Zum Buch
Lisa Mattei – leitende Ermittlerin der schwedischen Sicherheitspolizei, Anfang 40, verheiratet mit einem um einige Jahre jüngeren Mann –, will an ihrem ersten freien Tag seit Monaten eigentlich mit ihrer kleinen Tochter Geburtstag feiern, als sie einen Notruf bekommt. Kurz darauf wird im Land die höchste Alarmstufe ausgerufen und ein Agent des britischen Geheimdienstes MI6 nimmt Kontakt zu ihr auf: In 26 Tagen will sich das Mitglied einer islamistischen Terrormiliz in die Luft sprengen – und mit ihm die schwedische Regierung. Die Sicherheitspolizei muss handeln. Ist der erste Verdächtige, ein charismatischer junger Mann mit zahlreichen weiblichen Kontakten, bereits der Gesuchte? Oder gibt es ein Leck in Matteis Abteilung?
Zum Autor
LEIF GW PERSSON gilt als Großmeister der skandinavischen Kriminalliteratur. Persson, der selbst lange Zeit als Profiler im Polizeidienst tätig war, ist Professor der Kriminologie, Medienexperte und seit mittlerweile 30 Jahren einer der erfolgreichsten Krimiautoren Schwedens. Er wurde mehrfach mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet, daneben erhielt er den Dänischen und den Finnischen Krimipreis. Seine Romane stehen regelmäßig auf Platz 1 der Bestsellerliste und verzeichnen Millionenauflagen.
Leif GW Persson
VERRAT
Thriller
Aus dem Schwedischen
von Susanne Dahmann
I
Montag, 11. Mai
Der britische Kollege hat angerufen
1
»Der britische Kollege hat angerufen«, sagte der Generaldirektor zu Lisa Mattei am Montag, 11. Mai. So fing alles an und war gleichzeitig auch das Ende von etwas ganz anderem.
Bereits in der Woche zuvor hatte Lisa Mattei entschieden, dass der 11. Mai ein besonderer Tag werden sollte, an dem sie zumindest einmal etwas verwirklichen wollte, was sonst in dem von Arbeit bestimmten Leben, das sie inzwischen lebte, dauernd verloren zu gehen drohte: Ein Mutter-Tochter-Tag zusammen mit Ella, ihrem einzigen Kind, die schon vor ein paar Monaten fünf Jahre alt geworden war. Keine große Sache also, die aber trotzdem eine umfassende Vorbereitung erforderte, obwohl es doch um nichts anderes ging, als dass sie mit ihrem eigenen Kind zusammen sein wollte. Eigentlich absurd.
Zuerst sprach sie mit der Tagesstätte und dann mit ihrem Mann Johan. Beide Stellen brachten ihr Erstaunen und einen Anflug von Sorge entgegen. Es war doch wohl nichts passiert?
»Nein, wirklich nicht. Ich will mit Ella zusammen sein«, sagte Lisa. »Wir zwei sehen uns viel zu selten.«
Mehr war es nicht, sie vermied allerdings, ihr schlechtes Gewissen zu erwähnen.
Danach teilte sie ihrem Chef, dem Generaldirektor, mit, dass sie am Montag der folgenden Woche einen Tag Urlaub nehmen wolle, um Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen, und dass die organisatorischen Dinge im Zusammenhang mit der montäglichen, obligatorischen Stabsbesprechung mit der Leitung der Sicherheitspolizei diesmal von ihrem Stellvertreter organisiert werden müssten.
Der Generaldirektor unterstützte ihre Entscheidung »von ganzem Herzen und aus eigener Erfahrung«. Natürlich sollte sie einen freien Tag nehmen, um etwas mit ihrer Tochter zu unternehmen, er wusste nur zu gut, wovon sie sprach. Schließlich war er selbst Vater von vier Kindern, auch wenn die jetzt »schon groß« waren.
Naja, so groß nun auch wieder nicht, dachte Lisa. Das jüngste war vier Jahre älter als Ella, und das älteste würde im Sommer Abitur machen. Außerdem waren die vier Kinder auf drei Ehefrauen und eine Zufallsbekanntschaft verteilt, die wahrscheinlich nur den Übergang zwischen den Ehefrauen hatte erleichtern sollen und dann »versehentlich« schwanger geworden war.
»Wie schön, dass wir da einer Meinung sind«, sagte Lisa Mattei und behielt, was sie dachte, für sich.
Als alles geregelt war, weihte sie Ella ein. Die freute sich, guckte aber auch ein bisschen erstaunt. Bin ich so schlimm?, fragte sich Lisa und steckte einen auffordernden Schubser von ihrem schlechten Gewissen ein.
Am Montag, 11. Mai, durfte Ella ausschlafen, und als sie wach wurde, kroch sie ins Bett ihrer Mutter und schlief sofort wieder ein.
Lisa war wie immer um sechs Uhr morgens wach. Sie duschte, nahm die erste Tasse Tee des Tages zu sich und las dabei die Morgenzeitungen. Auch als Lisa danach zum dritten Mal bei Ella reingeschaut hatte, schlief Ella noch, und weil sie nichts Besseres zu tun hatte, legte sie sich selbst auch noch mal ins Bett, verspürte dabei eine bekannte Unruhe und kassierte noch einen Stoß von ihrem schlechten Gewissen.
Als Ella dann zum zweiten Mal aufwachte, hätte sie, wenn es ein normaler Tag gewesen wäre, schon seit einer Stunde in der Kita sein müssen. Stattdessen nahmen die beiden ein Schaumbad, schrubbten sich gegenseitig den Rücken und frühstückten erst nach zehn Uhr. Und zwar, wie es sich an einem besonderen Tag gehörte, ein Bademantelfrühstück, und Ella durfte bestimmen, was es gab. Sie wollte dasselbe Frühstück, das sie immer bekam, wenn sie bei ihrer Oma übernachtete.
»Und was ist das?«, fragte Lisa.
»Das ist ein Geheimnis«, erwiderte Ella, schüttelte den Kopf und hielt sicherheitshalber noch ihren Zeigefinger vor den Mund.
»Ich verspreche, dass ich nichts verraten werde«, behauptete Lisa. »Außerdem muss ich schließlich wissen, was du haben willst, wenn ich das gleiche Frühstück machen soll, oder?«
»Waffeln mit Erdbeermarmelade und ein großes Glas Saft. Aber keinen Apfelsaft. Ich will den mit Mandarine. Der ist viel besser. Wir haben den auch, das weiß ich«, erklärte Ella und nickte zum Kühlschrank hin.
