Buch
Iris droht in ihrem kleinbürgerlichen Leben zu ersticken. Ihre Ehe verläuft schon lange nicht mehr glücklich, und ihr Job in einer Bank deprimiert sie. Einziger Lichtblick ist ihre Nähmaschine, mit der sie voller Herzblut wunderschöne Kleider schneidert. Nach einem Streit mit ihrem Mann reist sie kurz entschlossen nach Paris, um sich dort ihren Lebenstraum zu erfüllen und eine professionelle Ausbildung zur Schneiderin zu beginnen. Ihre ungewöhnliche neue Chefin Marthe ist sofort begeistert von ihrem Talent und bietet ihr ein kleines Atelier an. Iris’ Glück scheint sich endlich zu wenden – bis sie Gabriel kennenlernt, der alles auf den Kopf stellt …
Autorin
Agnès Martin-Lugand ist Psychologin und war sechs Jahre im Rahmen eines Kinderschutzprogramms tätig. Seit dem Überraschungserfolg von Glückliche Menschen küssen auch im Regen und Abschiedsküsse zählt man nicht widmet sie sich nur noch dem Schreiben. Agnès Martin-Lugand lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in der Normandie. Das kleine Atelier der Mademoiselle Iris ist ihr dritter Roman bei Blanvalet.
Von Agnès Martin-Lugand bei Blanvalet bereits erschienen:
Glückliche Menschen küssen auch im Regen
Abschiedsküsse zählt man nicht
Das kleine Atelier der Mademoiselle Iris
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Agnès Martin-Lugand
Roman
Aus dem Französischen
von Doris Heinemann
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Entre mes mains le bonheur se faufile« bei Editions Michel Lafon, Paris.
1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © Michel Lafon Publishing 2014,
Entre mes mains le bonheur se faufile
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Alexandra Baisch
Umschlaggestaltung und -illustration: www.buerosued.de
JF · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-17896-3
V001
www.blanvalet.de
Für Guillaume, Simon-Aderaw
und Rémi-Tariku,
ihr seid mein Glück
Glück gibt es nur
als Erfüllung eines Kinderwunsches.
SIGMUND FREUD
Das schönste Kleid einer Frau
sind die Arme des Mannes, den sie liebt.
YVES SAINT LAURENT
1
Wie jeden Sonntagmittag wollte ich nicht hin. Wie jeden Sonntagmittag trödelte ich herum und versuchte, ein bisschen Zeit herauszuschinden. Nur …
»Iris!«, rief Pierre. »Was treibst du noch?«
»Schon gut, komme gleich.«
»Beeil dich ein bisschen, wir kommen noch zu spät.«
Warum hatte mein Mann es so eilig, zum Mittagessen zu meinen Eltern zu fahren? Während ich sonst was in Kauf genommen hätte, um diesem Essen zu entgehen. Das einzig Gute daran war, dass ich mein neustes Kleid einweihen konnte. Am Abend vorher hatte ich ihm den letzten Schliff gegeben und war nun mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Ich tat, was ich konnte, um mein Nähtalent zu pflegen und nicht aus der Übung zu kommen. Außerdem vergaß ich beim Schneidern alles: meine sterbenslangweilige Arbeit bei der Bank, die Routine meines Lebens und den Niedergang unserer Beziehung. Ich hatte dann nicht mehr den Eindruck zu verlöschen. Im Gegenteil, ich fühlte mich lebendig: Wenn ich an meiner geliebten Nähmaschine saß oder Entwürfe zeichnete, pulsierte das Leben in mir.
Ich betrachtete mich ein letztes Mal im Spiegel und seufzte.
Dann ging ich zu Pierre in die Diele, er stand da und tippte auf seinem Handy herum. Ich beobachtete ihn einige Augenblicke lang. Jetzt kannte ich ihn schon seit zehn Jahren, doch seine Sonntagskluft hatte sich um kein Jota verändert: Oxfordhemd, Baumwollhose und die ewigen Bootsschuhe.
»Da bin ich«, sagte ich.
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn bei etwas ertappt, und steckte das Telefon in die Tasche.
»Wurde auch Zeit«, schimpfte er und zog seine Jacke über.
»Sieh mal, das hab ich gestern fertig genäht. Wie findest du es?«
»Sehr hübsch. Wie immer.«
Er hatte schon die Haustür geöffnet und war auf dem Weg zum Wagen. Mir hatte er keinen einzigen Blick gegönnt. Wie immer.
Punkt 12 Uhr 30 parkte er unseren Wagen vor dem Haus meiner Eltern. Mein Vater machte uns die Tür auf. Das Rentnerdasein bekam ihm nicht gut, sein Bauch wurde stetig dicker, und sein Sonntagsschlips schien ihn immer mehr zu beengen. Er schüttelte seinem Schwiegersohn die Hand und gab seiner Tochter einen flüchtigen Kuss, bevor er Pierre ins Wohnzimmer zog, um den traditionellen Portwein zu trinken. Ich begrüßte kurz meine beiden älteren Brüder, die schon beim zweiten Glas waren. Einer lehnte am Kamin, der andere saß Zeitung lesend auf dem Sofa, allgemeines Gesprächsthema war die aktuelle politische Lage. Dann ging ich zu den Frauen in die Küche. Meine Mutter, die Schürze um die Taille gebunden – und das nun schon seit vierzig Jahren –, überwachte die sonntägliche Lammkeule und öffnete Dosen mit grünen Bohnen, während meine Schwägerinnen sich um das Mittagessen ihrer Sprösslinge kümmerten. Die Kleinsten bekamen die Brust. Die Größeren unterbrachen ihr Festmahl – Dauphine-Kartoffeln mit einer Scheibe kaltem Braten –, um ihre Tante auf die Wange zu küssen. Ich half meiner Mutter ein wenig, schleuderte den Salat und rührte die Salatsoße an, während ich allen dreien zuhörte, wie sie über Madame X schwatzten, die einen Aufruhr in der Apotheke veranstaltet habe, und über Monsieur Y, bei dem Prostatakrebs diagnostiziert worden sei. Und meine Mutter kommentierte je nachdem: »Sie sollte sich schämen, sich so aufzuführen, das gehört sich wirklich nicht.« Oder: »Das ist schon traurig, er ist noch so jung …« Ich für meinen Teil schwieg, ich hasste solchen Tratsch.
