42,9 Kilo Sammelband: Band 1 und 2
In den Wirren von Scheidungskrieg und Sorgerechtsstreitigkeiten, zwischen Vater, Mutter, Anwälten, Jugendamt und Familiengericht, bekommt das knapp fünfjährige Mädchen Emelyne fast vollständig ihren Vater weggenommen, den sie bis dahin praktisch täglich um sich hat und der ihre primäre Bezugsperson ist.
Aufgrund von Kooperationsverweigerung und Falschdarstellung seitens der Mutter verliert Emelynes Vater Jahre später seine Tochter dann ganz. Durch die permanente Zerissenheit bricht sie mit elf Jahren die Verbindung zu ihm vollständig ab, als er versucht, im letzten Gerichtstermin psychologische Hilfe für sein Kind zu erstreiten. Trotz erwiesener Probleme und Angstzustände wird ihm erneut für seine Tochter von Jugendamt und Familiengericht jegliche Hilfe verweigert, da diese sich ein weiteres Mal auf das „Verweigerungs-Recht“ der Mutter berufen.
Als Emelyne sich nach Jahren erstmalig wieder zaghaft traut, auf einen der vielen Kontaktversuche ihres Vaters zu reagieren, da ist sie bereits sechzehn. Doch das Wiedersehen ist nicht in jeder Hinsicht freudig …
Emelynes Probleme sind, wie erwartet, in all den Jahren immer größer geworden – und sie selber dabei immer weniger: Als ihr Vater sie nach langer Zeit zum ersten Mal wieder sieht, erkennt er sie nicht mehr: Sie wiegt noch knapp 43 Kilo … Und beide wissen, dass die Zeit am Ablaufen ist …
Doch sie läuft nur für diejenigen ab, die am wenigsten damit rechnen – denn was auch passiert ist in all den Jahren, die beiden sind unverändert „Vater und Tochter“! Und sie sind bereit, die Realität anzuerkennen, sich nicht davon beeinflussen zu lassen, ihre Macht einzusetzen und die Abhängigkeiten ein für alle mal zu beenden …
Und Emelynes Vater zeigt seiner Tochter, wie sie das machen kann – und Emelyne setzt sich am Ende in jeder Hinsicht erfolgreich gegen alle und alles durch!
In Band 1, „42,9 Kilo – Alles andere war zum Kotzen“, erzählt Emelyne Schwarz von ihrem Absturz in die Ess-Störung und auch von ihrem erfolgreichen Weg hinaus.
In Band 2 „42,9 Kilo – Wenn du dich suchst, ich bin hier!“, erzählt Emelynes Vater von seinen Gedanken, Strategien und Hintergründen, die er Emelyne vermittelt hat, mit denen sie ihren Erfolg dann umsetzte.
Band 1 Alles andere war zum Kotzen!
Emelyne Schwarz
Band 2 Wenn du dich suchst, ich bin hier!
Emelynes Vater
Impressum
© 2017, Holger Lipp DTP Unternehmen, Emelyne Schwarz, Emelynes Vater Herausgeber, Umschlaggestaltung, Titelbild, Layout, Korrektorat und DTP-Produktion: Holger Lipp DTP Unternehmen, 94143 Grainet
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN Paperback-Ausgabe: 978-3-7439-4282-0
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-7439-4283-7
ISBN e-Book-Ausgabe: 978-3-7439-4284-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Rechteinhaber unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
„… muss ich dir erst Blut vor die Füße kotzen, damit du siehst, wie verletzt ich innerlich bin …?“
Emelyne Schwarz war circa 13 Jahre alt, als ihre ersten Ess-Störungen auftraten. Auf ihrem Tiefpunkt mit 16 Jahren hatte sie dann bei einer Körpergröße von 174 cm nur noch 42,9 Kilo.
Das alles war hauptsächlich eine Folge von ihrem persönlichen Lebensumfeld, welches nach außen hin den Schein „heile Welt“ vermittelte, für Emelyne aber „die Hölle auf Erden“ war.
Erschreckend dabei ist, wie unfähig – und auch wie untätig – ihre Umwelt jahrelang darauf reagiert hat: Von ihrem Zuhause angefangen, bis über Verwandte, Bekannte, Freunde, Lehrer und öffentliche Stellen.
Am Ende blieb Emelyne dann – wenn sie nicht nur „überleben“, sondern auch „leben“ wollte – nichts anderes mehr übrig, als ihre Möglichkeiten zu ergreifen und die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Sie nahm wieder Kontakt, den sie jahrelang verweigert hatte, zu ihrem von ihrer Mutter geschiedenen Vater auf und ließ sich von ihm Alternativen aufzeigen: Alternativen, welche die anderen in ihrem Umfeld ihr nicht geben konnten oder wollten.
In diesem Buch beschreibt sie ihren Leidensweg und auch die Hintergründe, aber ebenso auch den Weg aus dem Leiden heraus, den sie mit den ihr gezeigten Alternativen, von denen sie ebenfalls erzählt, gegangen ist.
Alternativen, die sie nach wie vor weiter verwendet, um heute, mit 22 Jahren, ein erfolgreiches Leben zu führen: In einer glücklichen Beziehung und als selbstständige, vielseitige Personaltrainerin – von Leistungssport bis Rehatraining – wo sie tagtäglich anderen Menschen dabei hilft, die eigene Ernährung und die körperliche und geistige Fitness im Alltag umzusetzen, immer mit dem Ziel, dabei ein „glückliches“ und „freies“ Leben führen zu können!
„Es ist nicht so, dass mir eines Tages ein Engel erschienen ist …
… und doch habe ich es geschafft, meine Flügel alleine auszubreiten.
„Meine“ Geschichte – um „euch“ damit einen Weg zu zeigen: Denn ich habe einen Weg gefunden, um meiner Ess-Störung zu entkommen – und möchte zeigen, wie es geht. Beziehungsweise, dass es MÖGLICH ist. Ich wollte es und habe es geschafft …
… und DU kannst es auch schaffen, wenn du das willst!“
Deine Emelyne
Band 1 Alles andere war zum Kotzen!
Emelyne Schwarz
Nichts in diesem Buch stellt einen Ratschlag dar oder soll zu irgendwelchen Handlungen, gleich welcher Art, auffordern!
Ebenso soll dieses Buch keinerlei Beratung ersetzen – erst recht keine psychologische oder medizinische!
Der Zweck dieses Buches dient ausschließlich dem Erzählen der persönlichen Erfahrungen und Ansichten der Verfasserin, die sich damit aber zu keiner Zeit einen Anspruch auf Gültigkeit für irgendetwas oder irgendjemand anderen herausnimmt!
Was immer die Leser mit dem Inhalt des Buches anfangen, liegt stets ausschließlich in der Verantwortung von einem selber – eine diesbezügliche Haftung bei Personen-, Sach- und Vermögensschäden wird hiermit ausdrücklich ausgeschlossen!
