Buch
Tue nichts Böses, sonst wird er dich bestrafen. Zuerst wird er einen Menschen entführen, den du liebst. Dann wird er dir ein Ohr des Opfers in einem weißen Geschenkkarton schicken. Daraufhin ein Auge, dann die Zunge. Du kannst versuchen, ihn zu stoppen, aber du wirst es nicht schaffen. Denn er ist der Four Monkey Killer, und er kennt kein Erbarmen. Du kannst nur hoffen, dass er nicht weiß, wer du bist, und dass er es nie erfährt …
Autor
J. D. Barker hat bereits einen preisgekrönten Horrorroman veröffentlicht, für den er hoch gelobt wurde. The Fourth Monkey ist sein erster Thriller und der Beginn einer Serie um Detective Sam Porter. Barker lebt in Englewood, Florida, und in Pittsburgh, Pennsylvania.
Weitere Informationen unter: www.jdbarker.com
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J. D. BARKER
THE FOURTH MONKEY
GEBOREN, UM ZU TÖTEN
Thriller
Deutsch von Leena Flegler
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Fourth Monkey« bei Houghton, Mifflin, Harcourt, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2017 by J. D. Barker
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2017 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Alexander Groß
Covergestaltung: www.buerosued.de nach einem Entwurf von © HQ 2017
Covermotive: Shutterstock.com
NG · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-20699-4
V004
www.blanvalet.de
Für meine Mutter
Hören Sie nicht auf zu lesen.
Ich will, dass Sie verstehen, was ich getan habe.
Tagebuch
Porter
Tag 1, 6.14 Uhr
Da war es schon wieder. Dieses andauernde Ping.
Ich hab den Ton doch abgestellt. Warum höre ich dann, wenn Nachrichten kommen? Warum höre ich überhaupt irgendwas?
Ohne Steve Jobs ist Apple nur noch Scheiße.
Sam Porter wälzte sich auf die rechte Seite und tastete blind nach dem Handy auf dem Nachttisch.
Mit einem dumpfen Knirschen, wie es nur Schrott aus China von sich gab, landete der Wecker auf dem Boden.
»Verdammt!«
Als er das Handy endlich in die Finger bekam, fummelte er das Ladekabel heraus, hob das Ding vors Gesicht und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das kleine leuchtende Display.
RUF MICH AN, 911.
Eine SMS von Nash.
Porter sah zur Seite seiner Frau hinüber. Dort war das Bett leer, mal abgesehen von einem Zettel.
Bin schnell Milch holen, gleich wieder da.
xoxo, Heather
Mit einem Grunzen wandte er sich wieder seinem Handy zu.
6.15 Uhr.
So viel zu einem ruhigen Morgen.
Porter stemmte sich hoch und rief die Nummer seines Partners auf. Beim zweiten Klingeln ging er ran.
»Sam?«
»Hey, Nash.«
Für einen Moment herrschte am anderen Ende Stille. »Tut mir echt leid, Porter, ich hab wirklich überlegt, ob ich anrufen soll. Hab deine Nummer bestimmt ein Dutzend Mal aufgerufen und wieder aufgelegt. Dann dachte ich mir, vielleicht schreib ich dir besser eine SMS. Die hättest du einfach ignorieren können.«
»Schon in Ordnung, Nash. Was gibt’s?«
Wieder Stille. »Das solltest du dir lieber selbst ansehen.«
»Was?«
»Es gab hier einen Unfall …«
Porter rieb sich die Stirn. »Einen Unfall? Wir sind die Mordkommission. Was haben wir mit einem Unfall zu schaffen?«
»Glaub mir einfach. Das hier solltest du dir ansehen«, sagte Nash erneut. Mit einem merkwürdigen Unterton.
Porter seufzte. »Und wo?«
»Nähe Hyde Park, Höhe Fünfundfünfzigste. Hab dir gerade die Adresse geschickt.«
Im selben Moment schrillte ihm der Signalton ins Ohr, und er hielt das Telefon ein Stück vom Kopf weg.
Scheiß iPhone.
Er schrieb sich die Adresse auf und hob das Handy wieder ans Ohr. »Ich brauche eine halbe Stunde. Passt das?«
»Klar«, antwortete Nash. »Wir sind noch eine Weile hier.«
Porter legte auf und schob die Beine über die Bettkante. Unter lautem Protest knirschte und knackste sein ausgelaugter zweiundfünfzigjähriger Körper.
Draußen ging gerade erst die Sonne auf, und durch die Lamellen des Schlafzimmerrollos fiel fahles Licht herein. Schon merkwürdig, wie still und trüb sich die Wohnung ohne Heather anfühlte.
Bin schnell Milch holen.
Mit zersplittertem Gesicht blinkte ihm der Wecker von den Bodendielen entgegen und zeigte irgendetwas an, was mit Ziffern keine Ähnlichkeit mehr hatte.
Es würde einer dieser Tage werden.
Von diesen Tagen hatte er in letzter Zeit so einige gehabt.
Zehn Minuten später verließ er in voller Montur die Wohnung – sprich: in einem zerknitterten blauen Anzug, den er vor knapp zehn Jahren bei Men’s Wearhouse von der Stange gekauft hatte – und lief die drei Stockwerke hinunter bis zur Haustür. Vor den Briefkästen im beengten Eingangsbereich blieb er kurz stehen, zog sein Handy aus der Tasche und rief Heather an.