Ich schwieg auch während des Essens, bei dem wie immer mein Vater den Vorsitz führte. Hin und wieder warf ich einen Blick auf Pierre, der jedoch fühlte sich pudelwohl in meiner Familie, die doch so langweilig war und das genaue Gegenteil meiner Wünsche und Hoffnungen. Um mich abzulenken, machte ich mich nützlich wie früher, als ich noch »die Tochter des Hauses« war. Natürlich, wir waren ja auch die einzigen Kinderlosen. Als ich die Käseplatte brachte, sprach mich eine meiner Schwägerinnen an.
»Iris, dein Kleid ist toll! Wo hast du es aufgetrieben?«
Ich lächelte ihr zu und spürte endlich Pierres Blick auf mir ruhen.
»Auf meinem Speicher.«
Sie runzelte die Stirn.
»Ich habe es selbst genäht.«
»Stimmt, ich hatte vergessen, dass du ab und zu ein bisschen nähst.«
Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie nicht die Einzige war, die es vergaß, aber ich schwieg. Ich hatte keine Lust, gerade jetzt einen Streit vom Zaun zu brechen.
»Du hast wirklich Talent, ich bin ganz hin und weg. Glaubst du, du könntest mir auch eins nähen?«
»Gern, wenn du möchtest. Lass uns noch mal darüber sprechen.«
Es grenzte an ein Wunder, dass sie ernsthaft daran dachte, ein Kleid zu tragen. Dabei hätte ich die Herausforderung, meine Schwägerin umzustylen, nur zu gern angenommen, denn sie versteifte sich darauf, ihre üppigen Formen – eine Folge ihrer Schwangerschaften – zu verstecken, indem sie nur Hosen und Schlabberpullis trug.
Das daraufhin eintretende Schweigen kühlte die Atmosphäre deutlich ab. Ich zog es vor, mich wieder auf meinen Platz zu setzen und das Thema nicht zu vertiefen. Es war hart, wieder einmal mit meinem geplatzten Traum konfrontiert zu werden.
»Trotz allem schade, dass Iris diese Schule nicht besuchen konnte«, sagte mein ältester Bruder.
Ich stellte mein Glas wieder ab, noch bevor ich einen Schluck Wein getrunken hatte. Mit schief gelegtem Kopf schaute ich ihn an. Er sah aus wie jemand, der sich gerade einen Lapsus geleistet hat. Dann wandte ich mich meinen Eltern zu, die unbehaglich auf ihren Stühlen herumrutschten.
»Von welcher Schule redest du?«
»Du hast ihn missverstanden«, antwortete meine Mutter. »Dein Bruder wollte bloß sagen, du hättest auf diesem Gebiet mehr Erfolg haben können.«
Ich lachte bitter auf.
»Stimmt, Maman. Ihr habt mich wirklich sehr unterstützt. Wie konnte ich das vergessen.«
Ich fühlte mich um mehr als zehn Jahre zurückversetzt, damals hatte ich ihr eine komplette Festgarderobe geschneidert. An jenem Tag hätte es mir weniger wehgetan, wenn sie mich geohrfeigt hätte, doch:
»Iris, erwartest du etwa ernsthaft, dass ich diesen Fetzen auf der Hochzeit deines Bruders trage?« Mit diesen Worten hatte sie das Kleid auf einen Stuhl geschleudert.
»Maman, probier es wenigstens an«, hatte ich sie angefleht. »Ich bin sicher, du siehst darin wunderschön aus, und ich habe so lange daran gearbeitet …«
»Wenn man sieht, was dabei rausgekommen ist, hättest du wohl besser für die Schule gelernt!«
Die Stimme meines Bruders holte mich in die Gegenwart zurück. Er musterte meine Eltern und schien jetzt sehr mit sich zufrieden, weil er dieses Thema, das während meiner ganzen Jugend ein Streitthema zwischen ihnen und mir gewesen war, zur Sprache gebracht hatte.
»Also wirklich: Sagt es ihr. Es ist doch alles längst verjährt. Es kann ihr Leben nicht mehr ändern!«
»Würde mir vielleicht mal jemand erklären, worum es hier geht?« Ich stand wütend auf. »Papa? Maman?«
Meine Schwägerinnen warfen ihrem jeweiligen Mann einen fragenden Blick zu und standen ebenfalls auf. Rein zufällig brauchten die Kinder gerade ihre Mutter. Auch Pierre stand auf, trat hinter mich und legte mir die Hände auf die Schultern.
»Beruhige dich«, murmelte er mir ins Ohr, bevor er sich an meine Familie wandte: »Was ist das für eine Geschichte?«
»Schon gut, ich erkläre es dir«, mischte sich mein ältester Bruder ein, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Kinder außer Hörweite waren. »Iris, du hast dich doch nach der Schule an einer Schneiderschule beworben, ohne jemandem etwas davon zu sagen, oder?«
»Woher weißt du das? Und außerdem haben sie mich ja sowieso nicht genommen.«
»Das hast du geglaubt, weil du nie eine Antwort bekommen hast … Aber da irrst du dich eben.«
In meinem Hals bildete sich ein Kloß, ich begann zu zittern.
