Übersetzt von Andreas Schiffmann
This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com
Title: RUN. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2015. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.
Bei diesem Buch handelt es sich um einen fiktionalen Text. Es gibt keine Untoten … sagt zumindest meine Mom. Kein Teil dieses Romans darf ohne meine ausdrückliche schriftliche Erlaubnis und fette Vergütung anderweitig abgedruckt, verbreitet oder in einem Streifen mit Bruce Willis in der Hauptrolle verfilmt werden, der schließlich zu einem Sommer-Blockbuster avanciert. Jegliche Ähnlichkeit zu wirklich lebenden oder toten Personen – beziehungsweise deren Körperteilen – ist reiner Zufall.
Für Donna, Danielle, Richy und Chloe, deren Engelsgeduld mit meinen »Vorbereitungen« eine wichtige Rolle beim Schreiben dieses Buchs spielte. Sie dachten, ich würde unseren Keller für den bevorstehenden Weltuntergang herrichten oder dort Videospiele zocken, und ahnten nicht, dass ich mich als Romanautor versucht habe. Beziehungsweise überhaupt Talent dafür habe. Oder einen Stift.
Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: RUN
Copyright Gesamtausgabe © 2017 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Andreas Schiffmann
Lektorat: Diana Glöckner
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2017) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-280-3
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Nachdem ich in den vergangenen Jahren zahllose Weltuntergangsromane gelesen habe, die sich um die drohende Ausrottung der Menschheit durch Zombies oder Infektionskrankheiten ranken, fühle ich mich geehrt, das Vorwort zu Rich Restuccis erstem Buch schreiben zu dürfen. Dabei handelt es sich nicht um typische Kost zum Thema Zombie-Offenbarung. Sicherlich tauchen Zombies darin auf, genauso wie Panik und Chaos vorherrschen, nicht zu vergessen Endzeitstimmung gemäß üblicher Vorstellungen, also alle wesentlichen Zutaten eines Romans im thematischen Dreieck aus Horror, Action und Apokalypse.
Was indes fehlt, sind die erwartbaren Klischees, Standarddialoge und programmatisch eindimensionalen Charaktere; nein, hier findet man nichts von alledem, was Literatur oder Filme aus diesem Genre bestimmt. Stattdessen tut sich eine Welt voller facettenreicher Figuren, unverhoffter Ereignisse und Wendungen auf, bei deren Erkundung niemand still sitzen kann.
Rich, den ich schon eine Weile persönlich kenne und schätze, weil er ähnlichen Interessen nachgeht wie ich, hat diesen Roman sozusagen während seiner Mittagspausen zu Papier gebracht. Was sagt uns das? Es bedeutet, dass in seiner Kantine offensichtlich etwas auf der Speisekarte stand, das ihn anspornte, einen Text in seiner Freizeit zu schreiben, der andere Werke aus diesem Bereich bei Weitem übertrifft.
Solltet ihr seinem Schaffen hiermit zum ersten Mal begegnen, lehnt euch zurück, macht es euch bequem und seid darauf gefasst, gut unterhalten zu werden.
J.R. Jackson, Autor der Reihe »Up From The Depths« und militärischer/technischer Berater anderer Schriftsteller.
Fassungslosigkeit kann sich als mächtiger Gegner herausstellen. Im Ernst, was würdet ihr tun, wenn ein verlotterter Typ in bluttriefenden Klamotten taumelnd mit ausgestreckten Armen aus einer Gasse oder einem Gebäudeeingang auf euch zukäme? Mancher mag ihm helfen wollen und somit sein eigenes Schicksal besiegeln, denn solang noch kein Übergriff wandelnder Leichen begonnen hat, würde niemand Mist, Zombies! denken und die Flucht ergreifen. Tote laufen einfach nicht durch die Gegend, das ist ein grundlegendes Naturgesetz. Folglich hält man den anstößigen Fleischfresser eventuell für nichts weiter als einen Obdachlosen, der Kleingeld schnorren will, und geht weiter. Natürlich folgt euch die Kreatur daraufhin: stöhnend und schweren Schrittes, ja überhaupt geistlos in ihrem Auftreten. Weil er so penetrant ist, dreht man sich zu ihm um und versucht die alte Masche: »Hör mal, Kumpel, ich hab nichts für dich.« Der Untote nähert sich jedoch unentwegt, also richtet man einen Zeigefinger auf ihn und verlangt, er solle sich verpissen. Das tut er nicht. Einige Menschen würden es mit der Angst zu tun bekommen und vor dem Verfolger davonlaufen, andere hingegen lassen sich dieses Nachstellen möglicherweise nicht gefallen und bieten dem Inkognito-Zombie die Stirn – aus die Maus: Ein Biss, manchmal sogar nur ein Kratzer, und ihr spielt binnen vierundzwanzig Stunden für die gegnerische Mannschaft. Selbstverständlich streckt man im Falle eines Bisses entweder sofort die Waffen oder rennt weg, während man denkt: Hoffentlich ist der Kerl nicht aidskrank oder so … Dann sucht man ein Krankenhaus auf oder kehrt nach Hause zurück, verbindet die Wunde und isst mit der Familie zu Abend. So oder so ist man geliefert.
Von dem Eindruck abgesehen, den umherziehende Leichen hinterlassen – was schon für sich genommen seltsam anmutet –, werden die Grundprinzipien des Waffengebrauchs beim Kampf gegen Untote aufgehoben. Waffen sollen durch Verletzung töten, doch da der Gegner, gegen den man diese richtet, schon tot ist, bleibt so gut wie jeder körperliche Schaden wirkungslos. Messerstiche führen bei normalen Menschen zu ernsten Verletzungen, doch einem Untoten eine Klinge in die Brust zu rammen bringt wenig. Schießt man ihm in die Schulter, wird er herumgerissen und geht vielleicht zu Boden, wird aber nicht lange liegen bleiben. Dieser Sachverhalt lässt sich schwerlich begreifen, weshalb zu Beginn einer Zombie-Epidemie viele sterben, weil sie glauben, mit einer 9mm-Pistole in der Hand auf der sicheren Seite zu sein. Schüsse verpuffen, außer sie treffen in den Kopf, aber mal ehrlich: Habt ihr je eine Knarre abgefeuert, während ihr eine Heidenangst vor jemandem habt, der euch unbedingt verspeisen will? Angenommen, die Untoten haben es auf euch abgesehen und ihr berücksichtigt folgende Faktoren beim Anlegen: Ihr versteht nichts vom Umgang mit Feuerwaffen, seid entsetzt und vom Laufen außer Atem, hungrig wie durstig und habt seit Tagen nicht geschlafen … Versucht nun, eure fünfzehn schwankenden Angreifer aus einer Entfernung von fünfzig Fuß in die Köpfe zu schießen. Falls ihr nicht zufällig ausgebildete Schützen mit regelmäßiger Übung seid, trefft ihr höchstens eine Rübe. Dann müsst ihr nachladen, und der Abstand beträgt nur noch zwanzig Fuß; das ist näher, also schaltet ihr noch vier aus. Erneut nachladen; bei einer Distanz von zehn Fuß geratet ihr in Panik und schießt aufs Geratewohl, wobei ihr euch wünscht, so sicher zielen zu können wie mit doppeltem Abstand. Nach zwei weiteren Kopfschüssen weiden sich die übrigen acht Kreaturen an euren Eingeweiden; dennoch gelingt es euch, ihre Zahl auf sechs zu dezimieren. Daraufhin glaubt ihr, nicht mehr richtig rechnen zu können, denn schließlich habt ihr sieben gefällt, aber da ihr jetzt selbst auf deren Seite mitmischt, waren es im Grunde nur sechs. Das ist eigentlich gar nicht so übel – gut gemacht, also jetzt mal abgesehen von der Sache mit den Eingeweiden. Unter gewöhnlichen Umständen wäre eine Trefferquote von sechs zu eins ausgezeichnet; fragt einen beliebigen Videospieler. Leider handelt es sich hierbei nicht um gewöhnliche Umstände, und dass Kopfschüsse das einzig wirksame Gegenmittel sind, wurde erst verstanden, als Boston bereits verloren war.