Sie haben die Nummer von Heather Porter gewählt. Dies ist die Mailbox, womöglich habe ich also Ihre Nummer auf dem Display gesehen und nicht mit Ihnen reden wollen. Wenn Sie in Erwägung ziehen sollten, mir Ihre Anerkennung zu zollen, indem Sie mir einen Schokokuchen oder irgendeine andere feine Leckerei zukommen lassen wollen, schicken Sie mir bitte eine Nachricht mit den entsprechenden Details, dann denke ich noch mal über mein soziales Auswahlverfahren nach und rufe Sie eventuell zurück. Wenn Sie von irgend so einer Netzbetreiber-Drückerkolonne anrufen, können Sie genauso gut gleich auflegen. AT&T hat mich noch mindestens ein Jahr in seinen Fängen. Alle anderen: Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht. Bedenken Sie aber, dass mein treuliebender Ehemann ein ziemlich jähzorniger Cop ist und dass er eine verdammt große Waffe bei sich trägt.
Unwillkürlich musste Porter lächeln. Wie immer, wenn er ihre Stimme hörte. »Hey, Button, ich bin’s. Nash hat angerufen, irgendwas ist da unten beim Hyde Park los. Ich fahr jetzt zu ihm und ruf dich an, wenn ich weiß, wann ich wieder daheim bin.« Dann fügte er noch hinzu: »Oh, und irgendwas stimmt mit dem Wecker nicht.«
Er steckte das Handy wieder in die Tasche und trat aus der Tür. Die kühle Luft erinnerte ihn daran, dass der Winter allmählich in Chicago Einzug hielt.
Porter
Tag 1, 6.45 Uhr
Über die Lake Park Avenue machte er ein bisschen Zeit gut und kam gegen Viertel vor sieben an. Auf Höhe der Fünfundfünfzigsten war die Woodlawn schon von der Chicago Metro gesperrt worden. Die Lichter konnte er bereits mehrere Blocks entfernt sehen. Bestimmt ein Dutzend Einheiten. Ein Notarzt, zwei Löschfahrzeuge. Sicher zwanzig Kollegen, womöglich sogar mehr. Und die Presse.
Als er sich in seinem fast neuen Dodge Charger dem Durcheinander näherte, ging er vom Gas und hielt seine Marke aus dem Fenster. Ein junger Officer, noch ziemlich grün hinter den Ohren, duckte sich unter dem gelben Absperrband hindurch und eilte auf ihn zu. »Detective Porter? Nash meinte, ich solle auf Sie warten. Stellen Sie den Wagen einfach irgendwo ab, wir haben den ganzen Block gesperrt.«
Porter nickte, parkte neben einem der Feuerwehrfahrzeuge und stieg aus. »Wo ist er?«
Der Junge hielt ihm einen Becher Kaffee hin. »Da drüben, bei dem Krankenwagen.«
Nash war in ein Gespräch mit Tom Eisley aus der Rechtsmedizin vertieft. Mit seinen gut eins neunzig überragte er den viel kleineren Mann deutlich. In den vergangenen Wochen, seit Porter ihn zuletzt gesehen hatte, schien Nash ein bisschen zugelegt zu haben; die klassische Cop-Wampe hatte sich gut erkennbar über seinen Gürtel geschoben.
Nash winkte ihn zu sich.
Eisley nickte ihm knapp zu und schob sich die Brille ein Stück die Nase hoch. »Wie geht es Ihnen, Sam?« Er hielt ein Klemmbrett mit mindestens fünfhundert Blatt Papier in den Händen. Porter kannte ihn gar nicht anders als mit einem Klemmbrett in der Hand, obwohl sie sich im Zeitalter der Tablets und Smartphones befanden. Nervös blätterte er durch seine Unterlagen.
»Er hat’s ziemlich sicher satt, dass ständig Leute fragen, wie’s ihm geht, wie er klarkommt und wie man sich sonst noch nach seinem Befinden erkundigt«, knurrte Nash.
»Schon okay, mir geht es gut.« Porter lächelte gezwungen. »Danke der Nachfrage, Tom.«
»Wenn ich was für Sie tun kann, sagen Sie Bescheid.« Dann warf er Nash einen finsteren Blick zu.
»Das weiß ich zu schätzen.« Porter wandte sich wieder an Nash. »Also ein Unfall.«
Nash nickte zu einem Stadtbus hinüber, der vielleicht fünfzehn Meter entfernt am Straßenrand stand. »Mensch gegen Maschine. Komm.«
Mit Eisley, der mit seinem Klemmbrett ein paar Schritte hinter ihnen herging, liefen sie in Richtung Bus.
Ein Kollege von der Spurensicherung machte gerade Fotos von der Front des Fahrzeugs. Verbeulter Kühler. Lackschäden direkt über dem rechten Scheinwerfer. Ein zweiter Kollege zupfte irgendetwas aus dem Profil des rechten Vorderreifens.
Dann entdeckte er den schwarzen Leichensack inmitten eines Meers aus Uniformen, das sich vor einer wachsenden Meute Gaffer erstreckte.
»Der Bus hatte ordentlich Tempo. Die nächste Haltestelle ist erst eine Meile die Straße runter«, erklärte Nash.
»Ich war nicht zu schnell, verdammt noch mal, checken Sie den Fahrtenschreiber! Hören Sie auf mit solchen Unterstellungen!«
Der Mann zur Linken musste der Busfahrer sein – ein Riesenkerl, mindestens hundertdreißig Kilo. Die schwarze Jacke mit dem CTA-Logo spannte sichtlich über den Rundungen, die sie zusammenhalten musste. Das drahtige graue Haar lag links an, während es rechts vom Kopf abstand.
»Dieser blöde Idiot ist einfach vor mir auf die Straße gesprungen. Das war kein Unfall, der hat sich selbst ins Aus befördert.«
»Niemand behauptet, dass Sie irgendetwas falsch gemacht hätten«, versicherte ihm Nash.
