Buch:
Crawford Hunt will seine Tochter zurück. Nach dem Tod seiner Frau befindet sich der Texas Ranger in einer Abwärtsspirale, ist zu Büroarbeit degradiert worden und musste seine fünfjährige Tochter wegen eines Gerichtsbeschlusses weggeben. Jetzt hat er sein Leben wieder im Griff, doch das Schicksal seiner kleinen Familie liegt in den Händen von Richterin Holly Spencer. Die erkennt zwar, dass er sein Kind über alles liebt, ist aber unsicher, ob er die Verantwortung wirklich übernehmen kann. Hollys Meinung ändert sich jedoch schlagartig, als während der Anhörung ein bewaffneter Mann auftaucht und Crawford sie gerade noch vor einer Kugel retten kann. Doch der Täter wird nicht gefasst und bleibt eine Bedrohung. Crawford will Holly beschützen – aber die verbotene Anziehungskraft zwischen den beiden macht ihm das nicht leicht …
Autorin:
Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der New-York-Times-Bestsellerliste erreicht! Ihren großen Durchbruch als Thrillerautorin feierte Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland auf die Bestsellerlisten kletterte – ein Erfolg, den sie mit jedem neuen Roman noch einmal übertreffen konnte. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Weitere Informationen finden Sie auf: www.sandra-brown.de
Von Sandra Brown bereits erschienen (Auswahl):
Envy – Neid ∙ Crush – Gier ∙ Rage – Zorn ∙ Weißglut ∙ Eisnacht ∙ Warnschuss · Ewige Treue ∙ Süßer Tod ∙ Sündige Gier ∙ Blinder Stolz (38361) ∙ Böses Herz · Eisige Glut ∙ Sanfte Rache
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Sandra Brown
Tödliche Sehnsucht
Thriller
Deutsch von Christoph Göhler
Prolog
Die zwei standhaften Streifenpolizisten, die an der Absperrung Wache standen, beobachteten sie, ohne irgendeine Regung zu zeigen. Aber ihr war klar, dass die beiden nach dem Presserummel der letzten Tage mit Sicherheit wussten, wer sie war, und dass sie – trotz ihres unnahbaren Auftretens – zu gern gewusst hätten, warum Richterin Holly Spencer sich am liebsten an ihnen vorbeigeschlichen hätte, nur um näher an den Tatort eines Blutbades zu gelangen.
»… Einschusswunde im Brustkorb … Fesselungsmale an den Hand- und Fußgelenken … Halb im, halb außerhalb des Wassers … Gemetzel …« Mit diesen Begriffen hatte Sergeant Lester die Szene jenseits der Absperrung beschrieben und hinzugefügt, dass er ihr die »grausamen Details« noch ersparen würde. Anschließend hatte er sie aufgefordert, von hier zu verschwinden und heimzufahren, weil sie hier nichts verloren hätte und ohnehin nichts unternehmen könnte. Dann hatte er sich unter der Absperrung durchgeduckt, war in seinen Wagen gestiegen und hatte ihn in drei Zügen gewendet, bis die Scheinwerfer wieder in Richtung Tatort gezeigt hatten.
Falls Sie nicht freiwillig ging, würden die beiden Streifenpolizisten sie eskortieren, und das würde noch mehr Aufsehen erregen. Also kehrte sie langsam zu ihrem Wagen zurück.
In den wenigen Minuten, seit sie am Tatort angekommen war, trafen weitere Einsatzkräfte von verschiedenen Polizeibehörden und Rettungsdiensten ein. Eine lange Reihe von PKWs, Pick-ups und SUVs parkte inzwischen links und rechts der kleinen Abzweigung auf beiden Seiten der schmalen Landstraße. Die Abzweigung lag tief im Wald und war nur auf wenigen Straßenkarten verzeichnet. Sie war praktisch unmöglich zu finden, es sei denn, man wusste Bescheid und hielt nach dem Tierpräparator-Schild Ausschau, auf dem ein Gürteltier abgebildet war.
Heute Abend hatte sich der Fleck zu einem Hotspot entwickelt.
Die Stimmung unter den Anwesenden war beinahe festlich. Die blinkenden Lichter der Einsatzfahrzeuge erinnerten Holly an einen Karnevalsumzug. Immer mehr Gaffer trafen ein, vom Unglück angelockt wie Haie vom Blut; sie standen in kleinen Grüppchen, tauschten Gerüchte über die Zahl der Toten aus und spekulierten darüber, wer wohl wie umgekommen war.
Sie hörte, wie in einer Gruppe Wetten darauf abgeschlossen wurden, wer überlebt hatte, und hätte am liebsten laut geschrien: Das ist keine Fernsehshow!
Bis sie bei ihrem Wagen angekommen war, war sie außer Atem und ihr Mund vor Angst wie ausgetrocknet. Sie stieg ein, umklammerte das Lenkrad und presste die Stirn so fest dagegen, dass es wehtat.
»Abfahrt, Euer Ehren.«
Halb zu Tode erschrocken riss sie den Kopf herum. Als sie seine blutdurchtränkten Kleider sah, hauchte sie seinen Namen.