Damit die Privatsphäre der Beteiligten gewahrt bleibt, sind sämtliche Namen durch Pseudonyme ersetzt worden. Anklagen oder Vorwürfe gegenüber irgendjemand sind dabei zu keiner Zeit beabsichtigt – sollte dies in den Text hineininterpretiert werden, so wäre dies eine Fehlinterpretation!
Die Körpermaße in allen Bildern sind „original“ und zu 100 % unbearbeitet!
Impressum
© 2017, Holger Lipp DTP Unternehmen und Emelyne Schwarz Umschlaggestaltung, Titelbild, Layout, Korrektorat und DTP-Produktion: Holger Lipp DTP Unternehmen, 94143 Grainet
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
(Folgende ISBN kennzeichnen die ursprüngliche Originalausgabe)
ISBN Paperback-Ausgabe: 978-3-7439-4197-7
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-7439-4198-4
ISBN e-Book-Ausgabe: 978-3-7439-4199-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Rechteinhaber unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Um den Text so authentisch wie möglich zu belassen, wurde er so wenig wie möglich nachbearbeitet und praktisch vollständig so übernommen (auch im Hinblick auf bisweilen „eigene“ Formulierungen und Ähnliches), wie ihn Emelyne zur damaligen Zeit als 17-jährige geschrieben hat.
Dieses Buch widme ich allen Betroffenen, um ihnen meinen Weg hinaus aus dem Teufelskreislauf der Ess-Störung aufzuzeigen; allen Angehörigen, um sie zum Nachdenken anzuregen und dabei zu unterstützen, mit der Situation umzugehen, und mir selbst, um meine Geschichte als Tagebuch aufzuschreiben und an die Welt weiterzugeben.
In ganz besonderem Dank an meinen Vater, ohne den ich dieses Buch nie hätte schreiben können. Mein Vater, der mich dabei unterstützt hat, ein gänzlich neues und anderes Leben zu beginnen, sowie aus meiner Vergangenheit zu lernen und mich unabhängig zu machen. Mein Vater, der mir das Leben gerettet hat, physisch wie psychisch, der mich „therapiert“ hat, der mich zum Sport brachte, zu einer gesunden Lebenseinstellung, zu einer gesunden Ernährung und Lebensführung. Durch ihn lernte ich, mich selbst zu spüren, zu erleben und zu entwickeln. Die Dinge zu tun, die ich tun möchte und heute tun kann.
Nachdem mich mein Umfeld fast acht Jahre exzessiv „gestört“ und „zerstört“ hatte, brach die sogenannte „Krankheit“ Magersucht und Bulimie aus – da war ich gerade circa 13 Jahre alt. Im Alter von 15 und 16 befand ich mich sozusagen auf dem Höhepunkt meines Untergewichtes von bisweilen nur noch 42,9 kg bei 174 cm.
Als ich fünf Jahre alt gewesen war, ließen sich meine Eltern scheiden. Meine Mutter schlachtete meinen Vater finanziell aus, und als er ihr einen Riegel vorschob, heiratete sie dann neu. Mein Bruder und ich hatten das Vergnügen, uns schon im frühesten Kindergartenalter mit Behörden, Gerichten und Jugendamt auseinanderzusetzen. Es gab Sorgerechtsstreit und seitens meiner Mutter das Schlechtmachen meines Vaters, drohen mit Kinderheim und Liebesentzug, Verbote, Strafen, Hausarrest ohne Grund, ignorieren von unseren Sorgen und Ängsten und die Vernachlässigung jeder Sorgfalt uns Kindern gegenüber. Später folgten Mobbing in der Schule und Ehestreit mit dem zweiten Mann meiner Mutter.
Mein Bruder und ich wurden völlig alleine gelassen, der Kontakt zu den väterlichen Großeltern sowie zum Vater selbst unterbunden und durch Gerüchte weiter auf Distanz getrieben. Irgendwann begann ich meine Verzweiflung in mich hineinzufressen und wieder aus mir herauszubrechen. Ich fraß und kotzte. Ich verweigerte fast vollständig die Nahrungsaufnahme und behielt damit in diesem Punkt die Kontrolle über mich, über praktisch das Letzte, was mir noch geblieben war, wo „ich“ kontrollieren konnte, was ich tat und was nicht und was ich durfte und was nicht.
Tagtäglich habe ich geweint, wie noch nie in meinem Leben. Wenn das Leid zu groß wurde, schnitt ich mir die Arme auf und versuchte den Schmerz damit zu töten. Es gelang manchmal, nicht immer. Mein größter Zusammenbruch geschah am 01. Januar 2011. Nach einer wiederholten Suizidandrohung ließ meine Mutter mich in die geschlossene Psychiatrie einweisen. Fünf Stunden später war ich wieder draußen; noch verängstigter, noch wütender, noch verzweifelter. Ob mein körperlicher und seelischer Zustand mich ins Grab bringen würde, war mir egal. Ich wollte nur, dass alles endlich aufhört. Dass ich vielleicht im Tod endlich meinen Frieden, meine Freiheit und meine Hoffnung auf Ruhe fand, die man mir immer wieder nahm.
Das Blatt wendete sich für mich unerwartet. Der Kontakt zu meinem Vater erblühte in neuem Licht und hüllte mich ein, wie eine Wolke aus grellen Sonnenstrahlen. Ab da ging mein Leben aufwärts …
Es folgte ein Cut nach dem Nächsten, und ich begann gnadenlos auszusortieren, was ich alles in meinem Leben nicht haben wollte. Eines der ersten Sachen war die Schule: Ich schmiss die Realschule in der neunten Klasse und absolvierte extern meinen qualifizierenden Hauptschulabschluss. Danach dauerte es nur noch wenige Wochen, wo davor bereits feststand, dass ich bei meiner Mutter ausziehen würde. So packte ich die Koffer, kappte jeden Kontakt zu Verwandtschaft und falschen Freunden und zog zu meinem Vater und seiner zweiten Ehefrau auf deren Bauernhof. Dort lernte ich die ersten Grundlagen einer vollwertigen und biologischen Ernährung, im Herzen der Natur und im Einklang mit mir selbst. Kochen, backen, regelmäßiges sportliches Training sowie meine ersten Fortbildungen für das Berufsleben starteten.
Heute ist das „Früher“ nur noch wie ein Traum, der mich ab und zu besucht oder erschreckt. Alles, was war, hat mein Körper überwunden und, wie es aussieht, bestens verarbeitet. Meine Gesundheit ist stabil, mein Körpergewicht, meine Mahlzeiten und mein sportliches Training im harmonischen Zusammenspiel. Das, was geblieben ist, sind die Gedanken ans Kalorien zählen, die Wut auf so viele Menschen in meiner Vergangenheit, die Angst bevormundet zu werden und die Trauer darüber, dass meine Mutter meine Familie vollständig zerstört hat.