Eisleys Handy klingelte. Er warf einen Blick auf das Display, hielt kurz einen Finger hoch und machte ein paar Schritte zur Seite, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Sie erzählen hier rum, dass ich zu schnell gewesen wäre«, fuhr der Busfahrer fort, »aber so was kostet mich den Job und meine Rente … Soll ich mir in meinem Alter noch was Neues suchen? Bei der Wirtschaftslage?«
Porter spähte auf das Namensschild an der Jacke des Mannes. »Mr. Nelson, atmen Sie mal tief durch und beruhigen sich wieder?«
Schweißperlen liefen ihm über das erhitzte Gesicht. »Am Ende muss ich noch einen Kehrbesen vor mir herschieben, nur weil dieser Wichser sich vor meinen Bus geworfen hat. Einunddreißig Jahre unfallfrei und jetzt so eine Scheiße.«
Porter legte dem Mann die Hand auf die Schulter. »Meinen Sie, Sie könnten mir erzählen, was passiert ist?«
»Ich muss die Klappe halten, bis der Typ vom Betriebsrat hier ist. Das muss ich.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie nicht mit mir reden.«
Der Busfahrer runzelte die Stirn. »Was können Sie schon für mich tun?«
»Zum einen könnte ich bei Manny Polanski von Transit ein gutes Wort für Sie einlegen. Wenn Sie nichts verkehrt gemacht haben, wenn Sie jetzt mit uns zusammenarbeiten, dann gibt’s nicht den geringsten Grund, Sie freizustellen.«
»Scheiße, Sie glauben echt, ich werde freigestellt?« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das kann ich mir nicht leisten, Himmel noch mal!«
»Ich glaube nicht, dass das passieren wird, solange die dort wissen, dass Sie mit uns zusammengearbeitet haben, dass Sie versucht haben, uns weiterzuhelfen. Wahrscheinlich wird dann nicht mal eine Anhörung nötig sein«, versicherte Porter dem Mann.
»Eine Anhörung?«
»Warum erzählen Sie mir nicht, was passiert ist? Dann kann ich mit Manny reden, vielleicht können wir Ihnen so den ganzen Stress ersparen.«
»Sie kennen Manny?«
»Die ersten zwei Jahre in Uniform hab ich ständig mit Transit zu tun gehabt. Er hört mir zu. Sie helfen uns, und ich leg bei ihm ein gutes Wort ein, versprochen.«
Der Fahrer dachte kurz darüber nach, holte einmal tief Luft und nickte. »Es war genau, wie ich es Ihrem Kumpel dort erzählt habe. An der Ellis war ich exakt im Zeitplan, einer raus, zwei eingestiegen, dann weiter östlich die Fünfundfünfzigste runter und um die Kurve. Die Ampel an der Woodlawn stand auf Grün, also gab es für mich keinen Grund abzubremsen. Nicht, dass ich zu schnell gewesen wäre – checken Sie den Fahrtenschreiber!«
»Sie waren sicher nicht zu schnell.«
»War ich auch nicht. Ich bin einfach dem Verkehr gefolgt. Vielleicht war ich einen Hauch über dem Limit, aber ich bin nicht gerast.«
Porter winkte ab. »Sie sind also östlich die Fünfundfünfzigste runter …«
Der Fahrer nickte. »Ja, und an der Ecke standen ein paar Leute. Nicht viele, drei oder vier vielleicht. Und als ich gerade auf die Ampel zufahre, springt der Typ mir vor den Bus. Keine Vorwarnung, nichts. Eben steht er noch an der Kreuzung, und im nächsten Moment ist er auf der Straße. Ich steig auf die Bremse, aber das Gerät bleibt leider nicht auf der Stelle stehen. Hab ihn frontal erwischt. Er ist zehn Meter durch die Luft gesegelt.«
»Wie stand die Ampel gleich wieder?«, hakte Porter nach.
»Auf Grün.«
»Nicht auf Gelb?«
Der Busfahrer schüttelte den Kopf. »Nein, auf Grün. Ich weiß das ganz genau, weil ich gesehen hab, wie sie dann umgesprungen ist. Bis Gelb waren es noch bestimmt zwanzig Sekunden. Da war ich bereits auf der Straße, als sie umgesprungen ist.« Er zeigte hoch zur Ampel. »Checken Sie die Überwachungskamera.«
Porter sah nach oben. In den letzten zehn Jahren war an beinahe jeder Kreuzung in der Stadt eine Überwachungskamera angebracht worden. Er würde Nash daran erinnern, das Video zu besorgen, sobald sie wieder im Revier wären, aber wahrscheinlich hatte sein Kollege sich schon längst darum gekümmert.
»Der hat auch nicht einfach die Straße überqueren wollen. Der Typ ist absichtlich gesprungen. Wenn Sie das Video haben, werden Sie schon sehen.«
Porter drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand. »Würden Sie noch einen Moment warten? Nur für den Fall, dass wir noch Fragen haben?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Aber Sie reden mit Manny, oder?«
Porter nickte. »Würden Sie uns jetzt kurz entschuldigen?« Dann nahm er Nash beiseite und raunte ihm zu: »Der hat ihn nicht absichtlich überfahren. Und selbst wenn das hier ein Selbstmord war, haben wir hier nichts zu suchen. Warum hast du mich rausgerufen?«
Nash legte die Hand auf Porters Schulter. »Sicher, dass du dafür schon bereit bist? Wenn du noch ein bisschen Zeit brauchst, dann kümmere ich …«
»Mir geht es gut«, fiel Porter ihm ins Wort. »Erzähl mir endlich, was hier los ist.«
»Wenn du reden willst …«
»Nash, verdammt, ich bin kein Kind. Scheiß auf Samthandschuhe.«
»In Ordnung.« Endlich schien er nachzugeben. »Aber wenn dir das hier zu schnell geht und zu viel wird, musst du mir versprechen, dass du die Reißleine ziehst, kapiert? Das wird dir sicher niemand übel nehmen.«
»Ich glaube, dass es mir guttun wird zu arbeiten. Die Hockerei in der Wohnung hat mich schier wahnsinnig gemacht.«
»Das hier ist groß, Porter«, sagte er leise. »Du hast es verdient, dabei zu sein.«
»Verdammt, Nash, spuck es endlich aus!«
»Der Typ, unser Opfer, wollte unter Garantie zu dem Briefkasten da drüben.« Er warf einen Blick zu dem blauen Briefkasten direkt vor einem geklinkerten Wohnhaus.
