Die erste Buchausgabe des russischen Romans «Priglashenije na kasn», geschrieben 1934 in Berlin, erschien 1938 im Verlag Dom Knigi, Paris. Seine englische Übersetzung durch Dmitri und Vladimir Nabokov erschien unter dem Titel «Invitation to a Beheading» 1959 bei G.P. Putnam’s Sons, New York.
Die erste deutsche Ausgabe erschien 1970 im Rowohlt Verlag, Reinbek. Sie wurde durchgesehen und annotiert 1990 als Band 4 der Gesammelten Werke nachgedruckt.
Der Text folgt: Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke, Band 4, herausgegeben von Dieter E. Zimmer.
Überarbeitete Ausgabe August 2017
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2017
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«Invitation to a Beheading» Copyright © 1959 by Vladimir Nabokov
Von Vladimir Nabokov autorisierte Übersetzung aus dem Englischen, veröffentlicht im Einverständnis mit The Estate of Vladimir Nabokov
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ISBN Printausgabe 978-3-499-22549-9 (überarbeitete Ausgabe 2017)
ISBN E-Book 978-3-644-00070-4
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Frz. Comme un fou …: Wie ein Wahnsinniger sich für Gott hält, halten wir uns für sterblich. Das Zitat und sein Autor sind erfunden. Nabokov im 1959 geschriebenen Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe: «Ein Autor indessen ist in diesem Zusammenhang nie erwähnt worden – der einzige, der zu der Zeit, als ich dieses Buch schrieb, Einfluss auf mich ausübte, wie ich dankbar anerkennen muss; nämlich der melancholische, extravagante, weise, witzige, magierhafte und ganz und gar einnehmende Pierre Delalande, der meine Erfindung ist … Mein Lieblingsautor (1768–1849)… der Autor des Discours sur les ombres.» Der im englischen Vorwort mehrfach erwähnte und zitierte Pierre Delalande, aus dessen Discours sur les ombres das Motto des Romans stammt, ist tatsächlich Nabokovs Erfindung. Er taucht im 1934 noch nicht geschriebenen, aber im Kopf bereits fertigen fünften Kapitel des Romans Dar (Die Gabe) auf. Auch hier wird, knapp eine Seite lang, aus dem Discours sur les ombres (Gedanken über den Tod) zitiert: «Als der französische Denker Delalande bei jemandes Begräbnis gefragt wurde, warum er nicht den Hut abnehme (ne se découvre pas), erwiderte er: ‹Ich erwarte, dass er es zuerst tut› (qu’elle se découvre la première). Darin liegt ein Mangel an metaphysischer Höflichkeit, aber der Tod verdient nicht mehr …» Patricia Brückmann (The Vladimir Nabokov Research Newsletter 6, 1981, Seite 28–30) hat im Dictionnaire de Biographie Française einen Pierre-Antoine Delalande (1787–1823) ausgegraben, der als Namenspatron infrage kommt. Er war Naturkundler und Forschungsreisender, brachte von seinen Reisen viele Knochen und auch menschliche Skelette mit und starb in Paris an einer «exotischen Krankheit», die er aus dem Ausland mitgebracht hatte. Für den Roman Die Gabe sah Nabokov damals eine Menge alter Reiseberichte durch.
Der lateinische Name des zum Tode Verurteilten bedeutet «der mit dem krausen Haar», der Wuschelkopf. Es besteht wahrscheinlich keine Beziehung zu dem berühmten Cincinnatus der Geschichte, dem Staatsmann Lucius Quinctius Cincinnatus (Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr.), dem Inbegriff altrömischer Tugenden, einem Gegner der Gleichberechtigung der Plebejer, der in Notsituationen zweimal vom Pflug weg zum Diktator bestimmt wurde und das Amt nach vollbrachtem Auftrag niederlegte.
Der totalitäre Staat, in dem Cincinnatus lebt, zeichnet sich hier und im Folgenden immer wieder durch das aus, was Nabokov poschlost nannte – ein für ihn zentraler Begriff. Mit «Kitsch» oder «Abgeschmacktheit» ist er nur unzureichend übersetzt. In seinem Gogol-Buch (1944) sagt Nabokov zu dem Begriff unter anderem dies: «Die russische Sprache vermag mithilfe eines einzigen mitleidlosen Wortes die Quintessenz eines weitverbreiteten Defekts zu bezeichnen, für den die anderen drei europäischen Sprachen, deren ich mächtig bin, über keinen speziellen Begriff verfügen. Englische Wörter, die einige, keineswegs aber alle Aspekte von poschlost ausdrücken, sind beispielsweise: cheap (billig), sham (unecht, falsch), common (gemein), smutty (seimig), pink-and-blue (rosarot und himmelblau, kitschig), high falutin (hochgestochen), in bad taste (geschmacklos). Mein kleiner Helfer, Roget’s Thesaurus …, bietet mir unter dem Eintrag Cheapness (Billigkeit, Wohlfeilheit) außerdem inferior (minderwertig), sorry (schäbig), trashy (schrottig), scurvy (niedrig), tawdry (aufgedonnert), gimcrack (flittrig) und anderes an. All dies aber verweist nur auf gewisse falsche Werte, für deren Entdeckung kein besonderer Scharfsinn erforderlich ist. Sie stellen, diese Wörter, allenfalls ein augenfälliges Wertesystem in einer bestimmten Periode der Menschheitsgeschichte dar. Was indessen Russen poschlost nennen, ist von herrlicher Zeitlosigkeit und mit einem guten Tarnanstrich versehen, sodass ihr Vorhandensein (in einem Buch, in einer Seele, einer Institution, an Tausenden von anderen Stellen) oft dem Spürsinn entgeht. Seit Russland zu denken lernte, bis hin zu der Zeit, wo unter dem Einfluss des ungewöhnlichen Regimes, unter dem es seit fünfundzwanzig Jahren leidet, sein Geist verlosch, waren sich gebildete, sensible