Manchmal holt es mich ein und bringt mich zurück in die Welt der Verzweiflung, doch ich habe durch meinen Vater viel gelernt und lerne immer noch viel. Vielleicht ist die Zeit mein größtes Hindernis, aber auch dieses werde ich überwinden. Meine Ruhe habe ich gefunden, meinen Frieden noch nicht. Doch ich sage mir, es kann immer, alles, nur besser werden im Leben. Man muss sich nur darauf einlassen und sich bewusst darüber sein, wo man hin möchte.
Mit meinem Buch möchte ich den Abschluss für mein „altes Leben“ schreiben und dieses Kapitel nun endgültig (ab)schließen.
In diesem Sinne möchte ich mich noch mal bedanken: Bei denen, die mir geholfen haben, aus diesem Horror hinauszukommen, bei denen, die mich auch heute noch dabei unterstützen, fest mit beiden Beinen im Leben zu stehen, und auch bei denen möchte ich mich bedanken, die mich in alles, was geschehen ist, hineingeritten haben. Jetzt weiß ich, woran ich bin und bin sehr froh darüber, dass man mir damit die Augen geöffnet hat und ich mir nun aussuchen kann, mit wem ich mein Leben verbringen möchte: Mit denen, die zu mir stehen, die aufrichtig und ehrlich sind, und die bemüht sind, selbst und mit mir schöne Zeiten zu verbringen – und nicht, sich gegenseitig herunterzumachen, eins reinzuwürgen oder anderen das Leben zur Hölle zu machen. Diesen anderen kann man nur aus tiefstem Herzen wünschen, dass sie ihren Frieden finden …
„… 1995 wurde in einem Krankenhaus in München ein Kind geboren: Ein kleines Mädchen mit pechschwarzen Haaren. Das Zweitgeborene einer kleinen Familie. Der Vater erblickte seine Tochter und sagte: „Boah, ist die hübsch!“ Und anschließend sagte er grinsend zu seiner damaligen Frau – meiner Mutter – „… mit der werden wir unseren Spaß haben!“ Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, wie sehr er damit Recht hatte …“
Die Sonne scheint warm auf meine Haut und der Himmel ist strahlend blau wie der Pazifik. Ich habe den Pazifik noch nie gesehen – aber so blau, wie der Mantel dieses Himmelsschleiers über den Bergen hing, hatte ich mir das lebendige Wasser immer vorgestellt.
Ein leichter Wind weht und bringt mir eine kühle Brise. Die Vögel zwitschern und das kühle Nass des kleinen Weihers berührt meine blassen Beine. Ich war schon immer nicht sehr braun gewesen, gerade nach den Wintermonaten war ich weiß und wurde deswegen auch des Öfteren humorvoll „Mozzarella“ von der zweiten Frau meines Vaters genannt. Früher war ich auch blass gewesen, allerdings aus anderen Gründen …
So sitze ich da und denke nach … Jetzt stehe ich vor der ersten eigenen Wohnung …, vor einer wunderbaren Lehre …, vor meiner großen Liebe …, vor meinem ganzen Leben …
Genau heute zur gleichen Zeit – vor einem Jahr – hätte ich niemals gedacht, dass ich einmal so dieser Welt gegenüberstehen würde. Mit so viel Energie, mit so viel Freude, mit Lust und Liebe im Leben, mit Hunger auf Zukunft.
Es gab einmal eine Zeit in meinem Leben, wo ich dachte, die Welt sei bunt und schön und abenteuerlich – das war meine Kindheit und das frühe Jugendalter. Ein farbenfrohes Bild aus Liebe, Freundschaft, Wärme und Geborgenheit im Schoß einer starken Familie. Eine wunderschöne Vorstellung, wie ich finde.
Doch leider war das alles gelogen und nicht wahr, wie ich in meinem bisherigen Leben festgestellt habe und erfahren musste. Dieses farbenfrohe Bild meiner Fantasie glich vielmehr einem altem Gemälde, das an der Wand hängt und dessen Farbschichten bereits abblättern. Irgendwann verlor das, was ich mir an schönen Tagen meines Lebens ausgemalt hatte, immer mehr an Farbe und Form und verwandelte sich zu einem ausgemergelten dunklen Etwas, das nur noch ein mattes Ebenbild in seine Umgebung warf. Wie ein altes Foto wurde es immer heller und farbloser. „Ich“ wurde immer farbloser …
Oft hatte ich diese Gedanken. Immer dann, wenn die Konturen vor meinem inneren Auge auftauchten. Sie beschäftigten mich immer mehr, je älter ich wurde. Und irgendwann habe ich mir gesagt: Jetzt tust du es, jetzt schreibst du es auf, jetzt erzählst du der Welt deine Geschichte.
„… Gott oder wer auch immer hat jedem Menschen etwas mit auf den Weg gegeben. Und das hat jeder: Deine Mutter, dein Stiefvater, dein Vater, ich – und so ungern ich es sagen möchte, auch dein Bruder – und auch du! Das muss jeder im Laufe seines Lebens für sich finden und etwas daraus machen, auch wenn viele das nicht tun …, und das ist schrecklich …
Du musst etwas finden, was du für „dich“ machen willst. Ich habe nur eine Geschichte von dir gelesen – und ich hab nur geheult …
Mach es Emelyne, tu es, du kannst es! Tu es für dich, schreib es auf …“ (Meine zweite Mom)
Langsam stehe ich auf, blicke noch mal durch die Baumkronen hinab ins Tal und gehe dann den kleinen Berg hinauf bis zur Straße und dem Haus, in dem ich jetzt noch wohne …
Der Teer ist warm, ich spüre die Rauheit unter meinen nackten Fußsohlen. Jeden einzelnen Kieselstein, der sich sachte in die zarte Haut drückt. Behutsam wähle ich meine Schritte …, wechsle auf das weiche, saftig grüne Gras und wandere auf die Haustür zu. Meine Hand erreicht die eiserne Klinke und drückt sie herunter. Die Scharniere quietschen, als ich sie öffne, genauso, wie ich mir das bei einem Bauernhaus, das in die Jahre gekommen ist, immer vorgestellt habe.
Ich genieße die angenehme Kühle, als ich durch die Tür trete. Mein Blick schweift durch den Raum. Papas Schreibtisch, mein großer Kleiderschrank mit der schweren, fotobedruckten Glastür … Mein langer, schwarzer Ledermantel hängt auf einem violettfarbenen Bügel und die polierten Springerstiefel stehen gleich darunter.
Die Hantelbank und der kleine Kabelzug stehen direkt vor dem großen Fenster, von dem aus man einen atemberaubenden Blick auf den großen Wald sowie den kleinen Hühnerstall hat. Die Hantelscheiben und -stangen liegen auf dem Boden und sind fein säuberlich sortiert und gestapelt.