»Woher willst du das wissen?«
Ein Grinsen machte sich auf dem Gesicht seines Partners breit. »Er hatte ein kleines weißes Päckchen dabei, das mit schwarzem Paketband verschnürt war.«
Porter riss die Augen auf. »Nicht dein Ernst.«
»Doch.«
Porter
Tag 1, 6.53 Uhr
Porter starrte auf die Leiche hinab, auf die merkwürdige Form unter dem schwarzen Plastik.
Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.
Nash bat ein paar Kollegen und die Spurentechniker, ein Stück beiseitezutreten, damit Porter einen Moment mit dem Opfer allein sein konnte. Sie zogen sich hinter das gelbe Absperrband zurück und unterhielten sich gedämpft, ließen ihn dabei aber nicht aus den Augen. Porter selbst würdigte sie keines Blickes. Er sah nur noch den schwarzen Leichensack und das kleine Päckchen, das daneben lag. Die Techniker hatten es mit »1« markiert und sicher dutzendfach aus sämtlichen erdenklichen Winkeln fotografiert. Nur aufgemacht hatten sie es nicht. Ihnen allen war klar gewesen: Diese Aufgabe war Porter vorbehalten.
Wie viele dieser Päckchen waren es bis jetzt?
Ein Dutzend? Nein, eher zwei Dutzend.
Er überschlug es kurz im Kopf.
Sieben Opfer. Jeweils drei Päckchen.
Einundzwanzig.
Einundzwanzig Päckchen in fünf Jahren.
Der Typ hatte mit ihnen gespielt, nie auch nur die geringste Spur hinterlassen. Bloß die Päckchen.
Ein Phantom.
Porter hatte schon unendlich viele Ermittler der Taskforce beitreten und sie wieder verlassen sehen. Mit jedem neuen Opfer war das Team erweitert worden. Und von jedem neuen Päckchen hatte die Presse sofort Wind bekommen und wie die Aasgeier über ihnen gekreist. Die ganze Stadt war ausgerückt und hatte Jagd auf ihn gemacht. Nur dass irgendwann immer das dritte Päckchen aufgetaucht war, die Leiche gefunden wurde und der Typ selbst spurlos verschwand. Sich in ein Niemandsland aus Schatten flüchtete. Dann vergingen abermals Monate; die Zeitungen verloren das Interesse, die Taskforce schrumpfte wieder, die Kollegen wurden für dringendere Fälle gebraucht.
Porter war der Einzige, der von Stunde null an dabei gewesen war. Der Einzige, der über all die Zeit am Ball geblieben war. Er hatte das allererste Päckchen in der Hand gehabt und sofort erkannt, was darauf folgen würde: Taten eines gestörten Serienmörders. Als das zweite Päckchen kam und dann das dritte und irgendwann die Leiche, kapierten es die anderen auch.
Es war der Anfang von etwas Schrecklichem gewesen. Von etwas, was sich jemand ganz genau zurechtgelegt hatte.
Von etwas Bösem.
Porter war bei diesem Anfang dabei gewesen. War das, was er jetzt vor sich sah, das Ende?
»Was ist drin?«
»Wir haben es nicht aufgemacht«, erwiderte Nash. »Aber wahrscheinlich weißt du es sowieso.«
Das Päckchen war klein. Gerade mal zehn auf zehn Zentimeter, vielleicht sieben, acht Zentimeter hoch.
Genau wie die anderen.
In weißes Papier eingeschlagen und mit schwarzer Kordel verschnürt. Die Empfängeradresse handgeschrieben. Akkurate Schrift. Sie würden keine Fingerabdrücke finden, das hatten sie nie. Die Briefmarken waren selbstklebend – Speichel gäbe es also auch nicht.