und freigeistige Russen der schleimig-flüchtigen und klebrigen Berührung der poschlost höchst bewusst. Unter den Völkern, mit denen wir in Berührung kamen, schien uns immer Deutschland der Ort zu sein, wo die poschlost – anstatt dem Gelächter preisgegeben zu sein – wesentlicher Bestandteil des Nationalgefühls, der Sitten und Gebräuche und der allgemeinen Atmosphäre war … zu Kriegs- und Revolutionszeiten [öffnet sich] weltweit ein Abgrund an poschlost … Poschlost, daran sei erinnert, ist besonders wirksam und bösartig, wenn das Falsche nicht in die Augen springt und wenn die von ihr nachgeäfften Werte zu Recht oder zu Unrecht dem höchsten Rang der Kunst, des Denkens oder Fühlens zugerechnet werden.» Robert Alter (TriQuarterly, 17, 1970, Seite 41–59) hat darauf hingewiesen, dass diese poschlost notwendig ein inhärenter Bestandteil jedes Totalitarismus ist – und dass Nabokov ihn also in seinem Kern kritisiert, wenn er sie herausstreicht: «Poschlost ist dem Totalitarismus unentbehrlich, da sie der natürliche Ausdruck eines abgetöteten Bewusstseins ist, welches davon überzeugt ist, hehren Zwecken zu dienen, und gleichzeitig ist sie das Mittel, falsche Werte aufzunötigen, immer noch menschliche Vorstellungen zu betäuben, bis die Leute keine geistig gesunden Unterscheidungen mehr zu treffen vermögen: Das Hässliche wird zum Schönen, der Tod wird zu Leben, und über die Eingangstore einer von Menschen geschaffenen Hölle hängt man ein demonstrativ edles Sentiment wie ‹Arbeit macht frei›. ‹Sentimentalität›, schrieb Norman Mailer, ‹ist die emotionale Promiskuität jener, die kein Gefühl haben›; aus ebendiesem Grund blüht der totalitäre Geist in einer schrecklich kitschigen Sentimentalität erst voll und faulig auf.»
In der russischen Fassung heißt Cincinnatus’ treulose Frau Marfinka.
Bei der arithmetischen Progression ist die Differenz zweier benachbarter Glieder einer Folge konstant, wie in der Reihe 1, 5, 7, 9 usw., im Unterschied zur geometrischen Progression, bei der sich die Differenzen zwischen Glied und Glied in bestimmtem Maß stetig erhöhen.
Frz. pour la digestion: für die Verdauung.
Eins der wiederkehrenden Motive im Werk von Nabokov ist das der ersten, glücklichen Liebe. Den biographischen Grundstoff bildete seine Beziehung zu Valentina Schulgin («Ljusja») in den Jahren 1915/16, deren Szenerie vornehmlich die sommerlichen Gärten, Parks und Wälder um den elterlichen Landsitz Wyra waren, etwa siebzig Kilometer südlich des damaligen St. Petersburg. Erinnerungen an diese jugendliche Liebe finden sich vor allem in Nabokovs erstem Roman Maschenka (1925/26), in karikierter Form in der Erzählung Die Nadel der Admiralität (1933) sowie in seiner Autobiographie Erinnerung, sprich (1951–1967). Hier gab er dem Mädchen, das für ihn der Inbegriff jugendlichen Glücks war, den Namen «Tamara». In seiner romanhaft gebrochenen Autobiographie Sieh doch die Harlekine! (1974) heißt der erste Roman der Hauptfigur nicht Maschenka, sondern Tamara. Die erste Silbe dieses Namens, das russische tam, heißt «dort». Das «Tam-tam-tam» der fernen Kapelle in den «Tamara-Gärten» bedeutet also gleichzeitig «dort, dort, dort». Und die Figur dieses dreifachen «dort» wiederholt sich später in Cincinnatus’ Aufzeichnungen: «There, tam, là-bas leuchtet unnachahmbares Verständnis aus dem Blick der Menschen; dort behelligt man die Sonderlinge nicht, die hier gemartert werden; dort nimmt die Zeit die Gestalt an, die einem beliebt …» Das Gegenteil dieses «dort» ist das voraufgehende «hier»: «Das grässliche ‹hier›, das dunkle Verlies, in dem ein unnachgiebig vor Schmerz brüllendes Herz eingekerkert ist …» (Das Gefängnis ist also auch der Körper.) Robert Alter zufolge (TriQuarterly, 17, 1970, Seite 41–59) nimmt diese Redefigur des sehnsuchtsvollen, lyrischen «Dort» eine Zeile aus Charles Baudelaires Gedicht «L’Invitation au voyage» auf. Es beginnt «Mon enfant, ma sœur, / Songe à la douceur / D’aller là-bas vivre ensemble» (Mein Kind, meine Schwester, / Träume davon, wie süß es wäre / Dorthin zu gehen und zusammen zu leben), und sein dreimal wiederholter Refrain lautet: «Là, tout n’est qu’ordre et beauté, / Luxe, calme et volupté» (Dort ist alles nur Ordnung, Schönheit, Luxus, Ruhe und Wollust). Julian W. Conolly (The Nabokov Research Newsletter 11, 1983, Seite 43–47) hat darauf aufmerksam gemacht, dass es (ebenfalls) auf bestimmte russische Vorbilder hinweisen könnte, nämlich auf mehrere Gedichte des Frühromantikers Wassilij Shukowskij (1783–1852). In einem (Pesnja, Lied) heißt es etwa: «Irgendwo, verspricht man uns, / Gibt es ein besseres Land. / Dort (tam) ist der Frühling immer jung; / Dort (tam) blüht in einem paradiesischen Tal / Für uns wie eine Rose ein anderes Leben.» Wo schließlich Sokrates / Platon im Phaidon die Gegenden beschreibt, in denen dem Mythos zufolge die Toten weiterleben, heißt es: «Die Toten, bei denen sich erweist, dass sie ihr Leben schlecht und recht durchlaufen haben, die werden nun zum Acheron gebracht, und dort besteigen sie die wohlbekannten Nachen, die ihrer warten, und kommen so zum See. Dort [!] wohnen sie, erfahren Läuterung und werden frei von ihrer Last.» Womit das dreifache «Dort», das «Tam-tam-tam» der Kapelle wohl denn doch erklärt wäre (Platon, Shukowskij, Baudelaire).