Ebendort ging es nämlich los. Niemand weiß genau, wie es dazu kam – die genaue Stelle kennt im Grunde genommen auch niemand –, dass sich der erste Zombie anschickte, Nahrung zu suchen, doch dort begann der Untergang der modernen Zivilisation. Andernorts auf der Welt rechnete kein Mensch damit, dass die Aggressoren tot seien – ich meine, das ist schlichtweg lächerlich –, aber die Betroffenen nahmen es an. Scharenweise eilten sie in Krankenhäuser oder Polizeidienststellen, um zu melden, dass Personen übereinander hergefallen und nicht aufzuhalten seien. Zunächst dachte man, diese Augenzeugen wären schlicht zu Tode erschrocken, doch dies sollte sich bald ändern und auf die Rettungskräfte übertragen. Polizei, Feuerwehr und Sanitäter wurden zur Hilfe gerufen und gleichsam angefallen. Jeder, der Bisswunden davontrug, kam um – ausnahmslos.
Sobald die Lawine losgerollt war, ging es Schlag auf Schlag: Behörden und Notdienste waren von Anfang an überfordert und schwebten in ständiger Gefahr. Es dauerte nicht lange, bis die Regierung erkannte, dass die Infektion hauptsächlich auf Bisse zurückging. Die Ärzte im Mass General Hospital wussten wenige Stunden nach der ersten gemeldeten Bissverletzung: Jede derartige Wunde ist tödlich, ob tief oder oberflächlich und egal an welcher Körperstelle. Man kam allerdings nicht dazu, diese Tatsache zu kommunizieren, denn die Kliniken wurden im Lauf der ersten Nacht von innen zunichtegemacht.
Aus New England drangen dürftige Informationen, doch das Militär brach die Kommunikation nach den ersten paar Stunden ab. Beliebte Theorien in den Medien reichten von einer Art Supertollwut bis zu einem Anschlag radikaler Extremisten mit chemischen Kampfstoffen. Der Rest der Welt vermutete, es sei örtlich begrenzt, und interessierte sich nicht großartig dafür. Ein Zusammenbruch der elementaren Sozialeinrichtungen war unausweichlich, und was den Notruf im Großraum Boston betraf, dauerte es weniger als fünfzehn Stunden – dann gab es niemanden mehr, der ein Telefon hätte besetzen können. Entweder lief man um sein Leben, ging auf die Jagd oder verdaute bereits mit verwesendem Magen Fleischbrocken.
Am nächsten Tag marschierte die US Army im großen Stil in der Stadt auf und versuchte auf Streifengängen, gefangene Zivilisten zu retten. Über kurz oder lang endeten die Soldaten in einer der drei genannten Kategorien. Am dritten Tag der Erkrankungswelle zog sich die Armee zurück, und zwar um sechzig Prozent ihres Aufgebots reduziert. Man münzte die Rettungsaktion schnell auf einen Plan zur Eindämmung um, was durch Isolation der Infektion gelingen sollte; die Army kreiste Boston ein und schnitt es so vom Rest des Landes ab. Am Himmel über der Stadt wimmelte es vor Militärflugzeugen, die eine neu bestimmte Luftsperrzone absicherten. Panzer, Infanterie-Kampffahrzeuge, Mannschaftstransporter, Humvees und elftausend Truppen zogen einige Tage lang um die Metropole, damit niemand eindrang oder herauskam – ein Ding der Unmöglichkeit, da Boston Dutzende Vororte besitzt und Flüchtende sich nicht an Kontrollpunkten der Armee aufhalten lassen wollten. Wer einer Blockade näher kam, wurde in die Stadt zurückgeschickt. Zuwiderhandlung ahndete man streng; die Soldaten streckten während der Frühphase ebenso viele fliehende Zivilisten wie Zombies nieder. Erstere wollten jedoch nicht tot bleiben, sondern schlossen sich der ständig wachsenden Zahl der Gegner an. Im Zuge dessen kam es auch in der Bostoner Vorstadt zu Ausbrüchen. Die Eindämmung war fehlgeschlagen, und die Armee zog sich weiter zurück, während sie Verstärkung erhielt. Jene Angreifer konnten einfach nicht tot sein, das hielt man für absurd.
Schon am zweiten Tag, nachdem man die Sperre verhängt hatte, hob ein Nachrichtenhubschrauber von Kanal 7 vom Dach des Sendegebäudes ab. Er flog zwar niedrig, wurde aber rasch von Militärjets entdeckt. Die Besatzung hatte nicht vor, aus der Stadt zu entwischen, sondern wollte Bericht darüber erstatten, wie sich die Situation wirklich gestaltete. Man befahl ihr, unverzüglich zu landen, doch sie weigerte sich, also wurde ein Cobra-Kampfhelikopter losgeschickt, um dem Reporterteam die Flausen auszutreiben. Dessen Kameras sammelten aussagekräftiges Bildmaterial von Bostons Straßen, wo sich Tausende von dicht gedrängten Leibern tummelten. Diese folgten einem Konvoi von Militärgeländewagen auf dem Rückzug gen Norden. Nachdem der Hubschrauber sie eingeholt hatte, schwebte er über den Fahrzeugen und übertrug seine Aufnahmen direkt ins Internet. Eine große Gruppe Infizierter kesselte einen Hummer-Geländewagen ein, woraufhin General Timothy Powers, der befehlshabende Offizier von Operation »Felsenfeste Entschlossenheit«, live im Webfernsehen gefressen wurde, während er und sein Gefolge versuchten, sich auf der Zakim Bridge zu behaupten. Der Kampfhubschrauber holte News Center 7 Chopper 1 vom Himmel, da die Journalisten die Absperrung des Luftraums weiterhin missachteten. Ihre panischen Schreie, als sie die Kondensstreifen der Raketen vom Geschütz Cobra M158 auf sich zukommen sahen, hörte man überall auf der Welt. Dass das Wrack auf eine Citgo-Tankstelle abstürzte, hatte etwas fürwahr Filmreifes, und die anschließende Explosion nebst Feuersbrunst war über Meilen hinweg sichtbar. Ungefähr ein Sechzehntel der Stadt stand deshalb in Flammen, was die Aufmerksamkeit der Weltbevölkerung weckte, aber trotzdem glaubte immer noch niemand, dass unser Feind lebende Tote seien.