Der riesige rote Fleck war noch so frisch, dass er im Kaleidoskop der roten, weißen und blauen Blinklichter aufglänzte. Seine Augen funkelten sie aus tiefen Höhlen an. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, in denen sich einzelne Haarsträhnen verfangen hatten.
Er kauerte in der Ecke der Rückbank, verharrte dort vollkommen regungslos, das linke Bein ausgestreckt, die Spitze des blutbespritzten Cowboystiefels zum Autohimmel gerichtet. Das rechte Bein hatte er am Knie abgewinkelt. Seine rechte Hand ruhte darauf und hielt eine Pistole umklammert, deren Lauf bösartig auf sie gerichtet war.
»Das ist nicht mein Blut«, sagte er.
»Das hat Neal mir erzählt.«
Er sah an seinem langen Rumpf hinunter und stieß ein kehliges, bitteres Lachen aus. »Er war schon tot, bevor er auf dem Boden aufkam, trotzdem wollte ich ganz sichergehen. Schön blöd. Hab mir damit das Hemd versaut, und es war eins von meinen Lieblingshemden.«
Sie ließ sich weder von seiner vorgetäuschten Gleichgültigkeit noch von seiner entspannten Körperhaltung täuschen. Jederzeit konnte er explodieren, er reagierte wie Nitroglyzerin bei einer Erschütterung.
Weiter vorne begannen Streifenpolizisten, die Reihe der geparkten Fahrzeuge abzugehen und den Fahrern zu signalisieren, die Seitenstreifen freizumachen. Entweder tat sie, was man von ihr verlangte, oder man würde ihn in ihrem Auto erwischen.
»Sergeant Lester hat mir erzählt, dass …«
»Dass ich den Hurensohn erschossen habe? Stimmt. Er ist tot. Und jetzt los.«
1
Fünf Tage zuvor
Crawford Hunts erster Gedanke nach dem Aufwachen war, dass endlich der Tag gekommen war, auf den er so lange hingefiebert hatte. Noch bevor er die Augen aufschlug, spürte er, wie eine glückselige Blase in seiner Brust aufstieg und gleich darauf von einem Stich der Angst zum Platzen gebracht wurde.
Vielleicht würde es nicht so laufen, wie er es sich vorstellte.
Er duschte so effizient wie immer, doch für die Körperpflege nahm er sich heute mehr Zeit als sonst: Er verwendete Zahnseide, rasierte sich gründlicher als üblich und föhnte seine Haare, statt sie wie üblich an der Luft trocknen zu lassen. Allerdings war er nicht besonders gut in Letzterem, und so sahen seine Haare letztendlich aus wie immer – ungebändigt. Warum hatte er nicht daran gedacht, zum Friseur zu gehen?
Er bemerkte ein paar graue Strähnen an seinen Schläfen. Zusammen mit den Fältchen in den Augen- und Mundwinkeln verliehen sie ihm eine gewisse Reife.
Allerdings würde die Richterin sie wahrscheinlich als Relikte eines aufzehrenden Lebens betrachten.
»Drauf gepfiffen.« Der Selbstbetrachtung überdrüssig, wandte er sich vom Badezimmerspiegel ab, ging ins Schlafzimmer zurück und zog sich an.
Er hatte überlegt, ob er einen Anzug tragen sollte, war dann aber zu dem Schluss gekommen, dass das aufgesetzt gewirkt hätte, so als würde er sich zu sehr bemühen, die Richterin zu beeindrucken. Außerdem kam er sich in dem dunkelblauen Wollgemisch vor wie ein Bestatter. Er begnügte sich mit einem Sportjackett und einer Krawatte.
Obwohl ihm der Druck des Holsters am Rücken fehlte, beschloss er, keine Waffe einzustecken.
In der Küche machte er sich Kaffee und eine Schüssel mit Frühstücksflocken, doch kippte er gleich darauf beides in den Ausguss, weil ihm alles auf den Magen schlug. Gerade als die letzten Cheerios verschwanden, rief sein Anwalt an.
»Alles gut?« Dieselben Eigenschaften, die William Moore zu einem guten Anwalt machten, machten die Sympathien für ihn zunichte. Er hatte keine Manieren und null Charme, und obwohl er sich mit seinem Anruf nur nach Crawfords Befinden erkundigen wollte, klang seine Frage wie eine Kampfansage, auf die er eine positive Antwort erwartete.
»Geht schon.«
»Das Gericht tritt um Punkt zwei Uhr zusammen.«
»Weiß ich. Ich wünschte, es würde früher losgehen.«
»Fahren Sie davor in Ihr Büro?«
»Hab’s mir überlegt. Vielleicht. Weiß ich noch nicht.«
»Tun Sie’s. Die Arbeit wird Sie von der Anhörung ablenken.«
Crawford ließ es offen. »Mal sehen, wie es heute Morgen läuft.«
»Nervös?«
»Nein.«
Der Anwalt schnaubte skeptisch. Crawford gab zu, ein leichtes Bauchflattern zu spüren.
