzes Gewicht dagegen und bohrte die Fersen in den Teppich.
Aber die Truhen bewegten sich trotzdem.
„Miss Rebekka?“
Plötzlich ließ der Druck auf der anderen Seite der Tür nach und sie fiel mit einem dumpfen Knall wieder ins Schloss. Gedämpfte Schritte entfernten sich auf dem Flur.
Ihre Schulter- und Rückenmuskeln brannten, aber Rebekka weigerte sich, dem scheinbaren Rückzug zu trauen, und drückte weiter gegen die Tür. Sein Geruch und allein der Gedanke an das, was er beabsichtigt hatte, und die grauenvolle Vorstellung, dass seine Hände sie berührten, lösten eine überwältigende Übelkeit in ihr aus.
„Miss Rebekka?“, sagte die Stimme ein zweites Mal.
Delphia.
Die Stufen knarrten unter den Schritten der Frau und Rebekka sackte erleichtert zusammen. Sie glitt auf den Boden und legte den Kopf in die Hände, aber ihr Herz hämmerte immer noch wie wild.
„Miss Rebekka.“ Ein leises Klopfen ertönte. „Ich bin nur gekommen, um nachzusehen, ob es Ihnen gut geht, Madam, nachdem Ihnen heute Abend so schlecht war.“
Die Sorge in Delphias Stimme war wie ein heilender Balsam. Rebekka erhob sich langsam. Sie wollte die Truhen schon zur Seite schieben und die Tür öffnen. Doch dann hielt sie inne. Und wenn Barton irgendwie für das verantwortlich war, was Demetrius zugestoßen war? Käme der Mann auf den Gedanken, auch Delphia etwas anzutun? Gewissenlos genug war er. Und hartnäckig. Rebekka beschloss schnell, dass sie dieses Risiko nicht eingehen wollte.
„Ja, Delphia.“ Sie sprach durch die geschlossene Tür. „Mir geht es gut. Mir geht es schon wieder viel besser. Danke.“
„Ich kann Ihnen eine Tasse Tee bringen, Miss. Oder eine warme Brühe, wenn Sie meinen, dass das hilft.“
„Nein, danke. Aber trotzdem vielen Dank für das Angebot. Danke, Delphia, für Ihre Mühe.“
„Das war keine Mühe. Ich habe noch einen Kaffee getrunken und bin einfach noch nicht müde. Ich halte die Ohren offen, falls Sie rufen. Holen Sie mich, wenn Sie etwas brauchen.“
Als sie hörte, wie sich Delphias Schritte wieder entfernten, stieg Rebekkas Anspannung erneut. Sie trat näher an den Kaminsims, um zu sehen, wie spät es war. Halb zwei. Eine große Müdigkeit übermannte sie, als hätte sie tagelang nicht mehr geschlafen. Aber sie konnte dieser Müdigkeit nicht nachgeben. Das konnte sie erst, wenn sie aus diesem Haus und weit von ihm fort war.
Erst jetzt bemerkte sie, wie kalt ihr war. Sie nahm eine Decke vom Bett, wickelte sie um sich und setzte sich dann wieder mit dem Rücken an die Truhen gelehnt auf den Boden.
Die Minuten verstrichen und ihr Kinn sank langsam nach unten. Doch dann fuhr sie mit dem Kopf wieder hoch und riss die Augen weit auf, da sie fest entschlossen war, wach zu bleiben.
Ihr Blick wanderte zu ihrer Violine auf der anderen Seite des Zimmers, die sie eilig aufs Bett gelegt hatte. Die Konturen des Instruments waren selbst jetzt im Schatten noch schön und sie versuchte, wieder den Frieden und die Wärme zu empfinden, die sie noch vor wenigen Minuten erfüllt hatten.
Aber es war nichts mehr davon zu spüren.
* * *
Einige Stunden später klopfte Rebekka an die Zimmertür neben der Küche. Die Sonne würde bald aufgehen und sie hatte beschlossen, dann schon fort zu sein. Sie hatte versucht, wach zu bleiben, aber der Schlaf hatte sie schließlich doch übermannt. Ihr Nacken schmerzte jetzt davon, dass sie an die Truhen gelehnt geschlafen hatte, genauso wie ihr Rücken, aber sie würde erst wieder freier atmen können, wenn sie aus diesem Haus fort war.
Sie klopfte ein zweites Mal. Keine Antwort.
Der Türgriff drehte sich leicht in ihrer Hand und sie öffnete die Tür. Die Öllampe in ihrer Hand warf einen goldenen Schein in das dunkle Zimmer.
Die Gestalt im Bett bewegte sich. „Wer ist da?“, fragte eine schlaftrunkene Stimme.
„Ich bin es, Delphia. Rebekka.“
Die Frau gähnte kräftig und setzte sich auf. „Meine Güte, Madam. Es ist noch dunkel. Was machen Sie so früh schon auf den Beinen?“
Rebekka kniete neben ihrem Bett nieder. Das Feuer in dem kleinen Kamin war in der Nacht ausgegangen und der Holzboden war kalt unter ihren Knien. „Ich gehe weg“, flüsterte sie und wählte ihre Worte mit großer Vorsicht. „Ich werde nicht hierbleiben, Delphia. Ich kann nicht hierbleiben. Ich habe viel zu lange allein gelebt, um mich unter diesem Dach zu Hause fühlen zu können.“
Delphia kniff die Augen zusammen und rieb sich die Augen. Dann schaute sie Rebekka einen Moment lang an. Rebekka spürte, dass sie mit ihrer Entscheidung nicht einverstanden war, und hoffte, sie würde ihr nicht widersprechen.
„Weiß es Ihre Mama schon?“
Rebekka schüttelte den Kopf. „Ich habe ihr eine Nachricht geschrieben und sie unter ihrer Zimmertür hindurchgeschoben. Sie wird über meine Entscheidung nicht glücklich sein, das weiß ich, aber so ist es besser. Für alle.“
Delphia schob die Decke zurück. „Ich mache Ihnen ein Frühstück, bevor Sie …“
„Nein, ich gehe jetzt. Aber ich bitte Sie um einen Gefallen. Meine Truhen sind gepackt. Ich nehme nur meine Tasche und einen kleinen Koffer mit. Würden Sie dafür sorgen, dass meine Truhen so bald wie möglich an diese Adresse geliefert werden?“
Sie legte den Zettel auf den Nachttisch und hoffte, die richtige Person würde die Truhen in Empfang nehmen.