Opazität: Undurchsichtigkeit, das Gegenteil von Transparenz. Sie ist, worin Cincinnatus’ Verbrechen besteht – er wirkt auf seine unwirklichen, unechten Mitmenschen undurchschaubar, opak.
Frz. demain matin: morgen früh.
Frz. bref: kurz.
In der engl. Fassung heißt Cincinnatus’ Verbrechen ‹gnostic turpitude› (gnostische Verworfenheit), in der russischen ‹gnoseologitscheskaja gnusnos› (gnoseologische Abscheulichkeit). Wörtlich bedeutet ‹gnoseologisch› die Erkennistheorie (Gnoseologie) betreffend. Hier soll es nur besagen, dass C. störend ‹unerkennbar›, undurchschaubar wirkt. Das gn- der beiden Begriffe hat im Russischen einen besonders widerwärtigen Klang; es schwingen darin ‹näseln›, ‹Ungeziefer› und verdorben mit. ‹Okklusion› heißt hier so viel wie Verschlossenheit.
Frz. N’y faites pas attention: Achten Sie gar nicht drauf.
Mit dem gefühlsseligem Duellanten ist Wladimir Lenskij in Alexander Puschkins Versroman Eugen Onegin gemeint, der von Onegin in einem Duell getötet wird.
Mali é trano t’amesti: Die Worte, die Marthes Bruder hier und gleich noch einmal lauter singt und die auch in der russischen Fassung des Romans in lateinischen Buchstaben erscheinen, klingen wie aus einer italienischen Oper, sind aber gar kein Italienisch und überhaupt keine bestimmte Sprache. Gene Barabtarlo hat sie als ein Anagramm entschlüsselt (The Nabokov Research Newsletter, 9, 1982, Seite 34–35). Stellt man die Buchstaben um, so erhält man den russischen Satz «smert’ mila éto taina» (oder auch «éto taina smert’ mila») – «Der Tod ist süß, das ist das Geheimnis». (Die Transkription entspricht der englischen Konvention.) In einem längeren russischen Gedicht von 1942 (Slawa, Ruhm) spricht Nabokov von «éta taina ta-ta, ta-ta-ta, ta-ta» (jenem Geheimnis ta-ta, ta-ta-ta, ta-ta) – sicher meint er das Geheimnis von «smert’ mila éto taina» und gleichzeitig das Geheimnis des Todes. Ins Englische übersetzte Nabokov jene Gedichtzeile mit «That main secret tra-tá-tra tá-ta tra-tá» und gab damit einen Wink, wie der angebliche Operntext zu skandieren wäre: Malí e tráno t’amést(i). Das ganze lange Gedicht Slawa findet sich, auf Russisch und Englisch, in dem Band Poems and Problems, New York: McGraw-Hill, 1970, Seite 103–113. Es skizziert Nabokovs private Metaphysik, die auch hinter dem vorangegangenen Roman Einladung zur Enthauptung steht. Sein zweiter Teil lautet in wörtlicher deutscher Übersetzung: «Dann lache ich, und sofort erhebt sich von meiner Federspitze ein Flug / meiner Lieblingsanapäste / in die Nacht und hinterlässt mit der Beschleunigung / der goldenen Inschrift Feuerwerksstreifen. // Und ich bin glücklich. Bin glücklich, dass das Gewissen, der Lude / meiner schläfrigen Gedanken und Vorhaben, / das kritische Geheimnis nicht herausbekam. / Ich bin wirklich bemerkenswert glücklich heute. // Jenes Hauptgeheimnis tra-tá-tra ta-ta tra-tá – / und ich darf nicht zu deutlich werden; / darum finde ich den leeren Traum / von den Lesern und dem Körper und dem Ruhm lachhaft. // Ohne Körper habe ich mich ausgebreitet, ohne Echo gedeihe ich, / und mein Geheimnis ist die ganze Zeit bei mir. / Der Tod eines Buches kann mir nichts anhaben, / da selbst der Bruch zwischen mir und meinem Land eine Bagatelle ist. // Ich gebe zu, dass die Nacht recht gut chiffriert wurde, / doch an die Stelle der Sterne setze ich Buchstaben, / und in mir selber habe ich gelesen, wie man das Selbst transzendiert – / und ich darf nicht zu deutlich werden. // Den Verlockungen der Verkehrsstraße misstrauend / oder den vom Alter geheiligten Träumen, / ziehe ich es vor, gottlos zu bleiben, mit einer fessellosen Seele / in einer Welt, in der es von Götzen wimmelt. // Doch als ich eines Tages die Schichten des Sinnes aufstörte / und tief in meine Urquelle hinabtauchte, / sah ich neben meinem Selbst und der Welt / etwas anderes gespiegelt, etwas anderes, etwas anderes.»