»Waffeln mit Erdbeermarmelade«, sagte Lisa und nickte ebenfalls. Was war wohl aus dem Haferbrei geworden, mit dem sie selbst als Kind immer traktiert worden war?
»Ja. Und dann will ich auch einen Café Latte.«
»Gibt die Oma dir Kaffee?«
Mit der muss ich dringend reden.
»Aber mit ganz viel Latte. Ich kriege ihn auch mit Sahne und solchem braunen Zucker.«
»Okay«, sagte Lisa. »Das klingt gut. Dann mache ich das mal.«
Es ist ja schließlich ein besonderer Tag, dachte sie, und diesmal hielt ihr Gewissen fein still.
Während sie frühstückten, berieten sie, was sie mit dem Rest des Tages anfangen wollten. Draußen schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, es war windstill und frühsommerwarm. Alles eben, worauf man an einem solchen Tag ein Recht hatte.
Ella wollte nach Skansen in den Zoo gehen und endlich wieder die kleinen Bären ansehen, die den ganzen Winter geschlafen hatten. Auf dem Weg dorthin konnten sie außerdem noch im Park am Kanal die Enten füttern. Lisa hatte zustimmend genickt. Höchste Zeit, dass sie auch mal die Enten am Kanal kennenlernte und nach Skansen kam, um sich die Tiere anzusehen. Es war sicher dreißig Jahre her, seit sie das letzte Mal dort gewesen war, und damals bestimmt mit ihrem Vater, während ihre Mutter wie üblich vollauf mit ihrer Arbeit zu tun hatte.
»Klingt nach einem superguten Programm«, stellte Lisa fest.
Sagte man das so? Supergut? Wahnsinnig gut? Oder sagten das nur die Älteren?
»Oh my God … Yesss«, rief Ella und machte einen High Five mit beiden Händen.
Während Lisa abdeckte, die Spülmaschine einräumte und sich so diskret wie möglich des übrig gebliebenen Waffelteigs entledigte, füllte ihre Tochter eine Plastiktüte mit altem und frischem Brot sowie einer Schachtel Rosinen, die sie in der Speisekammer fand.
Dann kleideten sie sich sorgsam für einen Tag Freiheit und Aktivitäten außer Haus, und als sie im Flur standen und nur noch die Schuhe anziehen mussten, um all das zu tun, was da draußen auf sie wartete, klingelte Lisa Matteis Handy. Beide wussten augenblicklich, dass ihr besonderer gemeinsamer Tag in diesem Moment eine völlig ungeplante Wendung nehmen und einen abrupten Abschluss finden würde.
Obwohl sie erst fünf Jahre alt war, begriff Ella das sofort. Ihre Mutter sah es in ihrem Blick. So schlimm bin ich also, dachte Lisa, ehe sie ranging.
»Schon klar, dass etwas passiert ist«, sagte Lisa Mattei. Das war eine Feststellung, keine Frage. Es war achtzehn Minuten nach elf, und der Tag war gelaufen.
2
»Lisa, es tut mir wirklich leid, aber es ist etwas geschehen, das danach verlangt, dass Sie so schnell wie möglich herkommen«, sagte ihr Chef.
»Da sind wir ja schon drei, denen das leidtut«, erwiderte Lisa Mattei. »Ella und ich wollten gerade nach Skansen aufbrechen.«
»Sie müssen sich keinerlei Gedanken um die praktischen Dinge machen«, fuhr ihr Chef fort, der nicht gehört zu haben schien, was sie gesagt hatte. »Ich schicke einen Wagen, der Sie abholt, Ella in der Tagesstätte abliefert und Sie direkt zur Arbeit fährt. Ich habe schon Karin gebeten, dort anzurufen und mitzuteilen, dass Ella kommen wird und dass …«
»Das machen wir anders«, unterbrach ihn Mattei. »Rufen Sie unsere Kontaktperson bei der Ordnungspolizei an und bitten sie die, ein buntes Auto zu mir nach Hause zu schicken.«
Eine Fünfjährige konnte doch nicht in ihrer eigenen Kita »abgeliefert« werden, so leicht würde sie sich nicht geschlagen geben.
»Ein buntes Auto? Sie meinen einen Streifenwagen?«
»Ja. Mit zwei netten Kollegen in Uniform, die sich die Zeit nehmen, eine Stunde in Ellas Kita zu verbringen.«
»Ja, doch, selbstverständlich. Warum?«
»Damage control«, erwiderte Lisa Mattei.
»Damage control?«
»Das erkläre ich Ihnen später«, sagte Lisa. »In einer Stunde bin ich im Büro.«
Ella hatte schon angefangen, sich die Schuhe anzuziehen. Keine vernehmbaren Proteste, kein Weinen, nicht der geringste Widerstand. Stattdessen formte sie Zeigefinger und Daumen der rechten Hand zu einem runden Ring, legte den Kopf schief und lächelte ihre Mutter an. Das war ihr geheimes Zeichen: Was passiert war, bedeutete nur, dass man wieder bei null anfangen musste. Und nächstes Mal würde alles wunderbar werden.
Sie ist viel zu freundlich, viel zu altklug, genau wie ich als Kind, dachte Lisa. Diesmal hätte sie es vorgezogen, wenn sich ihre Tochter auf den Boden geworfen und gebrüllt und getrampelt hätte, wie so viele andere Kinder in ihrem Alter es getan hätten. Und nicht mit ihrer kleinen Hand zwischen Zeigefinger und Daumen ihr Herz umfasst hätte.
3
Lisa Mattei war mit dem Taxi von Ellas Kita in ihr Büro im neuen Hauptquartier der Sicherheitspolizei Säpo draußen in Solna gefahren.
Das Verkehrsaufkommen war mäßig, der Fahrer chauffierte sie binnen zehn Minuten dorthin, nur unbedeutend länger als ihre Kollegen mit Blaulicht und Martinshorn brauchten. Da sie nun mal nicht aus ihrer Haut konnte, hielt sie, ehe sie aus dem Taxi stieg, ihre Ankunftszeit im Büro im Handy fest. Montag, 11. Mai, um 11:59 Uhr, noch neunzehn Minuten vor der ihrem Chef in Aussicht gestellten Ankunftszeit, der sie einundvierzig Minuten zuvor angerufen hatte. An dem Tag, der ein besonderer für sie und ihre einzige Tochter hätte werden sollen.
Während der Fahrt hegte sie finstere Gedanken und dachte an all das durch den Beruf verursachte Elend, das in ihrem Fall inzwischen fast immer mit einem Telefonanruf begann. Je kürzer das Telefongespräch, desto schlimmer.