Es ist hell und freundlich, manchmal zwar ein heilloses Durcheinander an Papier, Klamotten und anderem Krimskrams, aber es ist ein geordnetes Durcheinander. Und es ist das Zuhause von meinem Papa und mir. Mein Zuhause.
Langsam schließe ich die Tür hinter mir und setze mich aufs Bett an den PC. Was ich genau schreiben wollte, wusste ich noch nicht, auch nicht, wie ich überhaupt anfangen sollte …
Aber dann gingen mir folgende Gedanken durch den Kopf: Wenn du etwas schreiben willst, dann darfst du nicht denken, es muss einfach nur fließen, und in einem kurzen Anflug von Ungläubigkeit, ob ich überhaupt könnte, was ich vorhatte, rissen mich meine Gedanken aus dieser Zögerlichkeit. So, als ob sie mir nicht mehr länger beim Dasitzen zusehen wollten, hatte ich das Gefühl, als würden sie mir einen nachdrücklichen Ruck verpassen und ich hörte fast förmlich die Worte in meinen Ohren: Hau endlich in die Tasten, Herrgott noch mal!
Und ich fing an, meine Finger erst langsam und vorsichtig und dann immer schneller und härter auf die Tastatur meines alten Laptops zu schlagen.
So begann ich zu schreiben …
Meine Gefühle, die ich in meinen Geschichten geschrieben habe, wurden in den depressivsten und in den euphorischsten Momenten meines Lebens von mir verfasst. Voller Hoffnung, voller Liebe, voller Wut, Angst, Verzweiflung und tiefstem Hass.
Es gibt so viele Menschen in meinem Leben, denen ich am liebsten, wie ich oft gesagt habe, die Eingeweide aus dem Körper reißen wollen würde! Innerlich hat es mich aufgefressen, so alleine zu sein, es nicht zu schaffen, wieder zu mir zu finden und keine Hilfe von den Menschen zu bekommen, die das tagein, tagaus miterlebt und (vielleicht deshalb) dann gekonnt ignoriert haben.
Heute habe ich kein Mitgefühl mehr mit diesen Leuten. Gleichgültigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Sie haben lange genug meine Lebenszeit verschwendet, aus diesem Grund habe ich mich entschieden, ihnen dazu keine Möglichkeit mehr zu bieten und sie so aus meinem Leben verabschiedet. Manchmal ist es besser, wenn jeder seinen eigenen Weg auf seinem Pfad alleine geht.
Ich hoffe, dass wenn jemand sich in meiner Geschichte selbst wiedererkennt, auch weiß, dass er oder sie nicht alleine ist. Es ist bestimmt nicht schön, was wie gerade passiert oder passiert ist, doch es gibt einen Weg. Einen Weg, wo ich glaube, dass es ein guter Weg ist.
Das hier soll keine „Musterlösung“ für irgendjemanden sein, aber mit dieser „Lösung“ versichere ich, dass es möglich ist oder möglich sein kann … Möglich, wieder zu sich selbst zu finden und seinen Weg zu gehen, wie man möchte.
„Um etwas ins Leben zu rufen, muss eine Grundvoraussetzung gegeben sein, ohne die geht es nicht: Es für möglich halten!“ (Mein Vater)
Dieses Buch soll auch nicht dazu dienen, andere Menschen schlecht zu reden. Es sind lediglich meine Empfindungen, verknüpft mit den Situationen, die ich durchlebt und hier aufgeschrieben habe, um anderen, die sich in vielleicht einer ähnlichen Situation befinden oder sich grundsätzlich für das Thema Ess-Störungen interessieren, einen Einblick geben zu können, und für mich, meine Vergangenheit niederzuschreiben, dass ich sie vergessen kann und sie trotzdem immer für mich abrufbar ist. Dass ich einfach dieses Buch aufschlagen und nachlesen kann, wenn mich Erinnerungen einholen, die ich nicht verstehe.
1. Januar 2011: „Es ist mir egal, es ist mir alles scheißegal!!!“, brülle ich meine Mutter an. Tränen stehen in meinen Augen, mein ganzer Körper zittert vor Wut. „Ich hab die Schnauze voll, mir reicht es so dermaßen!“, schreie ich ihr und meinem Stiefvater – der neben ihr steht – noch entgegen, dann renne ich die Treppe hinauf in mein Zimmer, knalle die Tür laut hinter mir zu und werfe mich aufs Bett. Der Rotz läuft mir aus der Nase, mir ist heiß, ich habe Angst und fühle mich grauenvoll.
„Ich will nicht mehr leben, ich will nicht mehr leben, lieber Gott lass mich endlich sterben!“, schluchze ich in mein Kopfkissen und drücke es fest an mich, während ich mit aller Kraft meine Fingernägel in das weiche Federbett kralle. Plötzlich vernehme ich, wie die Zimmertür geöffnet wird, ich drehe mich auf die Seite und sehe meine Mutter wie sie im Türrahmen steht.
„Verschwinde!“, schreie ich. Sie reagiert nicht, wie immer, und bleibt stehen. „Ich hab gesagt, du sollst abhauen, lass mich in Ruhe!!!“ „Jetzt reg du dich nicht auf!“, keift sie und ihre Stimme hat einen scharfen Unterton. „Was kann ich dafür, dass du wieder kotzen warst?!“ „Du hast keine Ahnung was los ist, du hast so was von keinen Schimmer! Ich will einfach endlich sterben …“, presse ich mühsam aus meiner Kehle. Der Kloß in meinem Hals wird immer dicker und ich habe das Gefühl, an ihm zu ersticken.
„Du kannst dich glücklich schätzen, bald bin ich nicht mehr da, und dann hast du deine Ruhe vor deiner psychisch kranken Tochter!“ „Was soll das heißen?!“ „Ich hab was geschluckt und ich hoffe, dass ich morgen früh nicht mehr aufwache!“
Verzweifelt drücke ich mein Gesicht in mein Kopfkissen. „Geh endlich weg und lass mich in Ruhe, ich mag nicht mehr, ich will endlich weg sein!“, zwinge ich die Worte aus meinem Hals durch das Kissen und weine noch mehr.
Ich vernehme keine Reaktion meiner Mutter, sie bleibt einfach in der Tür stehen. „Hau endlich ab!!!“, schreie ich sie voller Wut an und muss mich zusammenreißen, nicht das Kissen oder etwas anderes nach ihr zu schmeißen. Dann schließt sie endlich die Tür und ist weg.
In mir kocht alles über, vor Trauer, vor Angst, vor Wut, und ich meine, als würde es mich jeden Moment auseinanderreißen. Geladen wie eine Silvesterrakete springe ich vom Bett auf und beginne durchs Zimmer zu rennen, auf der Suche nach nur einer Sache: Wo ist sie, wo ist sie?!
