DIE WELT IM JAHR
2035
GESEHEN VON DER
CIA
UND DEM NATIONAL
INTELLIGENCE COUNCIL
DAS PARADOX DES FORTSCHRITTS
Aus dem Englischen
von Christoph Bausum,
Enrico Heinemann
und Karin Schuler
C.H.Beck
Worüber die Medien erst in 20 Jahren berichten werden
Die Reichen altern, die Mittelschichten erodieren, die Bürger reagieren immer gereizter auf die zunehmende Ungleichheit und fragen sich, was sie von ihren Regierungen überhaupt noch erwarten können, religiöse Ideologien und der Populismus setzen ihren Vormarsch fort, die Konflikte, auch solche zwischen Staaten, werden diffuser und disruptiver, Terrorismus und Cyberattacken lassen die um sich greifende Nervosität zusätzlich anwachsen, das Regieren wird immer schwieriger.
So sieht die Welt der nächsten 20 Jahre aus, sagt dieser einzigartige Zukunftsreport, den die CIA und der US-amerikanische National Intelligence Council (NIC) erstellt haben. Über 250 unabhängige Spezialisten weltweit, darunter Ökonomen, Strategen und Geheimdienstler, haben daran mitgewirkt. Er gehört in die Hand jedes Bürgers und nicht nur auf den Schreibtisch des amerikanischen Präsidenten, für den er eigentlich gedacht ist.
Der National Intelligence Council (NIC) ist der Thinktank der amerikanischen Geheimdienste für mittel- und langfristiges strategisches Denken. Sein erklärtes Ziel ist es, die Politiker bestmöglich über das gegenwärtige und zukünftige Weltgeschehen zu informieren: ungeschminkt, unparteiisch und ohne Rücksicht darauf, ob die Analysen und Urteile mit der jeweiligen US-Politik übereinstimmen.
Vorwort
Brief des Vorsitzenden des National Intelligence Council
TEIL 1
Die Zukunft auf den Punkt bringen
Die Karte der Zukunft
Globale Trends bis 2035
Die Reichen werden älter, die Armen nicht
Die Weltwirtschaft verschiebt sich
Technologie erschwert die langfristigen Perspektiven
Innovation beschleunigt den Fortschritt, führt aber auch zu Brüchen
Ausgrenzung durch Ideen und Identitäten
Regieren wird immer schwieriger
Das Wesen von Konflikten verändert sich
Der Klimawandel droht
Konvergierende Trends verändern Macht und Politik
Die nahe Zukunft
Zunehmende Spannungen
Wachsende Bedrohung durch Terrorismus
Die Weltordnung steht auf dem Spiel
Drei Szenarien für die fernere Zukunft
Inseln
Orbits
Communities
Was wir aus den Szenarien lernen können: Chancen durch Resilienz
Methodologische Anmerkungen
Glossar
Dank
TEIL 2
Einleitung
Die nächsten fünf Jahre nach Regionen
Ost- und Südostasien
Nachdenken über eine Neuausrichtung Chinas
Südasien
Der Nahe Osten und Nordafrika
Afrika jenseits der Sahara
Russland und Eurasien
Europa
Nordamerika
Südamerika
Arktis und Antarktis
Der Weltraum
Wichtige globale Trends
Die Menschen …
Problemfelder
Das zunehmende Geschlechterungleichgewicht
Wie die Menschen leben …
Wichtigste Trends
Wichtige Weichenstellungen
Wie sie kreativ und innovativ wirken …
Wichtigste Trends
Wichtige Weichenstellungen
Wie sie prosperieren …
Volkswirtschaften weltweit unter Stress
Wichtigste Trends
Die Herausforderung der Finanzanpassung
Die Auswirkungen von Technologie auf Beschäftigung: Ängste statt positiver Erfahrungen
Wichtige Weichenstellungen
Wie sie denken …
Wichtigste Trends
Wichtige Weichenstellungen
Wie sie regieren …
Wichtigste Trends
Wichtige Weichenstellungen
Internationale Institutionen: Wichtigste Trends
Aspekte des internationalen Systems gewinnen an Bedeutung, weil Staaten Belastungen spüren und Regierungen Schwierigkeiten haben werden, Umweltveränderungen, Strukturwandel und internationale Konflikte zu bewältigen.
