Annemarie Pieper
Einführung in die Ethik
7., aktualisierte Auflage
A. Francke Verlag Tübingen
Wir werden im Folgenden durchgängig die Begriffe »Moral«, »Moralität« und »moralisch« verwenden und dabei aus Platzgründen auf die Wiedergabe der synonymen Begriffe »Sitte«, »Sittlichkeit« und »sittlich« in Klammern verzichten.
Vgl. hierzu auch B. Williams: Der Begriff der Moral, 32f.: »Es wäre eine Platitüde, wenn man eigens feststellen wollte, dass ein welterfahrener Mensch manchmal zur Einsicht kommt, dass seine spontane moralische Reaktion auf ein ihm fremdartig erscheinendes Verhalten provinziell und deshalb zu unterdrücken oder umzustellen ist. Aber es ist wichtig, zwischen den verschiedenen Reaktionen zu unterscheiden, die in verschiedenen Arten solcher Fälle angebracht sind: Manchmal scheinen einem bestimmte Dinge auf einmal keine Frage der Moral mehr zu sein; manchmal geht einem auf, dass etwas, das man bei sich zu Hause missbilligt haben würde, hier den relevanten moralischen Aspekten nach, etwas ganz anderes ist. […] Aber zu behaupten, dass derartige Anpassungsreaktionen in jedem Falle das einzig Richtige wären und dass angesichts zweifelsfrei unmenschlicher Praktiken a priori die Forderung gelte, sie zu akzeptieren, würde ein eigenes – psychologisch wie moralisch gleichermaßen wenig plausibles – Moralprinzip erfordern.
[…] Nehmen wir an, ein Einbrecher kommt gerade dazu, wie der rechtmäßige Besitzer des Hauses jemanden ermorden will, ist er dann etwa moralisch verpflichtet, sich nicht einzumischen, weil seine Anwesenheit unrechtmäßig ist?
Damit soll nicht bestritten werden, dass man sich oft in die Angelegenheiten anderer Gesellschaften eingemischt hat, wo man es besser unterlassen hätte, dass man sich oft ohne Einsicht eingemischt hat, und oft mit einer Brutalität, die wesentlich schlimmer war als die, die unterbunden werden sollte. Ich behaupte nur, dass es nicht einfach aus dem Wesen der Moral folgen kann, dass keine Gesellschaft sich jemals in die Angelegenheiten einer anderen einmischen sollte oder dass es nicht mehr als rational ist, jedes beliebige Verhalten von Angehörigen anderer Gesellschaften zu akzeptieren.«
Vgl. hierzu L.W. BECK: Akteur und Betrachter, 111: »Indem wir dieselben Regeln befolgen und wissen, dass wir dies tun, stehen wir miteinander in sprachlicher Kommunikation über das, was nicht Regel ist.« Regeln ordnen demnach etwas an sich selber Ungeregeltes oder Regelloses, jedoch nicht um der Ordnung oder Regelung willen, sondern um der Freiheit willen. Die Regeln sollen die Freiheit nicht aufheben (»reglementieren« oder »verregeln«), sondern garantieren.
Science-fiction-Literatur und utopische Zukunftsromane machen auf Gefahren aufmerksam, die den Menschen in einer völlig durchtechnisierten Welt drohen. Wo alle Macht in den Händen von Wissenschaftlern und Technikern liegt, zählt der einzelne nicht mehr. Seine individuellen Freiheitsrechte werden dem reibungslos wie eine Maschine funktionierenden Staatsapparat aufgeopfert, der keiner autonomen Bürger, sondern angepasster, gehorsamer menschlicher Wesen bedarf, die keine Störfaktoren darstellen.
Den Extremfall einer solchen Konditionierung schildert Aldous HUXLEY in den ersten drei Kapiteln seines Zukunftromans »Schöne neue Welt« (Hamburg 1982). In der »Brut- und Normzentrale« werden Menschen nach Bedarf gezüchtet und verschiedenen Normierungsverfahren unterzogen. Vgl. z.B. 30f.:
»Auf Regal 10 wurden ganze Reihen künftiger Chemiearbeiter an die Einwirkungen von Blei, Ätznatron, Teer und Chlor gewöhnt. Der erste Schub einer Lieferung von zweihundertfünfzig Raketeningenieuren in embryonalem Zustand passierte soeben Meter 1100 auf Regal 3. Eine besondere Vorrichtung bewirkte, dass ihre Behälter ständig kreisten. ›Zur Stärkung des Gleichgewichtssinns‹, bemerkte Päppler. ›Reparaturen an der Außenseite einer Rakete in der Luft sind eine kitzlige Aufgabe. Wir verlangsamen, wenn die Embryos aufrecht stehen, den Kreislauf des Blutsurrogats, bis sie halb verhungert sind, und beschleunigen ihn, wenn sie auf dem Kopf stehen. Sie gewöhnen sich also daran, Kopfstehen mit Wohlbehagen zu assoziieren. Ja, sie sind nur dann wirklich glücklich, wenn sie auf dem Kopf stehen können.‹«
Vgl. KANT: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke, Bd. 6, 43f., 45f.: »Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch. Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, dass man es wolle), zu gelangen, vor. Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte. […]
Der hypothetische Imperativ sagt also nur, dass die Handlung zu irgendeiner möglichen oder wirklichen Absicht gut sei. Im ersteren Falle ist er ein problematisch-, im zweiten assertorisch-praktisches Prinzip. Der kategorische Imperativ, der die Handlung ohne Beziehung auf irgend eine Absicht, d.i. auch ohne irgend einen anderen Zweck für sich als objektiv notwendig erklärt, gilt als ein apodiktisch (praktisches) Prinzip.«
»Das Wollen nach diesen dreierlei Prinzipien wird auch durch die Ungleichheit der Nötigung des Willens deutlich unterschieden. Um diese nun auch merklich zu machen, glaube ich, dass man sie in ihrer Ordnung am angemessensten so benennen würde, wenn man sagte: sie wären entweder Regeln der Geschicklichkeit, oder Ratschläge der Klugheit, oder Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit. Denn nur das Gesetz führt den Begriff einer unbedingten und zwar objektiven und mithin allgemein gültigen Notwendigkeit bei sich, und Gebote sind Gesetze, denen gehorcht, d.i. auch wider Neigung Folge geleistet werden muss. Die Ratgebung enthält zwar Notwendigkeit, die aber bloß unter subjektiver gefälliger Bedingung, ob dieser oder jener Mensch dieses oder jenes zu seiner Glückseligkeit zähle, gelten kann; dagegen der kategorische Imperativ durch keine Bedingung eingeschränkt wird, und als absolut- obgleich praktisch-notwendig ganz eigentlich ein Gebot heißen kann. Man könnte die ersteren Imperative auch technisch (zur Kunst gehörig), die zweiten pragmatisch (zur Wohlfahrt), die dritten moralisch (zum freien Verhalten überhaupt, d.i. zu den Sitten gehörig) nennen.«
KANT hat bereits in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« das Bild des Kompasses benutzt, um zu verdeutlichen, wie die empirisch-praktische Vernunft die moralischen Kategorien des Guten und Bösen auf Einzelfälle anwendet.