Ich komme am Schrank an und reiße die Tür auf, ziehe Klamotten heraus, werfe sie auf den Boden und werde immer hektischer.
Wo ist diese beschissene Rasierklinge?!, ruft eine Stimme tief in meinem Kopf. Ich brauche jetzt Erlösung, Bestrafung, die Illusion, dass alles „okay“ ist, ansonsten flippe ich aus!
Tränen laufen mir über das Gesicht, ich bin kurz davor zu hyperventilieren. 42,9 …, 42,9 …, 42,9 … Was, wenn ich morgen früh mehr wiege, was dann?!
Angst habe ich, so große Angst, wie leider allzu oft in meinem Leben.
Mein Blick schweift durch das Chaos in meinem Zimmer, nachdem ich erfolglos den halben Schrank nach meinen Rasierklingen abgesucht habe. Das Bedürfnis nach Selbstverletzung wird immer größer. Auf einmal sehe ich eine unmittelbar vor meinem Fenster am Boden liegen: Sie lächelt mich an, so blank, so scharf, so erlösend, die Rasierklinge des Einwegrasierers. Doch dann befällt mich ein eindringliches Gefühl … Nein Emelyne, mach es nicht – mach es jetzt bloß nicht!
Warum?, frage ich mich – als plötzlich die Zimmertür aufgeht …
„Emelyne, da ist Besuch für dich …“, höre ich die Stimme meiner Mutter.
Besuch? Wer würde mich jetzt einfach so unangemeldet besuchen?
Mit einem kräftigen Atemzug ziehe ich die Nase hoch und gucke zur Tür. Ein Mann in orangefarbener Uniform kommt herein, ungefähr so groß wie ich, blonder Schnauzer und blaue Augen. Er erinnert mich an einen Sanitäter. Angst durchflutet mich und Panik macht sich in mir breit. Meine Mutter schließt die Tür und geht, als der Sanitäter sich an mich wendet: „Emelyne, ich bin ein Helfer vor Ort, deine Mutter hat die Polizei gerufen, da du geäußert hast, dir das Leben zu nehmen. Ich bin hier, um jetzt auf dich aufzupassen, damit du dir und niemand anderem etwas antust. In wenigen Minuten kommt der Krankenwagen und dann geht es erst mal in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie in München.“
Mein Magen krampft sich zusammen und ich meine, mich gleich übergeben zu müssen.
„Verschwinden Sie, gehen Sie bitte weg, ich will meine Ruhe!“, bringe ich hervor und bemühe mich, nicht laut zu werden und höflich zu bleiben. Dabei spüre ich wie meine Handinnenflächen schwitzig werden …
Alles in mir arbeitet.
Der Helfer schüttelt den Kopf.
„Ich bleibe jetzt so lange, bis der Krankenwagen kommt.“
Aus dem Fenster springen …, einfach raus zur Balkontür, über die Brüstung, runter auf die Terrasse …
Dann ergriff meine innere Stimme Macht über meine Gedanken … Vergiss es, hier kommst du nicht raus – jetzt sitzt du in der Falle …
Weinend setze ich mich aufs Bett. Mir scheint als würde gerade der klägliche Rest meiner Existenz zerbrechen. Geschlossene Psychiatrie, Klapse, Zwangsernährung, eingesperrt sein …, gezwungen sein Dinge zu tun, die ich nicht tun wollte …, wie so oft. Gehorchen zu müssen, entmündigt zu werden über mein eigenes Ich, meinen eigenen Willen, mein Leben. Wie bisher immer. Das zu tun, was ANDERE wollten und die es einen Scheißdreck interessierte, was ICH WOLLTE …
Diese Worte schießen mir durch den Kopf, wie eine Flipperkugel, und ich muss sofort an Katrin Lenck denken: Ein junges Mädchen, das fast die Hälfte ihres Lebens in einem Krankenhaus und einer Psychiatrie verbracht hat, bis sie letztendlich an schwerer Magersucht mit am Ende nur noch 29 kg starb. In ihrem Buch war einiges beschrieben, vor allem eine Szene, in der man ihr unter aller Gewalt einen Schlauch in den Hals steckt, um sie mit einer Sonde zwangsernähren zu können …
Jetzt hast du alles versaut – alles!
In mir drin fühlt es sich an, als würde ein Gläschen Adrenalin nach dem anderen umkippen und es zieht sich mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper.
Der Sanitäter setzt sich neben mich auf das Bett, während ich wie versteinert die Wand anstarre und die Tränen unaufhaltsam über meine Wangen in meinen Schoß tropfen.
„Jetzt erzähl mir doch mal, was passiert ist, was hast du geschluckt?“, fragt er mit sanfter Stimme. Ich schlucke und es kratzt unangenehm im Hals. Der ganze Rachen brennt mir noch von der Magensäure und auf einmal kommt mir der Geschmack von bitterem, schwarzem Kaffee hoch.
„Ich hab Bulimie und hatte ’nen geschissenen Fressanfall und hab ’ne Überdosis Abführmittel genommen. Mir ist klar, dass ich davon nicht sterben kann („leider“, hätte ich gerne hinzugefügt, doch das behielt ich für mich), also können Sie jetzt auch wieder gehen!“
„Nein“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Dadurch, dass deine Mutter den Krankenwagen gerufen hat, hat sie etwas in Gang gesetzt, das man jetzt nicht mehr mit einem Wisch rückgängig machen kann.“
Er macht eine kurze Gesprächspause und sieht sich in meinem Zimmer um. Seine blauen Augen blicken ruhig umher … Er betrachtet die Tierbilder an den Wänden, mustert die Einrichtung und das Chaos aus Zeitschriften, Klamotten und sonstigem Zeug, das auf dem Boden liegt, wobei er plötzlich meine Rasierklinge unter dem Fensterbrett ins Auge fasst und kurz innehält. Dann schaut er wieder zu mir.
„Hast du dich geritzt?“, fragt er und strahlt dabei nahezu eine entspannte Atmosphäre aus. Wahrscheinlich bin ich nicht die Erste, die er fragen muss …
„Nein“, schüttle ich den Kopf, „habe ich nicht.“
Gott sei Dank, vollendet mein Innerstes den Satz in mir, Gott sei Dank hast du es gelassen …
Auf einmal sehe ich Blaulicht vor meinem Fenster aufblitzen, der Krankenwagen. Dann geht es schnell, kurze Zeit später stehen vier weitere Sanitäter in meinem Zimmer. „Meine Arbeit hier ist getan, die Leute kümmern sich jetzt um dich“, sagt der Helfer, nickt mir zu, wünscht „alles Gute“ und geht.