„Ja, Madam. Ich lasse sie nach unten bringen, bevor das Haus erwacht. Und gleich am frühen Morgen kommen sie aus dem Haus.“
„Danke, Delphia. Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar. Sie waren für mich immer …“, ihre Kehle schnürte sich schmerzlich zusammen. „… etwas ganz Besonderes. Genauso wie Ihr Bruder.“
„Oh, Kind.“ Delphia nahm Rebekkas Hand zwischen ihre rauen und kräftigen Hände. „Sie sind genauso wie Ihre Großmutter. Eine gute Frau. Und stark. Stärker, als Sie aussehen.“
Mit einem schwachen Lächeln betete Rebekka, dass das wirklich stimmte. Denn sie bräuchte alle Kraft, die sie aufbringen konnte.
Sie stand auf, dann hielt sie noch einmal inne. „Meine Mutter … Ist sie …“ Wie sollte sie die Frage formulieren? Aber sie musste sie stellen. Sie konnte ihre Mutter nicht hierlassen, ohne sicher zu sein. „Geht es ihr gut? Bei ihm, meine ich? Ist sie in Gefahr?“
Delphia schaute sie forschend an. „Ich habe nie gesehen, dass er die Hand gegen sie erhoben hätte. Oder die Stimme. Mr Ledbetter kommt und geht, wie es ihm gefällt, und ich glaube, er nimmt es mit der Wahrheit nicht sehr genau. Aber ich glaube nicht, dass er ihr wehtut. Das wird er auch nicht, solange ich hier bin.“
Rebekka atmete erleichtert aus und drückte herzlich ihre Hand. „Danke, Delphia.“ Sie war schon fast bei der Tür, als sie ihren Namen hörte. Sie drehte sich noch einmal um.
„Wissen Sie überhaupt, wohin Sie gehen, Kind?“
„Nein. Nicht genau. Aber überall ist es besser als hier.“
* * *
Rebekka achtete vorsichtig auf die tiefen gefrorenen Fahrrillen auf der Straße, als sie die zwei massiven Säulen aus gemeißeltem Kalkstein, die den Eingang zu Belmont markierten, passierte. Sie blieb nicht stehen, um diesen Luxus zu bewundern. Trotz der zwei Paar Strümpfe, die sie trug, waren ihre Füße und Beine wie Eis und ihre Hände schmerzten trotz ihrer Handschuhe vor Kälte.
Sie war es gewohnt, zu Fuß zu gehen, und so waren die drei Kilometer aus der Stadt bis hierher kein Problem gewesen. Aber die bittere Kälte, die bei jedem Schritt in ihre Knochen zog, gab ihr das Gefühl, als würden ihre Gliedmaßen jeden Augenblick zerbrechen. Trotzdem musste sie zugeben, dass das Bild, das sich ihr bot, schön war. Die Eichen und Pappeln, deren Äste im Winter kahl waren, waren mit Eis überzogen und glänzten in der Morgensonne wie Kristall, das von einem Kronleuchter beschienen wird.
„Bitte.“ Ihr Atem stieg in einer weißen Wolke auf. „Bitte, Herr, lass die Stelle als Gouvernante noch nicht besetzt sein.“
Zweifellos hatte eine so reiche Familie schon zahlreiche Bewerbungen für die Stelle bekommen, die alle von erstklassig qualifizierten Kandidatinnen kamen. Sie müsste diese Mrs Adelicia Cheatham also irgendwie beeindrucken. Denn sie brauchte eine Arbeit. Und einen Platz, an dem sie wohnen konnte.
Überrascht erblickte sie einen Hirsch, der regungslos im Schatten einer großen Kiefer stand, den Kopf mit dem Geweih in einer majestätischen Pose zum Himmel erhoben. Erst bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, dass das Tier aus Gusseisen war. Andere Tiere – Hunde, Löwen und mehrere Rehe, die alle genauso aus Eisen gegossen waren wie ihr furchtloser Anführer – tauchten auf, je weiter sie ging.
Ein leichter Eishauch berührte ihre Wange. Gefolgt von einem zweiten. Und noch einem. Sie blieb lange genug stehen, um nach oben zu schauen. Dann seufzte sie. Es schneite?
Sie beschleunigte ihre Schritte zur Straßenbiegung, die vor ihr lag, achtete aber genau darauf, wohin sie ihre Füße in den gefrorenen Fahrrillen setzte. Sie konnte es nicht erwarten, am Haus anzukommen, bevor ihre Frisur vollkommen durchnässt war. Sie bog um die Ecke und erblickte das große Anwesen. Es war immer noch ein gutes Stück entfernt und thronte wie eine Königin auf einem sanft ansteigenden Hügel.
Sie blies eine bereits feuchte Strähne von ihrer Schläfe und biss die Zähne zusammen, damit ihr Kinn nicht so sehr zitterte. Sie wollte doch unbedingt einen guten ersten Eindruck machen!
Deshalb beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr.
Das eindrucksvolle Haus hob sich majestätisch von der Winterlandschaft ab. Hohe weiße Säulen umrahmten den Eingang zu dem rotbraunen Haus. Exquisit war eine treffende Beschreibung, auch wenn es nicht ansatzweise mit Schloss Schönbrunn zu vergleichen war, der Sommerresidenz der Habsburger, das nur wenige Straßen von ihrem Haus in Wien entfernt gelegen hatte. Sie und Sally waren unzählige Male an diesem Schloss vorbeigegangen, hatten über die Geschichte der Königsfamilie gesprochen und sich ausgemalt, welcher Glanz hinter den Mauern dieses Schlosses herrschen musste.