»Du bist angenommen worden, du hast es nur nie erfahren.«
Wie durch einen Nebel hörte ich meinen Bruder erzählen, dass unsere Eltern meine Post geöffnet und so entdeckt hatten, was ich hinter ihrem Rücken unternommen hatte. Ich hatte damals geglaubt, sobald ich diese verdammte Handelsschule hinter mir hätte, auf die sie mich gegen meinen Willen geschickt hatten – denn ich träumte nur von Nähmaschinen und Modehäusern –, wäre ich frei zu tun, was ich wollte. Schließlich war ich endlich volljährig, also konnten sie mir keine Vorschriften mehr machen. Doch die Wahrheit war anders, ganz anders, und heute erfuhr ich sie: Sie hatten beschlossen, diesen Brief aus der Welt zu schaffen, und hatten ihn verbrannt. Sie hatten mich betrogen. Ich fühlte mich, als wäre ich gerade von einer Dampfwalze überrollt worden. Meine eigenen Eltern hatten mir mein Leben gestohlen. Ich schwankte und musste die Übelkeit niederkämpfen, die in mir hochstieg. Doch das Schwächegefühl verflüchtigte sich schnell, der Zorn gewann die Oberhand.
»Tut uns leid, wir hätten damals eingreifen sollen.«
Die Entschuldigungen meiner Brüder waren mir egal, sie hatten nie unter der autoritären Knute meiner Eltern leiden müssen. Schon weil sie Jungen waren. Und dann, weil sie Jura und Medizin studiert hatten. Das passte natürlich besser zur Vorstellung unserer Erzeuger. An die wandte ich mich jetzt, bereit, sie zu beißen, ihnen an die Kehle zu gehen.
»Wie habt ihr mir das antun können? Ihr seid … Es ist … Es ist widerlich!«
»Dein Nähfimmel war immer nur lächerlich«, erwiderte mein Vater kühl. »Wir konnten dich doch nicht als Arbeiterin in einer Bekleidungsfabrik enden lassen.«
»Wenn ich diese Schule besucht hätte, wäre ich nicht in einer Fabrik gelandet! Und selbst wenn! Wenn ich es gewollt hätte? Habt ihr was gegen das einfache Volk? Ihr hattet nicht das Recht, meinen Brief zu öffnen, für mich zu entscheiden und alles zu zerstören …«
All die Jahre hatte ich mein Scheitern und die vermeintliche Ablehnung meiner Unfähigkeit zugeschrieben. Ich hatte gedacht, ich hätte nichts zu bieten, hätte keinen Funken Talent fürs Schneidern. Und dennoch war ich immer noch mit Nadel und Faden tätig und versuchte, mich immer weiter zu vervollkommnen. Ich hätte so viel Besseres leisten können. Nur ihretwegen musste ich mich jetzt in einer Bank herumquälen. Das alles sagte ich ihnen.
»Iris, jetzt reicht’s«, sagte meine Mutter schneidend. »Du bist doch kein Kind mehr!«
»Ihr habt mich die ganze Zeit nur kleingemacht!«, schrie ich. »Ihr habt nie an mich geglaubt!«
»Wir haben getan, was das Beste für dich war. Du hast nie mit beiden Beinen auf dem Boden gestanden. Wie hätten wir dir das erlauben können, sechs Monate vor eurer Heirat? Der Termin stand schon fest, die Einladungen waren vorbereitet, das Kleid bestellt …«
»Mein lieber Pierre, du kannst uns wirklich dankbar sein«, mischte sich mein Vater ein.
»Zieht mich bloß nicht in diese üble Geschichte hinein und glaubt nicht, ich wäre euch dankbar. Wie können Eltern ihr Kind derart betrügen? Ihr sprecht von der Heirat? Genau, wir beide, Iris und ich, hätten über all das sprechen müssen. Ihr hattet nicht mehr das Recht, an ihrer Stelle zu handeln. Das wäre meine Rolle gewesen, mein Recht.«
Ich sah Pierre an. In Momenten wie diesem wusste ich wieder, wie sehr ich ihn liebte. Wenn er mich beschützte. Wenn er wieder zu dem Mann wurde, dem ich damals begegnet war: der sich für mich einsetzte, der mich schätzte, der mir Aufmerksamkeit entgegenbrachte, für den ich existierte. Nie hätte ich geglaubt, dass er mich meinen Eltern gegenüber derart verteidigen würde.
»Was nützt es, sich jetzt noch damit zu befassen?«, antwortete meine Mutter. »Was geschehen ist, ist geschehen. Und eines Tages wirst du uns dankbar dafür sein, dass wir für dich entschieden haben.«
»Wir gehen«, sagte ich zu Pierre.
»Natürlich, fahren wir heim.«
»Ach Iris, bleib doch, alles ist gut«, sagte mein Bruder.
»Sie haben alles kaputt gemacht. In einer Familie und in einem Haus, wo mich niemand respektiert, habe ich nichts mehr zu suchen! Ihr seid nichts als …«
»Ja, was?«
»Ihr seid kleinlich, verklemmt und borniert. Ich finde es zum Kotzen, euer Leben … Eine Bande von Reaktionären!«
Mein Vater sprang auf.
»Glaub nicht, du dürftest wiederkommen, bevor du dich entschuldigt hast!«
Ich sah ihm fest in die Augen. Pierre zog mich zurück und flüsterte mir ins Ohr, nicht zu weit zu gehen.
»Dazu wird es nicht kommen, und nicht ich habe mich zu entschuldigen.«
»Iris’ Zorn ist berechtigt«, bekräftigte mein Mann.
Von ihm gestützt, verließ ich das Haus meiner Kindheit, vielleicht für immer. Ob ich ihnen je würde verzeihen können? Ich bezweifelte es.
Als wir endlich im Wagen waren, brach ich in Tränen aus. Pierre lehnte sich über die Gangschaltung und nahm mich in die Arme. Er rieb mir über den Rücken und murmelte mir tröstende Worte zu.
»Hättest du mich die Modeschule besuchen lassen?«, fragte ich schniefend.