Er warf einen Blick auf den Leichensack. »Und du glaubst wirklich, dass er es ist? Haben wir schon einen Namen?«
Nash schüttelte den Kopf. »Keine Brieftasche, keine Papiere. Gesicht nach Kühlergrill und Asphalt unkenntlich. Wir haben seine Fingerabdrücke durchs System gejagt. Kein Treffer. Er ist ein Niemand.«
»Falsch. Er ist jemand«, entgegnete Porter. »Hast du Handschuhe für mich?«
Nash fischte ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche und hielt sie Porter hin. Porter streifte sie sich über und nickte hinab zu dem Päckchen. »Darf ich?«
»Wir haben nur auf dich gewartet«, sagte Nash. »Das hier ist dein Fall, Sam. Ist er immer gewesen.«
Sobald Porter vor dem Päckchen in die Hocke ging, eilte ein Techniker mit einem kleinen Camcorder hinzu. »Entschuldigen Sie, Sir, aber wir müssen alles aufzeichnen.«
»Schon in Ordnung, Junge. Aber die anderen bleiben, wo sie sind. Sind Sie so weit?«
Ein rotes Lämpchen flackerte auf der Vorderseite des Camcorders auf, und der Techniker nickte. »Legen Sie los, Sir.«
Porter drehte das Päckchen so, dass er die Empfängeradresse lesen konnte, aber keines der karminroten Tröpfchen berührte. »Arthur Talbot, 1547 Dearborn Parkway.«
Nash pfiff durch die Zähne. »Schicke Gegend. Altes Geld. Den Namen hab ich allerdings noch nie gehört.«
»Talbot ist Investmentbanker«, warf der Techniker ein. »Und ziemlich dick im Immobiliengeschäft. In letzter Zeit hat er unten am See alte Speicher in Lofts umgewandelt. Der trägt seinen Teil dazu bei, dass Familien mit niedrigerem Einkommen wegziehen und hier stattdessen Leute einfallen, die sich die hohen Mieten und den täglichen Starbucks-Grande leisten können.«
Porter hatte genau gewusst, wer Arthur Talbot war. Er sah zu dem Kollegen hoch. »Wie heißen Sie?«
»Paul Watson, Sir.«
Porter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Aus Ihnen wird mal ein Spitzenermittler, Dr. Watson.«
»Ich habe nicht promoviert, Sir. Ich arbeite daran, aber das dauert sicher noch zwei Jahre.«
Porter lachte leise. »Liest hier eigentlich niemand mehr?«
»Sam, das Päckchen …«
»Natürlich. Das Päckchen.« Er zupfte an der Paketschnur und sah zu, wie der Knoten sich lockerte und löste. Das weiße Papier darunter war entlang der Kanten akkurat gefaltet und zu perfekten kleinen Dreiecken umgeklappt.
Wie ein Geschenk. Er hat es eingepackt, wie man ein Geschenk einpackt.
Unter dem Papier kam eine schwarze Schachtel zum Vorschein. Porter legte Papier und Kordel beiseite, sah zu Nash und Watson hoch und zog dann langsam den Deckel ab.
Das Ohr war von allem Blut gereinigt und auf ein Wattekissen gebettet worden.
Genau wie die anderen.
Porter
Tag 1, 7.05 Uhr
»Ich muss die Leiche sehen.«
Nash spähte nervös zu der wachsenden Schar Gaffer. »Sicher, dass du das hier erledigen willst? Da sind im Moment eine Menge Augen auf dich gerichtet.«
»Dann stellen wir ein Zelt auf.«
Nash wandte sich an einen Kollegen, und eine Viertelstunde später war sehr zum Ärger der Pendler ein gut dreieinhalb mal dreieinhalb Meter großes Zelt auf der Fünfundfünfzigsten errichtet worden, das eine der zwei Fahrspuren in östlicher Richtung blockierte. Nash und Porter schlüpften durch den Eingang, gefolgt von Eisley und Watson. Ein Streifenpolizist bezog am Eingang Stellung, damit keiner auf die Idee kam, sich an der Absperrung vorbeizumogeln und den Tatort zu betreten.
Sechs 1200-Watt-Halogenstrahler auf gelben Metallstativen beleuchteten in einem Halbkreis Leiche und Innenraum des Zelts mit grellem, unbarmherzigem Licht.
Als Eisley nach unten griff und die Folie zurückschlug, ging Porter in die Hocke. »Ist er bewegt worden?«
Eisley schüttelte den Kopf. »Wir haben ihn fotografiert und dann so schnell wie möglich zugedeckt. Genau so ist er liegen geblieben.«
Mit dem Gesicht nach unten auf dem blanken Asphalt. Hinter dem Kopf eine kleine Blutlache und ein Spritzer, der zur Zeltplane verlief. Das kurz geschnittene dunkle Haar wies erste graue Sprenkel auf.
Porter zupfte ein frisches Paar Latexhandschuhe aus einer Schachtel zur Linken und hob den Kopf des Mannes vorsichtig an. Mit einem Schmatzen, als hätte er einen Fruchtriegel aus der Verpackung gezogen, löste sich das Gesicht vom kalten Asphalt. Sein Magen krampfte sich zusammen. Dass er noch nicht gefrühstückt hatte, war wahrscheinlich gut. »Helfen Sie mir, ihn umzudrehen?«
Eisley packte die Schulter des Mannes, und Nash kniete sich vor dessen Füße.
»Auf drei. Eins, zwei …«
Es war noch zu früh, als dass die Leichenstarre bereits eingesetzt hätte. Dem Körper fehlte jegliche Spannung. Das rechte Bein war allem Anschein nach an mindestens drei, der linke Arm wahrscheinlich an noch mehr Stellen gebrochen.
»Gott … das ist übel.« Nash hatte den Blick auf das Gesicht gerichtet. Oder vielmehr auf die Stelle, wo das Gesicht hätte sein müssen. Die Wangen waren komplett zerstört, und was geblieben war, glich eher zerfetzten Stoffresten. Der Kieferknochen war zu sehen, aber ebenfalls gebrochen – der Mann hatte den Mund weit aufgerissen, als hätte jemand beide Hälften gepackt und auseinandergestemmt wie eine Bärenfalle. Ein Auge war verletzt; eine glasige Flüssigkeit sickerte daraus hervor. Das zweite Auge – grün im Licht der Halogenstrahler – starrte blind zu ihnen hoch.
Porter ging ein Stück näher heran. »Kann man das rekonstruieren?«
Eisley nickte. »Ich setze jemanden dran, sobald wir ihn auf unserem Tisch haben.«
»Schwer zu sagen, aber nach dem Körperbau und den grauen Haaren zu urteilen dürfte er Ende vierzig, allerhöchstens Anfang fünfzig sein.«
»Das kann ich genauer bestimmen«, erklärte Eisley. Mit einer Diagnostiklampe leuchtete er dem Mann ins Auge. »Die Hornhaut ist noch intakt.«
Porter wusste, dass man das Alter anhand der Augen per Kohlenstoffdatierung schätzen konnte – mithilfe der sogenannten Lynnerup-Methode. Damit konnte man auf ein, zwei Jahre genau das Alter bestimmen.