Was für ein Leben hatten sie und Sally in Wien gehabt! Manchmal hatte es sich zwar auch etwas einsam angefühlt, aber es war auf alle Fälle aufregend und ein Privileg gewesen. Eine völlig andere Welt.
Diese Welt war jetzt für immer unerreichbar geworden. Wenigstens für sie.
Die Straße wurde allmählich breiter und Rebekka folgte ihrem gewundenen Verlauf an den Gärten entlang, die im Frühling bestimmt fantastisch blühten. Es sah aus, als wären sie in einem kreisförmigen Muster angelegt. Der größte Kreis befand sich nahe beim Haus, während die kleineren Gegenstücke den Hügel hinab verliefen.
Sie ging an einem großen Treibhaus ganz aus Glas vorbei und entdeckte darin Pflanzen und Bäume, konnte aber keine Details erkennen, da die Fenster beschlagen waren.
Marmorstatuen zierten das große Gelände. Zahlreiche Pavillons, deren gestrichenes Gusseisen weiß vom Grau des Winters abstach, standen stumm in der Kälte und warteten auf wärmere Tage.
Schließlich stieg sie die Stufen hinauf und überquerte die Veranda aus Kalksandstein. Ihr ganzer Körper schmerzte in der bitteren Kälte und ihre Zähne klapperten. Sie setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen, um nicht auszurutschen, und bezwang die letzten Meter bis zur kunstvollen Haustür. Dankbar, dass die Veranda, die sich über den Eingang erstreckte, sie vor dem Schnee schützte, stellte sie ihre Taschen ab.
Sie strich den Schnee von ihrem Mantel und bemühte sich ohne Hilfe eines Spiegels, ihre Haare und den Rest ihres Aussehens mit bloßen Händen präsentabel zu machen. Sie flüsterte ein schnelles Gebet, versuchte, das Gefühl zu ignorieren, dass Gott sie vielleicht nicht hörte, und klopfte kräftig an die Tür.
Eine kleine Ewigkeit schien zu vergehen.
Sie klopfte ein zweites Mal. Als sich die Tür schließlich öffnete, wehten ihr eine himmlische Wärme und der Duft nach Zimt und Gewürzen aus dem Haus entgegen, bevor die Kälte wieder die Oberhand gewann.
Eine Frau, die wie eine Hausdame gekleidet war, begrüßte sie mit einem neugierigen und unübersehbar strengen Blick. Ihre dunkle Brille saß in der Mitte ihrer scharfen Nase – genau im richtigen Winkel, der nötig war, um unheilverkündend wie auf ein Beutetier hinabzuschauen und ein verabscheuungswürdiges kleines Nagetier ins Visier zu nehmen.
Der Blick der Frau wanderte an Rebekka vorbei, zuerst nach links, dann nach rechts, bevor er schließlich an Rebekkas Tasche und dem Koffer hängen blieb und dann wieder zurück zu Rebekkas Gesicht wanderte. „Guten Tag. Was wünschen Sie?“
Rebekka schluckte. Vor ihrem inneren Auge stieg das Bild von Mrs Murphey auf, wie sie hinter ihrem Schreibtisch im Opernhaus leise schmunzelte, was ihr ohnehin angeschlagenes Selbstvertrauen nur noch mehr untergrub. Dazu kamen die ernüchternden Bilder der Frauen und jungen Mädchen, die an den Straßenecken herumlungerten.
„Ich … ich bin gekommen, um mich für die ausgeschriebene Stelle zu bewerben.“
„Haben Sie einen Termin?“
Der Tonfall, mit dem die Frau diese Frage stellte, beantwortete sie von selbst.
„Ich glaube nicht.“ Ihr Lächeln war der Inbegriff von Herablassung. „Mrs Cheatham empfängt Bewerberinnen nur, wenn sie vorher einen Termin vereinbart haben. Darf ich also vorschlagen, dass Sie sich einen geben lassen und an einem anderen Tag wiederkommen.“
Als sie die Tür wieder zuschieben wollte, regte sich in Rebekka ein Anflug von Verzweiflung. Und von Impertinenz.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich bin auf persönliches Geheiß von Mrs Murphey aus dem Opernhaus hier.“
Die Frau zögerte. Diese Chance ließ sich Rebekka nicht entgehen.
„Nach meinem Gespräch mit Maestro Whitcomb gestern hat mich Mrs Murphey ermutigt, Mrs Cheatham schnellstmöglich aufzusuchen.“ Diese Beschönigung und die Erwähnung von Nathaniel Whitcomb klangen etwas verlogen, und das aus gutem Grund. Aber als Rebekka sah, dass ein winziger Muskel im Augenwinkel der Frau zuckte, wusste sie, dass sie den Hebel richtig angesetzt hatte. „Aber wenn jetzt kein günstiger Zeitpunkt ist, wie Sie sagen, sollte ich vielleicht später wiederkommen … nachdem ich mit anderen Familien gesprochen habe, die ebenfalls eine Stelle frei haben.“
Sie machte einen Knicks und wandte sich zum Gehen. Die in ihr aufgekeimte Hoffnung schwand schnell wieder. Sie zählte die Kalksteinstufen, die von der Haustür hinabführten, und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Sie wappnete sich für den langen, eisigen Fußmarsch zurück in die Stadt.
„Mrs Cheatham ist im Moment indisponiert. Sie können aber im Haus warten, während ich Ihr Anliegen mit ihr bespreche.“
Rebekka drehte sich wieder um und neue Hoffnung flammte vorsichtig in ihr auf. Der strenge Blick der Frau verriet ihr Missfallen. Rebekka wusste, dass sie sich auf sehr dünnem Eis bewegte. Aber besser dünnes Eis als eiskaltes Wasser.
Sie stieg wieder die Treppe hinauf, trat in die Eingangshalle und freute sich schon auf die Wärme im Haus, obwohl sie versuchte, nicht wie die Bettlerin auszusehen, als die sie sich fühlte.
Tatsächlich brannte im Kamin in der Eingangshalle ein Feuer. Nur mit großer Willenskraft blieb sie an der Stelle stehen, an der sie war, statt hinüberzulaufen und niederzuknien, um die Wärme aufzusaugen. Ihre Zähne fingen wieder an zu klappern und ihr wurde jetzt erst bewusst, dass ihre Begegnung mit dieser Frau kurzzeitig die Kälte vertrieben haben musste.