Wann hat das angefangen?, fragte sich Lisa Mattei. Als sie vor knapp zwanzig Jahren eine junge Streifenpolizistin in Stockholm und immer wieder in akute Situationen und manchmal auch in Handgemenge geraten war, mit Menschen, denen es so schlecht ging, dass sie betreut oder mit Gewalt abtransportiert werden mussten, auf jeden Fall noch nicht. Damals erhielten sie und ihre Kollegen einen Funkspruch oder erreichten den Ort des Geschehens eigenständig, und das, was sich dann ereignete, war der reinste Urlaub, verglichen mit dem, was sich heute aus einem einfachen Telefonanruf entwickelte.
Das hier ist ein anderes Leben, dachte Lisa Mattei, als sie ihr Büro betrat.
Die Besprechung fand im Zimmer ihres Chefs statt. Nur sie und er. Niemand sonst. Hinter verschlossener Tür.
Da auch er nicht aus seiner Haut konnte, begann er das Gespräch damit, noch mal seinem tief empfundenen Bedauern Ausdruck zu verleihen. Danach fragte er, ob sie etwas zu trinken wünsche. Wasser? Tee, Kaffee vielleicht, auch wenn er inzwischen schon bemerkt habe, dass sie nur äußerst selten Kaffee trinke.
Das also hast du dir nach immerhin knapp drei Monaten einer im Großen und Ganzen schlechten Zusammenarbeit gemerkt, dachte Lisa Mattei. Glückwunsch, mein Junge.
»Nein, ich brauche nichts«, erwiderte sie. »Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es einen Anlass für diese Besprechung.«
»Gleich so weit, gleich so weit«, sagte der GD. Dann beugte er sich über seinen großen Schreibtisch zu ihr hin und lächelte gleichzeitig mit den blauen Augen und den weißen Zähnen.
»Doch erst einmal müssen Sie meine Neugier befriedigen«, fuhr er fort. »Das mit dem Streifenwagen, der Sie und Ihre Tochter gefahren hat, und der damage control, das habe ich wirklich nicht verstanden.«
»Dann werde ich es erklären«, sagte Mattei.
Männliches Machtgerede, dachte sie. Erst eine oder zwei Runden des üblichen Hahnentanzes, ehe er zur Sache kam, und das, obwohl er fast platzte vor Stolz über all die Geheimnisse, von denen er gleich erzählen würde.
»Ella hat in ihrer Kita erzählt, dass ihre Mutter Polizistin ist«, erklärte Mattei. »In der letzten Zeit haben einige der älteren Jungs sie geärgert und gesagt, dass sie sich das nur ausgedacht hätte, um anzugeben. Ihre Mutter würde nämlich gar nicht wie eine Polizistin aussehen, sondern wie alle anderen Mütter auch. Zumindest, wenn sie zur Kita käme. Deshalb fand ich, es wäre doch das Mindeste, sie für den nicht stattgefundenen Besuch auf Skansen und alles andere, was wir vorhatten, zu entschädigen. Das nenne ich damage control: Wir lassen sie mit einem richtigen Polizeiauto zur Kita fahren und sorgen dafür, dass zwei uniformierte Kollegen mitgehen und sich ein Weilchen mit Ella und ihren Kita-Freunden unterhalten. Das war’s, und als ich da weg bin, schien das auch ganz ausgezeichnet zu funktionieren.«
Was mehr ist, als ich verdient habe, dachte sie.
Ihr Chef nahm nun Position Nummer zwei ein. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, probierte sicherheitshalber ein wenig, ob er hielt, faltete die Hände über dem Bauch und nickte mit gutmütiger Miene, den Mund geschlossen und diesmal nur die Mundwinkel hochgezogen.
»Dann verstehe ich, was Sie meinen«, sagte er. »Aber unsere Kollegen von der Schutzpolizei müssen sich ganz schön gewundert haben.«
»Nein«, erwiderte Mattei und schüttelte den Kopf, »nicht im Geringsten. Das waren nämlich zwei weibliche Kollegen, und die haben sofort begriffen, was Sache ist.«
So, darauf kannst du jetzt mal ein bisschen herumkauen, Alterchen, dachte Mattei, obwohl sie normalerweise sorgfältig jeden Gedanken an den legendären Polizisten in Solna vermied, der diese Formulierung geprägt hatte.
»Aha, ja«, erwiderte der GD. »Nun, dann ist es wohl höchste Zeit, dass ich Sie informiere, warum ich gezwungen war, Sie hierherzubitten.« Sicherheitshalber räusperte er sich, ehe er begann, die Papiere zwischen den Stapeln auf seinem Schreibtisch hin und her zu schieben.
»Ja, seien Sie doch so gut«, sagte Mattei und lächelte ihn freundlich an.
»Gewiss, selbstverständlich«, antwortete ihr Chef, beugte sich über den Tisch, stützte sich auf die Ellenbogen und war jetzt sehr ernst.
»Vor einer knappen Stunde haben wir im Führungskreis beschlossen, unsere nationale Bereitschaft zu erhöhen. Der Beschluss war übrigens einhellig, und ich wollte Sie bereits von Anfang an dazuholen.«
Mattei begnügte sich mit einem Nicken. Nur zu gut, dass du das nicht gemacht hast. Bei Waffeln und Erdbeermarmelade stören.
»Heute Morgen hat der britische Kollege angerufen, und das aus leider nicht erfreulichem Grund.«
4
Bevor ihr Chef aber auf den Grund des britischen Anrufs zu sprechen kam, der offensichtlich so bestürzend war, die schwedische Sicherheitspolizei zu veranlassen, ihre nationale Bereitschaft zu erhöhen, wollte er zunächst »das Praktische« klären.
»Ich habe Folgendes für Sie organisiert«, sagte der GD. »Sie und Ihre Mitarbeiter reisen nach England, aber ich kann Ihnen garantieren, dass Sie schon heute Abend zurück sein werden. Sie bekommen von den Briten sogar ein eigenes Flugzeug gestellt. Es wartet bereits draußen in Bromma am Privatterminal auf Sie. Sie fliegen direkt zu einer Luftwaffenbasis nördlich von London. Geschätzte Flugzeit zwei Stunden dreißig Minuten. Gleich nach der Besprechung kehren Sie hierher zurück.«
»Das klingt in der Tat sehr praktisch«, stimmte Mattei mit einem freundlichen Lächeln zu. Und es klingt so, als hätte Karin ganz schön rotieren müssen, dachte sie und sandte einen stillen Dank an ihre gemeinsame Assistentin.