Lat. quercus: Eiche. In diesem imaginären Roman kritisiert der Autor ein Musterbeispiel modernistischer Literatur.
Frz. votre mère, paraît-il: Ihre Mutter, scheint es.
In dem (wie ‹Bonbon›) kindersprachlich reduplizierenden Wort ‹nonnon› steckt ein zweifaches französisches non, nein. Eine doppelte Verneinung ist eine Bejahung. Ein entstelltes Objekt zusammen mit dem passenden entstellten Spiegel ergibt die richtige Form.
Frz. Arrière!: Zurück!
Frz. en fait de potage: was Suppe angeht.
Das einzige Mal, dass M’sieur Pierres Vor- und Vatersname genannt wird.
Frz. impayable, ce …: unbezahlbar, dieses …
Frz. c’est vraiment superflu: das ist wirklich überflüssig.
Frz. jeunesse pourprée: purpurrote Jugend. In diesem Land anscheinend das Gegenstück zur jeunesse dorée Frankreichs, der reichen, leichtlebigen, genusssüchtigen Jugend nach der Revolution.
M’sieur Pierre zitiert einen bekannten russischen Scherzreim: «Luna, balkon / Ona i on / Wdrug suprug / Podlez konez» (wörtl. «Mond, Balkon / Sie und er / Plötzlich der Gatte / Schuft Schluss»).
‹P› und ‹C› (für ‹Pierre› und ‹Cincinnatus›) sind hier kyrillisch geschrieben. Die beiden russischen Buchstaben П (P) und Ц (Z) sehen sich sehr ähnlich. Wenn das kleine Häkchen bei dem Z nicht in Ordnung ist, sind sie nicht zu unterscheiden.
Russ. nje dolshno bylo by byt: das hätte nicht passieren dürfen.
Zitate aus dem Gedicht Letzte Liebe von Fjodor Tjuttschew (1803–1873): «Die Liebe am Ende unserer Tage / ist argwöhnisch und sehr zärtlich. / Glüht heller, heller, Abschiedsstrahlen / einer letzten Liebe in ihrer Abendpracht.» Identifiziert wurde dieses «alte, alte Gedicht» von Robert P. Hughes in TriQuarterly, 17, 1970, Seite 284–292.
Aufgrund der folgenden, ausführlichen Beschreibung lässt sich dieser Nachtfalter eindeutig bestimmen. Es handelt sich um ein Großes (oder Wiener) Nachtpfauenauge, wissenschaftlich Saturnia pyri (Denis & Schiffermüller, 1775), der größte Schmetterling Europas, Nordafrikas und Westasiens. Seine Flügel haben eine Spannweite von 10 bis 13 cm.
Russ. golubtschik: mein Bester.
Offenbar handelt es sieh um eine komische Oper über den Tod des Sokrates, wie ihn Platon in seinem Dialog Phaidon geschildert hat (der in Einladung zur Enthauptung auch sonst anklingt). Im russischen Original des Romans heißt sie Sokratis, Sokratik – etwa «Werd kürzer, kleiner Sokrates». Wahrscheinlich hatte Marthes Bruder, der Sänger, in Cincinnatus’ Zelle eine Arie aus dieser Oper angestimmt; jedenfalls würden die Worte «Der Tod ist süß, das ist das Geheimnis» sehr gut in eine Operettenfassung des Phaidon passen. Der sonderbar klingende Titel dieser fiktiven Oper erklärt sich ebenfalls aus dem Phaidon: Platon lässt Sokrates darin kurz vor seinem Tod Argumente für die Unsterblichkeit der Seele häufen, und die Beweiskette beginnt er damit, dass er behauptet: «… jedes Ding, zu dem ein Gegensatz vorhanden ist, entsteht aus keinem anderen Seinsgrund als dem Gegensatz.» So wie aus Stärkerem das Schwächere und aus Größerem das Kleinere werde, so werde aus dem Lebendigen das Tote und aus dem Toten das Lebendige. «Aus Totem also wird Lebendiges, entstehen Wesen, die lebendig sind … So haben unsere Seelen ein Sein im Hades.» ‹Kleiner werden› ist also eine Umschreibung für ‹sterben›. An einer anderen Stelle des Phaidon reden sie noch einmal über das Wesen des Größeren und des Kleineren, und Sokrates meint, «es sei der Kopf, durch den ein Mensch den anderen überrage, und durch dasselbe sei der Kleinere eben kleiner». Das «Kleinerwerden» bedeutet also nicht nur das Sterben, es schwingt darin auch Um-einen-Kopf-kürzer-machen mit. Genau darum hatte Marthes Bruder seinem Zwillingsbruder, dem Sänger, einen so «fürchterlichen Blick» zugeworfen, als der sein verschlüsseltes «Der Tod ist süß, das ist das Geheimnis» anstimmt: Die Arie ist eine Anspielung auf Cincinnatus’ bevorstehende Enthauptung. – Als eine ironische Antwort auf den Phaidon-Dialog lässt sich das Verhältnis zwischen Cincinnatus und M’sieur Pierre verstehen; in ihm spiegelt sich seitenverkehrt Sokrates’ Verhältnis zu seinem Henker, dem Mann, der ihm im Auftrag der Obrigkeit schließlich den Schierlingsbecher reicht. Sokrates: «Wie fein empfindet dieser Mensch! Die ganze Zeit schon hat er mich besucht und manches Mal mit mir geplaudert. Ein braver Kerl! Und eben jetzt: wie echt sein Weinen!» Cincinnatus’ Misere natürlich besteht ebendarin, dass er in der attrappenhaften Welt dieses Buchs unter lauter unechten Menschen lebt, deren Weinen nie echt ist.