»So sind wir denn in der moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft bis zu ihrem Prinzip gelangt, welches sie sich zwar freilich nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurteilung braucht. Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie mit diesem Kompasse in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig, oder widrig sei, wenn man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie SOKRATES tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht, und dass es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein.« (Werke, Bd. 6, 30f.)
Auch E. BRUNNER, ein evangelischer Theologe, vertritt die These, dass die Moral nicht in der Natur des Menschen gründet, sondern notwendig auf einem religiösen Fundament beruht.
»Die Menschenrechte, die Würde der Person, das Gebot, den Nächsten zu lieben – das sind keine Naturfakta, sondern das sind Postulate, die entweder völlig in der Luft hängen und keinerlei Überzeugungskraft besitzen, oder aber in einem religiösen Verständnis des Menschen begründet sind. Hinter der Forderung der Menschenrechte und dem Prinzip der Personenwürde steht die Ehrfurcht vor etwas höherem als die Natur, die Ehrfurcht vor einer Instanz, die den Menschen eine Würde verleiht, ihnen Rechte anerschaffen hat und von uns die Nächstenliebe fordert.«
»Das ist unser Resultat: Die Forderung einer autonomen, einer vom Glauben losgelösten Ethik bringt uns, je weiter diese Loslösung vom Glauben betrieben wird, desto mehr um das Verständnis des Guten. Wo, wie bei NIETZSCHE, diese Loslösung eine vollkommene ist, da wird schließlich aus der Ethik der moralische Nihilismus oder die Verkehrung des sittlich Guten in das reine Vital- und Machtprinzip. Umgekehrt, soll uns die Erkenntnis des sittlich Guten als Nächstenliebe bewahrt bleiben und soll diese Erkenntnis nicht bloß ein ohnmächtiger Imperativ sein, sondern zur Lebenswirklichkeit und zur Tat werden, so ist das nicht anders möglich als dadurch, dass das Gute aus dem Glauben an den Gott der Liebe fließt.« (Religiöse Moral als Alternative zum ethischen Nihilismus, in: Texte zur Ethik, 145, 147)
Die entgegensetzte These vertrat Paul Thiry D’HOLBACH, ein französischer Materialist des 18. Jahrhunderts.
»Hat die Religion das menschliche Wissen auch nur einen Schritt vorwärts gebracht? Hat diese so gewichtige und so erhabene Wissenschaft die Moral nicht ganz verdunkelt? Hat sie nicht die wesentlichsten Pflichten unserer Natur ungewiß und problematisch gemacht? Hat sie nicht schändlich alle Begriffe von Recht und Unrecht, von Laster und Tugend verwirrt? Welche Ideen haben unsere Theologen denn wirklich von der Tugend? Sie werden uns sagen, Tugend sei das, was dem Willen des unbegreifbaren Wesens, das die Welt regiert, entspricht. Aber was ist das für ein Wesen, von dem ihr unaufhörlich zu uns sprecht, ohne es verstehen zu können; und wie sollen wir seinen Willen erkennen? Darauf werden sie euch sagen, was dieses Wesen nicht ist, ohne euch sagen zu können, was es ist; wenn sie versuchen, euch eine Idee von diesem hypothetischen Wesen zu geben, so werden sie es mit einer Menge widersprüchlicher und miteinander unvereinbarer Attribute überhäufen und es zu einem unbegreiflichen Hirngespinst machen; oder aber sie werden euch auf die übernatürlichen Offenbarungen verweisen, durch die dieses Phantom seine göttlichen Absichten den Menschen bekannt gemacht habe. Aber wie wollen sie die Echtheit dieser Offenbarungen beweisen? […] Man wird sich stets irren, wenn man der Moral eine andere Basis als die Natur des Menschen geben will; eine festere und gewissere Basis kann es nicht geben.« (Religion als Ursache moralischer Perversionen, in: Texte zur Ethik, 148f.)
Der Gegensatz zwischen BRUNNER und HOLBACH entzündet sich am Begriff der menschlichen Natur, mithin in Bezug auf die anthropologische Bestimmung des Menschen. Während BRUNNER aus christlicher Überzeugung und im Hinblick auf die Faktizität die Verderbtheit der menschlichen Natur behauptet und damit die Unmöglichkeit einer Begründung der Moral durch die menschliche Natur, ist für HOLBACH die menschliche Natur das einzig sichere Fundament für eine Moral, und die Religion bedeutet für ihn einen bloß theologischen Überbau, der eher schadet als nützt, auch wenn HOLBACH durchaus zugibt, dass die Natur des Menschen nicht ausnahmslos gut ist, sondern entarten kann. HOLBACH war jedoch kein Theologe, für den eine natürliche oder vernünftige Letztbegründung der Moral ausgeschlossen ist, da alle Moral religiös fundiert sein muss; Ethik kann demzufolge nur als theologische Ethik begriffen werden.