Aber jetzt kehrte sie mit voller Wucht zurück und ihre Wangen brannten wie Feuer.
„Stellen Sie Ihren Koffer hier in die Ecke. Und geben Sie mir Ihren Mantel.“
Sie kam der Aufforderung der Hausdame nach und betrachtete ihre Umgebung. Mrs Cheatham liebte offenbar Statuen. Ein schönes Kunstwerk, das aus weißem Marmor gefertigt war, bildete den Blickfang in der Mitte der Eingangshalle: eine Frau, die niederkniete, um Getreide einzusammeln. Ihr flehender Blick war nach oben gerichtet und sie schien überhaupt nicht zu bemerken, dass ihr Umhang von ihrer schlanken Schulter gerutscht war und eine wohlgeformte rechte Brust enthüllte.
Rebekka war versucht zu lächeln. Eine ziemlich kühne Darstellung in einer Eingangshalle in Amerika. Aber das elegante Gesicht der Statue und die würdevolle Haltung waren faszinierend.
Sie hielt sich nicht für eine Kunstkennerin, aber die Zeit in Wien hatte sie mit europäischer Kunst und Architektur aus vielen Jahrhunderten vertraut gemacht, die sie sonst nie gesehen hätte.
„Ich bin Mrs Routh. Ich bin die oberste Hausdame auf Belmont. Und Sie sind?“
Rebekka machte zum zweiten Mal einen Knicks. „Miss Rebekka Carrington. Ich bin kürzlich von einer längeren Studien- und Reisezeit in Europa zurückgekommen. Aus Wien in Österreich.“ Diese Formulierung klang viel besser als „Ich wurde nach Europa verbannt, damit sich mein lüsterner Stiefvater nicht an mir vergehen konnte.“
„Sie sprechen also fließend Deutsch?“, fragte die Frau auf Deutsch.
Obwohl sie von dem unerwarteten Gebrauch der deutschen Sprache überrascht war, bemühte sich Rebekka, sich das nicht anmerken zu lassen. Sie nickte. „Ja, Frau Routh. Ich spreche Deutsch.“
„Et parlez-vous français aussi, Mademoiselle Carrington?“
Rebekka musste lächeln. Sie bewunderte die Mehrsprachigkeit der Frau und stellte fest, dass sie sie unterschätzt hatte. Ein Fehler, der ihr nicht wieder passieren würde. „Oui, je parle français,
Madame Routh.“
Ohne im Geringsten beeindruckt zu wirken, deutete Mrs Routh mit der Hand. „Folgen Sie mir in den kleinen Salon.“
Rebekka folgte ihr und verlangsamte nur für einen Moment ihre Schritte, als sie eine weitere Statue in der Halle bemerkte, die auf einem Tisch stand, direkt unter einem großen Porträt von einer Frau und einem Kind, vermutlich Mrs Cheatham und ihre Tochter. Die Skulptur war genauso schön wie die von der jungen Frau, die Getreide einsammelte, aber sie rührte sie auf eine Weise an, wie es die erste Statue nicht getan hatte.
Die Skulptur stellte zwei schlafende Kinder dar, deren Gesichter makellos in dem glatten, weißen Marmor eingefangen waren und deren Löckchen und engelsgleichen Hände der Bildhauer bis ins Detail perfekt dargestellt hatte. Ihr Blick fiel auf die eingemeißelte Inschrift.
Laura und Corinne.
Sie schaute in die lebensechten Gesichter der Kinder und fragte sich, wer diese Kinder gewesen waren. Irgendwie spürte sie, dass diese Statue mehr als nur schlafende Kinder darstellte. Aus dieser Skulptur sprach eher eine Liebe, die über den Tod hinausging. Eine Liebe, die sie gut nachempfinden konnte.
„Der Tee kommt gleich, Miss Carrington. Genießen Sie ihn, bis ich wiederkomme.“
Rebekka hörte den indirekten Befehl in diesen Worten und nickte. „Ich warte hier, Mrs Routh.“
Die Tür fiel mit einem dumpfen Geräusch, das keinen Widerspruch duldete, ins Schloss. Rebekka trat schnell zum Feuer, das im Kamin brannte, zog ihre Handschuhe aus und legte sie beiseite. Sie hielt die Hände näher an die Flammen und beugte die Finger. Endlich fingen sie an aufzutauen.
Als ihr ein wenig wärmer war, drehte sie sich um und trat mit dem Rücken so nahe an den Kamin heran, wie sie es wagte, während die Wärme nach und nach durch ihre Stoffschichten drang und die Kälte vertrieb. Himmlisch.
Es klopfte an die Tür und eine Dienerin trat mit einem silbernen Teeservice ein. Eine Frau – zierlich, die dunklen Haare unter einem Tuch zurückgesteckt – stellte das Tablett wortlos auf einen Seitentisch, schenkte eine Tasse ein und reichte sie Rebekka.
„Danke“, flüsterte Rebekka.
Die Dienerin – älter, aber nicht wirklich alt – hatte freundliche Augen und ein warmes Lächeln. Eine bemerkenswerte Kombination.
„Bitte, Madam. Falls Sie sonst noch etwas brauchen, klingeln Sie einfach.“ Sie deutete zu einer Messingglocke auf einem Seitentisch, dann senkte sie den Kopf und schloss geräuschlos die Tür hinter sich. Mrs Routh führte wahrscheinlich diesen ganzen Haushalt mit einem strengen, perfekten Regiment.
Während Rebekka an ihrem Tee nippte – er schmeckte nach Zimt, Nelken, Muskat und Orange –, genoss sie die Wärme und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.