»Natürlich«, erwiderte er nach einer kleinen Pause. »Aber fahren wir los, lass uns nicht hier herumstehen.«
Er ließ mich los, ich setzte mich wieder richtig auf den Sitz, und er ließ den Wagen an. Blicklos starrte ich aus dem Fenster. Was hätte ich auch sehen können? Eine bürgerliche Stadt an einem Sonntagnachmittag, das heißt, eine Geisterstadt. Wütend wischte ich mir die Tränen ab. Das Gefühl erlittenen Unrechts und meine Empörung waren stärker als alles andere. Innerlich kochte ich. Am liebsten hätte ich alles zerstört, alle zum Teufel geschickt. Warum waren meine Eltern immer so verbissen gegen mich gewesen? Was hatte ich ihnen getan? Sie hatten meine Wünsche völlig ignoriert, und von meinem Wunsch, Atelierleiterin zu werden, hatten sie erst recht nichts hören wollen. Was war daran so schlecht? Die ganze Zeit hatte ich gegen sie ankämpfen müssen, hatte ich ihnen zu beweisen versucht, dass ich das Zeug dazu hatte. Ich hatte nie aufgehört zu nähen, auch nicht, als sie mir verboten, eine Lehre zu machen, auch nicht, als sie mich studieren ließen. Jahrelang hatte ich sie verspottet, indem ich meine Nähmaschine auf dem Esstisch aufbaute, ausschließlich Selbstgeschneidertes trug und immer von den Bestellungen erzählte, die meine Freundinnen und deren Mütter bei mir aufgaben … Während ich so vor mich hinbrütete, lenkte Pierre schweigend den Wagen. Ich spürte, dass er mir Seitenblicke zuwarf, vermutlich besorgte Seitenblicke.
Als er den Wagen vor unserem Haus abgestellt hatte, stieg ich aus und knallte die Tür zu. Ich hörte das Piepen der Zentralverriegelung.
»Iris, sag was, bitte … Verschließ dich jetzt nicht.«
Ich fuhr zu ihm herum.
»Was soll ich dir denn sagen? Dass sie mein Leben zerstört haben? Dass ich nicht so enden wollte?«
»Wie nett für mich. Ich wusste gar nicht, dass du derart unglücklich mit mir bist.«
Meine Schultern sackten nach unten, mit einem Mal war ich so müde. Ich ging auf ihn zu und schmiegte mich in seine Arme. Sein Körper war angespannt, ich hatte ihn verärgert.
»Pierre, mit dir hat das doch überhaupt nichts zu tun, bitte verzeih mir, ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich bereue weder, dass wir zusammen sind, noch, dass wir geheiratet haben. Wie kannst du das nur denken? Ich bin froh, dass es dich gibt. Aber ich habe nie in einer Bank enden wollen, mein Ehrgeiz lag woanders, das weißt du doch, das habe ich dir nie verheimlicht.«
»Mal abgesehen davon, dass auch ich nichts von deiner Bewerbung an dieser Schule wusste.«
»Ich wollte dich überraschen. Also dann … wenn ich angenommen worden wäre.«
»Gehen wir ins Haus, ich hab wenig Lust, hier vor der Haustür zu diskutieren, wo uns alle sehen.«
Natürlich, die Nachbarn, insbesondere unsere Freunde, standen vermutlich hinter ihren Fenstern und fragten sich, was beim Arzt los war. Wahrscheinlich würde in den nächsten zwei Stunden ständig das Telefon klingeln. Unsere Freunde wohnten alle im selben Viertel – dem gefragtesten der Stadt. Man könnte sagen, sie wohnten in den fünf umliegenden Straßen. Außerhalb dieses Kreises hörte die Welt auf zu existieren.
Kaum waren wir drinnen, sprang mich die Stille in unserem Haus an, ich bekam Angst. Ich schleuderte meine Ballerinas weg und rollte mich auf dem Wohnzimmersofa zusammen.
Pierre hängte in aller Ruhe seine Jacke auf und legte das Portemonnaie und die Wagenschlüssel an ihren Platz. Dann kam er zu mir. Er deponierte das Handy auf dem Couchtisch, setzte sich neben mich und strich mir übers Haar.
»Chérie, ich weiß, es ist hart, was dir gerade widerfahren ist …«
»Das ist eine kleine Untertreibung.«
Er seufzte.
»Allerdings muss man zugeben, dass deine Mutter in einem Punkt recht hat: Das alles ist Vergangenheit. Du kannst die Geschichte nicht neu schreiben, du kannst den Lauf der Dinge nicht mehr ändern.«
»Wie aufbauend!«
»Ich sage ja nicht, dass du ihnen gleich verzeihen sollst, lass einfach etwas Zeit verstreichen. Aber jetzt hast du wenigstens den Beweis, dass du Talent hattest, diese Schule wollte dich haben … Du brauchst keinen Zweifel mehr daran zu haben, du kannst nähen.«
Er lächelte mich an und nahm mich in die Arme. Er konnte nicht verstehen, was ich empfand. Nichts und niemand hatte ihn daran gehindert, sich mit Leib und Seele der Medizin zu verschreiben. Sein Handy vibrierte und unterbrach meine Gedanken. Er richtete sich auf und wollte danach greifen.
»Nein, tu es mir heute Nachmittag nicht an, Pierre, bitte.«
»Aber …«
»Nein, heute kein Krankenhaus. Es ist Sonntag, du hast weder Dienst noch Bereitschaftsdienst. Sie haben kein Recht, dich anzufordern. Ich habe es satt, dass du immer strammstehst, wenn sie dich anrufen. Ich bin deine Frau, und heute bin ich diejenige, die dich braucht.«
»Keine Sorge, ich bleibe hier. Lass mich nur antworten.«
Ich nickte. Er tippte hastig eine SMS und legte das Handy seufzend auf den Tisch zurück. Dann drückte er mich wieder an sich.