Boston wurde innerhalb von zwei Tagen überrannt und für verloren erklärt. Zu diesem Zeitpunkt war die Epidemie auch in Hartford und New Haven im Staat Connecticut ausgebrochen, in Manchester in New Hampshire, in Bangor in Maine sowie auf Manhattan Island. Die Ostküste steckte in erheblichen Schwierigkeiten. Hatten sich schon die Bostoner für Pechvögel gehalten, so schmorte man in New York City geradezu in der Hölle. Die siebenhunderttausend Bewohner der Hauptstadt von Massachusetts waren nichts im Vergleich zu den über acht Millionen im bevölkerungsreichsten Ort der USA. Auch dieser stand zwei Tage nach dem ersten berichteten Infektionsfall vor dem Aus. Allmählich verstand man wohl, dass dieser Gegner nicht der Norm entsprach, aber Zombies? Nein, ausgeschlossen …
Schlachten wurden in allen Städten entlang der Ostküste geschlagen, und lokal entstanden Milizen zur Verteidigung der Bürger. Dass diese mit der offiziellen Armee aneinandergerieten, deren Truppen sich zusehends weiter ausbreiteten, ließ sich nicht vermeiden. Eine ganze Stadt im Süden New Hampshires fiel in nur einer Nacht. Tagsüber war das Heer dort angerückt, aber die Milizen hatten ihm partout den Zugang verwehrt. Statt es auf ein Feuergefecht mit den Städtern anzulegen, hatte sich die Army zurückgezogen und Handlungsmöglichkeiten diskutiert. Am nächsten Morgen hätten Soldaten die Straßensperren der Bürgerwehr mit ihren schweren Panzerfahrzeugen durchbrechen und Versorgungsgüter in die Stadt bringen sollen. Als sie jedoch bis zum Rand vorgestoßen waren, sahen sie nichts als stöhnende Leiber, darunter auch jene der Milizionäre. Die Army zog sich wieder zurück.
Der Präsident wandte sich drei Tage nach dem Ausbruch in Boston im Fernsehen an die Nation. Er rief seine Mitamerikaner dazu auf, sich in Gedanken und Gebeten Boston und New York zuzuwenden. Diese Kundgebung machte er in vierzigtausend Fuß Höhe an Bord von Air Force One auf dem Weg zu einem geheim gehaltenen Ort. Sofort nach der Pressekonferenz brach die Krankheit auch in Washington, D.C. aus; die Ostküste der Vereinigten Staaten war von Maine bis nach Maryland verseucht.
Auslandsflüge wurden ausgesetzt, leider aber nicht früh genug. Gerüchten zufolge war der Erreger auch in Paris und Tokio aufgekommen. Los Angeles unterlag der todbringenden Epidemie erst nach sieben Tagen, da die Stadt am besten vorbereitet war. Die meisten Weltstaaten ließen nichts mehr von sich hören. Europa glich einem einzigen Trümmerhaufen, und auch Japan hüllte sich in Schweigen. China machte seine Grenzen dicht und kämpfte gegen die Infizierten auf eigenem Boden. Zu weiteren Ausbrüchen kam es in Johannesburg; Addis Abeba, Perth und Tel Aviv standen in Flammen, in Bombay herrschten albtraumhafte Zustände.
Am einundzwanzigsten Tag verheerte eine Kernschmelze Beijing, wobei die Temperatur auf knapp über fünftausendfünfhundert Grad Celsius anstieg und rund zehn Millionen Untote sowie mehrere Hunderttausend nicht infizierte Menschen dahingerafft wurden; von diesem Moment an war der Homo sapiens nicht mehr länger die dominante Lebensform auf dem Planeten.
Zu Beginn von alledem – am Tag null der Infektion – stieg ein kleines Mädchen in ein Flugzeug von Boston nach San Francisco, wo es nach der Landung von seinem Vater abgeholt wurde.
»Daddy!«, rief ein kleines Mädchen und winkte einem Mann, der auf der anderen Seite des Gedränges in der Flughafenhalle stand. Er erwiderte die Geste. »Ich sehe dich«, rief er zurück.
Eine Stewardess führte das Kind an einer Hand durch die Sicherheitskontrolle zu dem wartenden Mann. »Danke, Debbie«, sagte es zu ihr.
»Aber gern doch«, entgegnete die Frau. »Du warst meine Lieblingspassagierin.«
»Keiner nennt mich Sammy und überlebt es!«, behauptete das Mädchen, indem es vorgab, verärgert zu sein. Es versuchte, Debbie zu kitzeln, die dann auch in Gelächter ausbrach.
»Sie müssen Sams Vater sein, richtig?«, fragte sie den Mann.
»Goldrichtig«, bestätigte er. »Ich warte schon den ganzen Tag auf meinen Hasenfratz!«
»Daddy, ich bin kein Hasenfratz! Pass bloß auf, ich hau dich!« Samantha lief zu ihrem Vater und stürzte sich in seine Arme. Sie drückte ihn fest. »Ich hab dich vermisst«, fügte sie in ernstem Ton hinzu.
»Ich dich auch, Schatz«, beteuerte er leise. »Danke dafür, dass Sie auf dieses kleine Geschöpf aufgepasst haben«, fuhr er fort und stellte seine Tochter wieder auf den Boden. Dann streckte er eine Hand aus. »Ich heiße Rick.«
Die Stewardess schüttelte sie. »Debbie. Sie war ganz brav, ich habe mich gern mit ihr beschäftigt. Allerdings brauche ich irgendeinen Ausweis von Ihnen«, erklärte sie. »Bestimmungen und so weiter.«
»Verständlich.« Rick nahm seine Brieftasche heraus. »Genügt das?«
»Wow, Kriminalbeamter … genügt völlig.« Nachdem er ihr den Ausweis gegeben hatte, glich sie seinen Namen mit jenem ab, der auf einer Karte an Sams Hals stand. »Passt alles«, verkündete sie schließlich.
»Nochmals danke. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.« Rick nahm seinen Ausweis wieder entgegen und gab Debbie erneut die Hand. »Gehen wir, Herzchen!«, sagte er zu Sam.
»Bye, Debbie!«, rief die Kleine, während ihr Vater sie zum Gepäckband mitnahm. Die Flugbegleiterin winkte ihr und zog ihren kompakten Rollkoffer Richtung Ausgang.
»Ich mag sie, sie ist nett«, meinte Sam zu ihrem Dad.