Der Mann trug einen blauen Anzug mit Nadelstreifen. Der linke Ärmel war zerrissen, und am Ellbogen ragte ein schartiger Knochen hervor.
»Hat irgendwer den zweiten Schuh gefunden?« Der rechte Schuh fehlte. Der dunkle Strumpf war blutdurchtränkt.
»Ein Streifenkollege hat ihn eingesammelt. Liegt dort auf dem Tisch.« Nash wies in die hintere rechte Ecke. »Und er hatte einen Hut auf.«
»Einen Hut? Kommt das jetzt wieder in Mode?«
»Nur im Kino.«
»Er hat etwas in der Tasche.« Watson wies auf die rechte Brust der Anzugjacke. »Irgendwas Eckiges. Noch ein Päckchen?«
»Dafür ist es zu flach …« Vorsichtig knöpfte Porter das Jackett auf, griff hinein und angelte ein kleines TOPS-Notizbuch heraus, wie es vor dem Siegeszug der Tablets und Smartphones jeder Student in der Tasche gehabt hatte: kleiner als A6, schwarz-weißer Umschlag, liniert. Und fast bis zur letzten Seite vollgeschrieben – in einer Handschrift, die so klein und präzise war, dass über jeder Lineatur statt wie sonst nur eine gleich zwei Zeilen standen. »Was haben wir denn da? Sieht aus wie eine Art Tagebuch. Guter Fang, Doc!«
»Ich bin nicht …«
Porter winkte ab. »Schon klar.« Dann drehte er sich zu Nash um. »Hast du nicht gesagt, ihr hättet seine Taschen untersucht?«
»Wir haben nur die Hose nach einer Brieftasche abgetastet. Den Rest wollten wir dir überlassen.«
»Dann kümmern wir uns doch mal um den Rest.«
Er fing mit der rechten vorderen Hosentasche an, für den Fall, dass ihnen zuvor etwas entgangen war. Dann arbeitete er sich einmal um den Rumpf. Was immer er fand, legte er vorsichtig neben sich ab, Nash etikettierte die Sachen, und Watson schoss Fotos.
»Das war’s. Nicht gerade viel, womit wir arbeiten können.«
Porter betrachtete das Sammelsurium.
Der Abholzettel einer Reinigung.
Eine Taschenuhr.
Fünfundsiebzig Cent in unterschiedlichen Münzen.
Der Abholzettel konnte von überall her stammen. Mal abgesehen von der Nummer – 54873 – stand keine weitere Information darauf, nicht mal der Name der Reinigung oder eine Adresse.
»Checkt das auf Fingerabdrücke«, sagte Porter, und Nash runzelte die Stirn.
»Wozu? Wir haben ihn doch – und seine Fingerabdrücke waren nicht im System.«
»Vielleicht hoffe ich ja auf ein göttliches Zeichen. Womöglich landen wir einen Treffer, und der führt uns dann zu jemandem, der ihn identifizieren kann. Was hältst du von der Uhr?«
Nash hielt sie ins Licht. »Also, ich kenne niemanden, der heutzutage noch mit einer Taschenuhr unterwegs wäre. Vielleicht ist der Typ ja doch älter als gedacht?«
»Das würde auch den Hut erklären.«
»Oder er steht einfach auf Vintage«, warf Watson ein. »Ich kenne da so einige.«
Nash drückte auf die Krone, und der Deckel schnappte auf. »Oh.«
»Was?«
»Die ist um vierzehn nach drei stehen geblieben. Da ist der Typ aber nicht überfahren worden.«
»Vielleicht ist sie bei dem Crash ja durchgeschüttelt worden?«, überlegte Porter.
»Nur dass das Ding nicht den geringsten Kratzer abbekommen hat. Keine Spur von Beschädigung.«
»Womöglich ja im Uhrwerk, oder vielleicht war sie nicht aufgezogen. Darf ich mal?«
Nash drückte Porter die Uhr in die Hand, und der drehte an der Krone.
»Die Feder rastet nicht ein. Trotzdem, ziemlich feines Ding, bestimmt Handarbeit. Irgendein Sammlerstück.«
»Ich hab einen Onkel …«, kam es von Watson.
»Na, gratuliere«, erwiderte Porter.
»… der verkauft Antiquitäten in der Innenstadt. Der könnte uns dazu bestimmt etwas sagen.«
»Sie wollen sich heute wirklich ein Fleißsternchen verdienen, was? Okay, Sie haben Uhrendienst. Sobald das Teil erfasst ist, nehmen Sie es mit und sehen mal, was Sie herausfinden können.«
Watson nickte. Sein Gesicht glühte regelrecht.
»Fällt irgendwem was Merkwürdiges an seiner Kleidung auf?«
Nash betrachtete die Leiche erneut und schüttelte dann den Kopf.
»Die Schuhe sind schick«, sagte Eisley.
Porter grinste. »Stimmt genau. Das sind John Lobbs. Dafür blättert man locker fünfzehnhundert hin. Im Gegensatz dazu trägt er einen billigen Anzug – aus irgendeinem Kaufhaus oder einer Mall. Hat ganz sicher nicht mehr als ein paar hundert Dollar gekostet.«
»Und was lernen wir daraus?«, fragte Nash. »Dass er in einem Schuhgeschäft arbeitet?«
»Keine Ahnung. Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber es ist schon komisch, dass ein Mann ein Vermögen für Schuhe ausgibt und für den Anzug nicht annähernd so viel.«
»Außer er ist Schuhhändler und hat ein Schnäppchen gemacht. Das wäre doch wirklich einleuchtend«, sagte Watson.