Mir wäre es lieber gewesen, ich hätte nicht geweint, aber das schaffte ich nicht. Undenkbar, wieder einmal allein in unserem Haus zu sein, ohne ihn, weil er wieder ins Krankenhaus fuhr. Nicht heute. Nicht nach dem, was ich gerade erfahren hatte. Nicht jetzt, wo ich nicht wusste, wie ich mit dieser Neuigkeit, die meine Sicht der Dinge völlig durcheinandergebracht hatte, umgehen sollte.
2
Nachdem ich etwa zehn Tage düster vor mich hingebrütet und hin und her überlegt hatte, hatte ich endlich mein Lächeln wiedergefunden. An diesem Abend wollte ich Pierre überraschen. Ich kochte uns ein Liebesmahl mit allem, was dazugehört: Kerzen, guter Wein, hübsches Geschirr. Und ein Kleid, das leicht sexy wirkte – aber nicht zu sehr. Pierre war da eher konservativ. Als ich es ein letztes Mal anprobiert hatte, war mir der Gedanke gekommen, wie schade es doch sei, keine hohen Absätze dazu tragen zu können. Aber was sollte es. Im Augenblick war nur wichtig, was meinem Mann gefiel. Ich bezweifelte nicht, dass mein Vorhaben ein Schock für ihn sein würde, doch ich hoffte, das Estragon-Hühnchen würde die Neuigkeit verdaulicher machen. Und last but not least musste ich sicherstellen, dass alle meine Pläne nicht ins Wasser fielen. Ich hatte strenge Anweisung, ihn, außer in äußersten Notfällen, niemals im Krankenhaus anzurufen, aber eine SMS würde ihn nicht erzürnen: »Bist du zum Abendessen da?« Ich ging in der Küche auf und ab. Zu meiner größten Überraschung musste ich nur fünf Minuten auf die Antwort warten: »Ja, sollen wir ins Restaurant gehen?« Ich lächelte. Seit der Auseinandersetzung mit meinen Eltern gab er sich ein wenig Mühe. Dennoch ließ ich mich nicht von meinen Plänen abbringen: »Nein, wir bleiben zu Hause, ich habe eine Überraschung …«, antwortete ich. »Ich auch«, verkündete er.
Zwei Stunden später hörte ich die Haustür klappen.
»Das riecht aber gut«, sagte Pierre, als er zu mir in die Küche kam.
»Danke.«
Er küsste mich, anders. Normalerweise hatte ich das Gefühl, durchsichtig zu sein, und spürte kaum seine Lippen auf meinen – der Routinekuss in Schlimmer. Doch jetzt war es tiefer, liebender. Hatte er etwa Lust auf einen sehr schönen Abend mit einem sehr schönen Ende? Ich hoffte es, und was mich anging, hätte ich auch gern mit dem Nachtisch angefangen. Ich klammerte mich an ihn und stellte mich auf die Zehenspitzen.
»Wir könnten auch später essen, weißt du«, murmelte ich.
Noch dicht an meinem Mund, lachte er leise.
»Erst will ich wissen, was deine Überraschung ist.«
Ich brachte unsere Teller, und wir setzten uns an den Tisch. Ich machte es noch ein wenig spannend und bat ihn, doch mit dem Essen anzufangen. Als er satt war, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Auch ich legte das Besteck ab.
»Wer fängt an?«, fragte ich ihn.
»Die Ehre gebührt dir.«
Ich rutschte auf meinem Stuhl herum, wusste nicht, wohin ich sehen sollte, und lächelte zaghaft.
»Also … heute habe ich etwas gemacht … etwas, das ich schon längst hätte tun sollen …«
Ich nahm einen Schluck Wein.
»Und?«, ermunterte er mich.
»Ich habe gekündigt.«
Wie in Zeitlupe richtete er sich auf. Das Schweigen zog sich endlos.
»Jetzt sag schon was.«
Sein Gesicht wurde hart. Er warf die Serviette auf den Tisch, stand abrupt auf und sah mich streng an.
»Darüber hättest du doch mit mir sprechen können! Scheiße, ich bin dein Mann, und solche Entscheidungen trifft man zu zweit. Ich habe da auch mitzureden!«
Jetzt sah auch ich rot. In letzter Zeit artete jedes Gespräch binnen Sekunden in Streit aus. Wir waren inzwischen die reinsten Pulverfässer. Der kleinste Funken konnte den Zank auslösen … Vorausgesetzt natürlich, Pierre war da.
»Pierre, genau das möchte ich ja so gern, mit dir reden! Aber du bist ja nie zu Hause. Dein Leben spielt sich ausschließlich im Krankenhaus ab.«
»Ach, und jetzt bin ich auf einmal schuld? Fang nicht wieder mit den Vorwürfen wegen des Krankenhauses an. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich Erfolg haben will.«
»Du hörst mir nicht zu, du siehst mich nicht an. Manchmal habe ich das Gefühl, ich existiere gar nicht. Glaub nicht, die letzten beiden Wochen würden alles wiedergutmachen.«
»Jetzt reicht’s!«
Er schloss die Augen, seufzte tief und presste Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel.
»Ich will nicht, dass wir streiten und uns den Abend verderben. Bitte.«
Er setzte sich wieder, trank einen Schluck Wasser, stützte die Ellbogen auf und rieb sich das Gesicht. Dann schüttelte er den Kopf.
»Du und deine Überraschungen«, murmelte er.
Stimmt, ich hatte es ihm nicht gerade geschickt beigebracht.
»Entschuldige, ich werde dir …«
»Ich hätte nicht so wütend werden dürfen«, unterbrach er mich.
Er sah mich an und griff über dem Tisch nach meiner Hand. Ich lächelte ihm zu. Die Spannung hatte nachgelassen, hoffte ich wenigstens.
»Und außerdem passt es wunderbar zu meiner Überraschung. Im Grunde hättest du gar keine bessere Entscheidung treffen können.«
Verblüfft riss ich die Augen auf.