Frz. vive le pédant: es lebe der Pedant.
Frz. Il a tout pour tous. Il fait rire l’enfant et frissonner la femme. Il donne à l’homme du monde un vertige salutaire et fait rêver ceux qui ne rêvent jamais: Er hat alles für alle. Er bringt das Kind zum Lachen und die Frau zum Erschauern. Er schenkt dem Mann von Welt einen heilsamen Schwindel und bringt jene zum Träumen, die nie träumen.
Comme un fou se croit Dieu, nous nous croyons mortels.
Delalande: Discours sur les ombres[1]
Wie das Gesetz es vorschrieb, wurde Cincinnatus[1] C. das Todesurteil im Flüsterton mitgeteilt. Alle erhoben sich und lächelten einander zu.[2] Der weißhaarige Richter hielt den Mund dicht an sein Ohr, schnaufte einen Augenblick lang, verkündete das Urteil und machte sich langsam los, als wäre er festgeklebt gewesen. Dann wurde Cincinnatus in die Festung zurückgebracht. Die Straße ringelte sich um ihren Felsensockel und verschwand unter dem Tor wie eine Schlange in einem Spalt. Er war ruhig; während der Wanderung durch die langen Gänge jedoch musste er gestützt werden, da er die Füße unsicher setzte wie ein Kind, das gerade laufen gelernt hat, oder als würde er gleich versinken wie jemand, der geträumt hat, er wandele über das Wasser, und dem plötzlich Zweifel kommen: Ist das denn überhaupt möglich? Rodion, der Wärter, brauchte lange, die Tür zu Cincinnatus’ Zelle aufzuschließen – es war der falsche Schlüssel –, und es fand das übliche Hin und Her statt. Schließlich gab die Tür nach. Drinnen wartete schon der Anwalt. Bis zur Schulter in Gedanken und ohne sein Frackjackett (das er auf einem Stuhl im Gerichtssaal vergessen hatte – es war ein heißer Tag, ein durch und durch blauer Tag) saß er auf der Pritsche; als der Häftling hereingeführt wurde, sprang er ungeduldig auf. Doch Cincinnatus war es nicht nach Gesprächen zumute. Selbst wenn die Alternative die Einsamkeit dieser Zelle mit ihrem Guckloch wie ein Bootsleck war – ihm war es gleich, und er bat darum, allein gelassen zu werden; alle verneigten sie sich zu ihm hin und gingen.
So nähern wir uns also dem Ende. Der rechte, noch ungekostete Teil des Romans, den wir während unserer ergötzlichen Lektüre leicht betasteten, um mechanisch festzustellen, ob noch genug da war (und immer freuten sich die Finger an der gleichmütigen treuen Dicke), ist plötzlich ohne Grund mager geworden: ein paar Minuten schnellen Lesens, bergab bereits, und – O grässlich! Der Haufen Kirschen, eben für uns noch eine Masse von rötlichem und glänzendem Schwarz, ist plötzlich zu ein paar vereinzelten Steinfrüchten geschrumpft: Die Narbige dort ist ein wenig faulig, und jene ist verschrumpelt und um ihren Kern herum vertrocknet (und die allerletzte ist unweigerlich hart und unreif) – O grässlich! Cincinnatus legte sein Seidenwams ab, zog den Schlafrock über, begann fest auftretend in der Zelle herumzulaufen, um dem Zittern ein Ende zu machen. Auf dem Tisch leuchtete ein sauberes Blatt Papier, und von dieser Weiße hob sich deutlich ein wundervoll spitzer Bleistift ab, lang wie das Leben jedes Menschen mit Ausnahme von Cincinnatus und mit einem ebenholzschwarzen Schimmer auf jeder seiner sechs Facetten. Ein aufgeklärter Nachkomme des Zeigefingers. Cincinnatus schrieb: «Trotz allem bin ich verhältnismäßig. Schließlich habe ich es geahnt, habe ich dieses Finale geahnt.» Rodion stand auf der anderen Seite der Tür und spähte mit der unnachgiebigen Aufmerksamkeit eines Kapitäns durch das Guckloch. Cincinnatus spürte eine Kälte auf seinem Hinterkopf. Er strich aus, was er geschrieben hatte, und begann, behutsam zu schattieren; ein embryonaler Schnörkel erschien langsam und bog sich zu einem Widderhorn. O grässlich! Rodion starrte durch das blaue Bullauge auf den Horizont, der sich bald hob, bald senkte. Wer wurde seekrank? Cincinnatus. Der Schweiß brach ihm aus, alles wurde dunkel, und er konnte die Wurzel jedes Haares fühlen. Eine Uhr schlug – vier- oder fünfmal – mit dem einem Gefängnis eigentümlichen Hall und Widerhall und Nachhall. Mit strampelnden Beinen ließ sich eine Spinne – offizieller Freund des Gefangenen – an einem Faden von der Decke herab. Niemand indessen klopfte an die Wand, da Cincinnatus bisher der einzige Häftling (in einer so riesigen Festung!) war.