Zum Multilateralismus zeichnet sich keine Alternative ab
Schwierigere Probleme in Sicht
Eine Welt «à la carte»
Wichtige Weichenstellungen
Wie sie kämpfen …
Wichtigste Trends
Wichtige Weichenstellungen
Der Charakter von Kriegsführung verändert sich
Terrorismus
Fußnoten
Es ist unverzichtbar, über die Zukunft nachzudenken, auch wenn es alles andere als leicht ist. Ständig kommen Krisen dazwischen, die es praktisch unmöglich machen, über die täglichen Schlagzeilen hinauszuschauen und den Blick auf das zu richten, was hinter dem Horizont liegt. Unter diesen Umständen wird das Wissen, dass man «über den Tellerrand hinausschauen» muss, um dieses Klischee einmal zu gebrauchen, allzu oft von der Notwendigkeit überrollt, mit dem eigenen Posteingang Schritt zu halten. Aus diesem Grund veröffentlicht das National Intelligence Council (NIC) alle vier Jahre eine große Studie über die Kräfte und die Entscheidungen, die unsere Welt über die nächsten 20 Jahre bestimmen werden.
Der vorliegende Band, der sechste dieser Reihe, mag aussehen wie ein Bericht, doch er ist zuallererst eine Einladung, zu diskutieren, zu debattieren und zu hinterfragen, welche Entwicklung die Zukunft nehmen könnte. Was wir ganz sicher nicht wollen, ist suggerieren, dass wir die definitive «Antwort» haben.
Langfristiges Denken ist unabdingbar, wenn man eine Strategie formulieren will, und zwingt uns, grundlegende Annahmen, Erwartungen und Unsicherheiten hinsichtlich der Zukunft zu hinterfragen. In einer ausgesprochen chaotischen und vernetzten Welt ist eine langfristige Perspektive nur möglich, wenn wir uns unangenehme Fragen darüber stellen, welche Probleme und Entscheidungen die gravierendsten Auswirkungen auf die kommenden Jahrzehnte haben werden – auch wenn diese Fragen nicht für die größten Schlagzeilen sorgen werden. Eine längerfristige Perspektive ist auch deswegen nötig, weil Probleme wie der Terrorismus, Cyberattacken, Biotechnologie und Klimawandel gravierende Auswirkungen haben können, hohe Einsätze mit sich bringen und dauerhafte Kooperation erfordern, wenn man sich ihnen widmen will.
Der Blick in die Zukunft kann erschreckend sein, und er ist zweifellos geeignet, einen demütig zu machen. Ereignisse entfalten sich auf eine komplexe Art und Weise, für die unser Gehirn nicht von Natur aus gemacht ist. Ökonomische, politische, soziale, technologische und kulturelle Kräfte kollidieren auf schwindelerregende Weise, weshalb es geschehen kann, dass wir aktuelle dramatische Ereignisse und die wirklich wichtigen Dinge nicht mehr auseinanderhalten können. Die Versuchung ist groß, anzunehmen, dass Menschen «rational» handeln (und in der Regel tun sie das auch), doch Anführer, Gruppen, Mobs und Massen können unter vergleichbaren Umständen auch ganz anders und unerwartet reagieren. Wir wussten beispielsweise seit Jahrzehnten, wie fragil die meisten Staaten im Nahen Osten waren, doch im Arabischen Frühling von 2011 explodierten einige von ihnen und andere taten es nicht. Die Erfahrung lehrt uns, dass sich Geschichte oft in Zyklen und Schüben entfaltet, und dennoch erwartet die menschliche Natur, dass es morgen so sein wird wie heute. Und in aller Regel ist das ja tatsächlich die Zukunftsprognose mit der höchsten Trefferwahrscheinlichkeit – bis zu dem Moment, an dem sie nicht mehr eintrifft. Ich muss immer daran denken, dass zwischen Ronald Reagans Rede, in der er die Sowjetunion als das «Reich des Bösen» bezeichnete, und dem Niedergang dieses Reiches nicht einmal ein Jahrzehnt verging, eine relativ kurze Zeitspanne, selbst in einem Menschenleben.