»Danke, dass Sie meiner Meinung sind. Ein dummer Kommentar, und das Fleißsternchen ist wieder futsch.«
»Sorry.«
»Kein Thema, Doc. Ich will Sie nur ein bisschen piesacken. Ich würd’s ja auch bei Nash versuchen, aber der ist meine Sprüche schon viel zu lange gewohnt. Da macht das keinen Spaß mehr.« Porter konzentrierte sich wieder auf das kleine Notizbuch. »Können Sie mir das mal rüberreichen?«
Watson gab es an ihn weiter, und er schlug die erste Seite auf. Mit zusammengekniffenen Augen überflog er den Text.
Hallo, mein Freund.
Ich bin ein Dieb, ein Mörder, ein Entführer. Ich habe zum Spaß gemordet und aus reiner Notwendigkeit. Ich habe aus Hass gemordet. Ich habe gemordet, einfach nur weil ich dem Drang nachgeben musste, der mit der Zeit übermächtig wird. Einem Drang – einem Hunger nicht ganz unähnlich –, der nur gestillt werden kann, indem Blut fließt oder ein gequälter Schrei erklingt.
Ich schreibe das hier nicht, um Sie zu verschrecken oder zu beeindrucken, sondern schildere nur Tatsachen und lege hiermit meine Karten auf den Tisch.
Mein IQ liegt bei 156. Damit gelte ich nach allem, was man hört, als hochbegabt.
Ein weiser Mann hat mal gesagt: »Den eigenen IQ zu messen, seine Intelligenz qualifizieren zu wollen, ist ein Zeichen des Unverstands.« Ich habe nie um einen IQ-Test gebeten. Er wurde für mich angeordnet – was immer Sie mit dieser Information anfangen wollen.
Sie definiert nicht, wer ich bin. Nur was ich bin. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, Stift und Papier zur Hand zu nehmen und alles aufzuschreiben, was ich mit Ihnen teilen will. Wer sein Wissen nicht teilt, verhindert den Fortschritt, und Sie (als Gesellschaft) werden nie aus Ihren zahlreichen Fehlern lernen – dabei müssen Sie noch so vieles lernen.
Wer bin ich?
Jetzt einfach meinen Namen zu nennen würde doch den Spaß verderben, finden Sie nicht?
Vermutlich kennen Sie mich als Four Monkey Killer. Warum belassen wir es nicht dabei? Vielleicht 4MK – für alle, die Abkürzungen mögen? Die schlichteren Gemüter. Wir wollen ja niemanden außen vor lassen.
Wir werden eine Menge Spaß zusammen haben, Sie und ich.
»Heilige Scheiße«, flüsterte Porter.
Tagebuch
Nur damit eins von Anfang an klar ist: Dies alles ist nicht die Schuld meiner Eltern. Ich bin in einem liebevollen Zuhause aufgewachsen, das einem Norman Rockwell als Motiv hätte dienen können.
Meine Mutter hatte nach meiner Geburt auf ihre vielversprechende Karriere im Verlagswesen verzichtet, um zu Hause bleiben zu können, und ich glaube nicht, dass sie sich jemals in die Arbeitswelt zurückgesehnt hat. Jeden Morgen bereitete sie für meinen Vater und für mich das Frühstück vor. Zu Abend wurde um Punkt sechs gegessen. Derlei Momente im Kreis der Familie waren uns wichtig, und wir verbrachten sie immer in ausgelassenster Stimmung.
Mutter erzählte von ihren tagtäglichen Heldentaten, und Vater und ich hörten ihr aufmerksam zu. Ihre Stimme glich der eines Engels, und bis zum heutigen Tag wünschte ich mir, mehr davon gehört zu haben.
Vater war in der Finanzbranche beschäftigt. Ich bin mir sicher, dass er von seinesgleichen hoch geschätzt wurde, auch wenn er zu Hause nie von seiner Arbeit sprach. Er war fest davon überzeugt, dass die täglichen Anforderungen einer Erwerbstätigkeit besser am Arbeitsplatz verbleiben und nicht nach Hause getragen und über den privaten Rückzugsort ergossen werden sollten, so wie man Schweinen einen Eimer Küchenabfälle hinkippt. Er ließ die Arbeit im Büro, genau dort, wo sie hingehörte.
Er hatte immer eine schwarze Aktentasche bei sich. Nicht ein einziges Mal habe ich gesehen, wie er sie daheim geöffnet hätte. Abend für Abend stellte er sie neben der Eingangstür ab, und dort blieb sie, bis er am nächsten Werktag wieder ins Büro aufbrach. Da schnappte er sie sich im Vorbeigehen, nachdem er erst Mutter einen zärtlichen Kuss gegeben und dann mir den Kopf getätschelt hatte.
»Pass gut auf deine Mutter auf, Junge!«, sagte er noch. »Bis ich wiederkomme, bist du der Mann im Haus. Und wenn der Postbote mit Rechnungen kommt, schick ihn eine Tür weiter. Beachte ihn einfach nicht. Im Großen und Ganzen ist er unwichtig. Besser, du lernst es gleich, als dass du dir, wenn du erst eine eigene Familie hast, den Kopf darüber zerbrichst.«
Mit dem Hut auf dem Kopf, der Aktentasche in der Hand und einem Lächeln im Gesicht schlüpfte er durch die Tür und winkte. Ich trat ans Vorderfenster, um zu sehen, wie er den Gartenweg entlanglief (im Winter vorsichtig, um auf dem Eis nicht auszurutschen) und dann in sein kleines schwarzes Cabrio einstieg. Vater fuhr einen 1969er Porsche – eine fantastische Maschine. Ein Kunstwerk mit kehligem Knurren, das aufgrollte, sobald der Zündschlüssel herumgedreht wurde, und umso lauter wurde, wenn es auf die Straße glitt und sich dann mit gierigem Entzücken über die vor ihm liegenden Meilen hermachte.