»Doch, der britische Kollege war äußerst entgegenkommend«, stimmte der Chef zu. »Offenbar ein glücklicher Zufall, dass das Flugzeug bereits hier steht. Der britische Botschafter in Stockholm hat gestern ein paar hohe Gäste eingeflogen, und wir können ihr Flugzeug benutzen. Deren Regierungsflieger, so wie ich es verstanden habe. Anscheinend haben die Briten ein halbes Dutzend davon.«
»Fantastisch«, sagte Lisa Mattei, die bereits nach ihrer ersten Woche als Polizistin aufgehört hatte, an solche Zufälle zu glauben.
»Ja, wirklich. Das ist so ein Businessjet, Sie wissen schon, aber Platz für zehn Passagiere, ich würde also vorschlagen, dass Sie alle mitnehmen, die in Ihrem Ermittlerteam sitzen werden. Damit die gleich von Anfang an dabei …«
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, aber worum geht es eigentlich?«, fragte Lisa Mattei.
»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, sagte ihr Chef. »Laut dem britischen Kollegen plant eine Gruppe von zu al-Shabaab gehörenden Terroristen einen konkreten Terroranschlag in Schweden. Die Rede ist von einem so genannten Selbstmordattentat. Die Kerngruppe besteht aus mehr als zehn Personen, die scheinbar alle zur selben Familie gehören. Sämtlich schwedische Bürger und seit langem hier ansässig.«
»Wie wahrscheinlich ist das?«
»Sehr wahrscheinlich«, antwortete ihr Chef. »Wenn ich es richtig verstanden habe, steht die Ausführung kurz bevor, sind die Vorbereitungen zu dem Attentat abgeschlossen und zudem die Grenzen zu einem strafbaren Versuch überschritten, wie wir Juristen es nennen würden. Oder, dass es im schlimmsten Fall … ja … Sie verstehen, was ich meine.«
»Wo, wann, wie?«, fragte Lisa Mattei. Al-Shabaab, das mussten Somalier sein.
»Am Nationalfeiertag, am 6. Juni, mit anderen Worten in sechsundzwanzig Tagen. Genau gesagt geht es um ein Selbstmordattentat auf König und Königin sowie mehrere Mitglieder der schwedischen Regierung. Mehr wollte er am Telefon nicht preisgeben. Alles Übrige werden wir erfahren, wenn Sie sich mit ihm treffen. Er hat allerdings auch eine Bedingung dafür gestellt, dass er uns diese Information preisgibt.«
»Und die lautet?«
»Ja, auch in dem Punkt war er sehr verschwiegen, er hat angekündigt, seine Vorstellungen hierzu bei Ihrem Treffen mitzuteilen. Außerdem meinte er, wir würden wohl keine Einwände haben, denn wir hätten sicher genauso entschieden.«
Lisa Mattei begnügte sich damit, zu nicken. Klingt als hätte der britische Kollege mehrere Bälle in der Luft, dachte sie. Und genau wie alle anderen zieht er es vor, selbst zu entscheiden, in welcher Reihenfolge er sie wieder auffängt.
»Nun, das war wohl alles«, sagte ihr Chef noch einmal und kontrollierte sicherheitshalber erneut das Papier mit handgeschriebenen Notizen, das er in der Hand hielt.
»Das klingt ganz nach dem Nationalfeiertag auf Skansen«, stellte Mattei fest, die sehr gut über alle geplanten und möglicherweise kritischen Veranstaltungen im Bilde war. Alles, was politisch heikel sein konnte: von ausländischen Staats- und Regierungsbesuchen bis zu gewöhnlichen Vergnügungs- und Sportveranstaltungen, und dazu gehörte natürlich auch der Nationalfeiertag, der traditionell in großem Stil am 6. Juni im Beisein von Königsfamilie und Repräsentanten der Regierung im Tier- und Freizeitpark Skansen auf der dortigen Freilichtbühne begangen wurde.
»Ja, da denke ich so wie Sie. Aber das ist alles, was ich weiß«, sagte ihr Chef. »Doch ich bin überzeugt, dass er Sie vollständig ins Bild setzen wird, sowie Sie sich treffen. Soweit man das Bild kennt, natürlich.«
Nun, das wäre ja wohl das erste Mal, dachte Mattei. In ihrem Job klang ein solch großzügiger Umgang mit Informationen wie ein echtes Dienstvergehen. Aber da ihr Chef ein hochrangiger Jurist mit Wurzeln in der Politik und einem Hintergrund in der Staatskanzlei war und eben nicht Polizist wie sie, hatte sie nicht vor, diese Diskussion zu führen. Zumindest nicht mit ihm. Und die Idee, dass Ella und sie es noch nach Skansen schaffen und all die kleinen Bären würden ansehen können, vergaß sie am besten auch gleich.
»Zwei Dinge wüsste ich noch gern«, sagte sie. »Zunächst einmal erscheint mir das hier wie ein typischer Fall für unsere Anti-Terror-Einheit. Warum schicken Sie nicht den Chef der Abteilung rüber?«
»Dieser Einsatz ist viel zu groß für unsere Anti-Terror-Einheit, er erfordert eine Zusammenarbeit aller Abteilungen, die wir haben. Wir werden unsere Mannschaft schlicht maßschneidern müssen, und die Einzige, die das anleiten kann, sind Sie, Lisa. Sie leiten besondere Einsätze, und Sie sind meine Stellvertreterin. So einfach ist das. Sie sind de facto unser operativer Kopf. Hat man das nicht früher zu den Leuten gesagt, die mit der Ausführung solcher Jobs betraut wurden?«
»Okay«, sagte Lisa Mattei. »Dann machen wir das so.«
Die Sache gefällt mir, dachte sie.
»Eine Frage habe ich noch«, fuhr sie fort. »Mit wem werde ich mich treffen?«
Wen von all diesen britischen Kollegen, die an Stellen arbeiteten, deren Bezeichnungen oft mit einem großen »M« und einem großen »I« begannen, gefolgt von einer Zahl?
»Es ist dieser Mann hier«, sagte ihr Chef und schob ihr lächelnd ein Foto im DIN-A4-Format rüber. »Kein übler Arbeitspartner, wenn Sie mich fragen, und auf jeden Fall zeigt die Wahl seiner Person, welche Bedeutung die Briten dieser Sache beimessen.«
»Hat er auch einen Namen?«, fragte Mattei und dachte: der reine Schwiegermuttertraum, als sie sein Foto sah.