»Ziehen wir nach Papua-Neuguinea?«
Er lachte, ich auch. Er drückte meine Hand fester.
»Nein, ich will ein Kind. Es wird Zeit, findest du nicht?«
Er sah mich eindringlich an, sichtlich bewegt von dieser Aussage, und schien zu erwarten, dass ich vor Freude an die Decke springen würde. Ganz langsam erlosch mein Lächeln. Unsere Lebensplanung passte zeitlich absolut nicht mehr zusammen.
»Du wirst dich ganz unserer Familie widmen können, wie wir es immer vorgehabt haben.«
Er durfte auf keinen Fall weiterreden.
»Pierre, stopp!«
Ich entzog ihm meine Hand.
»Ich habe meinen Job bei der Bank nicht gekündigt, um Kinder zu bekommen.«
Auch er wurde wieder ernst.
»Warum denn dann?«, fragte er mit angespanntem Kiefer.
»Ich habe eine Ausbildungsstelle als Schneiderin gefunden.«
»Ich hoffe, du machst Witze.«
»Sehe ich so aus?«
Er sah mich an, als wäre ich etwas zurückgeblieben.
»Aber das ist völlig verrückt! Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist zu spät, du wirst nie Schneiderin werden. Deine Eltern haben dir einen bösen Streich gespielt …«
»Einen Streich? Jetzt machst du Witze!«
Ich sprang von meinem Stuhl auf.
»Es ist zu spät«, sagte er nachdrücklich. »Du wirst doch in deinem Alter keine neue Ausbildung mehr anfangen … und Ausbildung ist ja noch hoch gegriffen. Es würde nichts an deiner Lage ändern.«
»Doch natürlich würde es das. Nach meiner Ausbildung eröffne ich mein eigenes Geschäft. Ich werde als Änderungsschneiderin anfangen, und dann möchte ich mir einen Kundenkreis aufbauen, um Interessanteres zu machen, Maßkleidung …«
»Halt, warte mal!«
Er stand ebenfalls auf und ging im Zimmer auf und ab.
»Du willst Änderungsschneiderin werden?«
»Für den Anfang, ja. Es wird mir gar nichts anderes übrig bleiben.«
»Das ist der reine Wahnsinn! Du willst auf allen vieren vor unseren Freunden herumrutschen, um ihnen die Säume abzustecken? Von dem, was die sich dann abends erzählen, will ich gar nicht reden!«
»Dir ist das Geschwätz der Leute wichtiger als mein Glück? Dann bist du ja im Grunde auf derselben Linie wie meine Eltern!«
»Immer gleich große Worte! Wirklich, Iris, du nervst. Alles, was du tust, steht unseren Lebensplänen entgegen! Ich erkenne dich nicht wieder.«
Er griff nach einer herumliegenden Jacke.
»Ich muss an die frische Luft.«
»Ja, geh nur! Mach es wie sonst auch, weich der Diskussion aus!«
Er ging in den Garten hinaus und verschwand in der Dunkelheit. Ich blieb noch einige Augenblicke wie erstarrt sitzen, dann blies ich die Kerzen aus und begann, den Tisch abzuräumen. Ich brachte die Küche in Ordnung, allein und mit tränenüberströmtem Gesicht. Es waren Tränen der Wut und zugleich der Traurigkeit. Beim Spülen schniefte ich heftig. Wie hatte ein Abend, der so schön begonnen hatte, derart schnell aus dem Ruder laufen können? Wir waren uns fremd geworden, sprachen nicht mehr dieselbe Sprache, wir waren unfähig, dem anderen zuzuhören und seine Erwartungen zu verstehen.
Zwanzig Minuten später hörte ich die Haustür zufallen. Ich zog die Gummihandschuhe aus und ging ihm entgegen. Er warf mir einen kühlen Blick zu.
»Lass es mich dir erklären, bitte …«
»Ich geh schlafen.«
Dann drehte er sich einfach um und verließ den Raum.
Ich war einunddreißig Jahre alt, hatte einen Mann, der sich mehr um seine Karriere sorgte als um seine Frau – und dem wieder eingefallen war, dass wir viele Kinder haben sollten –, eine Arbeit, deren einziger Vorteil war, dass sie mich davon abhielt, verrückt zu werden, und ein großes Haus, in dem ich mich einsam und verloren fühlte. Ich war nur noch Pierres Frau. Sonst nichts. Ich wusste genau, was von mir erwartet wurde: Ich sollte eine liebe fügsame Frau sein, die beglückt wäre von den beruflichen Erfolgen ihres geliebten Herrn und Gebieters, und bald auch eine vorbildliche Mutter am heimischen Herd, die ein Kind nach dem anderen gebären und bei den Schulausflügen als Begleiterin zur Verfügung stehen würde. Ich hörte schon die Stimme meiner Schwiegermutter, die mich zu meinen Nähkünsten beglückwünschte: »Dann kannst du die Kostüme für die Schulaufführungen und die lebende Krippe nähen.« Ärztegattinnen brauchen nicht zu arbeiten. Diesen Archaismus lehnte ich ab. Meine Eltern hatten über jedes erlaubte Maß hinaus über mich entschieden. Nun sollte nicht auch noch mein Mann damit anfangen. Ich würde mich nicht auf die Rolle einer Legehenne blondschöpfiger Küken reduzieren lassen.
Wir waren gerade dabei, uns zu verlieren, weil wir absolut feststeckten in unserer Routine und unserem gegenseitigen Unverständnis. Ich musste die Dinge in die Hand nehmen. Pierre war durchaus zu einem guten Teil verantwortlich dafür, aber ich begann mir einzugestehen, dass auch ich keineswegs unschuldig war. Meine Passivität, meine Nachlässigkeit und meine Bitterkeit in letzter Zeit hatten ebenfalls zur Zerrüttung unserer Beziehung beigetragen. Meine berufliche Neuorientierung würde uns retten, und das musste ich Pierre beweisen. Ich würde wieder zu der werden, in die er sich verliebt hatte.