Vgl. den Auszug aus dem »Leviathan«, in: Texte zur Ethik, 171: »So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Misstrauen, drittens Ruhmsucht.
Die erste führt zu Übergriffen der Menschen des Gewinnes, die zweite der Sicherheit und die dritte des Ansehens wegen. Die ersten wenden Gewalt an, um sich zum Herrn über andere Männer, deren Frauen, Kinder und Vieh zu machen, die zweiten, um dies zu verteidigen und die dritten wegen Kleinigkeiten wie ein Wort, ein Lächeln, eine verschiedene Meinung oder jedes andere Zeichen von Geringschätzung, das entweder direkt gegen sie selbst gerichtet ist oder in einem Tadel ihrer Verwandtschaft, ihrer Freunde, ihres Volks, ihres Berufs oder ihres Namens besteht.
Daraus ergibt sich klar, dass die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden.«
Hier wird noch einmal besonders deutlich, wie unverzichtbar die Anthropologie für die Ethik ist und welche Konsequenzen die anthropologische Basis für die Ethik hat. Geht man wie SOKRATES und ROUSSEAU davon aus, dass der Mensch ursprünglich gut ist, so besteht die Aufgabe der Erziehung im Wesentlichen darin, dem Zögling eine Einsicht in seine Natur zu vermitteln. Geht man aber etwa im Gefolge des Christentums davon aus, dass der Mensch ursprünglich verderbt ist, so kann der Erzieher den Maßstab des Guten nicht aus der Natur nehmen, sondern muss ihn mit den Mitteln der Vernunft an die Natur heranbringen und diese danach bilden.
Anton HÜGLI hat in seinem Buch »Philosophie und Pädagogik« (Darmstadt 1999) die pädagogische Ethik als den Ort der Begegnung von Philosophie und Pädagogik herausgestellt und als die eigentliche Pädagogik bezeichnet, die aber noch auf der Suche nach der ihr gemäßen Ethik sei. Diese Ethik müsse im Zusammenhang mit der Frage nach dem Stellenwert des guten Lebens und des Glücks in der Ethik der Gegenwart entwickelt werden. (Vgl. S. 120–144)
Paul RICŒUR hat eine zweibändige »Phänomenologie der Schuld« verfasst (Freiburg/München 1977). Der erste Band mit dem Titel »Die Fehlbarkeit des Menschen« sucht nach dem »Ort« des Bösen in der Endlichkeit des Menschen, dessen »Schwäche« darin besteht, dass ihm die Synthese von Endlichem und Unendlichem misslingen kann. »Zu sagen, der Mensch ist fehlbar, besagt in eins, dass die Einschränkung eines Wesens, das nicht mit sich selbst zusammenfällt, die Urschwäche ist, aus der das Böse hervorgeht. Und dennoch, hervorgehen kann das Böse aus dieser Schwäche nur, weil es gesetzt wird« (S. 289), und zwar frei, mithin aus einer gewissen Stärke gesetzt wird.
Im zweiten Band mit dem Titel »Symbolik des Bösen« geht RICŒUR auf das Rätsel des unbegreiflichen Übergangs von der Möglichkeit in die Wirklichkeit der Setzung des Bösen, von der Unschuld in die Schuld ein, indem er die großen abendländischen Mythen und ihre Symbolsprache daraufhin untersucht, in welcher Weise sie über den »Fall« des Menschen sprechen und sein Schuldbekenntnis zum Ausdruck bringen.
Der Ausdruck »transzendental« ist nicht zu verwechseln mit »transzendent«. Ein transzendentes Verfahren würde den Erfahrungsbereich im Hinblick auf einen außerhalb aller Erfahrung liegenden übersinnlichen Bereich zu überschreiten suchen, wohingegen das transzendentale Verfahren gerade nicht nach außerhalb aller Erfahrung liegenden, sondern nach den ihr immanenten Gründen fragt, nach dem logischen Apriori der Erfahrung.
Man könnte diese Methoden wiederum in teleologische (von griech. telos = Ziel) und deontologische (von griech. to deón = die Pflicht) Methoden untergliedern im Hinblick darauf, ob sie sich auf ein (wie auch immer inhaltlich bestimmtes) höchstes Ziel (z.B. Lust, Glück, Liebe etc.) richten, oder ob sie unabhängig von jeder empirischen Zielsetzung ausschließlich zur Bestimmung dessen, was Pflicht ist, dienen.
H. KRINGS hat in seiner Auseinandersetzung mit APELs transzendentalpragmatischem Ethik-Modell darauf aufmerksam gemacht, dass das Sklavenhalterbeispiel bei APEL mehrdeutig ist.
»Der Duktus der APELschen Beispielerzählung ist nicht eindeutig. Einerseits erscheint es so, als ob der Römer als Konsequenz des Diskurses über eine gerechte Gesellschaftsordnung den Sklaven hinterher freilassen müsste. Das ist aber nicht schlüssig, da es über die gerechte Gesellschaftsordnung bekanntlich verschiedene Meinungen gibt und Diskurs nicht ohne weiteres mit Konsens gleichzusetzen ist. Andererseits sagt APEL ganz mit Recht: ›Dieser Mann hat die Lebens-Funktion des argumentativen Diskurses als der nicht hintergehbaren Legitimationsinstanz allen Handelns nicht begriffen und daher auch nicht explizit mitakzeptiert; er hat sich insofern überhaupt nicht ernsthaft auf einen argumentativen Diskurs eingelassen.‹ (37) Das bedeutet, dass der Diskurs, wiewohl die Gesprächspartner ›für die Dauer der Diskussion die dafür gültigen Normen der idealen Sprechsituation befolgen‹, gar nicht zustande gekommen ist. Dafür hätte der Römer den Sklaven zuvor freilassen müssen. Das hat der Römer nicht getan. Aber warum sollte er es tun? Doch nicht um des Diskurses willen. Er hätte es um der Menschenwürde willen tun sollen. Der Imperativ, einen Menschen nicht wie eine Sache zu behandeln, kann durch einen Diskurs weder in Frage gestellt, noch als Konsequenz gewonnen werden, da er unbedingt ist. APELs eigenes Beispiel läuft darauf hinaus, dass nicht der Diskurs die Freigabe des Sklaven, sondern die Freigabe des Sklaven allererst den Diskurs ermöglicht.« (Die Grenzen der Transzendentalpragmatik, in: Prinzip Freiheit, hrsg. v. H.M. Baumgartner, 364f.)