»Er heißt Jeremy Alexander. Arbeitet beim MI6, und wenn ich es richtig verstanden habe, nimmt er dort ungefähr dieselbe Position ein wie Sie hier bei uns.«
5
Als letzte Tat, ehe sie das Büro verließ, schickte Lisa eine kurze Mail an eine Freundin, die zwar in Schweden geboren war, aber seit ihrer Jugendzeit in England wohnte und arbeitete. Sie war inzwischen Dozentin und Wissenschaftlerin für Internationale Politik am Merton College in Oxford, und wenn jemand ihren britischen Kontakt kannte, dann höchstwahrscheinlich sie.
Man durfte nie vergessen, dass die Welt, in der man lebte, viel kleiner war, als man gemeinhin annahm.
Dann holte sie ihre Tasche, verließ das Büro und nahm den Fahrstuhl hinunter in die Garage, wo schon ihr Wagen auf sie wartete.
Zwei Stunden, nachdem sie ihre Tochter mit den Kollegen von der Streife in die Kita gebracht hatte, erreichte Lisa Mattei zusammen mit ihren drei Mitarbeitern das private Terminal auf dem Flughafen Bromma, und wenn nicht ihr Chef noch bis zum Schluss die Zusammensetzung ihrer Einsatztruppe hätte diskutieren wollen, hätten sie sich zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich schon in der Luft befunden. Es war ihr gelungen, die Diskussion mit einem Kompromiss abzuschließen. Erst einmal hatte sie ihm Selbstverständlichkeiten erklärt, nämlich, dass diese Frage sehr gut warten könnte, bis sie wussten, wie ihr Auftrag eigentlich genau aussehen würde. Dann hatte sie ihm angeboten, sich noch einmal mit ihm zusammenzusetzen, bevor sie all die Mitarbeiter versammeln würde, die am Ende das Team stellten.
»Das klingt nach einer großartigen Idee«, stimmte ihr Chef zu, »wie wäre es mit morgen früh acht Uhr in meinem Büro?«
»Wie wäre es mit sieben Uhr?«, fragte Mattei. »Ich hätte die organisatorischen Dinge gerne bis mittags abgeschlossen«, erklärte sie.
»Ausgezeichnet. Dann machen wir das so.«
Diesmal nur ein kurzes und zustimmendes Nicken, plötzlich beamtenmäßig, an die neu entstandene Situation angepasst. Die erste brenzlige Lage während seiner vier Monate als Chef der Sicherheitspolizei.
Dann habe ich zumindest drei Wochen und drei Tage, um den großen Knall zu verhindern, den uns die Briten offensichtlich versprochen haben, dachte Mattei.
6
Der Fahrer brachte sie direkt aufs Rollfeld zu dem wartenden Flugzeug. Wie versprochen stand es da und wartete mit ausgefahrener Treppe auf sie. Stahlblau glänzend, mit drei Motoren und ohne jegliche Aufschriften, die auf irgendeine gewöhnliche Fluglinie oder kommerzielle Interessen hingedeutet hätten.
Auch die Besatzung stimmte, zumindest was ihr Äußeres betraf, mit ihrem Transportmittel überein. Ein Pilot und eine Pilotin in ihrem Alter, schlank, durchtrainiert, höflich, aber vor allem korrekt. Ein etwas älterer Kabinenchef mit sympathischer Neigung zu Übergewicht, der mehr lächelte als die beiden anderen zusammen und mit leichtem irischem Akzent sprach. Alle in gut gewienerten schwarzen Schuhen, blauen Anzughosen mit messerscharfen Bügelfalten, blauem Schlips und blendend weißen Hemden. Ansonsten keine irgendwie gearteten Details, die verraten hätten, woher sie kamen. Nicht einmal kleine Anstecker mit vergoldeten Flugzeugflügeln auf der Brusttasche, die für Besatzungen in Passierflugzeugen obligatorisch zu sein schienen. Doch da Lisa Mattei nie aus ihrer Haut konnte, beschloss sie, herauszufinden, wer diese Leute eigentlich waren.
Sowie sie sich hingesetzt und den Sicherheitsgurt geschlossen hatte, nickte sie dem Kabinenchef kurz zu und fragte ihn, ob die berechnete Flugzeit immer noch zwei Stunden und dreißig Minuten sei.
Er richtete sich reflexartig auf, ehe er antwortete, und nahm eine, mit Rücksicht darauf, dass er im Mittelgang eines nicht allzu hohen Flugzeugs stand, etwas eingeschränkte, aber doch fast militärische Haltung an.
»Yes, Ma’am«, antwortete er. »Two hours thirty minutes. We are taking off in five minutes and expect to land at base one five two zero, local time.«
Alles klar: das Flugzeug des Sicherheitsdienstes mit Besatzung der Royal Air Force, dachte Mattei. Sehr gut, und wenn man mal davon ausging, dass ihr britischer Kollege so direkt war wie sie und nicht umständlich und wortreich veranlagt wie ihr Chef, dann bestand die Chance, dass sie am Abend ihre Tochter noch sehen würde, ehe sie eingeschlafen war.
Je weniger, desto besser, war Lisa Matteis Devise gewesen, als sie aus ihren knapp tausend Arbeitskollegen bei der Säpo die drei ausgewählt hatte, die mit ihr nach Südengland fliegen sollten, um den britischen Kollegen zu treffen.
Drei von tausend und dabei kein höherer Chef auf ihrer Ebene. Stattdessen solche Leute, die operativ arbeiteten, ohne von zu viel Administration blockiert zu sein, gleichzeitig aber hoch genug angesiedelt, um direkte Anweisungen an ihre Leute aussprechen zu können. Zudem drei Personen, die sie seit langem persönlich kannte, denen sie rückhaltlos vertraute und von denen sie jetzt schon entschieden hatte, dass sie ihrem Ermittlungsteam angehören sollten. Sie sprachen außerdem alle fließend Englisch, was im Hinblick auf ihren Partner ja nicht außer Acht zu lassen war.
Dan Andersson, Kommissar und stellvertretender Chef der Abteilung Personenschutz – im Haus nannte man ihn »den Leibwächter« –, hatte schon bei Europol und Interpol gearbeitet sowie zwei Jahre als Verbindungsmann der schwedischen Polizei an der Botschaft in London. Linda Martinez war Kommissarin und stellvertretende Chefin aller Ermittler bei der Anti-Terror-Abteilung – ihre Mutter war Engländerin und ihr Vater Jamaikaner. Jan Wiklander, Polizeiintendent und stellvertretender Chef des schwedischen Nachrichtendienstes, hatte sein Englisch auf die altmodische Weise gelernt, nämlich durch umfassendes Studium der englischen Sprache und Literatur. Fremdsprachen waren sein großes Hobby.