Das Erfassen der Zukunft wird auch erschwert durch die Annahmen, die wir in unseren Köpfen mit uns herumschleppen, oft ohne uns dessen bewusst zu sein. Vor nicht allzu langer Zeit wurde ich auf die «Wohlstandsvermutung» aufmerksam, die im Denken der meisten Amerikaner tief verwurzelt ist, aber kaum je als solche erkannt wird. Wir gehen davon aus, dass mit Wohlstand alle möglichen guten Dinge einhergehen – wohlhabende Menschen sind glücklicher, demokratischer und weniger geneigt, mit anderen Krieg zu führen. Doch dann stehen wir plötzlich einer Gruppe wie dem IS gegenüber, dem diese Annahmen völlig fremd sind.
Angesichts dieser Herausforderungen, mit denen das Nachdenken über die Zukunft einhergeht, haben wir uns für einen breiten Ansatz entschieden und versucht, uns an die analytischen Grundlagen zu halten, anstatt uns irgendeiner bestimmten Weltsicht zu verschreiben. Wir begannen vor zwei Jahren mit dem Identifizieren von zentralen Annahmen und Unsicherheiten. Die Liste der Annahmen, die der US-Außenpolitik zugrunde liegen, war atemberaubend lang, viele davon halb verborgen. Wir stellten Recherchen an und zogen zahlreiche Experten aus den Reihen der US-Regierung und von außerhalb zurate, um Trends zu identifizieren und zu überprüfen. Frühe Themen und Thesen wurden in einem Blog getestet. Wir besuchten mehr als 35 Staaten, wir holten uns bei mehr als 2500 Menschen überall auf der Welt und aus allen möglichen sozialen Schichten Ideen und Feedback. Wir entwickelten eine Vielzahl von Szenarien, um uns vorzustellen, wie zentrale Unsicherheitsfaktoren in alternativen Zukunftsversionen resultieren könnten. Schließlich sammelte und verfeinerte das NIC die unterschiedlichen Informationsströme zu dem Ergebnis, das Sie in Händen halten.
Im Zentrum steht die Schlüsselfrage, wie die sich wandelnde Natur der Macht den Stress sowohl innerhalb von Staaten als auch zwischen verschiedenen Ländern erhöht und wie sich das auf schwierige transnationale Probleme auswirkt. Der Hauptteil stellt die wichtigsten Trends dar, geht ihren Implikationen auf den Grund und stellt drei Szenarien vor, die den Lesern helfen, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie verschiedene Entscheidungen und Entwicklungen sich im Verlauf der kommenden Jahrzehnte in sehr unterschiedlicher Weise manifestieren könnten. Zwei Anhänge steigen tiefer in die Details ein. Der erste liefert Fünf-Jahres-Prognosen für alle Regionen der Welt. Der zweite bietet mehr Kontext über die wichtigsten ablaufenden globalen Trends.
Die Tatsache, dass das National Intelligence Council regelmäßig eine Einschätzung der Weltlage veröffentlicht, die nicht als geheim eingestuft ist, überrascht viele Menschen, doch unsere Absicht liegt darin, offene und fundierte Diskussionen über Risiken und Chancen der Zukunft anzustoßen. Im Übrigen ist dieser Bericht auch deshalb nicht geheim, weil die Geheimhaltungsstufen, die so viel von unserem Arbeitsalltag bestimmen, keine große Hilfe darstellen, wenn es darum geht, weiter als ein oder zwei Jahre in die Zukunft zu blicken. Als sehr hilfreich hat es sich dagegen erwiesen, wenn man sich nicht nur an Experten und Regierungsbeamte wendet, sondern auch die Meinung von Studenten, Frauengruppen, Unternehmern, Transparenzaktivisten und anderen einholt.
Viele Köpfe und Hände haben bei der Verwirklichung dieses Projekts mitgewirkt. Die Schwerarbeit oblag der Strategic Futures Group des NIC – der Leiterin Dr. Suzanne Fry mit ihrem kompetenten Team Rich Engel, Phyllis Berry, Heather Brown, Kennet Dyer, Daniel Flynn, Geanetta Ford, Steve Grube, Terrence Markin, Nicholas Muto, Robert Odell, Rod Schoonover, Thomas Stork sowie Dutzenden von Deputy National Intelligence Officers. Nicht vergessen werden darf die sorgfältige und behutsame Durchsicht durch die Redakteure des NIC und die Arbeit des hochprofessionellen Teams von Grafik- und Webdesignern sowie Herstellern der CIA.