Vgl. hierzu ausführlich die Anthologie von Annegret STOPCZYK: Was Philosophen über Frauen denken (1980).
Zur Ergänzung der in der UdSSR vertretenen marxistischen Ethik durch die in der DDR konzipierte sozialistische Ethik vgl. die Artikel »Ethik« und »Moral«, in: M. Buhr / A. Kosing (Hrsg.): Kleines Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie, Berlin 41979.
Hier wären exemplarisch zu nennen: Agrippa VON NETTESHEIM, der die repressiven Formen männlicher Gewalt für die Unterdrückung der Frauen verantwortlich macht; Ludwig FEUERBACH plädiert aus Gründen der Gerechtigkeit und Gleichheit für die Emanzipation der Frau. John Stuart MILL sieht die Ungleichheit der Rechte von Männern und Frauen als Folge des Faustrechts und ruft die Männer auf, an der Emanzipation der Frauen tatkräftig mitzuwirken. Herbert SPENCER schließlich räumt den Frauen die gleichen Freiheiten im Sozialbereich ein. (Vgl. hierzu: Was Philosophen über Frauen denken, 64–66; 195; 198; 213)
Gegen den einseitigen Intellektualismus der abendländischen Philosophie hat sich schon NIETZSCHEs Moralkritik gewendet und an die Stelle einer sich selbst genügenden »reinen« Vernunft provokativ den Leib als »große Vernunft« gesetzt, die ihre sinnlich-materiellen Wurzeln nicht verleugnet, sondern ausdrücklich anerkennt. Im Fahrwasser NIETZSCHEs hat Jacques DERRIDA in seiner Kritik des Logozentrismus das verdrängte Differente, nicht Logoshafte in den Blick gerückt. Theodor W. ADORNO schließlich wollte in seiner negativen Dialektik durch eine Entzauberung des Begriffs dem Besonderen, Einzelnen wieder zu seinem Recht verhelfen.
Die erste Auflage dieses Buches erschien 1985 unter dem Titel »Ethik und Moral. Eine Einführung in die praktische Philosophie« im BeckBeck, L.W. Verlag (München). Der Text basiert auf dem dreiteiligen Kurs »Einführung in die philosophische Ethik«, den ich 1979/80 im Auftrag der Fernuniversität Hagen für Studierende der Erziehungswissenschaften erarbeitet hatte. Die zweite, gründlich überarbeitete und erweiterte Auflage, die der Entwicklung der Ethik seit 1985 Rechnung trug, erschien 1991 im Francke Verlag (Tübingen und Basel) unter dem Titel »Einführung in die Ethik«. Die dritte Auflage, in welcher das Literaturverzeichnis auf den neuesten Stand gebracht wurde, kam 1994 heraus. Die vierte Auflage (1999) wurde wiederum durchgehend aktualisiert und vor allem in den Kapiteln 2.5, 3.2.1, 3.3.2 und 8. ergänzt. Für die 5. Auflage (2003) wurde Kapitel 7 ergänzt und das Literaturverzeichnis aktualisiert. Die 6. Auflage trug neueren Diskussionsschwerpunkten in der Ethik Rechnung. Entsprechend kamen die Kapitel 3.1.3 (Biologie), 7.2.4 (Der körperbewusste Ansatz) und 7.3.7 (Der lebensweltliche Ansatz) neu hinzu. Ergänzt wurde Kapitel 7.2.1 um eine kommentierte Wertetafel. Schließlich wurde das Literaturverzeichnis auf den neuesten Stand gebracht. Für die siebte Auflage wurden die Ausführungen zur Bioethik, zur Medienethik und zum Moralischen Realismus ergänzt sowie das Literaturverzeichnis aktualisiert.
Basel, im März 2017 Annemarie Pieper
Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen drei Fragenbereiche:
Womit hat es die Ethik als philosophische Disziplin zu tun? Was ist ihr Gegenstand?
In welcher Weise beschäftigt sie sich mit diesem Gegenstand? Bildet sie methodische Verfahren aus, die dazu berechtigen, von der Ethik als einer Wissenschaft zu sprechen? Oder steht sie auf einer Stufe mit Weltanschauungen und Ideologien, die keine allgemeine VerbindlichkeitVerbindlichkeit beanspruchen können?
Worum geht es der Ethik letztendlich? Was ist ihr Ziel?
Vorab lassen sich noch ohne nähere Begründung folgende Antworten auf diese Fragen skizzieren:
Die Ethik hat es mit menschlichen HandlungenHandeln/Handlung zu tun. Dennoch ist sie keine Handlungstheorie schlechthin, denn ihr geht es vorrangig um solche Handlungen, die Anspruch auf Moralität erheben, um moralische Handlungen also. Sie fragt nach diesem qualitativen Moment, das eine Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht, und befasst sich in diesem Zusammenhang mit Begriffen wie Moral, das GuteGute, das, PflichtPflicht, SollenSollen, Erlaubnis, Glück u.a.