Es war doch schön, mit Leuten zu arbeiten, die wussten, was Durchschlag auf Englisch heißt, dachte Mattei. Sie selbst musste in solchen Fällen ihr Smartphone befragen.
Seltsam, als sie vor zwei Stunden Ella in der Kita abgegeben hatte, war sie ziemlich mieser Laune gewesen. Jetzt ging es ihr wie immer. Was mal wieder einfach nur bewies, wie schlimm es um sie stand.
Mattei und ihre Reisegesellschaft nahmen in einer Vierergruppe aus breiten und bequemen Sesseln Platz, die einander gegenüberstanden. Das alles glich nicht im Entferntesten den üblichen Flugzeugsitzen, sondern bot viel Beinfreiheit und einen richtigen Tisch für Teller und Gläser sowie alle möglichen Papiere, mit denen vielleicht gearbeitet würde.
Sowie sie ihre Reiseflughöhe erreicht hatten und die Anschnallzeichen erloschen waren, erschien der Kabinenchef und kündigte ein Mittagessen an. Gewiss, es sei ein wenig spät … was er aufrichtig bedauere … doch da es nun mal so sei, wie es sei in diesem Beruf … was sie selbst sicher viel besser beurteilen könnten als er … müsse man die Dinge nehmen, wie sie kämen … und es sich so angenehm wie möglich gestalten.
Er selbst habe unter den bestehenden Bedingungen sein Möglichstes getan und könne ihnen als Hauptgericht entweder gekochten Lachs mit Spinat in Weißweinsoße anbieten oder Ossobuco mit Pilzrisotto. Dazu gäbe es einen kleinen, warmen Krabbenkuchen als Appetizer vorweg und hinterher ein Stück Käse und etwas Schokolade zum Kaffee. Oder zum Tee, wenn man diesen als Abschluss der Mahlzeit vorziehe, und aus irgendeinem Grunde nickte er bei diesen Worten Lisa Mattei höflich zu.
Was die Getränke zum Essen angehe, sei er glücklicherweise besser ausgerüstet. Eigentlich gäbe es fast alles an Bord, Champagner, Bier, Wein, natürlich auch Stärkeres, wenn gewünscht, Mineralwasser … selbstverständlich … sowohl mit wie ohne Kohlensäure.
Kurz gesagt, er habe sein Bestes gegeben, wenn er sich auch manchmal fühle wie Napoleons Koch in Marengo. Dies natürlich nur in aller Bescheidenheit und ohne weitere Ähnlichkeiten zu beanspruchen.
Es wurde alles andere als ein gewöhnliches Arbeitsessen, sondern vielmehr unter den Umständen ein sehr ungewöhnliches Mittagessen, und Auslöser dafür war Linda Martinez.
Sie wollte Ossobuco und alles andere auch, und zum Essen wollte sie ein großes Bier. Und wenn einer ihrer Reisebegleiter etwas dagegen einzuwenden habe, dann wolle sie von Anfang an gleich klarstellen, dass sie aus dem Urlaub gerufen worden sei. Und nun saß sie hier, gefangen in ihrer gutmütigen Art, immer bereit zu sein, und wenn jemand ein Problem mit ihrer Wahl des Getränkes habe, dann solle man doch einfach jemand anderen mitnehmen.
Martinez hatte solide Unterstützung aus ungewohnter Richtung erhalten. Erst einmal stellte Wiklander klar, dass er aus früheren Erfahrungen mit den britischen Kollegen sagen könne, dass es nachgerade ein taktischer Vorteil wäre, sich so schnell wie möglich ihren Gewohnheiten anzupassen. Natürlich ohne dabei das gute schwedische Mittelmaß aus den Augen zu verlieren. Er könne sich durchaus vorstellen, ein Bier vor dem Essen zu nehmen und dann zu seinem Kalb mit Risotto ein Glas Rotwein, gern einen italienischen, falls man einen solchen habe.
»Of course, Sir, very good choice«, bestätigte der Kabinenchef, und was den Wein angehe, so würde er den ausgezeichneten Piemonte aus Norditalien empfehlen, den ebenjenen Gästen servieren zu dürfen, die am Tag zuvor mitgeflogen seien, er im Übrigen das Vergnügen gehabt habe. Vielleicht sei er nicht so einschmeichelnd wie die Weine der südlichen Teile des Landes, doch mit ganz anderer Reife, Balance und Abgang, wenn er seiner simplen Meinung Ausdruck verleihen dürfe.
Dan Andersson hatte sich Wiklander angeschlossen. Nach fast sechs Jahren im ausländischen Dienst war ihm sehr bewusst, wie wichtig es war, sich rechtzeitig den Sitten anzupassen, denen man vor Ort begegnen würde. Das gleiche Essen, die gleichen Getränke wie Wiklander, und als sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, sahen sie mit gewisser Erwartung zu ihrer Chefin Lisa Mattei.
»Nun, Lisa, für dich wie immer Fisch mit Mineralwasser?«, fragte Martinez mit Unschuldsmiene.
»Gewiss nicht«, gab Mattei mit einem Kopfschütteln zurück. »Als Aperitif ein Glas Champagner«, fuhr sie fort und lächelte den Kabinenchef freundlich an. »Dann ein Glas von dem Rotwein, den Sie empfehlen, und das gleiche Essen wie meine Kollegen. Dazu gern eine Flasche Mineralwasser, ohne Kohlensäure.«
»Excellent choice, Ma’am«, betonte er. »Excellent.«
Natürlich, dachte Lisa Mattei. Ich bin ja schließlich die Chefin.
7
Ein höchst ungewöhnliches Mittagessen also, zumal sie erst nach dem Kaffee auf die Gründe zu sprechen kamen, warum sie hier überhaupt saßen. Bis dahin hatte man über andere Dinge geredet, und auch hier hatte Linda Martinez die Initiative ergriffen.
»Und was ist jetzt Marengo?«, fragte sie und nickte zu der geschlossenen Tür zu dem kleinen Raum zwischen Cockpit und Kabine, in das sich ihr Kabinenchef zurückgezogen hatte. »Irgend so ein Nachtisch? Mit spanischem Likör vielleicht?«
»Die Schlacht bei Marengo«, begann Wiklander mit einem schlichten Lächeln und sah fragend zu Lisa. Unverändert kollegial, seit dem Tag, als sie zur Säpo gekommen und er ihr direkter Vorgesetzter gewesen war. Jetzt waren die Rollen vertauscht, doch Jan Wiklander war immer noch derselbe. Freundlich, korrekt, zugewandt.