Mein Herz hämmert gegen meine Brust, als wollte es sie sprengen. Krankenwagen, Sanitäter … Zwangsjacke? Gummizelle? Beruhigungsspritze unter Gewalt? Polizei? Klapse oder Kinderheim?? Ärger mit der „Familie“ …, Ausschluss …, und keine Sonne …, ewige Dunkelheit … Das sind nur wenige der ganzen Worte und Vorstellungen, die mir damals durch die Gehirnwände schossen …
Du könntest durch die Balkontür rennen und über die Brüstung in den Garten springen und flüchten, denke ich mir erneut.
Ja, und dann …? Was dann Mädel?, fragt mich mein Kopf. Dann landest du auf den Fliesen der Terrasse, brichst dir womöglich noch etwas.
Ja, hoffentlich den Hals …, sage ich mir innerlich und blicke zu den Sanitätern.
Doch meine innere Stimme schafft es, mich zu überzeugen: Lass es – so viel Glück hast du nicht …
„Was passiert jetzt?“, frage ich unsicher.
Der Chef des Krankenwagens schaut mich an, als er erwidert: „Du kommst jetzt für mindestens drei Tage nach München in die Geschlossene, pack dir Zeug zusammen. Danach geht’s vielleicht in die Psychiatrie nach Haar, wo du dann an die drei Wochen sein wirst – Genaueres entscheidet sich in den nächsten Tagen.“
Für einen Augenblick habe ich das Gefühl umzukippen, so übel ist mir. Die Panik in mir wird immer größer.
Was hast du nur gemacht?!, frage ich mich in Gedanken. Was hast du jetzt für eine Steinlawine ins Rollen gebracht …?!
Das war, glaube ich, einer der schlimmsten Augenblicke in meinem Leben. Ein Moment, wo ich mir im Nachhinein wieder einmal dachte: Hätte ich doch bloß meine Klappe gehalten und nie etwas gesagt von: Ich habe was geschluckt. Dort, wo ich im Anschluss die kläglichen Reste meines Lebens vor meinem Auge zerbrechen sah, und nicht wusste, wie es und was überhaupt weitergehen sollte. Der Horror, den ich hatte, der mir gemacht wurde und auch den, den ich mir selber immer wieder machte, sollte der weitergehen? Wollte ich das? Nichts mehr als einfach zu sterben, das hatte ich mir von ganzem Herzen gewünscht. Jedoch weiß ich, beziehungsweise hatte ich das Gefühl, als mir genau dieser Gedanke durch den Kopf schoss, dass jemand tief in mir etwas sagte, und zwar diesen Satz: Tut mir leid, aber ich kann dich nicht sterben lassen, du darfst noch nicht gehen, denn du wirst noch für etwas im Leben gebraucht …
Ich bin der festen Überzeugung, dass ich mir das nicht eingebildet habe … Es gab zwar immer wieder Sachen in meinem Leben, die mir nicht möglich oder als Illusion erschienen oder als Ergebnis meiner blühenden Fantasie von anderen oder mir in die „nicht-existent-Schublade“ gesteckt wurden. Doch ich weiß, dass es Übernatürliches gibt, woher auch immer. Das ist zumindest meine innere Überzeugung. Die einen nennen es Gott, Schicksal, Berufung … Es gibt viele Begriffe dafür. Für mich hat es noch keine Definition. Doch ich denke, je weiter ich im Leben meinen Weg gehe, umso näher bin ich der „Aufklärung dieses Geheimnisses“ … Das möglicherweise gar kein Geheimnis ist.
„Könnte ich bitte kurz mit meiner Mutter reden?“, frage ich und meine Augen können die aufsteigenden Tränen nicht halten. Einer der Sanitäter nickt, winkt seinen Kollegen und geht aus dem Zimmer, wobei jedoch zwei seiner Leute vor meiner Türe stehen bleiben. Für den Hauch einer Sekunde denke ich erneut daran, einfach abzuhauen, aber wohin? Und wie? Sollte ich nicht doch über den Balkon auf die Terrasse springen, egal, ob ich mir etwas brach? Oder einfach zur Zimmertür raus und hoffen, dass unten nicht noch mehr von denen standen?
Mach jetzt bloß keinen Scheiß Mädel – sonst kommen die mit der Zwangsjacke!, warne ich mich gedanklich. Bleib einfach ruhig und mach, was die sagen. Da musst du jetzt durch.
Kurz darauf steht meine Mutter erneut im Zimmer. Lehnt sich an die hölzerne Zimmertür, die Arme vor der Brust verschränkt und guckt mich mit diesem gleichgültigen und genervten Blick an: „Und, was ist, soll ich mich jetzt vor dir rechtfertigen? Ich habe alles richtig gemacht. Du bist hier diejenige, die psychisch nicht ganz auf der Höhe ist. Aber du wolltest es mir ja nicht glauben …“
Böse funkle ich sie an. „Na, hast du jetzt, was du wolltest?!“, und das Feuer in mir brennt weiter, ich fühle mich wie ein Schwerverbrecher, der gerade vom Gefängnispersonal abgeholt wird. Sie sagt nichts und guckt mich nur an, ausdruckslos, ignorierend, gleichgültig. Dann dreht sie sich um und geht, und der Sanitäter kommt wieder ins Zimmer. In mir bricht erneut etwas zusammen. Sie geht … Sie lässt mich wieder alleine …
Jetzt ist alles egal Emelyne, alles.
Ich wünschte, ich hätte mich schon vor einem Jahr umgebracht, dann wäre mir vieles erspart geblieben …
„Würdest du bitte deine Sachen zusammenpacken, wir fahren jetzt gleich“, sagt der eine Sanitäter mit einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr und beobachtet mich, wie ich mich schließlich umdrehe und ein paar Klamotten vom Boden aufsammle, die Schranktür öffne und eine Handtasche herausnehme. Während ich immer noch weine, stopfe ich das Zeug, was ich vorhabe mitzunehmen, in die Tasche: Kleidung, Haarshampoo, ein Buch, Haarbürste und noch weiteren Kram, was ich gedenke in den nächsten Tagen zu brauchen. Dann gehe ich, gefolgt von dem Herrn in Orange, die Treppe hinunter Richtung Bad. Meine Mutter sitzt am Küchentisch, den Kopf in die Hand gestützt. Mein Stiefvater lehnt am Vertiko und schaut zu mir. Voller Zorn funkle ich ihn an.
„Du blödes Arschloch, wegen dir hat der ganze Scheiß überhaupt erst angefangen!“
Er sieht mich an und sagt siegessicher: „Wenn deine Mutter nichts macht, muss ich eben was machen!“
Gerade noch schaffe ich es, den Drang, ihm an den Hals zu springen und ihn zu würgen, herunterzudrücken. Mir scheint, dass ich den Schaum der mir hochsprudelnden Galle nahezu bereits auf der Zunge fühle, so wütend und rasend bin ich. Wenn ich jetzt nicht diese ganzen Kerle hinter mir hätte, würdest du alt ausschauen!, denke ich mir, stampfe geräuschvoll ins Bad und lege meine Tasche auf den Toilettendeckel. Als die Tür hinter mir verriegelt ist, lehne ich mich mit der Stirn kurz an das kalte Spiegelglas und bin dankbar, für mich sein zu können.