Die Ethik beschäftigt sich auf methodische Weise mit ihrem Gegenstand – mit moralischen HandlungenHandeln/Handlungenmoralische(s) –, da sie zu argumentativ begründeten Ergebnissen gelangen will und somit weder moralisieren noch ideologisieren oder weltanschauliche Überzeugungen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage verkünden darf. Ihr ist es demnach um Aussagen zu tun, die nicht bloß subjektiv gültig, sondern als intersubjektiv verbindlich ausweisbar sind.
Man unterscheidet in der Ethik grob zwei Kategorien von ethischen MethodenMethodeBegriff der: deskriptive und normative Methode. Die deskriptive Methode ist ein beschreibendes Vorgehen: Es werden die faktischen Handlungs- und Verhaltensweisen in einer bestimmten Gesellschaft oder Gemeinschaft daraufhin untersucht, welche Wertvorstellungen und Geltungsansprüche in ihnen wirksam sind. Diese bilden den in der untersuchten Handlungsgemeinschaft geltenden, d.h. die dort übliche PraxisPraxis ebenso wie die Urteile über diese PraxisPraxis leitenden MoralkodexMoralkodex, dessen Verbindlichkeit von den meisten Mitgliedern dieser Gemeinschaft anerkannt ist. Die normative Methode hingegen ist ein präskriptives, ein vorschreibendes Verfahren. Bei dieser Methode ist die Gefahr der Ideologisierung von einem dogmatischen Standpunkt aus naturgemäß viel größer als beim deskriptiven Verfahren, das lediglich konstatiert, was gilt, ohne sich dazu zu äußern, was gelten soll. Aber bekanntlich kann man auch reines Faktenmaterial durch die Art der Auswahl oder die Form der Zusammenstellung so manipulieren, dass bestimmte Werturteile suggeriert werden. Normative Methoden in der Ethik sind nur als kritische Methoden zulässig, d.h. als Methoden, die keine direkten Handlungsanweisungen geben von der Art ›In der Situation Z musst du y tun‹. Vielmehr hat eine normativ verfahrende Ethik Kriterien zu entwickeln, die eine moralische Beurteilung von Handlungen ermöglichen, ohne sie bereits vorwegzunehmen. Diese Beurteilungskriterien müssen ständig hinterfragbar, überprüfbar – eben kritisierbar sein.
Was das Ziel der EthikEthikZiele der anbelangt, so artikuliert sich ihr Interesse in einer Reihe von Teilzielen:
Aufklärung menschlicher PraxisPraxis hinsichtlich ihrer moralischen Qualität;
Einübung in ethische Argumentationsweisen und Begründungsgänge, durch die ein kritisches, von der Moral bestimmtes Selbstbewusstsein entwickelt werden kann;
Hinführung zu der Einsicht, dass moralisches Handeln nicht etwas Beliebiges, Willkürliches ist, das man nach Gutdünken tun oder lassen kann, sondern Ausdruck einer für das Sein als Mensch unverzichtbaren Qualität: der HumanitätHumanität.
Diese Ziele enthalten sowohl ein kognitives Moment als auch ein nicht mehr allein durch kognitive Prozesse zu vermittelndes Moment: das, was man als VerantwortungsbewusstseinVerantwortung oder moralisches EngagementEngagement bezeichnen kann.
Die Grundvoraussetzung jedoch, auf der jede EthikEthik aufbaut, ja aufbauen muss, ist der ›gute WilleWilleguter‹. Guter Wille meint hier die grundsätzliche Bereitschaft, sich nicht nur auf Argumente einzulassen, sondern das als gut Erkannte auch tatsächlich zum Prinzip des eigenen Handelns zu machen und in jeder Einzelhandlung umzusetzen. Wer von vornherein nicht gewillt ist, seinen eigenen Standpunkt in moralischen Angelegenheiten zu problematisieren
sei es, weil er prinzipiell keine anderen Überzeugungen als die eigenen gelten lässt;
sei es, weil er in Vorurteilen verhaftet ist;
sei es, weil er überzeugter Amoralist oder radikaler Skeptiker ist;
sei es, weil er die Verbindlichkeit von moralischen Normen nur für andere, nicht aber für sich selbst anerkennt,
lässt es aus verschiedenen Gründen an gutem Willen fehlen. Mangelnde Offenheit und Aufgeschlossenheit für das Moralische entziehen jeglicher ethischer Verständigung das Fundament. Ethische Überlegungen hätten hier keinen Sinn mehr, so wie z.B. theologische Überlegungen zwar durchaus intellektuell relevant sein mögen, ohne jedoch an ihr eigentliches Ziel zu gelangen, wenn sie nicht zugleich in irgendeiner Form das religiöse Handeln betreffen. Wie niemand durch TheologieTheologie religiös wird, so wird auch niemand durch Ethik moralisch. Gleichwohl vermag die Ethik durch kritische Infragestellung von Handlungsgewohnheiten zur Klärung des moralischen Selbstverständnisses beizutragen. Der Gegenstand der Ethik ist also: moralisches Handeln und Urteilen. Er geht jeden einzelnen, sofern er Mitglied einer Sozietät ist, deren Kommunikations- und Handlungsgemeinschaft er als verantwortungsbewusstes Individuum auf humane Weise mitzugestalten und zu verbessern verpflichtet ist, wesentlich an. Das Leben in einer Gemeinschaft ist regelgeleitet. Die Notwendigkeit von RegelnRegel bedeutet nicht Zwang oder Reglementierung, vielmehr signalisiert sie eine OrdnungOrdnung und Strukturierung von Praxis um der größtmöglichen FreiheitFreiheit aller willen. Ein regelloses Leben ist nicht menschlich. Selbst Robinson auf seiner Insel folgt gewissen, selbst gesetzten RegelnRegel, während der Wolfsmensch RegelnRegel der NaturNatur und damit tierischen Verhaltensmustern folgt.