»Halten Sie sich genau an das, was wir besprochen haben«, sagte der Anwalt. »Schauen Sie allen in die Augen, vor allem der Richterin. Seien Sie aufrichtig. Sie schaffen das schon.«
Das klang zwar simpel, trotzdem atmete Crawford lang und tief aus. »Ich bin an dem Punkt angekommen, an dem ich alles getan habe, was ich kann. Jetzt liegt alles in der Hand der Richterin, und die hat ihr Urteil wahrscheinlich längst gefällt.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die Entscheidung könnte davon abhängen, wie Sie sich im Zeugenstand schlagen.«
Crawford starrte stirnrunzelnd auf die Basisstation seines Telefons. »Nur gut, dass Sie mir keinen Druck machen.«
»Ich habe ein gutes Gefühl.«
»Besser als andersrum, schätze ich. Aber was ist, wenn ich heute nicht gewinne? Was mache ich dann? Falls ich nicht direkt einen Killer auf Richterin Spencer ansetze.«
»Denken Sie nicht mal daran, dass Sie verlieren könnten.« Als Crawford darauf nichts erwiderte, begann Moore zu dozieren: »Wir können es gar nicht gebrauchen, dass Sie mit Verlierermiene in den Gerichtssaal schleichen.«
»Richtig.«
»Das meine ich ganz ernst. Wenn Sie unsicher wirken, sind Sie erledigt.«
»Richtig.«
»Sie müssen mit Selbstvertrauen und Zuversicht auftreten, so als hätten Sie denen schon längst in den Arsch getreten.«
»Ich hab’s kapiert, okay?«
Endlich reagierte Moore auf den gereizten Tonfall seines Mandanten und trat den Rückzug an. »Wir treffen uns kurz vor zwei vor dem Gerichtssaal.« Dann legte er auf, ohne sich zu verabschieden.
Da Crawford bis zu seinem Gerichtstermin noch Stunden totzuschlagen hatte, unternahm er einen letzten Inspektionsgang durch das Haus. Kühlschrank, Gefrierschrank und Vorratskammer waren gut gefüllt. Gestern hatte er einen Reinigungsservice kommen lassen, und die drei fleißigen Frauen hatten das gesamte Haus blitzblank geputzt. Er räumte noch mal das Bad auf und machte das Bett. Ihm fiel beim besten Willen nichts ein, was er jetzt noch verbessern konnte.
Zuletzt ging er in das zweite Schlafzimmer, das er wochenlang für Georgias Heimkehr vorbereitet hatte, doch er gestattete sich keinen Gedanken daran, dass seine kleine Tochter ab sofort möglicherweise nicht jede Nacht unter diesem Dach verbringen würde.
Die Einrichtung des Kinderzimmers hatte er der Verkäuferin im Möbelgeschäft überlassen. »Georgia ist fünf. Sie kommt in die Vorschule.«
»Lieblingsfarbe?«, hatte sie gefragt.
»Rosa. Zweite Lieblingsfarbe Pink.«
»Haben Sie Preisvorstellungen?«
»Tun Sie sich keinen Zwang an.«
Sie hatte ihn beim Wort genommen. Alles im Zimmer war rosa, bis auf das cremeweiße Bettgestell, die Wäschekommode und den Frisiertisch mit dem ovalen Spiegel, der zwischen zwei gedrechselten Spindeln aufgehängt war.
Er hatte all das ergänzt, was Georgia hoffentlich gefallen würde: Bilderbücher mit pastellfarbenen Umschlägen voller Regenbögen und Einhörner, die reinste Menagerie aus Stofftieren, ein Tutu mit dazu passenden glitzernden Ballettschuhen und eine Puppe mit rosa Prinzessinnenkleid und goldener Krone. Die Verkäuferin hatte ihm versichert, so sehe das Traumzimmer einer jeder Fünfjährigen aus.
Die Einzige, die noch fehlte, war Georgia.
Er ließ den Blick ein letztes Mal durch das Kinderzimmer wandern, verließ dann das Haus und stellte wenig später fest, dass er, ohne es bewusst vorgehabt zu haben, in Richtung Friedhof gefahren war. Zuletzt war er am Muttertag dort gewesen, als er und seine Schwiegereltern Georgia dorthin gebracht hatten, um das Grab ihrer Mutter zu besuchen, an die sie sich aber nicht mehr erinnerte.
Nachdem Georgia mit tiefernstem Gesicht wie angewiesen einen Rosenstrauß auf das Grab gelegt hatte, hatte sie zu ihm aufgesehen und gefragt: »Können wir jetzt Eis essen gehen, Daddy?«
Er hatte seine Schwiegereltern am Grab stehen lassen, damit sie ihrer verstorbenen Tochter gedenken konnten, Georgia auf den Arm genommen und sie zurück zum Auto getragen. Jedes Mal, wenn er so getan hatte, als würde er strauchelnd und stolpernd unter ihrem Gewicht zusammenbrechen, hatte sie fröhlich gequietscht. Beth hätte sich wohl nicht daran gestört. Es wäre ihr doch bestimmt lieber gewesen zu sehen, wie sich Georgia lachend auf ihr Eis gefreut hätte, als dass sie weinend an ihrem Grab stand?