Dieser Bericht fasst zusammen, wie das NIC über die Zukunft denkt. Es repräsentiert weder die offiziell abgestimmte Sichtweise der amerikanischen Nachrichtendienste noch die Politik der USA. Für uns beinhaltet die «langfristige» Sicht die nächsten Jahrzehnte, doch wir haben in dieser Ausgabe auch Raum gelassen für einen gesonderten Blick auf die nächsten fünf Jahre als einen Zeithorizont, der für eine neue US-Regierung von besonderer Relevanz ist. Egal wie pessimistisch oder optimistisch Sie den vor uns liegenden Jahren entgegensehen – wir sind davon überzeugt, dass das Ausloten der zentralen Themen und Entscheidungen, denen sich die Welt in den kommenden Jahren stellen muss, ein nötiges und lohnendes Unterfangen darstellt.
Gregory Treverton,
Vorsitzender des National Intelligence Council
Wir leben ein Paradox: Die Errungenschaften des Industrie- und Informationszeitalters formen eine Welt der Zukunft, in der mehr Gefahren, gleichzeitig aber auch mehr Chancen auf uns warten als je zuvor. Ob die Verheißungen oder die Risiken die Oberhand behalten, hängt von den Entscheidungen ab, die die Menschheit fällt.
Der Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte hat historische Ausmaße – er hat Menschen verbunden, Individuen, Gruppen und Staaten mehr Macht gegeben und dabei noch eine Milliarde Menschen aus der Armut geführt. Doch der gleiche Fortschritt brachte auch Erschütterungen wie den Arabischen Frühling, die globale Finanzkrise von 2008 und den weltweiten Aufstieg einer populistischen Anti-Establishment-Politik hervor. Diese Erschütterungen machen deutlich, wie zerbrechlich die Errungenschaften sind, sie werfen ein Schlaglicht auf tiefgreifende Verschiebungen in der globalen Landschaft, die eine dunkle und schwierige nahe Zukunft erwarten lassen.
Die nächsten fünf Jahre werden vielen Ländern zunehmende innen- und außenpolitische Spannungen bringen. Das globale Wachstum wird sich verlangsamen, gleichzeitig stehen zunehmend komplexe globale Herausforderungen bevor. Eine stetig größer werdende Gruppe von Staaten, Organisationen und Individuen wird Weltpolitik gestalten. Was immer die Folgen sein mögen – die neue globale Landschaft kündigt das Ende der Ära amerikanischer Dominanz in Nachkriegszeit und Kaltem Krieg an. Das Gleiche könnte auch für die regelbasierte Weltordnung gelten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildete. Es wird sehr viel schwerer werden, auf internationaler Ebene so zu kooperieren und zu regieren, wie die Bürger es erwarten. Vetomächte werden bei jeder Gelegenheit drohen, die Zusammenarbeit zu blockieren, während gleichzeitig Informations-«Hallräume» zahllose einander widersprechende Versionen der Realität verstärken und so ein gemeinsames Verständnis von Weltereignissen verhindern werden.
Hinter dieser Kooperationskrise stehen lokale, nationale und internationale Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Rolle der Staat in einer ganzen Reihe von Fragen spielen sollte – von der Wirtschaft über Umwelt, Religion, Sicherheit bis hin zu den Individualrechten. Diskussionen über moralische Grenzen – wem steht was zu – werden heftiger werden, gleichzeitig wird das Auseinanderdriften von Werten und Interessen zwischen den Staaten die internationale Sicherheit bedrohen.