Moderne Gesellschaften sind gekennzeichnet durch eine Pluralität von weltanschaulichen Standpunkten, privaten Überzeugungen und religiösen Bekenntnissen; hinzu kommt eine rasch fortschreitende soziokulturelle Entwicklung und damit verbunden eine fortgesetzte Veränderung kultureller, ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Zielvorstellungen. Bei dieser zum Teil in sich heterogenen Mannigfaltigkeit ist ein KonsensKonsens über Angelegenheiten der MoralMoral keineswegs mehr selbstverständlich, ja bleibt aufgrund gegensätzlicher InteressenInteresse und BedürfnisseBedürfnis oft sogar aus. Insofern ist eine Verständigung über die Grundsätze der MoralMoral, deren AnerkennungAnerkennung jedermann rational einsichtig gemacht und daher zugemutet werden kann, ebenso unerlässlich wie eine kritische Hinterfragung von faktisch erhobenen moralischen Geltungsansprüchen hinsichtlich ihrer Legitimität.
Eine solche Verständigung über Geltungsansprüche setzt die Einsicht voraus, dass der KonfliktKonflikt zwischen konkurrierenden Forderungen nicht mit GewaltGewalt ausgetragen werden soll, sondern auf der Basis von Vernunft. Keiner soll seine Wünsche uneingeschränkt durchsetzen, was zum KriegKrieg, H. aller gegen alle führt und zu einer Favorisierung der Prinzipien Macht, GewaltGewalt, Tücke, List. Es gilt vielmehr, das moralische Prinzip der AnerkennungAnerkennung von Rechten der anderen, die durch mein Handeln betroffen sind, zu befolgen.
Die doppelte Aufgabe – Analyse und Kritik von Sollensforderungen, die Anspruch auf Moralität erheben – muss jeder einzelne nach Maßgabe seiner Selbstbestimmung in seiner Praxis ständig erneut bewältigen; sie ist gewissermaßen das moralische Rückgrat seiner Geschichte, seiner Biographie. Von jedem einzelnen als Mitglied einer mündigen, aufgeklärten Gemeinschaft wird ein gewisses Maß an moralischer KompetenzKompetenz, moralische und an Verantwortungsbewusstsein erwartet, darüber hinaus die Fähigkeit, diese beiden grundlegenden Aspekte moralischen EngagementsEngagement im Konfliktfall anderen gegenüber kommunikativ bzw. argumentativ zu vermitteln, d.h. sich zu rechtfertigen und sein moralisches EngagementEngagement als unverzichtbare Basis eines kritischen, emanzipativen, für Freiheit und Humanität eintretenden Selbstverständnisses sichtbar zu machen. Dabei handelt es sich nicht um etwas Außergewöhnliches, sondern um ganz alltägliche, selbstverständliche Dinge, so wenn wir für unser Tun zur Rechenschaft gezogen werden, für etwas ein- oder geradestehen müssen, anderen Vorwürfe wegen ihres Verhaltens machen, sie der Verantwortungslosigkeit bezichtigen usf. Die methodisch-systematische Vermittlung der Einsicht in den Sinn moralischen HandelnsHandeln/Handlungmoralische(s) geschieht durch die Ethik. Die Ethik ist jedoch kein Ersatz für moralisches Handeln, sondern erschließt die kognitive Struktur solchen Handelns. Das heißt, indem sie einerseits durch Beschreibung und Analyse moralischer Verhaltensmuster und Grundeinstellungen, andererseits durch methodische Begründung der Gesolltheit moralischer Praxis kritische Maßstäbe zur Beurteilung von Handlungen überhaupt liefert, löst die Ethik den komplexen Bereich moralischen HandelnsHandeln/Handlungmoralische(s) begrifflich auf und macht dessen Strukturen transparent.
Damit werden demjenigen, der sich aus einem Interesse am HandelnHandeln/Handlung und um des Handelns willen mit Ethik beschäftigt, Argumentationsstrategien an die Hand gegeben, vermittels deren er in der Lage ist, moralische Probleme und Konflikte menschlichen Handelns als solche klar zu erfassen, mögliche Lösungsvorschläge zu entwickeln und auf ihre moralischen Konsequenzen hin zu durchdenken sowie sich nach reiflicher Überlegung selbständig »mit guten Gründen« für eine bestimmte Lösung zu entscheiden.
Letzteres ist das eigentliche Ziel der EthikEthikZiele der: die gut begründete moralische Entscheidung als das einsichtig zu machen, was jeder selbst zu erbringen hat und sich von niemandem abnehmen lassen darf – weder von irgendwelchen Autoritäten noch von angeblich kompetenteren Personen (Eltern, Lehrern, Klerikern u.a.). In Sachen Moral ist niemand von Natur aus kompetenter als andere, sondern allenfalls graduell aufgeklärter und daher besser in der Lage, seinen Standort zu finden und kritisch zu bestimmen. Bei diesem Aufklärungsprozess hat die Ethik eine sehr wichtige Funktion: Sie soll nicht bevormunden, vielmehr Wege weisen, wie der einzelne unter anderen Individuen und in Gemeinschaft mit ihnen er selbst werden bzw. sein kann.
Die Ethik als eine Disziplin der Philosophie versteht sich als Wissenschaft vom moralischen HandelnHandeln/Handlungmoralische(s). Sie untersucht die menschliche Praxis im Hinblick auf die Bedingungen ihrer MoralitätMoralität/Sittlichkeit und versucht, den Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit als sinnvoll auszuweisen. Dabei ist mit Moralität vorerst jene Qualität gemeint, die es erlaubt, eine Handlung als eine moralische, als eine sittlich gute Handlung zu bezeichnen. Heißt dies nun aber, dass Ethik etwas so Elitäres, der Alltagspraxis Enthobenes ist, dass niemand von sich aus, quasi naturwüchsig darauf käme, Ethik zu betreiben? Keineswegs. Ethische Überlegungen sind nicht bloß dem Moralphilosophen oder Ethiker vorbehalten. Vielmehr hat sich jeder in seinem Leben gelegentlich schon mehr oder weniger ausdrücklich ethische Gedanken gemacht, in der Regel jedoch, ohne sie systematisch als eine zusammenhängende Theorie zu entfalten, weil diese Gedanken meist im Zusammenhang mit einer gegebenen Situation, einem bestimmten KonfliktKonflikt sich einstellen, mit dessen Lösung auch das darin steckende ethische Problem erledigt ist. Manchmal ergeben sich Diskussionen allgemeiner Art: Dürfen Politiker sich in Krisensituationen über Moral und Recht hinwegsetzen? Wem nützt es, dass es moralische Normen gibt, wenn keiner sie befolgt? Aber auch in solchen Grundsatzdiskussionen bleiben ethische Fragen oft im Ansatz stecken.