»Ich passe«, sagte Lisa Mattei. »Erklär du es uns, Jan.«
»Marengo war ein kleines Dorf in Norditalien, inzwischen ist es eine weitaus größere Stadt, in der Napoleon und seine Armee im Jahre 1800 eine berühmte Schlacht gegen die Österreicher gewonnen haben. Wobei die Franzosen zu Beginn dieses Krieges sowieso fast jede Schlacht gewonnen haben. Aber du bist auf der richtigen Spur, Linda«, fuhr er fort und nickte. »Marengo ist nämlich auch der Name eines berühmten Menüs geworden, ›Hühnchen à la Marengo‹, das Napoleon nach der Schlacht angeblich gegessen haben soll. Weil sie ihren Tross hinter sich gelassen hatten, gab es kein Essen, das Napoleons Koch seinem Herrn hätte servieren können. Das Einzige, was er bieten konnte, waren ein Huhn und ein paar Eier, die er einem Bauern, der in der Nähe des Dorfes wohnte, abgeknöpft hatte. Sicher keine angenehme Geschichte, weder für den Bauern noch für sein Huhn, aber Napoleon soll satt und zufrieden gewesen sein, und deshalb findet man das Rezept in den meisten älteren Kochbüchern. Wenn ich mich recht erinnere, ist es mehr ein Geflügeleintopf. Huhn, Rauchfleisch, Weißwein, Olivenöl, Pilze, Zwiebeln, Tomaten, Paprika – gewöhnliche Gemüse also und dann die Kräuter der Region, wie Rosmarin, Thymian, Petersilie, Lorbeer. Man nimmt, was da ist, wie meine Großmutter es ausgedrückt hätte. Oder, wie unser Kabinenchef es nannte: Man passt sich der Situation an.«
»Klingt gut«, sagte Linda Martinez. »Aber dieses Kalbfleisch, das wir heute bekommen haben, war jetzt auch nicht ganz schlecht.«
»Ich glaube, auch Napoleon hat nicht darben müssen«, meinte Wiklander. »Wusstet ihr, dass Marengo im Piemont liegt? Derselbe Teil Italiens, aus dem unser ganz ausgezeichneter Rotwein stammt. Was der kostet, wage ich kaum zu denken. Und da er offensichtlich für die Gäste des britischen Botschafters gedacht war, kann man sich jetzt fragen, wer das wohl gewesen sein mag«, sagte Wiklander und drehte sein Glas.
»Ich weiß es«, sagte Dan Andersson, »wir stellen nämlich zum Teil deren Personenschützer.«
»Und, wer ist es?«, fragte Linda Martinez. »Ich würde ihnen gern eine Mail schicken und mich bedanken, dass sie zumindest eine Flasche für einen einfach gestrickten Menschen wie mich übrig gelassen haben.«
»Das darf ich leider nicht sagen«, antwortete Andersson mit dem Anflug eines Lächelns. »Also zumindest, solange mir die Chefin nicht die Erlaubnis erteilt«, fügte er mit einem höflichen Nicken an Lisa Mattei hinzu.
»Die du hiermit hast«, sagte Lisa. »Erzähl schon, ehe ich vor Neugier platze.«
Das musste der Champagner sein, obwohl sie nur ein halbes Glas getrunken hatte.
»Zu Befehl, Chef«, sagte Dan Andersson. »Drei Besucher. Der stellvertretende Außenminister plus zwei Mitarbeiter aus dem Außenministerium. Die Aufgaben der beiden Letzteren sind nicht klar. Alle sind sie inkognito hier, sie wohnen in der Botschaft und haben den Tag mit internen Besprechungen verbracht, über deren näheren Inhalt wir nichts wissen. Bevor sie heute Abend spät nach Hause reisen, werden der Botschafter und seine Frau sowie vier schwedische Gäste draußen auf Drottningholm zusammen mit dem Königspaar zu Abend essen. Ein inoffizielles Abendessen, die Initiative dazu erfolgte durch Seine Majestät höchstselbst. Er und der britische Botschafter sollen gute Freunde sein. Unter anderem sind sie bei mehreren Gelegenheiten in England und in Schweden gemeinsam auf die Jagd gegangen. Was die schwedischen Gäste angeht, glaube ich, dass auch sie aus dem Jagd-Umfeld stammen. Es sind zwei unserer bekanntesten Finanzmänner mit jeweiligem Anhang.«
Der König und seine Jagdkameraden. Wir leben in einer viel zu kleinen Welt, dachte Mattei. Außerdem musste sie jetzt mal dringend zur Sache kommen.
»Wahrscheinlich fragt ihr euch, warum wir hier sitzen«, begann sie.
Dann berichtete Mattei ihren Kollegen, was ihr ein paar Stunden zuvor ihr Chef zugetragen hatte, und die Message selbst war schnell überbracht. Al-Shabaab, die mutmaßlichen Täter, gehörten wahrscheinlich zur selben Familie von mehr als zehn Personen, ein Anschlag, der am 6. Juni, dem Nationalfeiertag, von einem so genannten Selbstmordattentäter ausgeführt werden sollte und sich unter anderem gegen Mitglieder der königlichen Familie und der Regierung richtete. Dazu alle anderen, die sich zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort befanden.
»Das ist alles, was ich weiß«, fasste Mattei zusammen. »Den Rest werden sie uns anscheinend erzählen, wenn wir dort sind.«
Wiklander nickte nachdenklich.
»Aha. Ja. Heutzutage muss ja alles so geheim gehalten werden, dass man den ganzen Tag nichts anderes mehr zu tun hat. Eine einfache Frage: Wie sicher ist es, dass die Informationen der Briten stimmen?«
So sicher, wie man nur sein konnte, ehe man mit der traurigen Tatsache einer vollendeten Tat konfrontiert sein würde, fasste Mattei zusammen – jedenfalls, wenn man ihrer hochstehenden Kontaktperson glaubte.