»Ich auch, Schatz«, pflichtete er mit nachdenklicher Miene bei. Dann drehte er sich noch einmal um, weil er einen letzten Blick auf Debbie erhaschen wollte, doch sie war schon fort.
»Was suchst du denn, Daddy?«, fragte Sam mit verschmitztem Grinsen.
»Sei nicht so neugierig, sonst setzt's was, Frechdachs!«, knurrte Rick in gespieltem Zorn.
»Ohhh! Daddy, dir gefällt Debbie!«, stichelte das Kind.
»Sie ist hübsch, das stimmt, aber ich kenne sie ja gar nicht. Vielleicht hätte ich –«
Sam unterbrach ihn: »Du hättest sie zum Ausgehen einladen oder wenigstens nach ihrer Nummer fragen sollen, du großes Dummerchen.«
Rick schaute seine Tochter mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Jetzt reicht's … Du legst es darauf an, was?«, wollte er wissen. »Lass uns deine Sachen abholen, Nervensäge.«
Vater und Tochter gingen zur Ausgabe, wo sie sich auf eine Bank setzten. Auf dem Fließband lagen keine Koffer, und es lief auch noch gar nicht.
»Sieht so aus, als hätten wir noch ein paar Minuten, also erzähl mal, wie war dein Flug?« Rick schaute hoch auf einen Fernsehbildschirm, der in der Nähe der Gepäckrücknahme hing. Gerade waren Nachrichten im Programm, doch das Gerät war stumm geschaltet.
»Ganz gut – es war lustig mit Debbie, sie ist fast die ganze Zeit bei mir gewesen.« Sam sprach weiter, doch Rick hörte nicht richtig zu. Er versuchte zu verstehen, was sich in dem Bericht abspielte. Auch ohne Ton schlussfolgerte er, dass die Ausschnitte Aufnahmen von einer Straßenschlacht aus Boston zeigten. Der Sprecher steckte sich einen Finger ins Ohr und schaute nach unten, um zu verstehen, was ihm jemand per Funk mitteilte. Daraufhin drehte er sich mit verwundertem Blick nach links um. Als er sich wieder der Kamera zukehrte, machte er ein finsteres Gesicht. Anscheinend äußerte er dann jene Zeile, für welche Nachrichtensprecher leben: Was Sie nun sehen, ist nichts für zarte Gemüter, und Kinder sollten wegschauen. Die Regie blendete zu einem Lokalreporter über, der ziemlich verängstigt aussah. Eine Gruppe von ungefähr dreißig abgehärmten Personen näherte sich einer Polizeiabsperrung. Diese war augenscheinlich in aller Hast errichtet worden: zwei Streifenwagen, die Kühlergrill an Kühlergrill parkten, und ein paar Yards davor einige Sandsäcke mit etwas Stacheldraht. Sie blockierte fast die ganze Straße. Die Beamten standen hinter den Autos und stützten sich mit gezogenen Waffen auf die Motorhauben oder Kofferraumdeckel. Die Nachrichtenkamera zeigte den Reporter vor diesem Hintergrund, während die Menge aus der Ferne anrückte. Plötzlich – ohne dass sie provoziert worden wäre – eröffnete die Polizei das Feuer auf die unbewaffneten Zivilisten.
»Um Gottes willen!«, wisperte Rick bei sich. Samantha bemerkte nichts, sondern plapperte weiter.
Auf dem Bildschirm zuckten und zitterten die Getroffenen. Einige brachen sofort im Kugelhagel zusammen, doch die meisten wurden nicht einmal langsamer. Rick erkannte, dass ein Teil der Personen, die auf die Polizisten zukamen, schwer verletzt waren. Im selben Augenblick drehte sich einer von ihnen um und blaffte den Reporter an, wobei er auf etwas hinter ihm und seinem Kameramann zeigte. Dieser richtete das Objektiv auf seinen Kollegen, und gemeinsam ergriffen sie die Flucht. Das Gerät blieb eingeschaltet und zeigte ein verwackeltes Bild des Bodens, während die beiden davonrannten. Nach wenigen Sekunden brach die Übertragung ab, und man sah erneut den Sprecher im Studio. All dies hatte sich in sonderbarer, gespenstischer Stille abgespielt.
»Daddy? Daddy!«
Rick zwang sich, vom Bildschirm wegzuschauen.
»Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Sam, während sie zu ihm hochblickte.
»Tut mir leid, Schatz, im Fernsehen sind gerade wichtige Nachrichten gelaufen«, erklärte Rick. Das Laufband setzte sich in Bewegung, und aus einem viereckigen Loch in der hinteren Wand purzelten die ersten Gepäckstücke. »Holen wir deinen Kram«, sagte er.
Als ein Rucksack mit Motiven von Littlest Pet Shop heranrollte, rief Sam: »Da ist er!« Rick hielt einen Gurt fest und wuchtete ihn auf seine Schulter. »Wie sehe ich damit aus?«, fragte er.
»Daddy«, empörte sich das Mädchen. »Deine Schuhe passen überhaupt nicht dazu.«
Die beiden verließen die Flughafenhalle lachend.
Vor dem stummen Fernseher hatte sich ein Auflauf gebildet, und das Gepäckband war vergessen.
Sam war nun schon seit drei Tagen in San Francisco. Sie ging bereitwillig zwischen acht und neun Uhr ins Bett. Nach dem Essen heute Abend – Burger von McDonald's – hatte Rick seine Tochter gegen halb neun mit einem Stofftiger aus dem neusten Disney-Film hingelegt. Das Plüschtier war in einem Happy Meal enthalten und sie sofort vernarrt gewesen. Rick schloss sachte die Tür des Kinderzimmers und schaltete den Fernseher ein. Immer noch bestimmten Nachrichten zum Infektionsausbruch alle Programme. Früher am Tag hatte man die Worte »Krankheit« und »Epidemie« fast beiläufig verwendet, doch nun sahen die Sprecher besorgt aus.
Handfeste Informationen aus Neuengland gab es eigentlich nicht, und Rick konnte sich nicht mit seiner Exfrau Brenda in Verbindung setzen, die nach ihrer Scheidung drei Jahre zuvor gemeinsam mit Sam zurück in den Osten gezogen war. Er machte sich zusehends Sorgen um sie; Brenda gehörte zu jenen Müttern, die jeden Abend anriefen, um mit ihrer Tochter zu sprechen, wenn diese den Vater besuchte, hatte sich aber noch nicht gemeldet, und dass Rick nicht zu ihr durchkam, machte es umso bedenklicher. Weder ihre Festnetz- noch ihre Handynummer funktionierte. Wählte er Erstere, ertönte die Aufnahme »Kein Anschluss unter dieser Nummer«, und das Mobiltelefon schaltete direkt auf Anrufbeantworter. Er kam einfach nicht durch. Rick hatte einen Kumpel in einer SWAT-Einheit in Boston, doch der war ebenfalls nicht erreichbar.