Das Leben ist ein einziges Spiel: Und jetzt schau, dass du dein Ass aus dem Ärmel ziehst!, spreche ich innerlich zu mir, als ich den Lichtschalter drücke und in den Spiegel sehe.
Ich sehe mein angeschwollenes und verheultes Antlitz. Verklebte Wimpern, die Haare verstrubbelt und fettig … Und wenn man gerade gekotzt hat, braucht es eine Weile, bis die sichtbaren Merkmale, wie aufgequollenes Gesicht, rote Augen und rote Haut, verschwinden.
„Scheiß drauf!“, flüstere ich gepresst. Ich hole Luft und spucke auf mein Spiegelbild. Wie ein Vogelschiss auf einer blank polierten Autoscheibe, so sieht es aus. Nicht gerade ansprechend, aber ansprechender als wie das, was ich sehe … Mich. Ich wische den Speichel mit dem Ärmel meines Oberteils gleich wieder ab und beginne, mir mit ein paar unsicheren Zügen Wimperntusche und Lidschatten um die Augen zu schmieren, um neben versauten Haaren und pickeliger Haut ein wenig gepflegter zu wirken. Mit einem prüfenden Blick schaue ich mich schließlich abwertend an.
Auch egal – du musst jetzt so gehen …
Dann drehe ich mich weg, nehme meine Handtasche hoch und gehe aus dem Bad. Im Flur greife ich mir meine Cowboystiefel und eine warme Jacke. Meinen Stiefvater und meine Mutter würdige ich dabei keines Blickes. Soll sie der Teufel holen – und ihn gleich mit dazu. Oder mich … Hauptsache, ich muss mich mit diesem falschen Pack nicht mehr abgeben, nie mehr.
„Bin fertig“, sage ich mürrisch, nachdem ich den letzten Knopf geschlossen habe und abfahrbereit bin.
„Dann fahren wir“, erwidert einer der Helfer, und ich folge ihm nach draußen in die Winterkälte, seelisch vorbereitet auf den Weg in die Klinik …
Fünf Stunden später sitze ich auf dem Rücksitz im Tiguan meines Stiefvaters, meine Mutter auf dem Beifahrersitz neben ihm und er am Steuer.
„Stört’s, wenn ich auch rauche?“, frage ich. Er schüttelt wortlos den Kopf und konzentriert sich auf die Straße.
Mit der rechten Hand drücke ich den automatischen Fensteröffner und lasse die Scheibe ein Stückchen herunter. Dann ziehe ich eine Zigarette aus der schwarzen Schachtel, stecke sie mir zwischen die Lippen und zünde sie an …
Der Geruch von Vanille umhüllt mich und ich schließe die Augen, als ein kalter Luftzug durch das Fenster zu mir dringt und mir die Rauchwolke direkt ins Gesicht bläst.
Das war knapp!, denke ich und ziehe an der Zigarette. Du bist gerettet, sage ich mir gedanklich und atme tief ein. Zumindest für den Augenblick …
Ich erblicke den Sternenhimmel und kann für einen kurzen Moment lächeln. Jetzt morgen noch ein gnädiges Gewicht und alles ist gut … (Fortsetzung folgt woanders, aber lest weiter, dann versteht ihr es später …)
Ich laufe …, ohne zu wissen, wohin. Um mich herum ist mir alles unbekannt …, und es sieht alles gleich aus. Wo ich hinlaufe, weiß ich nicht, doch wo ich hin möchte, das weiß ich – zu meiner Mama. Und irgendwo hier ist sie, auch das weiß ich.
Ein riesengroßer Strand: Mit Palmen, Picknickdecken, Lampions und Tischen, die aussehen, wie diese aus Holz auf dem Oktoberfest im Bierzelt. Überall sind Menschen, viele Menschen, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen. Sie lachen und unterhalten sich. Die einen und anderen wanken mit ihrem besten Freund unterm Arm zu der lauten Musik, die aus einer großen Anlage hämmert.
Plötzlich finde ich mich neben dieser Anlage. Eine der Lautsprecherboxen ist ungefähr dreimal so groß wie ich … Ich bin gerade 7 Jahre alt.
Die Menschen sind laut …, viel zu laut. Sie singen und trinken und essen, tanzen barfuß im Sand, hüpfen umher und verschütten dabei ihr Bier, das sich wie eine weiße Schaumfontäne über die anderen Freunde ergießt. Ich kann es förmlich spüren, wie ich unter all diesem bebe und der Boden unter meinen Füßen sich bewegt.
Mein Blick schweift in alle Richtungen, doch ich sehe nur Beine, Füße, kurze Hosen …, und die Spitzen der Palmen sowie den Rest des blauen Himmels über mir. Ich bin zu klein …, und ich sehe sie nicht …, meine Mama.
Den ganzen Tag war sie da …, und plötzlich war sie weg. Im Wasser hatte ich gespielt und mit Förmchen Sandküchlein gebacken. Die Sonne hatte hell und warm am Himmel gestanden und das lauwarme Wasser hatte mich zwischen den Zehen gekitzelt. So hatte ich den ganzen Tag verbracht … Doch als ich wieder aufblickte, zu unserem Platz, wo wir unsere Handtücher hingelegt hatten und Mama wie eine Sardine in der Sonne gelegen und gelesen hatte, war sie weg gewesen. Sie, ihr Buch, ihr Handtuch, alles von ihr.
Zuerst dachte ich, mich verguckt zu haben und hatte weiter nach links und rechts davon gesucht. Doch nirgends war sie zu sehen … Angst stieg in mir hoch und der Strand kam mir plötzlich so riesig und gefährlich vor. Ich war allein …
Die Welle, die in diesem Augenblick hereinbrach, nahm mir meine bunten Förmchen und spülte sie ins Wasser. Ich ließ die Schaufel blitzartig los, erschrocken von dem kalten Nass, das auf einmal an meinen Füßen zu spüren war, und rannte davon. Wohin genau, das wusste ich nicht …, doch wo ich hinwollte, das wusste ich ohne Zweifel … Mama, wo bist du? Mama … MAMA!!!