Irgendwie erschien es ihm passend, Beth heute einen Besuch abzustatten, auch wenn er mit leeren Händen kam. Ihm wollte nicht einleuchten, welchen Nutzen jemand von einem Blumenstrauß haben könnte, der bereits unter der Erde lag. Auch richtete er keine Worte an den Geist seiner toten Frau, während er am Grab stand. Er hatte ihr schon vor Jahren alles gesagt, was er zu sagen hatte, und sich nach diesen verbalen Reinwaschungen nie besser gefühlt. Und Beth halfen sie definitiv nicht.
Also starrte er stumm auf das in den Granitstein gemeißelte Datum und verfluchte es, verfluchte sich für seine Schuld und gelobte anschließend, dass er alles in seiner Macht Stehende unternehmen würde, um seine Fehler wiedergutzumachen, falls ihm Georgia zugesprochen werden sollte. Hoffentlich schenkte ihm irgendein kosmischer Puppenspieler Gehör.
Holly sah kurz auf ihre Uhr, während sie im Erdgeschoss des Gerichtsgebäudes auf den Aufzug wartete. Als er ankam und die Tür aufglitt, verkniff sie sich ein Stöhnen, weil sie zwischen den Fahrgästen Greg Sanders entdeckte.
Sie machte einen Schritt zur Seite, damit alle aussteigen konnten. Sanders trat nur bis an die Schwelle, dann blieb er stehen und hinderte sie so am Einsteigen.
»Richterin Spencer«, begrüßte er sie genüsslich. »Wie schön, dass wir uns hier treffen. So können Sie mir als Erste gratulieren.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Gibt es denn einen Grund zum Gratulieren?«
Er legte die Hand an die Tür, sodass sie sich nicht schließen konnte. »Ich komme gerade aus der Verhandlung. Das Urteil im Mallory-Fall? Nicht schuldig.«
Holly zog die Stirn in Falten. »Für mich wäre das kein Grund zum Feiern. Ihr Mandant stand vor Gericht, weil er einen bewaffneten Raubüberfall begehen wollte und dabei eine Supermarktangestellte niedergeschlagen hat. Die Angestellte hat dabei ein Auge verloren.«
»Aber mein Mandant hat den Laden nicht ausgeraubt.«
»Weil er glaubte, dass er die Angestellte erschlagen hat und darauf in Panik flüchtete.« Sie war mit dem Fall vertraut, doch weil der Verteidiger, Sanders, bei den Wahlen für das Richteramt am District Court gegen sie antrat, war das Verfahren an eine andere Kammer weitergeleitet worden.
Greg Sanders ließ ein selbstzufriedenes Schmunzeln aufblitzen. »Der stellvertretende Staatsanwalt hat es nicht fertiggebracht, seine Anklagepunkte zu untermauern. Mein Mandant …«
»Sie haben Ihr Plädoyer schon vor Gericht gehalten«, fiel Holly ihm ins Wort. »Ich würde nicht im Traum daran denken, Sie zu bitten, es hier und jetzt ein zweites Mal zu halten. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden?«
Sie schob sich an ihm vorbei in den Lift. Er trat aus der Kabine, drückte aber weiter mit der Hand gegen die Tür. »Ich fahre einen Sieg nach dem anderen ein. Und im November …« Er zwinkerte ihr zu. »Den alles entscheidenden Sieg.«
»Dann steht Ihnen eine enorme Enttäuschung bevor, fürchte ich.« Sie drückte den Aufzugknopf für den fünften Stock.
»Diesmal gibt es keinen Richter Waters, der Ihnen den Steigbügel hält.«
Sie belegten einen von drei Aufzügen mit Beschlag. Um sie herum verloren die Menschen allmählich die Geduld und bedachten sie mit gehässigen Blicken. Abgesehen davon, dass sie anderen Unannehmlichkeiten bereiteten, würde sie sich nicht dazu verleiten lassen, sich oder ihren Mentor gegenüber Greg Sanders zu verteidigen. »Ich habe in fünfzehn Minuten eine Verhandlung. Bitte geben Sie jetzt die Tür frei.«
Inzwischen musste Sanders sichtbar gegen den Schließmechanismus ankämpfen. So leise, dass nur sie es hören konnte, murmelte er: »Was könnte eine hübsche junge Anwältin wie Sie wohl für den alten Richter Waters getan haben, damit er sich beim Gouverneur derart für Sie ins Zeug legt?«
Das »hübsch« war nicht als Kompliment, sondern herablassend gemeint.
Sie reagierte mit einem verächtlichen Lächeln. »Ernsthaft, Mr. Sanders? Sie müssen ja extrem nervös sein, was den Ausgang der Wahl im November angeht, wenn Sie nicht mal davor zurückschrecken, dem ehrenwerten Richter Waters und mir ein Verhältnis zu unterstellen.« Ohne höfliche Aufforderung befahl sie dieses Mal laut und deutlich: »Und jetzt lassen Sie die Tür los.«
Er hob kapitulierend die Hände und trat einen Schritt zurück. »Sie werden es verbocken. Nur eine Frage der Zeit.« Die Tür schloss sich vor seinem grinsenden Gesicht.