Sie fand dieses Zimmer zwar gemütlich, sogar charmant, aber es war auch ein wenig erdrückend. Schöne Porträts vereinnahmten fast jeden Quadratzentimeter an den Wänden und Rebekka hatte das Gefühl, das Zimmer wäre einfach zu voll. Dazu kam, dass jede ebene Fläche entweder mit Kristallvasen, Miniaturskulpturen, vergoldeten Büchern oder Zierschalen bedeckt war, die nur …
Ihre Gedanken wurden schlagartig in den Hintergrund gedrängt, als sie ein Gemälde an der Wand direkt hinter sich sah. Ihr stockte der Atem.
Guido Reni zeichnet Beatrice Cenci im Kerker.
Sie kannte dieses Gemälde gut und ebenso auch das Porträt von Beatrice allein, das rechts danebenhing. Sie hatte das Porträt vor Jahren in Europa gesehen und sich dieser jungen Frau aus dem sechzehnten Jahrhundert auf traurige Weise nahe gefühlt, als sie ihre Geschichte gehört hatte. Sie hatte Beatrice insgeheim manchmal für das bewundert, was sie getan hatte, auch wenn Rebekka wusste, dass es falsch gewesen war.
Die Gemälde der jungen Römerin Beatrice waren in Europa beliebt und offenbar war ihre Beliebtheit inzwischen auch nach Amerika übergeschwappt. Diese zwei Bilder waren besonders gut. Rebekka fand es interessant, dass Mrs Cheatham sie in ihrem Haus hängen hatte. Dazu könnte sie sich nie überwinden. Das wäre eine ständige Erinnerung an jene Nacht und daran, was Barton ihr angetan hätte, wenn Demetrius nicht gewesen wäre.
Auf der Suche nach einer dringend nötigen Ablenkung wanderte ihr Blick weiter und blieb an einem anderen Gegenstand hängen: einer Familienbibel. Sie trat zu der Bibel, die vor dem Kamin auf einem Tisch lag.
Acklen stand auf dem Buchdeckel. Nicht Cheatham.
War Acklen Mrs Cheathams Geburtsname? Vielleicht war sie aber auch schon einmal verheiratet gewesen. Rebekka hob den Deckel des dicken, in Leder gebundenen Buches und warf einen Blick hinein. Ihr Blick fiel auf den Namen Joseph Alexander Smith Acklen. Daneben standen die Jahreszahlen 1816–1863.
Da sie das Gefühl hatte, verbotenes Terrain zu betreten, wollte sie das Buch wieder zuklappen, doch dann fielen ihr die Namen Laura und Corinne ein und sie fragte sich, ob sie auch in …
Vor der Tür näherten sich Schritte und Rebekka trat schnell von der Bibel zurück zu der Stelle, an der sie hatte bleiben sollen.
Mrs Routh öffnete die Tür. „Mrs Cheatham ist bereit, Ihnen ein paar Minuten zu gewähren. Kommen Sie bitte mit.“
Gleichzeitig erfreut und nervös, stellte Rebekka ihre Teetasse wieder auf das Tablett, ging neben Mrs Routh her und achtete sorgfältig darauf, mit ihr Schritt zu halten.
Sie gingen durch die Eingangshalle zurück und betraten dann einen größeren und weitaus eleganteren Salon. Ihre Absätze klapperten auf dem mit schwarz-weißem Karomuster gestrichenen Holzboden. Rebekka drehte den Kopf, um einen besseren Blick auf die freischwebende Treppe werfen zu können, die sich auf halber Höhe teilte und nach links und rechts in das erste Stockwerk wand.
Wie unglaublich elegant!
Mrs Routh blieb vor einer Doppeltür aus Glas stehen und Rebekka folgte ihrem Beispiel. Die Hausdame klopfte leise an die Glasscheibe, dann drehte sie den Türgriff und bedeutete Rebekka, vor ihr einzutreten.
Rebekka nahm ihr ganzes Selbstvertrauen zusammen und betrat das Zimmer.
Sobald sie Mrs Adelicia Cheatham sah, wusste sie, dass Mrs Murphey nicht ihr Bestes im Sinn gehabt hatte, als sie ihr den Namen und die Adresse dieser Frau gegeben hatte. Ganz im Gegenteil.
Mrs Murphey hatte sie vernichten wollen.
Kapitel 7
Das Lächeln der Frau wirkte freundlich und einladend, aber in ihren Augen stand strenger Tadel. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Das wusste Rebekka augenblicklich. Aber was sollte sie jetzt tun? Sie fühlte sich wie eine Fliege in einem Spinnennetz und wusste, dass das ganz allein ihre Schuld war.
Mrs Routh trat vor. „Darf ich Ihnen Mrs Adelicia Cheatham vorstellen? Mrs Cheatham, das ist Miss Rebekka Carrington.“
Die Art, wie die Hausdame ihren Namen aussprach, ließ Rebekka noch unruhiger werden. Ihre Betonung verriet, dass sich die Frau auf ein Gespräch bezog, das Rebekka nicht gehört hatte. Und Rebekka war sich ziemlich sicher, dass sie sich den Unterton im Wort das auch nicht eingebildet hatte.
Rebekka machte einen Knicks, als würde sie einem Mitglied aus dem Hause Habsburg vorgestellt. „Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs Cheatham.“
Wieder dieses freundliche, dennoch gefährliche Lächeln. „Danke, Miss Carrington. Bitte nehmen Sie Platz.“
Sie setzte sich auf die Kante des Sofas, das der Frau gegenüberstand, und sah sich nach den möglichen Fluchtwegen aus diesem Zimmer um: Es gab eine Tür hinter ihr und eine Tür links von ihr, obwohl sie keine Ahnung hatte, wohin diese zweite Tür führte.
Vornehme, elfenbeinfarbene Spitzen zierten Mrs Cheathams Kleid. Rebekka strich befangen mit der Hand über ihren feuchten, grauen Rock und die Jacke, fühlte sich nicht gut genug gekleidet und hatte das Gefühl, weit unter der gesellschaftlichen Stellung dieser Frau zu stehen.