Soviel ist fürs erste deutlich: Ohne moralische Fragen, KonflikteKonflikt, Überzeugungen etc. keine Ethik. Aber wie kommt man zur Moral?
Sobald ein KindKind anfängt, sich seiner Umwelt zu vergewissern, indem es nicht nur rezeptiv wahrnimmt, was um es herum geschieht, sondern zugleich seiner Umgebung seinen Willen aufzuzwingen versucht, macht es die Erfahrung, dass es nicht alles, was es will, auch ungehindert erreicht. Es lernt, dass es Ziele gibt, die unerreichbar sind (z.B. Siebenmeilenstiefel zu haben) oder die zu erreichen nicht wünschenswert ist, weil sie entweder schlimme Folgen haben (z.B. die heiße Kochplatte anzufassen) oder von den Erwachsenen unter Androhung von Strafe verboten werden (z.B. die kleineren Geschwister zu verprügeln). Andere Ziele wiederum (z.B. der Mutter zu helfen) werden durch Lob und Belohnungen ausgezeichnet.
Mit der Zeit lernt das KindKind, zwischen gebotenen (du sollst …), erlaubten (du darfst …) und verbotenen (du sollst nicht …; du darfst nicht …) Zielen zu unterscheiden und diesen Unterschied nicht nur in Bezug auf das, was es selbst unmittelbar will, zu berücksichtigen, sondern auch in seine Beurteilung der Handlungen anderer einzubringen. Es lernt mithin, nicht nur RegelnRegel zu befolgen und nach RegelnRegel zu handeln, sondern auch Handlungen (seine eigenen wie die anderer Menschen) nach RegelnRegel zu beurteilen.
Dieses zentralen Begriffs der RegelRegel bedient sich auch der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean PIAGETPiaget, J., um ›Das moralische Urteil beim Kinde‹ genetisch aufzuklären.
Jede Moral ist ein System von Regeln, und das Wesen jeder Sittlichkeit besteht in der Achtung, welche das Individuum für diese Regeln empfindet. …
Das KindKind empfängt die moralischen Regeln, die es zu beachten lernt, zum größten Teil von den Erwachsenen, d.h. in fertiger Form. (S. 7)
PIAGETPiaget, J. trifft nun eine wichtige Unterscheidung zwischen dem, was er die PraxisPraxis der RegelnRegel einerseits und das Bewusstsein der Regeln andererseits nennt. Das KindKind lernt zunächst die PraxisPraxis der RegelnRegel, indem es den Geboten und Vorschriften, die an es ergehen, gehorcht – so wie es beim Spielen die Spielregeln fraglos befolgt. Die ersten Formen des Pflichtbewusstseins sind demnach gemäß PIAGET im Wesentlichen heteronom (fremdbestimmend, fremdgesetzlich, von griech. heteros – fremd, nomos – Gesetz), weil das KindKind die RegelnRegel als von außen kommende, nicht von ihm selbst gewählte ImperativeImperativ verinnerlicht.
Wir werden als moralischen RealismusRealismus, moralischer die Neigung des Kindes bezeichnen, die Pflichten und die sich auf sie beziehenden Werte als für sich, unabhängig vom Bewusstsein existierend und sich gleichsam obligatorisch aufzwingend, zu betrachten. …
Pflichtmoral ist in ihrer ursprünglichen Form heteronom. Gut sein heißt dem Willen des Erwachsenen gehorchen. Schlecht sein nach seinem eigenen Kopf handeln. (S. 121, 221)
Auf diese Phase frühkindlicher heteronomer Moral folgt nach PIAGETPiaget, J. eine Übergangsphase oder ein Zwischenstadium auf dem Wege zur autonomen Phase der Selbstbestimmung. In dieser Übergangsphase gehorcht das KindKind, wenn es eine Regel befolgt, nicht mehr aus dem Grund, weil die Eltern oder andere Autoritätspersonen es befehlen, sondern weil die RegelRegel es gebietet. Die RegelRegel wird bis zu einem bestimmten Grad verallgemeinert und selbstständig angewendet. Das KindKind gehorcht also jetzt primär der RegelRegel, weil es durch Erfahrung gelernt hat, dass die RegelRegel nicht etwas ist, das nur einseitig dem Machtbereich der Erwachsenen zugehört, sondern Produkt einer gemeinsamen Praxis ist. »Das Gute ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit« (ebd.). Das KindKind betrachtet mithin die RegelRegel nicht mehr als etwas ihm bloß von außen Gegebenes, das mit ihm selbst eigentlich nichts zu tun hat, sondern erkennt sie als für sein Verhalten maßgebliches Orientierungsmuster an.
Auf diese Übergangsphase folgt dann die eigentliche Moral, die mit einem Bewusstsein der RegelnRegel verbunden ist. Dies ist die Stufe der autonomen Moral, auf der das KindKind RegelnRegel kritisch auf ihre Moralität hin zu überprüfen imstande ist.