Pierre schien zu schlafen, als ich ins Schlafzimmer kam. Ich machte kein Licht, sondern schlüpfte schweigend unter die Decke.
»Du hast ganz schön lange gebraucht«, sagte er zu mir.
Ich schmiegte mich an seinen Rücken und legte ihm den Arm um die Taille. Dann drückte ich ihm einen Kuss zwischen die Schulterblätter. Ich wollte nicht, dass beim Einschlafen eine so große Distanz zwischen uns war. Sein Körper wurde steif, er machte sich von mir los.
»Das ist jetzt wirklich nicht der rechte Moment, Iris.«
»Das wollte ich doch gar nicht … Aber bei dir ist es sowieso nie der rechte Moment.« Ich verzog mich an das äußerste Ende meiner Bettseite. »Da fragt man sich doch, wie das mit einem Kind klappen soll …«
Pierre setzte sich auf und knipste seine Nachttischlampe an. Er hockte sich auf die Bettkante und nahm den Kopf zwischen die Hände.
»Ich möchte nicht, dass wir jetzt den x-ten Streit anfangen, also gehe ich auf diese Bemerkung nicht ein … Aber hast du mal darüber nachgedacht?«
Er warf mir einen Blick über die Schulter zu.
»Du hast das hinter meinem Rücken gemacht, und du sagst mir, dass du keine Kinder willst.«
Jetzt setzte auch ich mich auf.
»Ich bin nicht mehr achtzehn, und jetzt vergleiche das bitte nicht mit meiner damaligen Bewerbung hinter dem Rücken meiner Eltern. Ich glaube zu wissen, was gut für mich ist … Und ich habe nie gesagt, dass ich keine Kinder will, ich bitte dich doch nur um ein ganz kleines bisschen Geduld. Ich habe zehn Jahre meines Lebens darauf verwandt, dich bei deinem Studium und deiner Karriere im Krankenhaus zu unterstützen, und nun bitte ich dich um sechs Monate.«
»Was ist das für eine Ausbildung? Erklär es mir.«
Ich erzählte ihm von dem Zufallsfund, der mich völlig aus dem Häuschen gebracht hatte. Einige Tage zuvor war ich beim Surfen auf eine Website geraten, auf der eine zwar private, aber nicht allzu kostspielige Ausbildung angeboten wurde. Sie wurde, ohne jede staatliche Unterstützung, von einem unbekannten Mäzen finanziert. Ich müsse nicht einmal auf das Familienbudget zurückgreifen, sagte ich zu seiner Beruhigung. Meine eigenen kleinen Ersparnisse würden dafür reichen. Die Kurse würden von Fachleuten aus den großen Modehäusern und sogar von bekannten Modeschöpfern abgehalten.
»Wenn ich mich auf dieses Abenteuer einlasse, dann richtig«, sagte ich abschließend.
»Das klingt ja alles sehr schön, aber es gibt doch sicher ein Auswahlverfahren, um an dieser Schule angenommen zu werden?«
»Ich muss ein Kleidungsstück nähen, ganz gleich was, und einen Brief schreiben, in dem ich die Gründe für meine Bewerbung und meine Vorstellung vom Schneiderhandwerk erläutere.«
Er verschanzte sich hinter seinem Schweigen. Ich wollte ihm deutlich machen, wie entschlossen ich war.
»Das ist die Gelegenheit für mich, meinen Traum zu verwirklichen. In zehn oder fünfzehn Jahren werde ich es nicht mehr können. Das würde ich dann unseren Kindern nicht zumuten wollen. Und außerdem hasse ich meine Arbeit auf der Bank, ich langweile mich, ich verbittere, das bin nicht ich, und das weißt du. Genau wie du will auch ich Erfüllung im Beruf finden.«
»Das ist ja mal was ganz Neues«, seufzte er. »Hör zu, ich bin müde und muss morgen früh aufstehen.«
Er legte sich wieder hin und knipste das Licht aus; ich rollte mich zusammen. Irgendwann begann Pierre zu schnarchen. Und mir stand vermutlich eine schlaflose Nacht bevor …
Ich hatte tatsächlich kaum geschlafen. Pierre war unter der Dusche, ich stand auf und ging nach unten, um Frühstück zu machen. Als er in die Küche kam, sagte er kein Wort, er schenkte sich nur eine Tasse Kaffee ein und schaute durchs Küchenfenster in den Garten. Ich wagte keinen Ton zu sagen. Er brach das Schweigen.
»Ich habe nachgedacht …«
»Ja?«
Er drehte sich um und trat auf mich zu. Ich blieb sitzen und sah ihn an.
»Okay, werd Schneiderin.«
Ich riss die Augen auf, wollte gerade lächeln.
»Aber es gibt eine Bedingung«, verkündete er. »Nach deiner Ausbildung bekommen wir ein Kind. Und es ist ausgeschlossen, dass du einen Laden aufmachst, das Haus ist wirklich groß genug. Du könntest dir dein Atelier auf dem Speicher einrichten, du nähst ja ohnehin da oben, das könntest du weiterhin tun und dich gleichzeitig um die Kinder kümmern.«
Jetzt war ich am Zug. Ich stand auf.
»Ja, natürlich, damit bin ich einverstanden. Danke.«
Mehr wusste ich nicht zu sagen. Er seufzte und ging zur Spüle, um seine leere Tasse abzustellen.