Als Holly ihr Büro betrat, löffelte ihre Assistentin Mrs. Debra Briggs gerade einen Becher Joghurt an ihrem Schreibtisch. »Auch einen?«
»Nein, danke. Ich komme eben aus einem verbalen Waffengang mit meinem Widersacher.«
»Wenn Ihnen das nicht den Appetit verdirbt, dann wüsste ich nicht, was. Mich erinnert er immer an den alten Maulesel, den mein Grandpa damals hatte.«
»Da gibt es bestimmt Ähnlichkeiten. Langes Gesicht, große Ohren, riesiges Gebiss.«
»Ich dachte eher an das andere Ende des Mulis.«
Holly lachte. »Irgendwelche Nachrichten?«
»Marilyn Vidal hat zweimal angerufen.«
»Rufen Sie sie zurück und sagen Sie ihr, dass ich eine Verhandlung habe. Ich melde mich nach der Anhörung bei ihr.«
»Dass sie so lange warten muss, wird ihr nicht gefallen.«
Marylin war ein Energiebündel, das ihren Wahlkampf orchestrierte. Sie konnte nervtötend hartnäckig sein. »Nein, ganz sicher nicht, aber sie wird nicht daran sterben.«
Holly ging weiter in ihr Richterzimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie brauchte ein paar Minuten für sich, um sich vor der anstehenden Sorgerechtsanhörung zu sammeln. Die Begegnung mit Sanders hatte bei ihr – auch wenn sie sich das nicht gern eingestand – ein befremdliches Unbehagen hinterlassen. Eigentlich war sie zuversichtlich, dass sie ihn bei der anstehenden Wahl schlagen würde und das Richteramt, das ihr vorübergehend zugesprochen worden war, gegen ihn verteidigte.
Doch während sie den Reißverschluss ihrer Robe zuzog, hallte in ihr seine Abschiedsbemerkung nach wie eine unheilschwangere Prophezeiung.
»Crawford?«
Er war extra früher gekommen und versuchte seither, während er im vierten Stock des altehrwürdigen Gerichtsgebäudes des Prentiss County durch eine wellige Fensterscheibe nach draußen starrte, alle negativen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.
Er drehte sich um. Grace und Joe Gilroy kamen auf ihn zu, mit ernsten Mienen, wie es dem Anlass angemessen war.
»Hi, Grace.«
Seine zierliche Schwiegermutter war hübsch und hatte ein sanftes Wesen, das aus ihren Augen strahlte. Die äußeren Augenwinkel waren leicht nach oben gezogen, eine Eigenheit, die Beth von ihr geerbt hatte. Er und Grace umarmten sich kurz.
Nachdem sie sich von ihm gelöst hatte, musterte sie ihn wohlwollend. »Gut siehst du aus.«
»Danke. Hallo, Joe.«
Er gab Grace frei und reichte Beths Dad die Hand. Joe war Hobbyschreiner, was die Schwielen unterhalb der Finger bezeugten. Sein Händedruck war fest, doch eigentlich war alles an Joe Gilroy fest für einen Mann von gut siebzig Jahren.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
Crawford lächelte angestrengt. »Exzellent.«
Joe sah nicht so aus, als würde er ihm die Übertreibung glauben, aber er sagte nichts. Genauso wenig erwiderte er Crawfords Lächeln.
»Ich schätze, wir sind alle ein bisschen nervös«, sagte Grace. Sie zögerte kurz und fragte Crawford dann, ob er mit einem guten oder schlechten Gefühl in die Anhörung gehe.
»Ob ich gewinne oder verliere, meinst du?«
Sie sah ihn gequält an. »Du solltest nicht in Begriffen wie Gewinnen oder Verlieren denken.«
»Tust du es denn nicht?«
»Wir wollen nur das Beste für Georgia«, sagte Joe. Womit er meinte, dass es das Beste für das Mädchen wäre, wenn es bei ihnen blieb. »Und ich bin sicher, dass Richterin Spencer das auch will.«
Crawford verkniff sich eine Antwort und beschloss, sich seine Argumente für den Gerichtssaal aufzusparen. Sie hier draußen vorzutragen, würde nichts bringen und nur Feindseligkeiten schüren. Es war schlicht so, dass er und seine Schwiegereltern sich heute in einem Rechtsstreit gegenüberstanden, dessen Ausgang sich massiv auf alle Beteiligten auswirken würde. Eine von beiden Parteien würde den Gerichtssaal als unglücklicher Verlierer verlassen. Falls die Richterin zu Joes und Graces Gunsten entschied, würde Crawford ihnen nicht gratulieren können, und er würde ihnen vorab bestimmt kein Glück wünschen. Er ging davon aus, dass sie ihm gegenüber ähnlich empfanden.