Damit ein Verhalten als moralisch bezeichnet werden kann, bedarf es mehr als einer äußeren Übereinstimmung seines Inhalts mit dem der allgemein anerkannten Regeln: es gehört auch noch dazu, dass das Bewusstsein nach der Moralität als nach einem autonomen Gut strebt und selbst imstande ist, den Wert der Regeln, die man ihm vorschlägt, zu beurteilen. […]
So folgt eine neue Moral auf die der reinen Pflicht. Die Heteronomie weicht einem Bewusstsein des Guten, dessen AutonomieAutonomie sich aus der Annahme der Normen der Gegenseitigkeit ergibt. (S. 458, 460)
PIAGETPiaget, J. verdeutlicht seine These sehr instruktiv an der GerechtigkeitsvorstellungGerechtigkeit beim KindKind, die anhebt mit einem Verhalten, das auf Vergeltung für angetanes oder vermeintliches Unrecht aus ist, wobei Vergeltung verbunden ist mit dem Wunsch nach Rache und Bestrafung. In der Übergangsphase wird auch noch an der Vorstellung vergeltender GerechtigkeitGerechtigkeit festgehalten, aber ohne den Rache- und Sühnewunsch. Die Vergeltung soll in einer einfachen Wiedergutmachung bestehen. Von dort ist es dann nicht mehr allzu weit bis zur verzeihenden GerechtigkeitGerechtigkeit, die mit Großmut und Nächstenliebe einhergeht.
Was PIAGETPiaget, J. als Psychologe entwicklungsgeschichtlich (genetisch) entfaltet – und zwar auf der Basis von Beobachtungen und BefragungenMethodeBegriff der von KindernKind verschiedener Altersstufen –, bietet reichhaltiges Material für die philosophische Ethik, die, um den Begriff der MoralMoral zureichend reflektieren zu können, erst einmal etwas über den Ursprung der Moral in Erfahrung bringen muss, um den Sinn der Moral bestimmen zu können. Der Mensch lernt also von früh an, dass es in einer Gemeinschaft von Menschen nicht regellos zugeht, sondern dass es RegelnRegel in Form von Geboten, Verboten, Normen, Vorschriften etc. gibt. Die eigentlich moralischeMoral Einsicht besteht jedoch darin, dass solche Regeln nicht als ein von außen auferlegter Zwang aufgefasst werden, sondern als Garanten der größtmöglichen FreiheitFreiheit aller Mitglieder der Handlungsgemeinschaft. Nur eine RegelRegel, die dies gewährleistet, ist eine moralische Regel.
Hand in Hand mit der Erfahrung, dass der Mensch seine Umwelt nicht in jeder Hinsicht so hinnehmen muss, wie sie ist, sondern mit seinem WillenWille in sie eingreifen und sie handelnd verändern kann, geht die Einsicht, dass seinem Wollen und Handeln – und damit seiner FreiheitFreiheit – Grenzen gesetzt sind. Niemand ist in dem Sinne frei, dass er beliebig, d.h. völlig willkürlich tun und lassen kann, was ihm gefällt. Jeder muss vielmehr sein Wollen und Handeln bis zu einem gewissen Grad einschränken, und zwar einmal im Hinblick auf Ziele, deren Realisierung ihm nicht möglich ist (z.B. ist für einen Querschnittsgelähmten das Gehenwollen ein zwar verständliches, aber letztlich unerreichbares Ziel, das zu verfolgen sinnlos wäre). Hierzu bemerkt bereits EPIKTETEpiktet zu Beginn des 1. Kapitels seines »Handbüchleins der Ethik« (um 100 n. Chr.):
Von den vorhandenen Dingen sind die einen in unserer Gewalt, die anderen nicht. In unserer Gewalt sind Meinung, Trieb, Begierde und Abneigung, kurz: alles, was unser eigenes Werk ist. Nicht in unserer Gewalt sind Leib, Besitztum, Ansehen und Stellung, kurz: alles, was nicht unser eigenes Werk ist. Was in unserer Macht steht, das ist von Natur frei und kann nicht verhindert oder verwehrt werden; was aber nicht in unserer Macht steht, das ist schwach, unfrei, behindert und fremdartig.
Was der Verfügbarkeit des Menschen prinzipiell entzogen ist, kann somit sinnvollerweise nicht Gegenstand seines WollensWollen und Handelns sein, da hier durch FreiheitFreiheit nichts veränderbar ist, d.h. die FreiheitFreiheit hat eine natürliche Grenze an der Unaufhebbarkeit einer nicht durch sie hervorgebrachten Faktizität. Zum anderen hat sie eine normative Grenze im Hinblick auf Ziele, durch die das WollenWollen und Handeln anderer Menschen in unzulässiger Weise beeinträchtigt würde (z.B. durch krassen Egoismus in Form von Unterdrückung schwächer Gestellter bis hin zu Verbrechen an Leib und Leben). Hier handelt es sich um Ziele, die ein Mensch mit Hilfe seiner natürlichen Kräfte durchaus verfolgen kann, die er aber nicht verfolgen soll. Der FreiheitFreiheit ist hier nicht eine Grenze an der Faktizität gesetzt, sondern an der FreiheitFreiheit anderer Menschen.
Diese Grunderfahrung, dass menschliche WillensWille- und Handlungsfreiheit nicht unbegrenzt sind, sondern an den berechtigten Ansprüchen der Mitmenschen ihr Maß haben, ist die Basis, auf der moralisches Verhalten entsteht. Solange jemand sein naturwüchsiges WollenWollen nur deshalb einschränkt, weil es ihm befohlen wurde oder weil es bequemer ist oder weil ihm Belohnungen versprochen wurden, so lange handelt er noch nicht moralisch im eigentlichen Sinn. Er tut zwar, was er soll, aber er tut es nicht aus eigener Überzeugung, aus der Einsicht heraus, dass es vernünftig und gut ist, so zu handeln, sondern weil er dazu »abgerichtet« wurde, das, was andere für gut und vernünftig halten, kritiklos zu übernehmen. Er urteilt nicht selbständig, sondern die Urteile anderer haben sich in ihm zum Vorurteil verfestigt. Immanuel KANTKant, I. nennt diese Haltung eine »selbstverschuldete Unmündigkeit«:
AufklärungAufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der AufklärungAufklärung953