„Möchten Sie eine Tasse Tee, Miss Carrington?“ Mrs Cheatham deutete zu dem Servierwagen neben dem Sofa. „Das ist die Wintergewürzmischung meiner Köchin.“
„Ich habe bereits in Ihrem Salon einen Tee genossen. Er war köstlich. Danke.“
Mrs Cheatham neigte leicht den Kopf. „Wie beruhigend zu wissen, dass Gäste, die nach Belmont kommen, mit Höflichkeit und Gastfreundschaft behandelt werden.“
Rebekka zögerte, da sie glaubte, einen strengen Unterton in Mrs Cheathams Stimme zu hören. Dann nahm sie jedoch ein leicht belustigtes Funkeln in ihren Augen wahr und Rebekka begann, sich ein wenig zu entspannen. „Ja, Madam. Sie dürfen versichert sein, dass Sie in dieser Hinsicht sehr zufrieden sein können. Und wenn ich das hinzufügen darf …“
Mit einem leichten Nicken erlaubte ihr Mrs Cheatham, fortzufahren.
„Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden, dass Sie mir die Chance geben, bei Ihnen vorzusprechen. Ich bin Ihnen von ganzem Herzen dankbar und möchte Ihnen versichern, dass ich immer mein Bestes geben werde, falls Sie sich für mich entscheiden sollten.“
„Tatsächlich? Wie wunderbar, das zu hören.“ Mrs Cheatham sah sie länger als nötig an. Dann nippte sie noch einmal an ihrem Tee, bevor sie die zarte Porzellantasse und Untertasse neben sich auf den Tisch stellte. „Bevor wir anfangen, Miss Carrington, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich in einer Angelegenheit aufklären würden.“
Etwas überrascht, nickte Rebekka vorsichtig. „Natürlich, Mrs Cheatham. Sehr gerne.“
Die freundliche Ausstrahlung der Frau verlor plötzlich ein wenig an Glanz. „Warum erscheint eine Frau, die behauptet, für diese Chance so dankbar zu sein, unangemeldet an meiner Tür, ohne die Höflichkeit zu besitzen, ihren Besuch vorher anzukündigen? Sie haben keinen Brief geschrieben, der Ihr Interesse an dieser Stelle bekundet oder auch nur den Wunsch, dafür in Betracht gezogen zu werden. Ich finde dieses Versäumnis sehr sonderbar, Miss Carrington. Und ich hoffe wirklich, dass Sie mir das erklären können.“
Rebekka fragte sich, wohin die Luft im Raum verschwunden war, und hörte, wie jemand erschrocken einatmete, bevor sie bemerkte, dass sie selbst es war. Sie schluckte. „Mrs Cheatham, bitte erlauben Sie mir, die Sache zu erklären. Ich …“
Die Frau hob einen Zeigefinger. Nicht einmal eine Hand. Aber Rebekka wusste ohne jeden Zweifel, dass es ein schwerer Fehler wäre, jetzt weiterzusprechen. Ein Fehler, den sie bedauern würde.
„Der Grund, Miss Carrington, warum ich Sie empfange, ist nur Ihrer Bekanntschaft mit Maestro Whitcomb zu verdanken.“
„Bekanntschaft?“ Rebekkas Stimme wurde um fast eine Oktave höher. „Mit Maestro Whitcomb?“
Mrs Cheatham schaute sie an. „Sie sind doch heute Morgen auf die Empfehlung von Nashvilles neu gebildeter Philharmonie bei mir, nicht wahr? Deren Dirigent ist Maestro Whitcomb. Deshalb nehme ich an, dass Sie mit ihm bekannt sind und dass er für Ihren Charakter und Ihre Erfahrung bürgt, wenn ich ihn darauf anspreche. Was ich nach unserem Gespräch ganz gewiss tun werde.“
Verwirrt wanderte Rebekkas Blick zu der Tür links neben sich und sie war versucht, loszustürmen. Aber vor diesem Gespräch und aus diesem Haus zu flüchten, das wäre auch keine Lösung. Damit würde sie ihr Schicksal bestimmt nicht verbessern. Aber was würde geschehen, wenn Mrs Cheatham herausfand, dass es keine Bekanntschaft mit dem Maestro gab? Dass der Mann so gut wie nichts über sie wusste?
Rebekka wurde ganz warm unter Mrs Cheathams strengem Blick und sie merkte, wie sie zu schwitzen begann. Diese Frau hatte ganz sicher großen Einfluss auf die wichtigsten Familien in dieser Stadt. Das bedeutete, dass ihre Chancen, irgendwo in Nashville eine Stelle als Gouvernante zu bekommen, nach diesem gescheiterten Vorstellungsgespräch genauso stünden wie jetzt.
Bei null.
„Nun, Miss Carrington? Ich warte auf Ihre Erklärung.“
Rebekkas Blick fiel auf die kleinen Hände der Frau, die entspannt auf ihrem Schoß lagen, während an ihren eigenen verkrampften Händen die Knöchel weiß hervortraten.
„Mrs Cheatham, es war ein großer Fehler von mir, hierherzukommen und für die Stelle als Gouvernante vorzusprechen. Das sehe ich jetzt ein.“ Sie sah eine unmissverständliche Warnung in den Augen ihrer Gastgeberin aufblitzen. „Ich bedaure es aufrichtig, Ihre Zeit vergeudet zu haben, Madam, und ich bitte Sie, mir zu erlauben, mich zu verabschieden.“
„Die Stelle als Gouvernante?“ Mrs Cheatham kniff die Augen zusammen. „Diese Stelle habe ich gestern besetzt, Miss Carrington.“
Rebekkas Lippen bewegten sich, aber es kam kein Wort heraus. „Aber … wozu bin ich dann …“ Sie fand die Fassung wieder. „Wegen welcher Stelle haben Sie mich empfangen?“
„Wegen der Stelle als Musiklehrerin. Für meine zehnjährige Tochter Pauline.“
„Musiklehrerin“, wiederholte Rebekka leise und fand die Ironie dieses Missverständnisses erstaunlich. Sie war versucht, sich an diesen dünnen Faden zu klammern, aber ein einziger Blick auf Mrs Cheathams strenge Miene belehrte sie eines Besseren. Außerdem brauchte sie eine Stelle als Gouvernante, da damit normalerweise freie Kost und Logis verbunden war und nicht nur die Aufgabe, einem Kind ein- oder zweimal in der Woche eine Musikstunde zu geben.