Da sich beide Parteien darauf geeinigt hatten, Georgia aus dem Verfahren herauszuhalten, erkundigte sich Crawford bei Grace, wo sie die Kleine für die Zeit der Anhörung untergebracht hatten. »Sie ist heute Nachmittag bei der Enkelin unserer Nachbarin. Sie war schrecklich aufgeregt, als ich sie dort abgesetzt habe. Sie wollen Plätzchen backen.«
Crawford verzog das Gesicht. »Letztes Mal waren sie in der Mitte noch ganz matschig.«
»Sie holt sie immer zu früh aus dem Ofen«, sagte Joe.
Crawford lächelte. »Sie will sie immer sofort probieren.«
»Sie muss lernen, Geduld zu bewahren.«
Crawford musste die Zähne zusammenbeißen, damit ihm das Lächeln nicht verrutschte. Sein Schwiegervater verstand es, Seitenhiebe auszuteilen, die auf Crawfords charakterliche Mängel zielten. Der hier hatte gesessen, das Timing war perfekt. Doch ehe Crawford etwas erwidern konnte, trat der Anwalt der Gilroys aus dem Lift. Die beiden entschuldigten sich und gingen zu ihm, um sich mit ihm zu beraten.
Kurz darauf traf auch Crawfords Anwalt ein. Bill Moores Schritt war so forsch wie sein Auftreten. Heute allerdings wurde sein Marschtempo von Dutzenden möglicher Geschworener gebremst, die nach dem richtigen Gerichtssaal suchten und dabei den Korridor verstopften.
Der Anwalt pflügte zwischen ihnen durch und begrüßte Crawford, bevor sie gemeinsam in Richterin Spencers Gerichtssaal traten.
Chet Barker, der Gerichtsdiener, war eine Institution, der über eine ausladende Erscheinung mit einem ebenso großen Herzen verfügte. Er begrüßte Crawford mit Namen. »Der große Tag, wie?«
»Ganz genau, Chet.«
Der Gerichtsdiener schlug ihm auf die Schulter. »Viel Glück.«
»Danke.«
Crawfords Hintern hatte kaum die Sitzfläche seines Stuhles berührt, da forderte Chet die Anwesenden auf, sich zu erheben. Die Richterin betrat den Saal, stieg auf das Podium und setzte sich auf einen Stuhl mit hoher Lehne, der Crawford unangenehm an einen Thron erinnerte. In gewisser Weise war es auch einer. Hier herrschte allein die ehrenwerte Richterin Holly Spencer.
Chet erklärte die Verhandlung für eröffnet und forderte alle Anwesenden auf, sich wieder zu setzen.
»Guten Nachmittag«, sagte die Richterin. Sie fragte die Anwälte, ob alle Parteien anwesend seien, und faltete, als die Formalitäten erledigt waren, die Hände auf dem Pult zusammen.
»Ich habe diesen Fall zwar von Richter Waters übernommen, aber mich bereits damit vertraut gemacht. So wie ich die Situation erfasse, beantragten Grace und Joe Gilroy im Mai 2010 das einstweilige Sorgerecht für ihre Enkelin Georgia Hunt.« Sie sah Crawford an. »Sie, Mr. Hunt, haben damals keinen Einspruch eingelegt.«
»Nein, Euer Ehren, das habe ich nicht.«
William Moore erhob sich. »Wenn Sie gestatten, Euer Ehren?«
Sie nickte.
Maschinengewehrfeuerschnell ratterte der Anwalt die wichtigsten Punkte von Crawfords Sorgerechtsantrag herunter und fasste zusammen, warum es nur richtig und an der Zeit sei, dass Georgia wieder zu ihm zurückkehrte. »Mr. Hunt ist Georgias Vater«, beendete er seine Salve. »Er liebt sie, und seine Zuneigung wird erwidert, wie zwei Kinderpsychologen attestieren. Ich nehme an, Sie haben eine Kopie der Gutachten?«
»Ja, und ich habe beide gelesen.« Die Richterin betrachtete Crawford nachdenklich und sagte dann: »Mr. Hunt wird Gelegenheit bekommen, seinen Fall vorzutragen, doch erst möchte ich die Gilroys zu Wort kommen lassen.«
Ihr Anwalt sprang auf, als könnte er es nicht erwarten, seine Einwände gegen Crawfords Antrag vorzubringen. »Vor vier Jahren gab es massive Zweifel an Mr. Hunts psychischer Stabilität, Euer Ehren. Er überließ seine Tochter widerspruchslos ihren Großeltern, was darauf schließen lässt, dass er sein Kind in ihrer Obhut besser aufgehoben wusste.«
Die Richterin hob die Hand. »Mr. Hunt hat zugestanden, dass es zu diesem Zeitpunkt in Georgias bestem Interesse war, sie bei ihren Großeltern zu lassen.«
»Wir hoffen, das Gericht davon zu überzeugen, dass sie auch bei ihnen bleiben sollte.« Er rief Grace als Zeugin auf. Sie wurde vereidigt. Während sie sich im Zeugenstand niederließ, schenkte Richterin Spencer ihr ein aufmunterndes Lächeln.