Plötzlich klingelte das Telefon auf dem Beistelltisch laut. Rick hob sofort ab, damit seine Tochter nicht aufwachte. »Ja bitte?«
»Rick, Meara hier, du musst heute Nacht herkommen«, verlangte eine geisterhafte Stimme.
»Mike? Du hast mich zu Tode erschreckt!«, schnaufte Rick in den Hörer.
»Rick, wir brauchen dich jetzt hier, kein Scheiß.«
»Machst du Witze? Ich hab Urlaub, und meine Tochter ist hier, das weißt du!«
»Abgesagt, hol dir einen Babysitter. Der ganze Stab, Streifen wie Detectives, wird einberufen. Da passiert extrem seltsamer Scheiß, so wie drüben an der Ostküste«, erzählte Mike.
Rick gefror das Blut in den Adern. Er hatte im Zusammenhang mit dieser Erkrankung absonderliche Dinge in den Nachrichten mitbekommen – von gewalttätigem Verhalten und Personen, die auf wildfremde Menschen losgingen.
»Es ist zehn Uhr, und ich kann frühestens morgen um sieben da sein; heute Nacht finde ich niemanden mehr, der auf das Kind aufpasst«, erklärte Rick. »Vielleicht meinen Dad«, fügte er hinzu.
»Dann geht es eben nicht anders«, erwiderte Mike. »Bis morgen früh dann.«
Er legte vor Rick auf, der dann leise fluchte. »Wie soll ich das Sam beibringen?«, fragte er sich. »Sie ist gerade erst hergekommen, und ich muss zur Arbeit?« Er griff wieder zum Telefon und wählte die Nummer seines Vaters.
»Hallo?«, hörte er gleich darauf. »Hi Paps, wie geht's dir?«
»Rick! Hi!«, grüßte sein Vater. »Dass ihr zwei morgen vorbeikommt, steht noch, oder?«
»Also, deswegen rufe ich an, Dad«, begann Rick.
»Junge, wenn du mir absagst, mach ich dich verdammt noch mal kalt«, drohte der Ältere. »Ich hab Sammy seit zwei Jahren nicht gesehen.«
»Nein, nein, Dad«, beschwichtigte Rick. »Ich muss notgedrungen auf die Wache, also musst du morgen den Tag über Sams Kindermädchen spielen.«
»Oh, das geht in Ordnung, kein Problem. Ist sonst alles okay? Das hat hoffentlich nichts mit dem Mist zu tun, der gerade im Osten passiert, oder? Ich hab etwas davon in den Nachrichten gesehen – Supertollwut oder so nennen die das.«
»Könnte schon sein, Paps. Meara hat angerufen und gemeint, alle Einheiten würden zusammengetrommelt, also ist was im Busch. Du bist nach wie vor für alle Fälle gerüstet?«
»Nein Rick, nach meiner kleinen Auseinandersetzung mit diesem Strolch wurde meine Dienstwaffe beschlagnahmt. Ich habe sie noch nicht zurückbekommen, das wird noch dauern, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind.«
»Wirst du aber, Dad, weil du so reagiert hast, wie es jeder tun würde«, beteuerte Rick. »Der Mistkerl hat in jener Nacht zwei Leute umgebracht, und du hast dem Mann an der Tankstelle das Leben gerettet, indem du gegen den Abschaum vorgegangen bist. Darum bin ich stolz auf dich, sei dir dessen sicher.«
»Ich bin aber nicht stolz darauf, jemanden auf dem Gewissen zu haben, auch wenn die Frau des Angestellten dort heilfroh gewesen ist, dass ich zufällig da war, als er überfallen wurde«, erinnerte sich Ricks Vater. »Sie hat mir ein paar dieser leckeren kubanischen Sandwiches gebracht, die mit den Essiggurken, und gesagt, sie würde für mich beten. Wie dem auch sei, in meinen dreißig Jahren bei der Polizei habe ich nie auf einen Verdächtigen geschossen; ein Monat in Rente, und ich lege jemanden um. Scheiße. Ein Junkie weniger, so muss ich es wohl sehen.«
»Was du getan hast, war gut, Paps, er wird nie wieder jemanden töten. Aber zurück zur Sache: Ich bringe Sam morgen um halb sieben vorbei, oder ist dir das zu früh?«
»Mir zu früh? Sohn, du weißt, dass ich Frühaufsteher bin. Jetzt im Alter denke ich, dass ich noch genug schlafen kann, wenn ich tot bin.«
»Sag nicht so etwas, Dad«, mahnte Rick, »selbst wenn es irgendwie lustig ist.«
»Lass einem alten Mann seine kleinen Freuden, Junge.«
»Ich hoffe, dass ich später auch mal so zäh bin wie du, altes Schlachtross«, neckte ihn Rick.
»Ich darf mich selbst alt nennen, aber wenn du es tust, verdienst du dir eine Tracht Prügel, du Rotzlöffel«, konterte der Vater.
Rick lachte. »Na gut, Großmaul, aber sprich nicht so vor Sam, ja?«
»Sam, wer ist das?«, feixte der Ältere weiter. »Ach je, mein Alzheimer …«
»Ich bin witziger als du, also spar dir die Mühe – und bis morgen.«
»Gute Nacht«, verabschiedete sich der Vater und legte auf.
Nachdem auch Rick dies getan hatte, ging er in sein Schlafzimmer und öffnete eine verschlossene Kiste. Aus dieser holte er seine Taurus-Dienstpistole – Kaliber .40 – und entsicherte sie. Er nahm sie mit ins Wohnzimmer und machte sich daran, sie gründlich zu reinigen. Währenddessen ertönten draußen vor dem Appartementgebäude Sirenen. Es waren jene von Notarztwagen, nicht von der Polizei, und nichts Besonderes in der Stadt, also schenkte er ihnen kaum Beachtung. Nach der Pflege der Waffe entfernte er den Verschluss und legte sie unter einem Putzlappen auf seinen Nachttisch. Dann trat er vor seinen Schrank, sperrte ihn auf und entriegelte einen hohen Stahlkasten, der darin stand. Dieser enthielt mehrere andere Waffen, und er entnahm ein sorgfältig geöltes Halbautomatikgewehr vom Typ SPAS-12. Nachdem er sie geladen hatte, setzte er den Verschluss auf, legte sie wieder zurück in den Kasten und verriegelte ihn. Schließlich putzte er sich die Zähne und ging ins Bett, wobei er zu der Meinung gelangte, etwas beim Präsidium gut zu haben, weil es ihn dazu zwang, einen gemeinsamen Tag mit seiner Tochter zu opfern.