Ihr leerer Magen entschied sich ausgerechnet in diesem Moment zu knurren. Sie räusperte sich schnell und drückte eine Hand auf ihren Bauch, um das Geräusch zu überspielen.
„Ich entschuldige mich noch einmal, Mrs Cheatham, dass ich Ihre Zeit gestohlen habe.“ Sie stand auf und wollte gehen.
„Haben Sie Mrs Routh gesagt, dass die Nashviller Philharmonie Ihnen empfohlen hat, sich bei mir zu melden, oder haben Sie das nicht gesagt?“
Obwohl sie es nicht wollte, setzte sich Rebekka wieder hin. „Nein, Madam. Und ja.“
„Und warum haben Sie das erwähnt – vorausgesetzt, besagte Empfehlung wurde tatsächlich ausgesprochen –, wenn Sie sich für die Stelle als Gouvernante interessieren?“
„Ich versichere Ihnen, dass diese Empfehlung tatsächlich ausgesprochen wurde. Von Mrs Murphey im Opernhaus.“
Mrs Cheatham runzelte die Stirn. „Wer bitte ist Mrs Murphey?“
„Eine Frau, die, wie ich mir ziemlich sicher bin …“ Rebekka verkniff sich ein humorloses Lachen, „… große Freude haben wird, wenn sie erfährt, dass ich tatsächlich zu Ihnen gekommen bin.“
Da sie Mrs Cheathams wachsende Frustration spürte, erklärte sie schnell: „Nach meinem gestrigen Gespräch mit Maestro Whitcomb schrieb mir Mrs Murphey, die im Opernhaus arbeitet, Ihren Namen und Ihre Adresse auf und ermutigte mich, mich wegen der Stelle als Gouvernante bei Ihnen zu bewerben. Rückblickend wird mir jetzt natürlich klar, dass ich misstrauischer hätte sein sollen. Und Sie haben recht: Ich hätte mir die Zeit nehmen sollen, einen Vorstellungsbrief zu schreiben. Aber meine persönliche Situation ist derart, dass ich sofort eine Stelle brauche, Mrs Cheatham. Und mir war vorher einfach nicht bewusst, bei wem und wo ich heute vorspreche.“
„Die Stellung in der Gesellschaft sollte wohl kaum darüber entscheiden, ob man einem Menschen die gebührende Höflichkeit entgegenbringt oder nicht, Miss Carrington.“
Rebekka senkte den Kopf. „Nein. Sie haben selbstverständlich recht. Das sollte nichts damit zu tun haben.“
„Sie denken offensichtlich, dass diese Frau nicht Ihr Bestes im Sinn hatte. Warum ist das so?“
„Das kann ich wirklich nicht sagen, außer dass ich das Gefühl hatte, dass sie mich auf Anhieb nicht mochte. Mrs Murphey tut alles, um Maestro Whitcomb zu schützen.“
Mrs Cheatham runzelte die Stirn. „Inwiefern schützt sie ihn?“
„Seine Zeit.“
„Und sie hatte das Gefühl, Sie wollten ihm seine Zeit stehlen? Weil Sie ihn besuchten?“
Rebekka merkte es, wenn jemand nicht lockerließ, bis er die Wahrheit ausgegraben hatte. „Ja, Madam.“
Die Uhr, die auf dem Kaminsims tickte, verriet, dass ihre Zeit gleich abgelaufen wäre. Die Aussicht, durch den Schnee in die Stadt zurückzustapfen, war plötzlich gar nicht mehr so schlecht.
„Um es noch einmal zusammenzufassen, Miss Carrington: Sie kamen hierher, um für die Stelle als Gouvernante vorzusprechen, von der Sie gestern nach einem Gespräch mit Maestro Whitcomb erfahren haben. Aber Sie halten Ihre frühere Behauptung, mit dem Mann bekannt zu sein, nicht aufrecht, obwohl Sie seinen Namen benutzten, um Zugang in mein Haus und ein Gespräch mit mir zu bekommen.“ Sie schaute sie durchdringend an. „Ich frage mich, warum? Und was verschweigen Sie mir?“
„Ich gebe Ihnen mein Wort, Mrs Cheatham: Ich verschweige Ihnen nichts. Ich bin einfach hierhergekommen, um für eine Stelle vorzusprechen. Aber …“, sie atmete tief ein und wieder aus, „… als Mrs Routh mich unverrichteter Dinge wieder wegschicken wollte, habe ich Mr Whitcombs Namen erwähnt, da ich gehofft hatte, er könnte sie zum Umdenken bewegen. Und auch Sie. Dafür entschuldige ich mich von ganzem Herzen. Ich habe den Dirigenten gestern zum ersten Mal gesehen. Unser Gespräch war kurz und … völlig belanglos, das versichere ich Ihnen.“
Eine dunkle Braue zog sich zu einer stummen, unübersehbaren Frage nach oben, aber Rebekka war nicht bereit zu verraten, warum sie bei Mr Whitcomb gewesen war.
Sie konnte sich gut vorstellen, wie Adelicia Cheatham reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass sie es gewagt hatte, Nashvilles neuen Dirigenten herauszufordern, eine Frau in sein Orchester aufzunehmen. Eine verheiratete Frau wie Mrs Cheatham, die von solchem Reichtum umgeben war, könnte nie verstehen, was es bedeutete, wenn man in einer von Männern beherrschten Welt um alles kämpfen musste.
„Mrs Routh hat gesagt, dass Sie in Europa gelebt haben. Habe ich sie richtig verstanden, Miss Carrington, dass Ihr ursprüngliches Zuhause Nashville war?“
Rebekka nickte. „Das stimmt. Ich habe in den vergangenen zehn Jahren in Wien gelebt und dort studiert und als Gouvernante gearbeitet.“ Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln.