Etwas später kam Rodion der Wärter herein und erbot sich, einen Walzer mit ihm zu tanzen. Cincinnatus willigte ein. Sie begannen, sich zu drehen. Die Schlüssel an Rodions Ledergürtel klirrten; er roch nach Schweiß, Tabak und Knoblauch; summte schnaufend in seinen roten Bart; und seine rostigen Gelenke knackten (er war nicht mehr so in Form wie früher, leider – jetzt, da er fett war und kurzatmig). Der Tanz trug sie auf den Gang. Cincinnatus war viel kleiner als sein Partner. Cincinnatus war leicht wie ein Blatt. Der Walzerwind ließ die Spitzen seines langen, aber schütteren Schnurrbarts flattern, und seine großen, klaren Augen blickten schräg zur Seite, wie es die Augen ängstlicher Tänzer immer tun. Er war in der Tat sehr klein für einen erwachsenen Mann. Marthe[3] hatte immer gesagt, dass ihr seine Schuhe zu eng seien. An der Biegung des Ganges stand ein anderer – namenloser – Wärter mit einem Gewehr, der eine hundeartige Maske mit einem Stück Gaze über dem Mund trug. Sie beschrieben in seiner Nähe einen Kreis und glitten in die Zelle zurück, und jetzt bedauerte Cincinnatus, dass die freundliche Umarmung der Ohnmacht nur so kurz gewährt hatte.
Mit banaler Trostlosigkeit schlug die Uhr von neuem. Die Zeit rückte in arithmetischer Progression[4] vor: Jetzt war es acht. Das hässliche kleine Fenster erwies sich als dem Sonnenuntergang zugänglich; ein feuriges Parallelogramm erschien auf der Seitenwand. Die Zelle war bis an die Decke mit den Ölfarben des Zwielichts gefüllt, die ungewöhnliche Pigmente enthielten. So fragte man sich, ob das da rechts von der Tür das Gemälde eines verwegenen Malers war oder ein zweites Fenster, ein verziertes, wie es sie nicht mehr gibt. (In Wirklichkeit war das, was da an der Wand hing, ein Pergamentblatt mit zwei Spalten detaillierter «Häftlingsregeln»; die geknickte Ecke, die roten Lettern der Überschrift, die Vignetten, das alte Stadtsiegel – nämlich ein Hochofen mit Flügeln – lieferten der Abendbeleuchtung das notwendige Material.) Das Möbelkontingent der Zelle bestand aus einem Tisch, einem Stuhl und der Pritsche. Das Abendessen (die zum Tode Verurteilten hatten Anrecht auf die gleichen Mahlzeiten wie die Wärter) stand schon lange da und wurde auf seinem Zinktablett kalt. Es wurde völlig dunkel. Plötzlich war der Raum voll von goldenem, hochkonzentriertem elektrischem Licht. Cincinnatus ließ die Füße von der Pritsche herab. Eine Kegelkugel rollte diagonal vom Nacken zur Schläfe durch seinen Kopf; sie kam zum Stillstand und rollte dann zurück. Inzwischen war die Tür aufgegangen, und der Gefängnisdirektor trat ein.
Wie immer trug er einen Gehrock und hielt sich tadellos gerade, die Brust heraus, die eine Hand in seinem Busen, die andere hinter dem Rücken. Ein hervorragendes Toupet, pechschwarz und mit einem wächsernen Scheitel, bedeckte glatt seinen Kopf. Seinem lieblos gewählten Gesicht mit den dicken, fahlen Wangen und einem leicht veralteten Faltensystem liehen in gewisser Weise zwei, und nur zwei, hervortretende Augen Leben. In seinen Hosenschäften ging er gleichmäßigen Schritts von der Wand zum Tisch, fast bis zur Pritsche – doch trotz seiner majestätischen Festigkeit verschwand er lautlos, löste er sich auf in Luft. Eine Minute später jedoch ging die Tür noch einmal auf, diesmal mit dem vertrauten Knarren, und wie immer in einem Gehrock trat, die Brust heraus, die gleiche Person ein.
«Aus vertrauenswürdiger Quelle dahingehend unterrichtet, dass Ihr Schicksal sozusagen besiegelt ist», begann er in salbungsvollem Bass, «erachte ich es als meine Pflicht, werter Herr …»
Cincinnatus sagte: «Liebenswürdig. Sie. Sehr.» (Dies musste noch geordnet werden.)
«Sie sind sehr liebenswürdig», sagte ein zusätzlicher Cincinnatus, nachdem er sich geräuspert hatte.
«Vergebung!», rief der Direktor, ohne die Taktlosigkeit dieses Wortes zu bemerken. «Vergebung! Machen Sie sich nichts draus. Die Pflicht. Ich immer. Aber warum, wenn ich mich erkühnen darf, das zu fragen, warum haben Sie Ihr Essen nicht angerührt?»