Die Versuchung wird groß sein, diesem scheinbaren Chaos eine Ordnung aufzuzwingen, doch das wäre kurzfristig zu teuer und langfristig zum Scheitern verurteilt. Eine immer größer werdende Zahl von Akteuren mit immer mehr Macht in einer Vielzahl von Gebieten zu beherrschen würde gigantische Ressourcen erfordern – und das in Zeiten langsamen Wachstums, fiskalischer Grenzen und drückender Schulden. Der Versuch, eine solche Dominanz im eigenen Land auszuüben, würde das Ende der Demokratie bedeuten. Das Resultat wäre ein autoritäres System oder Instabilität oder beides. Materielle Stärke wird auch weiterhin essentiell sein für geopolitische und staatliche Macht, doch die mächtigsten Akteure der Zukunft werden auf Netzwerke, Beziehungen und Information zurückgreifen, um miteinander zu konkurrieren und kooperieren. Das ist die Lektion der Großmachtpolitik des 20. Jahrhunderts, auch wenn die damaligen Mächte sie immer wieder neu lernen mussten.
Die Stellvertreterkriege von USA und Sowjetunion, besonders in Vietnam und Afghanistan, waren ein Vorbote der Konflikte im Gefolge des Kalten Krieges und der heutigen Kämpfe im Nahen Osten, in Afrika und in Südasien; Kämpfe, in denen unterlegene Gegner sich erfolgreich asymmetrischer Strategien, Ideologie und sozialer Spannungen bedienen, um nicht besiegt zu werden. Die Bedrohung durch Terrorismus wird in den kommenden Dekaden zunehmen, weil immer mehr kleine Gruppen und Individuen neue Technologien, Ideen und Beziehungen zu ihrem Vorteil nutzen.
Trotz alledem bleiben Staaten absolut relevant. China und Russland werden entschlossener auftreten; regionale Aggressoren und nichtstaatliche Akteure werden Chancen sehen, ihre Interessen voranzutreiben. Unsicherheit über die Rolle der USA, ein mit sich selbst beschäftigter Westen und die Erosion der Normen von Konfliktprävention und Menschenrechten werden China und Russland ermutigen, dem Einfluss der USA etwas entgegenzusetzen. Dabei werden ihre Aggression und diverse Formen von Störmanövern innerhalb der Grauzone unterhalb der Schwelle eines heißen Krieges bleiben – doch mit hohem Risiko von Fehleinschätzungen einhergehen. Ein übertriebenes Vertrauen darauf, dass materielle Stärke Eskalation beherrschbar macht, wird das Risiko zwischenstaatlicher Konflikte in Dimensionen steigen lassen, die wir seit dem Kalten Krieg nicht mehr gesehen haben. Und selbst wenn ein heißer Krieg ausbleibt, verschleiert das gegenwärtige Credo der «internationalen Kooperation, wo wir sie bekommen können» – so etwa beim Klimawandel –, die signifikanten Differenzen bei den Werten und Interessen der Staaten, und es trägt nicht dazu bei, Machtdemonstrationen innerhalb von Regionen zu unterbinden. Das Resultat dieser Trends ist eine Welt der Einflusssphären.
Für viele Länder sieht das Bild auch zu Hause nicht viel besser aus. Zwar haben Jahrzehnte globaler Integration und technischen Fortschritts die Reichsten reicher gemacht und eine Milliarde Menschen, vor allem in Asien, aus der Armut geführt, doch gleichzeitig wurde der Mittelschicht im Westen der Boden entzogen und eine Gegenbewegung gegen die Globalisierung in Gang gesetzt. Die heutigen Migrantenströme sind größer als irgendwann sonst in den letzten 70 Jahren und sie beschwören das Schreckgespenst leerer Sozialkassen und eines Konkurrenzkampfs um Arbeitsplätze herauf. Sie verstärken nativistische und elitenfeindliche Tendenzen. Langsames Wachstum plus technologische Disruptionen in den Arbeitsmärkten gefährden die Armutsbekämpfung und führen zu gesellschaftlichen Spannungen – was eben jenen Nationalismus befeuert, der zu den Spannungen zwischen den Ländern beiträgt.
Doch diese trostlose Version unserer näheren Zukunft ist durchaus nicht in Stein gemeißelt. Ob die nächsten fünf oder 20 Jahre erfreulicher – oder unerfreulicher – ausfallen werden, wird von drei Entscheidungen abhängen: Wie werden Individuen, Gruppen und Regierungen ihre Erwartungen aneinander neu verhandeln, um in einer Zeit der mit größerer Machtfülle ausgestatteten Individuen und sich rasant wandelnder Wirtschaft die politische Ordnung zu gestalten? In welchem Maß werden Großmächte, aber auch Individuen und Gruppierungen neue Strukturen oder Architekturen für internationale Kooperation und Wettbewerb schaffen? In welchem Maß bereiten sich Regierungen, Gruppen und Individuen auf komplexe globale Fragen wie Klimawandel und transformative Technologien vor?