Der Sand unter meinen Füßen gab nach, als ich davonsauste, weil so ein betrunkener Strandtänzer genau auf mich zuwankte. Wie durch ein Wunder stolperte er nicht über mich und ich huschte unter seinen Beinen durch und davon. Doch er grapschte nach mir, und trotz, dass ich entkommen konnte, riss er mir mein weißes Strandmützchen vom Kopf, das, was Mama mir am Morgen noch aufgesetzt hatte. Sein wütendes Gebrüll kroch mir eiskalt den Rücken hinauf, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie er einen unsicheren Schritt machte und mit einem Knie auf den Boden kippte. Bier spritzte aus seiner Flasche und er knüllte mein Mützchen in seiner Faust zusammen. Es versetzte mir einen inneren Stich …, und doch flitzte ich weiter, selbst, wenn ich es nicht mehr bekommen konnte, meine Gedanken waren plötzlich wieder ganz woanders.
Ich hielt kurz inne, nachdem ich ein weiteres Stück gelaufen war und drehte mich um. Der Irre war mir nicht nachgelaufen, ich war in Sicherheit. Mein kleines Herz pochte gegen meine Brust …, ich nahm jeden Schlag deutlich war. Mama …
Ich drehte mich im Kreis …, es schien mir, als würden die Menschen immer näher auf mich zurücken …, mich einkreisen …, ich kam mir so klein vor, so hilflos in dieser Menge. Hatte Angst, dass sie mich zertrampeln würden … Würden sie es überhaupt merken, mich wahrnehmen? Oder wäre ihnen das egal?
Plötzlich blitzte vor meinem Auge etwas Bekanntes auf. Rot-beige-orange Streifen: Mamas gestreifte Strandhose. Reflexartig renne ich in die Richtung, die Augen fest daran geheftet, keinen Blick zur Seite, keinen zurück. Schubse die großen Menschen weg, die mir im Weg stehen. Sie fluchen, schreien. Die doofe Strandblondie im Jeansminiröcken mit ihrem Sektglas in der Hand und der Freundin mit Schoßhündchen und Barbie-Ken-Freund an der Seite. Nichts kann mich von meiner eingeschlagenen Richtung abbringen, nur noch ein kleines Stück und ich bin da …
Und kurz vor meiner Mama steht auf einmal eine ganze Girlande aus diesen Partystrandlern. Sie halten sich an den Händen und tanzen im Kreis …, genau vor meiner Nase. Durch ihre Beine hindurch sehe ich die Hose meiner Mama und sie selbst. Sie sitzt auf der Picknickdecke, genau die, die am Morgen noch auch mein Platz gewesen war, als ich im Wasser saß. Sie hat einen Flechtkorb bei sich stehen und ihr Buch in der Hand, irgendeinen Krimi.
„Mama!“, rufe ich. Sie guckt nicht mal zu mir. Die Menschengirlande wird immer lauter, alkoholische Getränke tropfen auf mich. Ich versuche auszuweichen und rufe weiter, lauter, länger …, schreie: „MAMA!“
Seelenruhig blättert sie eine Seite um, kratzt sich kurz mit dem kleinen Finger an der Nase und liest weiter.
Die tanzenden Menschen vor mir werden immer schneller …, und mir wird schwindlig. Vielleicht wanke ich ja selbst schon …, betrunken vom Salzwasser, zuviel Sonne wahrscheinlich auch noch. Ein kalter Wind weht durch mein Haar und ich gucke zum Himmel. Eine dicke, graue Wolke hat sich über das sanfte Blau gezogen und auf einmal wird mir kalt … Ich umarme mich selbst und schaue wieder zu Mama. Sie hat die Wolke auch bemerkt und ihr Buch zugeklappt. Dann legt sie es in den Korb und steht auf. Mit einer flinken Handbewegung hat sie die Decke aufgehoben, zusammengefaltet und in den Korb gepackt. Ihre blond-schwarzen Locken fliegen im Wind. Sie sieht aus, wie eine dieser Frauen auf dem Titelbild der Elle. Hübsch, jung, herausgeputzt … Sie nimmt den Korb und dreht sich um, weg von mir.
Wie ein Blitzschlag trifft es mich …, sie geht … Sie sieht mich nicht … „MAMA! MAMA! MAMA!“, brülle ich und mein Hals tut weh. Sie hört mich nicht …
Die Menschen vor mir erkenne ich bald kaum noch, so schnell tanzen sie um mich …, wirbeln Sand auf, der mir in die Augen staubt. Ich kneife sie zusammen, es kratzt und tut weh. Wie blind versuche ich, einen Weg durch ihre Beine zu finden. Doch sie lassen mich nicht durch. Sie lachen, pöbeln, schubsen mich weg. Ich rutsche aus und lande auf dem Po im Sand.
„Mama …“, schluchze ich und meine Augen werden nass … „Mama …“, flüstere ich. „Bitte hilf mir …, du darfst nicht gehen …“
Mein Sichtfeld verschwimmt … Und ich rapple mich hoch, drehe mich in die entgegengesetzte Richtung, in der ich noch eben saß und renne davon. Renne und renne und renne … Etwas bohrt sich in meine Fußsohle, knackt … Dann tut es höllisch weh: Eine Muschel, die sich in meine Haut geschnitten hat – doch ich beachte den Schmerz kaum und laufe weiter. Soweit, bis ich mit den Füßen im Wasser stehe und mich fallen lasse. Es macht „platsch“ und ich bin bis zur Hüfte im Nass. Neben mir ein großer Sandhaufen, der zu feuchtem Schlamm geworden und überspült worden ist: Meine Sandkuchen …, das Meer hat sie sich zurückgeholt.
Das Salzwasser brennt an meinem Fuß. Ein sauberer, roter Schnitt, in dem Sand klebt. Es zieht schmerzhaft … Tränen rinnen über mein Gesicht, kullern meine Wangen hinab und tropfen auf meine braunen Beine. Ich umklammere meinen schmerzenden Fuß und sehe die untergehende Sonne am Horizont. Rot, orange, hell … Langsam verschwimmt und verschwindet sie vor meinem Auge, diese bunte Farbenvielfalt. Langsam geht sie unter, die Sonne …, und die Farben verschwinden ganz. Bunte Streifen wie von Mamas Hose …
Mit einem Schlag schrecke ich hoch und befinde mich aufrecht sitzend in meinem Bett!
Mein T-Shirt hebt sich schnell auf meinem Brustkorb und ich atme heftig. Mein Blick gleitet aus dem Fenster. Der Wind wirbelt einen Ast vor der Straßenlaterne herum, dass die Blätter, bei jedem Schlag dagegen, sich von ihm lösen. Schneeflocken tanzen vor der Fensterscheibe und der Schnee glitzert im fahlen Licht. Der Mond scheint genau auf mein Kopfkissen …, und meine Haut wirkt so bleich und fahl …
Ich schlucke und wische mir über die Augen. Dabei spüre ich, wie die pinke Armstulpe an meinem Arm juckt. Ich streife sie ab und zucke kurz zusammen, als sich ein paar Kunsthaare auf meinem Handgelenk verfangen und an mir ziepen. Sie kleben an roten Kratzern auf meinem Unterarm und meiner Hand , an Schnittwunden …