Der Direktor nahm den Deckel ab und hob eine Schüssel geronnenen Eintopfs an seine sensible Nase. Mit zwei Fingern griff er sich eine Kartoffel und begann sie kraftvoll zu zerkauen, während er mit seiner Augenbraue schon auf einem anderen Teller etwas aussuchte.
«Ein besseres Essen können Sie sich doch wohl kaum wünschen», sagte er mit Missfallen, ließ seine Manschetten herausschießen und setzte sich an den Tisch, um es beim Essen des Reispuddings bequemer zu haben.
Cincinnatus sagte: «Ich wüsste gern, ob es noch lange sein wird bis dahin!»
«Ein vorzüglicher Zabaione! Wüsste doch gern, ob es noch lange sein wird bis dahin. Unglücklicherweise weiß ich das selber nicht. Ich werde immer erst im letzten Augenblick unterrichtet; ich habe mich viele Male beschwert und kann Ihnen die ganze Korrespondenz über dieses Thema zeigen, wenn es Sie interessiert.»
«Es kann also morgen früh sein?», fragte Cincinnatus.
«Wenn es Sie interessiert», sagte der Direktor. «… Ja, einfach köstlich und sehr sättigend, sage ich Ihnen. Und jetzt erlauben Sie mir, Ihnen pour la digestion[5] eine Zigarette anzubieten. Keine Angst, das ist höchstens die vorletzte», fügte er witzig hinzu.
«Ich frage nicht aus Neugier», sagte Cincinnatus. «Es stimmt, Feiglinge sind immer wissbegierig. Aber ich versichere Ihnen … Selbst wenn ich mein Zittern nicht beherrschen kann und so weiter – das hat nichts zu sagen. Ein Reiter ist nicht verantwortlich für das Zittern seines Pferdes. Ich möchte aus folgendem Grund erfahren, wann: Die Kompensation für ein Todesurteil ist, dass man genau weiß, wann man sterben muss. Ein großer Luxus, aber ein wohlverdienter. Mich dagegen lässt man in dieser Unwissenheit, welche nur für die erträglich ist, die in Freiheit leben. Und außerdem trage ich mich mit vielen Projekten, die verschiedene Male angefangen und unterbrochen wurden … Ich verfolge sie einfach nicht weiter, wenn die Zeit, die bis zu meiner Hinrichtung bleibt, nicht reicht, sie ordentlich zu erledigen. Darum …»
«Ach, würden Sie bitte mit diesem Gebrummel aufhören», sagte der Direktor gereizt. «Erstens ist es gegen die Regeln, und zweitens – ich sage es Ihnen in klarem Russisch und schon das zweite Mal – weiß ich es selber nicht. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass die Ankunft Ihres Schicksalsgenossen jetzt jeden Tag erwartet wird; und wenn er tatsächlich eintrifft und sich ausgeruht und an seine neue Umgebung gewöhnt hat, muss er immer noch erst das Gerät ausprobieren, natürlich nur, sofern er nicht sein eigenes mitbringt, was sehr wahrscheinlich ist. Wie ist der Tabak? Nicht zu stark?»
«Nein», antwortete Cincinnatus, nachdem er einen geistesabwesenden Blick auf seine Zigarette geworfen hatte. «Es scheint mir nur, dass nach dem Gesetz … Nicht Sie vielleicht, aber der Stadtverweser … ist verpflichtet …»
«Unser Plauderstündchen ist um, und das reicht», sagte der Direktor. «Eigentlich bin ich nicht hergekommen, um mir Beschwerden anzuhören, sondern um …» Blinzelnd wühlte er erst in einer, dann in einer anderen Tasche; schließlich zog er aus einer Innentasche ein Blatt liniiertes Papier, das offenbar aus einem Schulheft gerissen war.
«Hier ist kein Aschenbecher», bemerkte er und gestikulierte mit seiner Zigarette. «Na ja, ersäufen wir sie im Saucenrest … So. Ich würde sagen, das Licht ist ein bisschen grell. Vielleicht wenn wir … Ach egal; es muss auch so gehen.»
Er faltete das Papier auseinander, hielt die Brille mit dem Hornrand vor die Augen, ohne sie jedoch aufzusetzen, und begann klar vernehmlich zu lesen:
«‹Gefangener! In dieser feierlichen Stunde, da aller Augen …› Ich glaube, wir stehen besser auf», unterbrach er sich besorgt und erhob sich von seinem Stuhl. Cincinnatus erhob sich ebenfalls.
«‹Gefangener, in dieser feierlichen Stunde, da aller Augen auf Euch ruhen, Eure Richter frohlocken und Ihr Euch für jene unwillkürlichen Zuckungen bereitet, die dem Abtrennen des Kopfes unmittelbar folgen, richte ich an Euch ein Abschiedswort. Es fällt mir zu – und niemals werde ich es aus dem Sinn verlieren –, Euren Aufenthalt im Kerker mit jener Fülle von Annehmlichkeiten zu versehen, die das Gesetz gestattet. Ich werde mich folglich glücklich schätzen, jeglichem Ausdruck Eurer Dankbarkeit jede mögliche Aufmerksamkeit zu widmen; vorzugsweise sollte sie jedoch schriftlich und nur auf einseitig beschriebenen Bogen geäußert werden.›
So», sagte der Direktor und klappte seine Brille zusammen, «das ist alles. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie was brauchen.»