Als Rick von Lärm vor dem Appartementhaus geweckt wurde, war er zunächst verschlafen. Der Wecker auf seinem Nachttisch zeigte in grünen Digitalziffern 3:12 Uhr an. Jemand brüllte, also ging Rick benommen zum Balkon seiner Wohnung im ersten Stock und schaute hinunter. Er konnte das rotierende Blaulicht eines Krankenwagens sehen, und beim Blick auf die Straße fiel ihm ein Sanitäter ins Auge, der einen offenbar obdachlosen Mann von sich stieß. Ein zweiter Mann in Weiß hielt sich seinen Arm und schrie den Kerl an. Rick erkannte, dass jener blutete. Sein Kollege gab dem Angreifer einen kräftigen Schubs, sodass dieser nach einer halben Drehung unsanft auf seinen Hintern und einen Arm fiel. Vom Balkon aus hörte Rick Knochen brechen und wie der Verletzte den Sanitäter anbrüllte.
»Hey! Hey, was soll das, Mann?«
Der Gefragte blickte auf. »Gehen Sie wieder hinein, Sir, wir klären das hier«, versicherte er. Der Kerl mit dem gebrochenen Arm machte Anstalten, wieder aufzustehen, und wirkte dabei ungerührt.
Rick rief wieder nach unten und zeigte auf den Sanitäter. »Ich bin Polizist, rühren Sie sich nicht von der Stelle!« Damit kehrte er in die Wohnung zurück und schaute nach Sam, die jedoch fest schlief. Er steckte die Taurus ein und – nach kurzer Überlegung – auch Handschellen. Während er zur Tür des Appartements eilte, entsicherte er die Pistole. Da Rick bei den städtischen Gesetzeshütern arbeitete, bestand der Eingang in seine vier Wände aus Stahl. Ein zwei Zoll dickes Metallrohr führte von der Mitte des Türblatts aus in eine Vertiefung im Fußboden. Folglich ließ sie sich nicht ohne Weiteres aufbrechen. Nachdem er den Riegel hochgezogen hatte, betrat er den Flur, sperrte hinter sich ab und lief zum Treppenhaus.
Im Vorbeigehen sah Rick, dass die Wohnungstür seiner Nachbarin Mrs. McCreedy einen Spaltbreit aufstand; sie war Mitte achtzig, und er schaute von Zeit zu Zeit bei ihr nach dem Rechten. Jetzt behielt er die offene Tür im Hinterkopf, während er die Stufen nach unten nahm. Als er das Gebäude verließ, näherte sich der Obdachlose erneut den Sanitätern, wobei sei linker Arm unnatürlich verdreht an seiner Seite schlackerte. Den rechten hielt er vor sich ausgestreckt und griff ins Leere, während er schwerfällig auf die Rettungsleute zuging. Er hatte Rick den Rücken zugekehrt, doch irgendetwas stimmte nicht mit ihm, auch wenn es den Männern, die eigentlich in der Pflicht standen, ihm zu helfen, keinen Grund dafür gab, ihn ernsthaft zu verletzen.
»Sir, ich denke, Sie setzen sich besser und lassen die beiden nach ihrem Arm sehen«, rief Rick von hinten. »Wir werden dieses Missverständnis klären.« Der Kerl beachtete den Polizisten nicht und trat weiter auf die Sanitäter zu, die jetzt zurückwichen.
»Scheiße, Don, der Typ hat 'ne Kanone«, sagte einer der beiden.
»Ich bin Polizist«, wiederholte Rick. »Sir, bitte setzen Sie sich, Ihr Arm ist gebrochen. Sie tun gut daran …« Dann dämmerte ihm, was mit dem Obdachlosen nicht stimmte: Er trug einen feinen Anzug und hochwertige Lederschuhe. Diese Kleidung deutete auf einen relativ wohlhabenden Yuppie hin. Was er trug, hatte mehr gekostet, als Rick im Monat verdiente. Als er ihn einholte, legte er eine Hand auf seine Schulter. »Mister, geht es Ihnen gut?« Der Mann drehte sich um und schlug nach Rick, der jedoch zurückwich und unversehrt blieb. Der Fremde stand fünf Fuß vor ihm und schwenkte seinen rechten Arm. »Hey, ganz ruhig, ich möchte Ihnen nur helfen!« Da ging der Kerl auf ihn los, und Rick trat den Rückzug an.
»Sie da, schauen Sie in seine Augen!«, rief einer der Sanitäter. Rick tat es, indem er seinen Kopf ein wenig zur Seite neigte. Die Augäpfel waren blutrot – nicht blutunterlaufen wie nach einer Nacht im Alkoholrausch, sondern als hätte er heftige Schläge darauf erlitten. Beide bluteten, und auch aus seiner Nase strömte ein Rinnsal. Der Mann kam knurrend auf Rick zu. »Also, das reicht jetzt, Sir, keinen Schritt näher.« Er hielt seine Taurus beidhändig und richtete sie auf den Boden vor den Füßen des Fremden. Dieser hatte ihn entweder nicht gehört oder beherzigte die Aufforderung nicht.
»Sir, ich bin Polizeibeamter. Falls Sie nicht aufhören, sehe ich mich zum Handeln gezwungen.«
»Erschießen Sie ihn«, drängte ein Sanitäter. »Erschießen Sie das Schwein. Er hat mich gebissen, verflucht, er ist durchgedreht!«
»Sir! Bleiben Sie sofort stehen, oder ich schieße!« Der Mann rückte langsam näher, während Rick rückwärtsging.
»Shit«, flüsterte er. Indem er die Taurus wieder sicherte, trat er auf den Kerl zu und schlug sie gegen seine Schläfe. Alles, was ihm seine Ausbildung sagte, ließ darauf schließen, dass diese Person nach dem Hieb gegen den Schädel schachmatt gesetzt sein musste. Richtig ausgeführt führte ein solcher Schlag zu Desorientierung, sodass man den Gegner umgehend unter Kontrolle bringen konnte, ohne ihm ernstlich zu schaden. Der Mann kippte um wie ein nasser Sack. Rick ging an ihm vorbei zu den Sanitätern, die die Augen vor Schreck aufgerissen hatten. »Das ist nicht weiter schlimm; er wird Kopfschmerzen bekommen und vielleicht ein wenig genäht werden müssen, aber schwer verletzt habe ich ihn nicht. Würden Sie ihn für mich untersuchen? Ich möchte mir keine Anzeige einhandeln, falls …«
Rick bemerkte, dass der Sanitäter, den er ansprach, seinem Blick auswich und an ihm vorbei auf die Straße starrte. Als er sich umdrehte, sah er, dass der zerzauste Typ, den er gerade umgehauen hatte, fast schon wieder aufrecht stand.
Der muss sich irgendwelche Drogen eingeworfen haben, argwöhnte Rick. Der Mann kam nun mit ausgestreckter Rechter auf die drei zu. Der Oberarmknochen ragte sichtbar aus seinem blutgetränkten Anzugsakko hervor; eigentlich musste er furchtbare Schmerzen leiden, auch im Drogenrausch.