»Mrs. Gilroy, warum fechten Sie und Ihr Mann den Sorgerechtsantrag Ihres Schwiegersohns an?«
Grace fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Also, unser Haus war schon immer Georgias Zuhause. Wir haben alles getan, damit wir ihr eine liebevolle und fürsorgliche Umgebung schaffen.« Es folgte eine ausführliche Schilderung, was für ein gesundes Familienleben sie führten.
Richterin Spencer unterbrach sie schließlich. »Mrs. Gilroy, niemand in diesem Gerichtssaal, nicht einmal Mr. Hunt, zweifelt an, dass Sie Georgia ein wunderbares Heim geschaffen haben. Meine Entscheidung wird nicht davon abhängen, wie gut Sie für Ihre Enkelin gesorgt haben, sondern davon, ob Mr. Hunt willens und fähig ist, seiner Tochter ein ebenso gutes Heim zu bieten.«
»Ich weiß, dass er sie liebt.« Grace warf ihm einen verlegenen Blick zu. »Aber Liebe allein genügt nicht. Damit sich ein Kind geborgen fühlt, braucht es Beständigkeit und Regelmäßigkeit. Und da Georgia keine Mutter hat, braucht sie das, was dem am nächsten kommt.«
»Ihren Daddy.« Mit seinem gemurmelten Kommentar zog Crawford sich missbilligende Blicke von allen Seiten zu, auch von der Richterin.
Bill Moore drückte seinen Arm und flüsterte: »Sie kommen schon noch an die Reihe.«
Die Richterin stellte Grace noch einige Fragen, doch kurz gesagt glaubte seine Schwiegermutter, dass es einen ungesunden Bruch in Georgias jungem Leben bedeuten würde, wenn sie jetzt aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen würde. Sie schloss mit dem Satz: »Mein Ehemann und ich fürchten, dass eine Trennung von uns sich nachteilig auf Georgias emotionale und psychologische Entwicklung auswirken würde.«
Für Crawford hörte sich die Erklärung vorgefertigt an, wie auswendig gelernt, als stammten die Worte nicht von Grace selbst, sondern von ihrem Anwalt, der sie ihr in den Mund gelegt hatte.
Richterin Spencer fragte Crawfords Anwalt, ob er Fragen an Mrs. Gilroy habe. »Ja, Euer Ehren, die habe ich.« Er trat an den Zeugenstand und kam ohne Umschweife zur Sache. »Georgia verbringt die Wochenenden oft bei Mr. Hunt, ist das richtig?«
»Ja, das stimmt. Seit wir damals das Gefühl hatten, dass Georgia alt genug ist, um woanders zu übernachten, und seit wir Crawford so weit … vertrauen konnten, erlauben wir ab und zu, dass er Georgia über Nacht bei sich behalten darf. Manchmal auch zwei Nächte.«
»Und welchen Eindruck macht Georgia auf Sie, wenn sie nach diesen Übernachtungen bei ihrem Vater wieder zu Ihnen kommt?«
»Wie meinen Sie das?«
»In welcher Verfassung, in welchem Allgemeinzustand ist sie dann? Kommt sie weinend und mit ausgestreckten Armen angelaufen, ist sie froh, dass sie wieder bei Ihnen ist? Wirkt sie eingeschüchtert, verängstigt, traumatisiert? Zeigt sie Anzeichen einer seelischen Belastung? Wirkt sie in sich gekehrt und verschlossen?«
»Nein. Sie wirkt … ganz normal.«
»Sie weint nur, wenn ihr Vater sie wieder abgibt. Stimmt das nicht?«
Grace zögerte. »Manchmal weint sie, wenn er sie zurückbringt. Aber nur gelegentlich. Nicht jedes Mal.«
»Und sie weint eher, wenn sie länger bei ihm zu Besuch war«, stellte der Anwalt klar. »Mit anderen Worten, je länger Georgia bei ihm ist, desto größer sind ihre Verlustängste, wenn sie zu Ihnen zurückgebracht wird.« Er sah, dass der Anwalt der Gilroys Einspruch erheben wollte, und winkte ihn auf seinen Platz zurück. »Unzulässige Schlussfolgerung meinerseits.«
Er entschuldigte sich bei der Richterin, aber Crawford war klar, dass es ihm keineswegs leidtat, sein Argument vor- und damit zu Protokoll gebracht zu haben.
Er wandte sich wieder an Grace. »Wann haben Sie Mr. Hunt zuletzt betrunken gesehen?«
»Das ist schon eine Weile her. Ich kann mich nicht genau erinnern.«
»Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr?«
»Länger.«
»Länger als ein Jahr«, wiederholte Moore. »Vielleicht vier Jahre? Als ihm die Trauer nach dem Verlust seiner Frau am schlimmsten zusetzte?«
»Ja, aber …«
»Hat Mr. Hunt Ihres Wissens je getrunken, während Georgia bei ihm war?«, unterbrach er sie barsch.