Drei Geschichten bzw. Szenarien – «Inseln», «Orbits» und «Communities» – versuchen zu beschreiben, wie Trends und wichtige Entscheidungen ineinandergreifen und so jeweils unterschiedliche Pfade in die Zukunft bahnen können. Diese Szenarien beleuchten jeweils unterschiedliche Antworten auf kurzfristige Volatilität – auf nationaler (Inseln), regionaler (Orbits) sowie innerstaatlicher und transnationaler Ebene (Communities).
•Inseln geht von einer Restrukturierung der Weltwirtschaft aus, die zu längeren Perioden von langsamem oder Nullwachstum führt – eine Herausforderung sowohl für die traditionellen Modelle ökonomischen Wohlstands als auch für die Annahme, dass die Globalisierung immer weiter zunehmen wird. Dieses Szenario arbeitet heraus, wie schwierig es für Regierungen unter diesen Voraussetzungen werden wird, das Verlangen ihrer Bürger nach wirtschaftlicher und politischer Sicherheit zu erfüllen, wenn gleichzeitig die Gegenbewegung zur Globalisierung zunimmt, neue Technologien Arbeit und Handel revolutionieren und die politische Instabilität wächst. Es beleuchtet die Entscheidungen, die Regierungen fällen müssen – unter Bedingungen, die bei einigen die Versuchung wecken könnten, den Blick lieber nach innen zu richten, ihre Unterstützung für multilaterale Kooperationen zu reduzieren und eine protektionistische Politik zu favorisieren. Andere dagegen werden neue Quellen für Wirtschaftswachstum und Produktivität finden und Möglichkeiten erkennen, diese für sich nutzbar zu machen.
•Das Orbits-Szenario wirft einen Blick auf eine Zukunft voller Spannungen, in der die großen Mächte in Konkurrenz zueinander stehen und sich ihre je eigenen Einflusssphären suchen und gleichzeitig darum ringen, die innenpolitische Lage zu Hause zu stabilisieren. Wie können Trends wie Zunahme von Nationalismus, Wandel der Konfliktmuster, technologische Quantensprünge und ein Rückgang globaler Kooperation im Zusammenspiel das Risiko interstaatlicher Konflikte erhöhen? Dieses Szenario betont die politischen Entscheidungsmöglichkeiten, vor denen die Regierungen stehen, in ihrem Bemühen, Stabilität und Frieden zu festigen oder Spannungen weiter zu verschärfen. Das Szenario beinhaltet eine im Affekt abgeschossene Nuklearwaffe, die den Effekt hat, das globale Denken darauf zu fokussieren, dass so etwas sich nicht wiederholt.
•Communities zeigt, wie steigende Erwartungen der Bürger bei gleichzeitigem Schwinden der Spielräume des Staates Räume öffnen, in denen lokale Regierungen und private Akteure unsere hergebrachten Vorstellungen darüber infrage stellen können, was es bedeutet zu regieren. Informationstechnologie bleibt in dieser Hinsicht das wichtigste Werkzeug – und Unternehmen, Lobbygruppen, gemeinnützige Organisationen und Lokalregierungen erweisen sich in vielen Fällen als flinker und beweglicher als der Staat, wenn es darum geht, Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, die die Bevölkerung überzeugen, ihre Agenden zu unterstützen. Die meisten nationalen Regierungen wehren sich dagegen, doch andere geben ein Stück ihrer Macht an diese neu entstehenden Netzwerke ab. Ob im Nahen Osten oder in Russland, Kontrolle wird schwieriger.