Rick entsicherte seine Pistole wieder. »Sir, ich habe mich Ihnen gegenüber so freundlich wie möglich gezeigt. Bleiben Sie stehen, oder ich schieße.« Der Mann ging nicht darauf ein. Rick ging in Schussposition und zielte auf ihn. »Sir!«, schrie er, doch sein Gegenüber kam immer näher. »Gottverdammter Mist!«, fluchte Rick und schoss dem Kerl in den rechten Oberschenkel.
»Himmel!«, stöhnte einer der Sanitäter.
Nicht nur, dass der Mann keine Ruhe gab; er schaute auch gar nicht auf die Wunde. Sie bremste ihn nicht aus. Er ging weiter, war jetzt noch zwanzig Fuß weit entfernt. Rick wusste nicht, was er tun sollte. Der Kerl war unbewaffnet, widersetzte sich aber seinen Befehlen. Offensichtlich handelte er nicht vernünftig. Er hatte bereits einen Sanitäter verletzt. »Sie beide werden in dieser Angelegenheit für mich aussagen, oder?«, fragte Rick mit trockenem Mund.
»Verlassen Sie sich drauf, machen Sie ihn kalt!«, bestätigte einer.
»Sir, bitte!«, versuchte Rick es noch einmal, aber der Mann wurde nicht langsamer. Der Polizist konnte nur noch an die Bilder von den Cops in Boston denken, die auf Zivilisten gefeuert hatten. Letzten Endes traf er mitten in die Brust des Mannes. Dieser ging auf einem Knie nieder und stützte sich mit der rechten Hand auf dem Asphalt ab, erhob sich aber nahezu unmittelbar wieder.
»Das kriegt fünfzehn von zehn Punkten auf meiner Skala abgefuckter Aktionen«, bemerkte ein Sanitäter.
Der Mann torkelte weiter auf Rick zu, der erneut feuerte, diesmal in seinen Bauch. Jetzt brachte ihn der Schuss nicht einmal ins Wanken. Erst als er aus einer Entfernung von zehn Fuß in die Stirn getroffen wurde, fiel er rückwärts um. »Das gibt's doch nicht.« Mehr konnte Rick nicht sagen. Er hatte gerade vier Schüsse abgeben müssen, um einen Einarmigen niederzustrecken.
»Halten Sie Abstand von ihm«, trug er den beiden Rettungshelfern auf. »Gut möglich, dass er die gleiche Krankheit hat wie die in Boston.«
»Nein, nein, nein!«, stotterte der Verletzte. »Er hat mich gebissen! Das bedeutet, dass es auch mir bald so dreckig gehen könnte.«
»Komm wieder runter, Randy«, raunte sein Kollege. »Wir fahren zurück ins Krankenhaus und lassen dich untersuchen. Du hast bestimmt nichts.«
Rick näherte sich dem Umgefallenen vorsichtig. Während er die Einschusslöcher betrachtete, fragte er sich, wie irgendjemand nach drei Treffern wie jenen, die er dem Mann vor dem Kopfschuss versetzt hatte, noch weitergehen konnte. »Geben Sie mir eine Decke, die lege ich auf ihn und melde den Vorfall dann«, sprach er. »Außerdem brauche ich Ihre persönlichen Daten. Das wird definitiv Verhöre nach sich ziehen, und Sie beide sind meine Zeugen.«
»Kein Problem«, bekräftigte der eine – Don. »Sie haben ihn bestimmt zehnmal aufgefordert, stehen zu bleiben.«
Er holte ein weißes Laken aus dem Laderaum des Krankenwagens, schien aber davor zurückzuscheuen, näher vor den Toten zu treten, um ihn zuzudecken.
»Lassen Sie mich«, bot Rick ihm an.
»Danke, Mann. Momentan hätte ich am liebsten einen anderen Job.«
Nachdem sich Rick vorgestellt hatte, nahm er die Daten der beiden auf und riet dem Gebissenen, sich durchleuchten zu lassen. »Normalerweise müsste ich Sie zwingen, hier zu warten, aber da Sie verletzt sind, sollten Sie fachliche Hilfe in Anspruch nehmen. In einer Stunde oder so werden Kollegen von mir nach Ihnen fragen, also halten Sie sich bereit.« Rick deckte die Leiche mit dem Laken zu.
Die Sanitäter stiegen in ihren Wagen. »Wir werden den Vorfall auch melden«, sagte Don. »Ich lasse Randy schnell untersuchen, aber die Leitung muss erfahren, was passiert ist.« Rick wunderte sich darüber, dass sich keine Schaulustigen versammelt hatten. Im Allgemeinen zerriss man sich das Maul über einen Beamten, der in eine Schießerei verwickelt wurde, doch nur wenige hatten die Szene beobachtet und zogen sich sofort zurück, als Rick wieder zum Gebäude ging. Überall heulten Sirenen, streng genommen mehr als üblich zu solch früher Stunde, aber kein Einsatzwagen schien in seine Richtung zu kommen.
Er betrat das Haus und wollte den Fall gleich melden. Mrs. McCreedy stand in einem Nachthemd mit Blumenmuster an eine Wand gelehnt auf dem Flur. Sie hatte ihr Gesicht von Rick abgewandt. Er näherte sich von hinten und fasste ihr an die Schulter.
»Alles in Ordnung, Mrs. McCreedy, Sie können sich wieder hinlegen. Da war ein Geistesgestörter vorm Haus.«
Plötzlich fuhr die Frau herum, packte Ricks Hand und zog sie zu ihrem Mund. Sie biss fest in die Außenseite – dort wo der kleine Finger ansetzte –, was höllisch wehtat und Rick gequält aufheulen ließ. Er riss sich los und trat zurück. Die Hand blutete nicht. Seine ältere Nachbarin knurrte aus tiefer Kehle und stürzte auf ihn zu, mit gespreizten Fingern nach ihm schlagend. Auch ihre Augen waren blutrot. Sie bekam sein Shirt zu fassen und versuchte, ihn ins Gesicht zu beißen. Er stieß sie fort, doch sie hielt sich beharrlich fest. Ganz schön stark für eine alte Lady, dachte Rick zuerst. Kurz darauf sah er ein: Kacke, sie hat mich gebissen! Noch ein kräftiger Stoß, und die Frau fiel auf ihren Hintern. Er besah seine Hand mit hochgehaltenem Ballen, indem er sie zwischen dem Daumen und den Fingern der anderen drückte, und drehte sie wiederholt. Zurückgeblieben war ein halbkreisförmiger, roter Abdruck, aber keine Wunde. Die Frau begann, sich aufzurichten, also drückte Rick sie mit einem Fuß nieder. Sie sah ihn an, stieß einen grässlichen Zischlaut aus und sperrte ihren Mund wild fauchend auf. Rick sah schwarz gewordenes Fleisch und keine Zähne. Sie hatte ihr Gebiss nicht eingesetzt. Bevor sie wieder hochkommen konnte, versetzte er ihr noch einen Tritt mit seinem Stiefel, woraufhin sie liegen blieb. Schnell kniete er sich auf ihren Rücken, sodass sie sich praktisch nicht mehr vom Boden erheben konnte. Dann nahm er seine Handschellen heraus, zog ihren linken Arm zurück und legte eine Seite an. Sie wehrte sich erbittert und versuchte weiter nach ihm zu schnappen, doch er bekam ihre rechte Hand zu fassen und schloss den anderen Ring um deren Gelenk. Rick schleifte sie in ihr Appartement und schloss die Tür von außen. Der Mann im Anzug, den er gerade erschossen hatte, war ein Fremder gewesen; auf Mrs. McCreedy konnte er nicht feuern, sie benötigte Hilfe. Er hörte, wie sie drinnen zappelte, um wieder auf die Beine zu kommen. Sie stieß Gegenstände in ihrer Wohnung um, und Rick erkannte, dass eine Lampe auf den Boden krachte. Nach kurzem Nachdenken öffnete er die Tür, legte den Riegel innen um und zog sie von außen wieder zu. Er vergewisserte sich, dass sie verschlossen war, und kehrte in seine Wohnung zurück.