Mrs Cheatham antwortete mit einem noch schwächeren Lächeln. „In Wien studiert … eine solche Gelegenheit bekommt man tatsächlich nicht alle Tage. Und schon gar nicht ein so junges Mädchen, wie Sie es damals waren.“
„Mein Vater hat meine Liebe zur Musik früh erkannt. Und auch … mein Talent, wie er sagte. Es war sein Wunsch, dass ich Musik studiere, wenn ich älter bin. Aber da die amerikanischen Universitäten oder Musikkonservatorien keine Frauen in ihren Reihen aufnehmen, hat er sich für das Ausland entschieden. Für Wien.“
„Das war sehr weise von ihm“, sagte Mrs Cheatham. „Ich kann mir keine bessere Stadt vorstellen, um Musik zu studieren.“
„Mein Vater starb, noch bevor ich alt genug war, um allein im Ausland zu studieren. Und meine kürzlich verstorbene Großmutter …“, die Erwähnung ihrer Großmutter und die Erinnerung an die Opfer, die sie gebracht hatte, rührten Rebekkas Gefühle an, „… hat es für gut gehalten, dass ich früher als geplant ins Ausland ging. Das war kurz vor Ausbruch des Krieges, wie sich später herausstellte. Es war die richtige Entscheidung gewesen.“
„Ohne jeden Zweifel.“ Mrs Cheatham schaute sie an. „Haben Sie noch Familie in Nashville?“
„Ja, Madam. Meine Mutter und … ihren Mann. Meinen … Stiefvater.“ Sie konnte vor ihrem inneren Auge immer noch sehen, wie die Tür langsam aufgeschoben wurde, als er versucht hatte, sich in der Nacht zuvor gewaltsam Zutritt zu ihrem Zimmer zu verschaffen. Und dieser widerliche Gestank!
„Verstehe. Haben diese Leute auch einen Namen?“
Rebekka blinzelte. „Ja, Madam, selbstverständlich. Mr Barton Ledbetter und meine Mutter, Mrs Sarah Carrington Ledbetter. Aber ich erwarte nicht, dass Sie sie kennen, Mrs Cheatham.“
„Ich kenne sehr viele Menschen, Miss Carrington, aus vielen verschiedenen Schichten. Ich halte es für unklug, Vermutungen darüber anzustellen, wen ich kenne. Sehen Sie das nicht auch so?“
Rebekka fühlte sich erneut getadelt und musste nicken. Von ihrem Stolz war nicht mehr viel übrig. „Natürlich, Madam.“
„Sie kannten meinen Namen nicht, nicht wahr?“
Rebekka hörte keinen Stolz in der Frage. Nur Neugier. „Nein, Madam. Ich kannte ihn nicht. Entschuldigen Sie bitte.“
Mrs Cheatham stieß ein wenig damenhaftes Schnauben aus. „Wenn man nichts falsch gemacht hat, entschuldigt man sich auch nicht. Wie oft muss ich euch jungen Frauen das klarmachen? Eine Entschuldigung für einen begangenen Fehler auszusprechen oder zuzugeben, dass man etwas falsch verstanden oder nicht gewusst hat, das sind zwei völlig verschiedene Reaktionen auf zwei völlig verschiedene Umstände.“
Rebekka schaute sie sprachlos an und fragte sich, woher dieser Gefühlsausbruch kam und wer die andere junge Frau war, die wahrscheinlich eine ähnliche Schelte erfahren hatte. „Ich … danke Ihnen für diese Klarstellung, Mrs Cheatham.“
Falls diese Frau die Absicht hatte, sie in ihre Schranken zu verweisen, hatte sie das geschafft. Mehrmals.
Die Uhr schlug dreimal – viertel vor zehn. Rebekkas Gedanken wanderten zu der Familie mit den sechs Kindern und sie überlegte, ob sie noch eine Gouvernante brauchten und ob sie mit dieser Familie sprechen könnte, bevor es Mrs Cheatham tat.
Sie stand auf. „Danke, Mrs Cheatham, dass Sie mir heute Morgen so großzügig Ihre Zeit geschenkt haben. Ich möchte Sie nicht noch länger aufhalten. Wenn ich mich jetzt bitte empfehlen darf?“
Mrs Cheatham schaute mit undurchdringlicher Miene zu ihr hinauf. „Ja, Miss Carrington, Sie können gehen.“
Rebekka wandte sich zur Tür.
„Wenn Sie mir eine letzte Frage beantwortet haben.“
Rebekka stand mit dem Rücken zu Mrs Cheatham und verzog das Gesicht, bevor sie sich wieder beherrschte und sich umdrehte.
„Ich nehme an, Sie spielen ein Instrument, Miss Carrington.“
Da sie in den vergangenen Minuten bereits zu oft getadelt worden war, begnügte sich Rebekka mit einer kurzen Antwort. „Ja.“
Neugier sprach aus Mrs Cheathams Augen. „Und welches Instrument wäre das?“
„Klavier, selbstverständlich. Oboe. Und Violine.“
Als sie die Violine erwähnte, wurde das Gesicht ihres Gegenübers weicher, fast herzlich. „Tatsächlich? Und sind Sie gut darin ausgebildet?“
Rebekka hob das Kinn. „Ausgesprochen gut.“
Ein langsames, fast raubtierähnliches Lächeln umspielte Mrs Cheathams Mund. „Weigern Sie sich immer noch, mir zu verraten, welcher Art Ihre Bekanntschaft mit Maestro Whitcomb ist?“
Mrs Cheatham schaute sie forschend an. Rebekka wagte es nicht, den Blick abzuwenden. Sie wollte nicht schwach wirken. Und obwohl sie Tadel und Schelte hatte einstecken müssen und es nicht erwarten konnte, aus diesem Haus zu kommen, sollte Mrs Cheathams letzter Eindruck von ihr kein Eindruck von Schwäche sein.
Rebekka hatte schon die Hand auf dem Türgriff liegen, aber sie wusste ganz genau, was Adelicia Cheatham wirklich wissen wollte. „Sie wollen wissen, worum es bei meinem Gespräch mit Maestro Whitcomb ging.“
Ein vielsagendes Funkeln trat in die Augen der Frau.
„Ich war gestern bei Maestro Whitcomb …“, Rebekka lächelte verhalten, „… um für die Nashviller Philharmonie vorzuspielen.“