»Klar, aber warte mal«, wandte Martinez ein. »Bei allem Respekt und so weiter, aber wir reden hier ja wohl von unserem obersten Chef, und der ist ein Frischling in diesem Job. Nicht einmal irgendein gewöhnlicher Rookie, den man gerade aus der Polizeihochschule entlassen hat, sondern ein Politiker, der als Jurist in der Staatskanzlei gearbeitet hat. Wir wissen doch alle, wie so einer die Wände hochklettern kann, weil er nichts von dem begriffen hat, was man ihm gesagt hat.«
»Ja«, stimmte Mattei zu. »Das ist mir durchaus bewusst, aber ich denke, das kann man vernachlässigen. Wir sitzen hier, weil die Briten diese ganze Sache scheinbar aufgedeckt haben. Das sind Leute, die dieselbe Erfahrung haben wie wir, und die wollen uns jetzt treffen. Das Ganze ist also nicht die Idee von unserem GD. In dem Fall hätte ich erst mal bei denen angerufen und versucht, mir eine eigene Meinung zu bilden.«
»Dann befände ich mich immer noch im Urlaub«, seufzte Martinez, »hätte aber auch wohl kaum ein derartiges Mittagessen vorgesetzt gekriegt, es sei dir also verziehen, Lisa. Also, mal für den Fall, dass du an allem schuld bist.«
»Ich bin derselben Ansicht wie Lisa«, meinte Wiklander. »Was haltet ihr davon, wenn wir versuchen, schon mal ein bisschen Informationen zu sammeln? Es ist schließlich noch eine Stunde hin, bis wir landen.«
»Dann kann ich ja schon mal anfangen«, sagte Lisa. »Alle Mitglieder der al-Shabaab, die in Schweden leben, sind fast ausschließlich Somalier. Die einzige Ausnahme scheinen die schwedischen Mädchen zu sein, mit denen diese Jungs zusammen sind und die sich manchmal entschließen, die ganze Ideologie anzunehmen, die ihre Männer ihnen vermittelt haben. Wie viele das sind? Nun ja, derzeit viel weniger als fünfzig, und da spreche ich also von schwedischen Frauen. Berichtige mich, Jan, wenn ich falschliege.«
»Nein«, sagte Wiklander. »Wenn du genauere Zahlen willst, dann kannst du die kriegen, sowie wir wieder im Büro sind. Die Anzahl in Schweden lebender Männer, von denen wir glauben, dass sie eine ernsthaftere Verbindung zu al-Shabaab pflegen, beträgt derzeit ein paar Hundert. Fast alle von ihnen sind afrikanischer Herkunft, und zumindest neun von zehn stammen aus Somalia oder einem Nachbarland.«
»Die Briten behaupten außerdem, dass diejenigen, die zum engsten Kreis der Täter gehören, aus ein und derselben Familie mit mehr als zehn Mitgliedern stammen. Es gibt viele muslimische Familien sehr unterschiedlicher Abstammung und von dieser Größe, aber da sind dann andere Organisationen als al-Shabaab relevant«, fügte Mattei hinzu.
Wiklander nickte zustimmend.
»Was könnte das Ziel des Anschlags sein? Wenn man den Zeitpunkt und die Opfer bedenkt, auf die er zielt, dann kann es sich eigentlich nur um die Veranstaltungen zum Nationalfeiertag auf Skansen handeln«, fuhr Mattei fort. »Da sind neben anderen der König und die Königin zugegen, der stellvertretende Ministerpräsident sowie ein paar andere Staatsräte, deren Namen ich noch nicht einmal habe lernen können. Und dann natürlich noch all die anderen vornehmen Menschen, die in deren Kielwasser folgen.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Dan Andersson.
»Einfache Frage von einer einfachen Ermittlerin«, begann Martinez. »Diese Somalier, von denen wir hier reden, wo finde ich die denn? Nehmen wir mal an, dass die womöglich oben in Lappland wohnen oder in irgendeinem anderen kleinen Kaff mit ein paar Hundert müden Seelen. Da wird jemand wie ich gewisse praktische Probleme kriegen, im Klartext: Ich werde in Shit City sein.«
»Nein. Wir sprechen von gewissen Vororten im Großraum Stockholm«, erwiderte Wiklander. »Da wohnt der größte Teil der Somalier, und vor allem diejenigen, die eine bekannte Verbindung zu al-Shabaab pflegen. Die nächste Alternative in einem Hundertkilometerradius um Stockholm sind dann Städte wie Uppsala oder Eskilstuna unten in Sörmland.«
»Rinkeby, Akalla, Flemingsberg, Haninge, Botkyrka, das klingt alles wie Musik in meinen Ohren«, zählte Martinez die sozialen Brennpunkte im Großraum Stockholm auf. »All die leerstehenden Wohnungen, in denen meine Leute ihr kleines Nest einrichten können. Dann müssen wir nur noch ein Loch in die Wand bohren, und schon haben wir Ton und Bild. Man muss nicht mal rausgehen, um sich eine Pizza zu holen.«
»Eine Frage«, sagte Lisa Mattei, »wie viele Ermittler mit somalischem Hintergrund haben wir in unserem Dienst?«
»Null«, sagte Martinez mit Nachdruck. »Und wenn du nun noch wissen willst, wie viele es davon insgesamt in der schwedischen Polizei gibt, dann verwette ich mein Hemd, dass es auch da null sind. Dunkelhäutige und schwarze Kollegen haben wir ungefähr zwanzig. Im Land Stockholm hundert. Aber keiner von denen ist Somalier.«
»Wie lösen wir das?«
»Das ist mein klassisches Problem. Ein paar Kollegen rauszusuchen, die in die Umgebung passen, und dann auch noch genug davon, so dass sie die gestellte Aufgabe bewältigen können. Wenn wir von an die zehn Tätern reden, dann werden wir definitiv Leute ausleihen müssen. Aus Skåne, aus Göteborg, von der Reichskripo. Im Grunde von allen Stellen im Land, an denen es einen geeigneten dunkelhäutigen Kollegen gibt. Damit musst du eiskalt rechnen, Lisa. Wir werden Leute ausleihen müssen, und schwarze Männer und Frauen sind in diesem Job leider Mangelware.«
»Das kriegen wir hin«, sagte Lisa.
Der Tag, die Sorge, dachte sie. Sie hatte schließlich keine andere Wahl.
»Noch eine Frage«, begann Wiklander, »weißt du, wer der britische Kollege sein wird, der mit uns zusammenarbeiten soll?«
»Allerdings«, antwortete Mattei und grinste. »Über den weiß ich tatsächlich bedeutend mehr als über unseren Fall.«
Dann holte sie das große Farbfoto von ihrem britischen Kollegen heraus und hielt es hoch.
»Oh my God«, stöhnte Linda Martinez. »Der reinste Schwiegermuttertraum! Aber definitiv nicht mein Typ.«