Das ist das Paradox des Fortschritts – die gleichen Trends, die kurzfristige Risiken generieren, können langfristig eine Chancen für bessere Resultate schaffen. Wenn die Welt Glück genug hat, diese Chancen zu ergreifen, würde die Zukunft rosiger aussehen, als unsere drei Szenarien erwarten lassen. Das Entstehen der globalen Landschaft der Zukunft ist voller Überraschungen und Brüche; Staaten und Organisationen mit einer gewissen Resilienz werden am besten in der Lage sein, von diesen zu profitieren, weil sie sich auch im Angesicht unerwarteter Widrigkeiten an veränderte Bedingungen anpassen und Maßnahmen für eine rasche Erholung ergreifen können. Diese Staaten werden in Infrastruktur, Wissen und in Beziehungen investieren, die es ihnen ermöglichen, mit Erschütterungen umzugehen – gleich, ob sie Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft oder Internet betreffen.
In gleicher Weise haben Gesellschaften mit der größten Resilienz die besten Chancen, das volle Potenzial aller ihrer Mitglieder freizusetzen und zu nutzen – seien es Frauen, Angehörige von Minderheiten oder jene, denen die jüngsten Entwicklungen in Technologie und Wirtschaft am härtesten zusetzen. Diese Menschen werden mit der historischen Strömung schwimmen und nicht gegen sie; sie werden die immer größer werdende Bandbreite menschlicher Fähigkeiten zum Gestalten der Zukunft nutzen. In allen Gesellschaften wird es immer Menschen geben, die, selbst unter trostlosen Umständen, bewusst dafür arbeiten, Wohlergehen, Glück und Sicherheit anderer zu verbessern – und die sich neuer Technologien bedienen, um dies im großen Maßstab zu tun. Doch auch das Gegenteil wird der Fall sein – destruktive Kräfte werden über mehr Möglichkeiten verfügen als je zuvor. Die zentrale Herausforderung für jeden Staat und jede Gesellschaft besteht darin, individuelle, kollektive und nationale Talente auf eine Weise zusammenzubringen, die nachhaltige Sicherheit, Wohlstand und Hoffnung entstehen lässt.
Unsere Geschichte der Zukunft beginnt und endet mit einem Paradox: Die gleichen globalen Trends, die – trotz aller Fortschritte der letzten Jahrzehnte – eine düstere und schwierige unmittelbare Zukunft erwarten lassen, enthalten auch die Chance, Entscheidungen zu treffen, die eine Zukunft der Hoffnung und der Sicherheit mit sich bringen würde. Auf den folgenden Seiten arbeiten wir mit mehreren Zeithorizonten, um die Zukunft aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, das Risiko plötzlicher Brüche und langsam sich ausbreitende Verschiebungen zu beleuchten und Entscheidungspunkte zu markieren.
Wir beginnen mit einer Erkundung der «zentralen Trends», die die globale Landschaft verändern und ein Schlaglicht auf das heutige Paradox werfen. Wir diskutieren auch, wie diese Trends «die Natur von Macht, politischer Führung und Kooperation verändern», um zu verstehen, wie und warum die globale Dynamik in den letzten Jahren zunehmend schwieriger wurde.
Sofern nicht ganz andere persönliche, politische oder unternehmerische Entscheidungen zum Tragen kommen, wird die gegenwärtige Entwicklungsrichtung von Trends und Machtdynamik in eine «nahe Zukunft stärkerer Spannungen» münden.
Danach wechseln wir die Perspektive und schauen uns an, wie sich die Entwicklungsrichtung dieser Trends über einen Zeithorizont von 20 Jahren entfalten könnte. Dafür haben wir «drei Szenarien für die weitere Zukunft: Inseln, Orbits und Communities» erarbeitet. Jedes Szenario identifiziert Entscheidungspunkte, die in eine eher positive oder eher negative Version der Zukunft führen könnten, und arbeitet heraus, was die Konsequenzen für die Planungsannahmen der Außenpolitik sind.
Zum Schluss diskutieren wir die Lektionen, die diese Szenarien im Hinblick auf potenzielle Chancen und Kompromisse liefern, mit denen sich die Zukunft aktiv gestalten lässt, statt nur auf sie zu reagieren.
Im Verlauf unseres Berichts haben wir immer wieder fiktive Zeitungsmeldungen aus der Zukunft eingestreut, um auf verschiedene Arten von historischen Brüchen hinzuweisen, die durch das Zusammenwirken von wichtigen Trends jederzeit auftreten könnten.