Im Bad wusch er sich dreimal die Hände. Der rote Abdruck verschwand langsam, aber die Hand schmerzte noch immer. Allerdings stellte er erleichtert fest, dass er keine Hautabschürfungen hatte. »Nie wieder werde ich jemanden an der Schulter festhalten«, versprach er sich. »Vollidiot, das war ein Anfängerfehler – zweimal innerhalb von zehn Minuten!«
Draußen blinkten Lichter. Er ging zum Balkonfenster und schaute hinunter. Der Krankenwagen stand noch dort; die beiden Sanitäter hatten die Türen weit aufstehen lassen, waren aber nirgends zu sehen. Dies beunruhigte Rick. Er nahm das Telefon von der Couch, wo er es hingelegt hatte, und rief bei Meara auf der Wache an. Niemand ging ran, also holte er sein Dienstfunkgerät aus dem Schlafzimmer und schaltete es ein. Damit kontaktierte er die Streifenzentrale.
»Dispatch, hier 4044 Denver, erbitte Code 30, wiederhole: Code 30, over.«
»10-2, 4044, sind Sie verletzt? Over«, bekam er zurück, eine merkwürdige Frage.
»Negativ, Dispatch, 4044 meldet 34S mit Beteiligung eines Beamten und Todesfall, over.«
»Verstanden, 4044. Wurden Sie gebissen? Over.«
»Sagen Sie das noch einmal, Dispatch«, verlangte Rick.
»Wiederhole für 4044: Wurden Sie gebissen? Over.«
»Negativ, Dispatch, aber ich brauche Hilfe. Können Sie –«
Die Diensthabende unterbrach Rick: »4044, wurde irgendjemand in Ihrer Nähe gebissen? Over.«
Er antwortete im ungeduldigen Tonfall: »Verstanden, Dispatch, ein Rettungssanitäter wurde gebissen, und zwar von einem –« Abermals schnitt ihm die Funkerin das Wort ab.
»Wo befindet sich der Gebissene? Over.«
Rick ging wieder vom Schlafzimmer zum Balkonfenster und schaute mit seiner Kollegin am Ohr hinaus in die Nacht. Eine Gestalt wankte die Straße hinunter davon.
»Weiß ich nicht, over.« Als das Telefon klingelte, bat Rick die Frau, kurz zu warten.
»Negativ, 4044, zu viel Funkverkehr. Kann Ihrer Bitte nicht nachkommen und empfehle, Sie melden sich entweder im Präsidium oder suchen einen sicheren Unterschlupf und warten dort, bis wir Ihnen helfen können, over.«
Was um alles in der Welt bedeutete das? Er hatte der Funkerin gerade durchgegeben, jemanden erschossen zu haben, und sie tat so, als ob dies unerheblich sei. Einen sicheren Unterschlupf finden? Was meinte sie damit? Rick ging ans Telefon. »Hallo?«
»Rick, ich bin es, Mike.«
»Mensch, was zum Teufel ist los? Ich habe gerade mit der Zentrale gesprochen; ich habe gemeldet, vorhin einen Mann getötet zu haben, doch die Kollegin hat reagiert, als hätte ich nur um Befehle gebeten!« Als sich Rick mit einer Hand über den Kopf fuhr, bekam er nasse Finger; da wurde ihm bewusst, dass ihm der Schweiß ausgebrochen war.
»Die Zentrale wurde damit beauftragt, alle anrufenden Beamten aufzufordern, entweder zur Wache zu kommen oder sich dort zu verschanzen, wo sie sind«, erläuterte Mike. »Rick, hör zu, komm morgen nicht her. Nimm Sam und deinen Dad, dann sieh zu, dass du dich schleunigst aus dem Staub machst.«
»Mein Gott, wovon redest du?«
»Du meintest gestern, es sei unmöglich, Brenda in Boston zu erreichen, nicht wahr? Dass du nicht durchgekommen bist, hat einen triftigen Grund: Boston ist nicht mehr.«
Rick versuchte, ihm ins Wort zu fallen. »Mike, was –«
»Sei still und lass mich ausreden«, fuhr sein Freund fort. »Diese Krankheit an der Ostküste, von der wir erfahren haben, grassiert nicht nur dort, sondern überall, auch hier. Seit ein paar Stunden herrscht völliges Chaos; wirklich jeder in der Stadt ruft den Polizeinotdienst an, weshalb das Telefonpult leuchtet wie ein Weihnachtsbaum. Ein Kumpel von mir, der beim Medizinischen Forschungsinstitut der Army für Infektionskrankheiten arbeitet, hat vor einer Stunde bei mir durchgeklingelt. Er meinte, die Kranken seien ungeheuer gewalttätig und extrem resistent sowohl gegen Schmerzen als auch Verletzungen. Man kann sie in keiner Weise dauerhaft außer Gefecht setzen, außer man zerstört ihr Gehirn. In Boston ist alles aus, tut mir leid.«
»Was heißt das?«, wollte Rick wissen.
»Das heißt, die Situation dort ist gänzlich aus den Fugen geraten. Die Infizierten sind den Gesunden zahlenmäßig so haushoch überlegen, dass ich fürchterliche Angst bekomme, wenn ich daran denke. Die Stadt brennt, und die Armee, die einige Tage lang vor Ort gewesen ist, zieht sich gerade zurück, weil es so schlimm zugeht. Jetzt hat die Krankheit uns erreicht. Die ganze Nacht über gab es Dutzende Anrufe von verstörten Leuten, die behaupteten, von ihren Nachbarn angegriffen zu werden. Ich habe acht Einheiten losgeschickt, um eine kleine Ausschreitung zu zerschlagen, doch von den sechzehn Männern hat nur einer überlebt und ist zurückgekommen.«
»Willst du mich verarschen? Boston ist verloren? Fünfzehn Cops in San Francisco tot?« Rick war sprachlos. Er schaute wieder auf seine Hand, wo Mrs. McCreedy ihn gebissen hatte, und suchte nach offenen Stellen.