»Ich muss los, bis heute Abend.«
Es gelang mir, die Kündigungsfrist zu umgehen: Am Ende der Woche sagte ich der Bank endgültig Lebewohl. Tags darauf machte ich mich locker, als wäre ich ein Boxer kurz vor dem Kampf, und ging auf den Speicher. Ich trat zu meiner Maschine und nahm das Tuch ab, mit dem sie abgedeckt war. Meine Nähmaschine und ich … Vermutlich war es dieselbe Bindung wie die zwischen einem Musiker und seinem Instrument. Was für andere der Flügel oder die Gitarre war, war für mich meine Singer. Und heute verließ ich mich auf sie, denn es stand sehr viel auf dem Spiel. Sie war in guter Verfassung, umso besser. Meine Hände waren feucht, mein Herz schlug wild. Ich durfte mir keinen Fehler erlauben. Ich hatte mir bereits Gedanken über das Kleidungsstück gemacht, mit dem ich mich bewerben wollte. Ich hatte, in Anlehnung an Courrèges, ein zweifarbig schwarz- und türkisfarbenes Kleid skizziert, mit kurzen Ärmeln, rundem, abgestepptem Kragen und Rückenspange.
Alles war am rechten Platz, das Pedal unter meinem Fuß und der Stoff zwischen meinen Händen. Erster Schritt, einschalten: Und es ward Licht. Zweiter Schritt, Spule überprüfen: voll Garn und richtig eingesetzt. Dritter Schritt, den Stoff unter die Nadel schieben und den Nähmaschinenfuß nach unten stellen: keinerlei Widerstand. Jetzt nur noch eins, und es ging los. Mein Fuß senkte sich sanft auf das Pedal, und das ganz spezielle Rattern einer Nähmaschine erfüllte den Raum. Meine Hände hielten den Stoff gut fest und zogen ihn nach hinten. Ich war fasziniert von der Nadel, die sich präzise durch den Stoff hob und senkte, sie machte regelmäßige, vollkommene Stiche.
Den Brief hatte ich mit weniger Begeisterung in Angriff genommen. Dennoch verbrachte ich ganze drei Tage damit, ihn aufzusetzen, und zu meiner großen Überraschung empfand ich dabei echte Freude. Zum ersten Mal gab man mir Gelegenheit, meine Liebe, meine Leidenschaft für das Schneidern in Worte zu fassen. Als ich damit fertig war, schickte ich alles zusammen los.
Ich achtete darauf, Pierre über alle meine Schritte auf dem Laufenden zu halten. Er tat so, als interessiere er sich für mein Projekt, doch ich ließ mich nicht täuschen. Ich vermied auch den leisesten Vorwurf. Wenn er früh nach Hause kam – was selten vorkam –, empfing ich ihn mit einem Lächeln. Das war nicht schwierig, ich fühlte mich befreit und wieder von einer Energie erfüllt, die mir schon viel zu lange gefehlt hatte. Ich verbarg meine Ängste angesichts dieser endlosen, aufreibenden Wartezeit. Zwei Wochen lang nähte ich kaum, weil ich ständig nach dem Briefträger Ausschau hielt. Ich verbrachte mehr Zeit im Garten als im Haus. Vormittags sah ich zehn-, zwanzigmal nach, ob nicht etwas im Briefkasten lag. Ich hatte alles auf diese Ausbildung gesetzt. Vielleicht hatte ich mich überschätzt? Im Falle einer Ablehnung würde mein Traum in Rauch aufgehen. Pierre würde nicht erlauben, dass ich es anderswo noch einmal versuchte, dann würde ich die Pille absetzen müssen.
Der Briefträger überreichte mir die Post, es war nur ein einziger Brief, der Richtspruch, auf den ich die ganze Zeit gewartet hatte. Hastig riss ich ihn auf. Mit geschlossenen Augen zog ich das Schreiben heraus. Ich atmete mehrmals tief durch. Auf einer einfachen cremefarbenen Briefkarte stand in schwarzer Tinte und einer eleganten Handschrift eine kurze Antwort: »Ich erwarte Sie am 10. Januar im Atelier.« Unter Freudengeschrei sprang ich durchs ganze Haus. Dann packte mich ein unkontrollierbarer Lachanfall. Und plötzlich erstarrte ich. Mir war ein nicht ganz unbedeutendes Detail eingefallen: Die Schule war in Paris, etwa drei Zugstunden von uns entfernt.
»Paris ist nicht gerade um die Ecke«, sagte Pierre.
»Da hast du recht.«
Ich saß im Schneidersitz neben ihm auf dem Sofa, er hörte mir aufmerksam und konzentriert zu.
»Wann würdest du anfangen?«
»In einem Monat.«
»Wie denkst du darüber? Hast du wirklich Lust hinzugehen?«
»Es dauert nur ein halbes Jahr, das ist nicht lang. Im Juli bin ich wieder zurück. Ich habe irrsinniges Glück, dass sie mich angenommen haben.«
Ich bat ihn wieder um Erlaubnis. Er sah mich seufzend an. Dann stand er auf.
»Wo willst du wohnen? Du kennst da doch niemanden!«
»Ich suche mir ein Zimmer.«
Er verdrehte die Augen.
»Das soll mich beruhigen?«
»Ich komme jedes Wochenende nach Hause.«
Er ging im Wohnzimmer auf und ab.
»Oder auch nicht. Du wirst viel Arbeit haben … Ohne dich wird das Haus sehr leer sein.«
»Denk doch mal an die Vorteile, du kannst so lange im Krankenhaus bleiben, wie du willst, ohne Gefahr zu laufen, dass du abends auf eine wütende Gattin triffst.«
Er dachte kurz nach und lächelte. Ich hatte gerade das überzeugende Argument gefunden.
»Und ich hätte dir jede Menge zu erzählen. Du würdest endlich wissen, wie schön es ist, eine glückliche und voll entfaltete Frau zu haben.«
Er ließ mich nicht aus den Augen, während er sich wieder neben mich setzte und mich in die Arme nahm.
»Du wirst mir fehlen.«
Es war fast zu einfach. Und in jedem Fall zu schön, um wahr zu sein.