»Nein.«
»Die Beherrschung verloren und sie geschlagen?«
»Nein.«
»Hat er Georgia angeschrien, sie beschimpft oder sich in ihrer Gegenwart vulgär ausgedrückt?«
»Nein.«
»Ihr nichts zu essen gegeben, wenn sie hungrig war?«
»Nein.«
»Sie nicht angeschnallt, wenn sie im Auto saß? Sie versetzt, wenn sie auf ihn gewartet hat? Hat er je in irgendeiner Hinsicht die körperlichen oder emotionalen Bedürfnisse seiner Tochter vernachlässigt?«
Grace senkte den Kopf und gestand leise: »Nein.«
Moore wandte sich an die Richterin und breitete die Arme aus. »Euer Ehren, mit diesem Verfahren verschwenden wir die Zeit des Gerichts. Mr. Hunt hat Fehler gemacht, was er bereitwillig eingesteht. Doch seither hat er sein Leben neu geordnet. Er ist von Houston nach Prentiss gezogen, nur damit er seine Tochter regelmäßig sehen kann. Er hat sich einer Therapie unterzogen, wie es Ihr Vorgänger vor zwölf Monaten angeordnet hat. Er ist noch genauso entschlossen wie vor einem Jahr, das Sorgerecht für seine Tochter zurückzubekommen, und ich möchte in aller Form vortragen, dass es für Mr. und Mrs. Gilroy keinerlei Grund gibt, abgesehen von egoistischem Eigeninteresse, den Antrag meines Mandanten anzufechten.«
Der Anwalt der Gilroys sprang auf. »Euer Ehren, die Gründe für die Anfechtung meiner Mandanten sind aktenkundig. Mr. Hunt hat sich als unfähig erwiesen …«
»Ich habe die Akte vorliegen, danke«, fiel Richterin Spencer ihm ins Wort. »Mrs. Gilroy, Sie sind entlassen. Ich möchte jetzt Mr. Hunt in den Zeugenstand rufen.«
Grace wirkte zerknirscht, als sie aus dem Zeugenstand trat, so als hätte sie ihrer Sache einen schlechten Dienst erwiesen.
Crawford stand auf, strich seine Krawatte glatt und ging zum Zeugenstand. Chet vereidigte ihn. Crawford setzte sich und sah zur Richterin – sah ihr offen in die Augen, so wie Moore es ihm eingetrichtert hatte.
»Mr. Hunt, vor einigen Jahren weckten Sie durch Ihr Verhalten Zweifel an Ihrer Eignung, ein guter Vater zu sein.«
»Darum habe ich auch keinen Einspruch eingelegt, als Joe und Grace damals das einstweilige Sorgerecht für Georgia zugesprochen bekamen. Georgia war erst dreizehn Monate alt, als Beth starb. Sie brauchte ständige Fürsorge, und die konnte ich ihr nicht bieten. Wegen meiner Arbeitsverpflichtungen und anderer Probleme.«
»Erheblicher Probleme.«
Es war keine Frage. Darum hielt er lieber den Mund.
Die Richterin blätterte in mehreren offiziell aussehenden Papieren und fuhr dann mit einem Finger eine Seite entlang. »Sie wurden festgenommen und haben sich der Trunkenheit am Steuer schuldig bekannt.«
»Ein einziges Mal. Aber ich …«
»Sie wurden wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angezeigt und …«
»Weil ich urinieren musste …«
»… Körperverletzung.«
»Es war eine Schlägerei in einer Kneipe. Jeder, der damals auch nur einen Schlag gelandet hatte, wurde verhaftet. Ich wurde entlassen, ohne dass …«
»Ich habe die Akte vorliegen.«
Vor Wut köchelnd saß er da und musste zuschauen, wie seine Vergangenheit über seine Zukunft hinwegwalzte. Richterin Holly Spencer kannte keine Nachsicht. Nachdem sie ihn lange und nachdenklich gemustert hatte, blätterte sie erneut in den Papieren, die sie als seine »Akte« bezeichnet hatte. Er fragte sich, wie schlimm seine Vergehen wirken mussten, wenn sie schwarz auf weiß ausgedruckt waren. Wenn ihre strenge Miene einen Anhaltspunkt bot, dann nicht besonders gut.
Schließlich fasste sie zusammen: »Sie haben alle Therapiesitzungen besucht.«
»Richter Waters hat klargestellt, dass die Sitzungen verpflichtend sind. Alle fünfundzwanzig. Ich habe darauf geachtet, dass ich keine verpasse.«
»Der Bericht der Therapeutin sieht gut aus. Ihr zufolge haben Sie bemerkenswerte Fortschritte gemacht.«
»Das denke ich auch. Ich weiß es.«
»Ich weiß Ihr Pflichtbewusstsein zu würdigen, Mr. Hunt, und ich bewundere den Eifer, mit dem Sie das Sorgerecht für Ihre Tochter, die Sie ganz offensichtlich lieben, wiederzuerlangen versuchen.«
Jetzt kommt’s, dachte er.
»Allerdings …«
Die hintere Tür des Gerichtssaals flog auf, und eine Gestalt wie aus einem Horrorfilm kam durch den Mittelgang gerannt, eine Pistole in der ausgestreckten Hand. Die erste Kugel schlug in der Wand hinter dem Zeugenstand ein, genau auf halber Strecke zwischen Crawford und Richterin Spencer.
Die zweite traf den Gerichtsdiener Chet Barker in die Brust.