Er setzte sich an den Tisch und begann schnell zu schreiben, um anzuzeigen, dass die Audienz zu Ende sei. Cincinnatus ging hinaus.
An der Wand im Gang döste Rodions Schatten, über den Schatten eines Hockers gekrümmt, nur der Saum des Bartes war fuchsrot umrissen. Weiter weg, wo die Wand eine Biegung machte, hatte der andere Wärter seine Uniformmaske abgenommen und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel. Cincinnatus ging die Treppe hinab. Die Steinstufen waren schmal und schlüpfrig, die Spirale ihres geisterhaften Geländers war ungreifbar. Unten angekommen, lief er wieder durch Gänge. Eine Tür mit der Aufschrift «Büro» in Spiegelschrift stand weit offen; Mondschein schimmerte auf einem Tintenfass, und unter dem Tisch raschelte und rüttelte wütend ein Papierkorb: Eine Maus musste hineingefallen sein. Nachdem Cincinnatus an vielen anderen Tischen vorbeigegangen war, stolperte er, machte einen Satz und fand sich auf einem kleinen Hof, der voll war von den verschiedenen Teilen des demontierten Mondes. Die Losung an diesem Abend lautete Schweigen, und der Soldat am Tor antwortete mit Schweigen auf Cincinnatus’ Schweigen und ließ ihn passieren; genauso an allen anderen Toren. Das nebelige Massiv der Festung hinter sich lassend, begann er eine steile, taufeuchte Rasenböschung hinabzugleiten, erreichte einen bleichen Pfad zwischen den Felsen, überquerte zwei- oder dreimal die Windungen der Hauptstraße – die endlich den letzten Schatten der Festung abschüttelte und gerader und freier verlief –, und eine filigrane Brücke über einen ausgetrockneten kleinen Flusslauf brachte Cincinnatus in die Stadt. Er erklomm einen steilen Hang, wandte sich in der Gartenstraße nach links und eilte an einem in grauer Blüte stehenden Gesträuch vorbei. Irgendwo blitzte ein erleuchtetes Fenster auf; hinter einem Zaun schüttelte ein Hund seine Kette, bellte jedoch nicht. Die Brise tat ihr Mögliches, den bloßen Hals des Flüchtlings zu kühlen. Hin und wieder kam eine Woge von Duft aus den Tamara-Gärten. Wie gut er diesen Park kannte! Dort, wo Marthe als Braut sich vor Fröschen und Maikäfern gefürchtet hatte … Dort, wo man immer, wenn das Leben unerträglich schien, umherstreifen konnte, im Mund einen Brei aus zerkauten Fliederblüten und Leuchtkäfertränen in den Augen … Dieser grüne, grasige Park mit amerikanischen Lärchen, die Stille seiner Teiche, das Tam-tam-tam einer fernen Kapelle …[6] Er bog in die Faktstraße, kam an den Ruinen einer alten Fabrik vorbei, dem Stolz der Stadt, vorbei an wispernden Linden, vorbei an den festlich aussehenden weißen Bungalows der Telegraphenangestellten, die unablässig jemandes Geburtstag feierten, und gelangte auf die Telegraphstraße. Von dort ging eine enge Gasse bergauf, und wieder setzte das diskrete Gemurmel der Linden ein. In der Dunkelheit einer Parkanlage unterhielten sich leise zwei Männer, vermutlich auf einer Bank. «Ich sage, er irrt sich», sagte einer. Die Antwort des anderen war unverständlich, und beide seufzten auf eine Art, die sich auf natürliche Weise mit dem Stöhnen des Laubes vermischte. Cincinnatus lief auf einen runden Platz, wo der Mond über der wohlvertrauten Statue eines Dichters Wache stand, der wie ein Schneemann aussah – ein Würfel als Kopf, die Beine zusammen –, und nach ein paar hallenden Schritten war er in seiner Straße. Rechterhand warf der Mond ungleiche Zweigmuster auf die Mauern gleicher Häuser, sodass Cincinnatus sein eigenes Haus nur dank dem Ausdruck der Schatten, dank dem glabellaren Streifen zwischen zwei Fenstern wiedererkannte. Marthes Fenster im Obergeschoss war dunkel, aber offen. Die Kinder mussten auf der Hakennase des Balkons schlafen – etwas Weißes schimmerte dort. Cincinnatus lief die Treppe zur Tür hinauf, stieß diese auf und trat in seine erleuchtete Zelle. Er wandte sich um, aber schon war er eingeschlossen. O grässlich! Der Bleistift glänzte auf dem Tisch. Die Spinne saß auf der gelben Wand.
«Macht das Licht aus!», rief Cincinnatus.
Sein Beobachter hinter dem Guckloch machte es aus. Dunkelheit und Stille begannen miteinander zu verschmelzen, doch störend griff die Uhr ein; sie schlug elfmal, bedachte sich einen Augenblick und schlug noch einmal, und Cincinnatus lag rücklings und starrte in die Dunkelheit, wo sich helle Flecken zerstreuten und allmählich verschwanden. Dunkelheit und Stille verschmolzen vollständig. Dann und erst dann (das heißt, als er nach Mitternacht am Ende eines grässlichen, grässlichen, ich kann einfach nicht sagen wie grässlichen Tages rücklings auf einer Gefängnispritsche lag) schätzte Cincinnatus C. seine Situation klar ab.