Wie sehr Vater diesen Wagen liebte!
Immer sonntags holten wir einen großen blauen Eimer und eine Handvoll Lumpen aus der Garage und wuschen ihn von oben bis unten. Vater konnte Stunden damit zubringen, das schwarze Verdeck zu imprägnieren und die lackierten Kurven zu polieren, und zwar nicht ein-, sondern gleich zweimal. Mir übertrug er die Reinigung der Radspeichen, eine Aufgabe, die ich sehr ernst nahm. Nach getaner Arbeit schimmerte der Wagen, als wäre er gerade frisch aus einem Showroom gerollt. Dann ließ Vater das Verdeck herunter und machte mit Mutter und mir einen Ausflug. Der Porsche war zwar nur ein Zweisitzer, aber ich war ein kleiner Junge und passte wunderbar in die Lücke hinter den Sitzen. Bei Dairy Freeze hielten wir an und aßen Eis und tranken Limo, dann ging es weiter in den Park, wo wir zwischen den riesigen Eichen und quer über die Rasenflächen Nachmittagsspaziergänge unternahmen.
Mit ineinander verschränkten Händen und liebevollem Blick beobachteten Mutter und Vater aus dem Schatten eines alten Baumes heraus, wie ich mit anderen Kindern spielte. Sie scherzten miteinander und lachten, und ich konnte ihre Stimmen hören, wenn ich einem Ball nachlief oder ein Frisbee fangen wollte. »Seht her, seht hierher!«, rief ich, und sie sahen zu mir rüber. Sie gaben auf mich acht, genau wie Eltern es tun sollten. Stolz beobachteten sie mich. Ihren Sohn. Ihr Lebensglück. Ich sehe mich in diesem jungen Alter immer noch vor mir. Ich sehe sie vor mir – unter ihrem Baum, mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Ich stelle sie mir immer wieder vor – wie die Kehle von einem Ohr zum anderen aufklafft, wie aus den Wunden Blut strömt und eine Pfütze im Gras bildet. Ich lache, mein Herz flattert, ich lache so sehr.
Das ist natürlich Jahre her. Aber ganz sicher hat es damals angefangen.
Porter
Tag 1, 7.31 Uhr
Porter parkte seinen Charger am Straßenrand gleich vor dem Eingang zum 1547 Dearborn Parkway und sah zu der großen Villa hoch. Neben ihm beendete Nash gerade sein Telefongespräch. »Das war der Captain. Er will, dass wir zurückfahren.«
»Das werden wir.«
»Er war ziemlich deutlich …«
»4MK wollte das Päckchen hierher schicken. Die Zeit läuft. Jetzt ist nicht der Moment, um uns in der Zentrale zu verkriechen«, sagte Porter. »Es dauert ja nicht lange. Aber diesen Schritt müssen wir zuerst machen.«
»4MK? Du willst ihn echt so nennen?«
»4MK, Monkey Man, Four Monkey Killer. Ist mir scheißegal, wie wir das Arschloch nennen.«
Nash warf einen Blick durchs Fenster. »Das ist eine Riesenvilla. Und da lebt wirklich nur eine Familie?«
Porter nickte. »Arthur Talbot, seine Frau, eine Tochter im Teenageralter aus erster Ehe, wahrscheinlich noch ein, zwei kleine Kläffer und dann ein, zwei, fünf Haushälterinnen.«
»Ich habe die Vermisstendatei gecheckt. Talbot hat niemanden gemeldet«, sagte Nash. Sie stiegen aus und gingen die Steintreppen zur Haustür hoch. »Wie willst du’s angehen?«
»Kurz und schmerzlos«, antwortete Porter und drückte auf den Klingelknopf.
»Frau oder Tochter?«, fragte Nash mit gesenkter Stimme.
»Was?«
»Das Ohr. Meinst du, es stammt von der Frau oder der Tochter?«
Porter wollte gerade antworten, als die Tür einen Spaltbreit aufging. Eine Sicherheitskette lag vor. Eine Latina von gerade mal einem Meter fünfzig starrte sie unterkühlt aus braunen Augen an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ist Mr. oder Mrs. Talbot zu sprechen?«
Sie sah erst Porter an, dann Nash, dann wieder Porter. »Momento.«
Die Tür fiel wieder ins Schloss.
»Ich setze auf die Tochter«, sagte Nash.
Porter spähte auf sein Handy. »Sie heißt Carnegie.«
»Carnegie? Soll das ein Scherz sein?«
»Versteh einer die Reichen.«
Als die Tür erneut aufging, stand eine Blondine Anfang vierzig vor ihnen. Sie trug einen beigefarbenen Pullover und eine eng sitzende schwarze Hose. Das Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Sieht gut aus, schoss es Porter durch den Kopf. »Mrs. Talbot?«
Sie lächelte ihn höflich an. »Ja. Was kann ich für Sie tun?«
In ihrem Rücken tauchte die Latina wieder auf und bezog am hinteren Ende des Eingangsbereichs Stellung.
»Ich bin Detective Porter, und das hier ist Detective Nash. Chicago Metro. Können wir uns irgendwo unterhalten?«
Ihr Lächeln war schlagartig wie weggefegt. »Was hat sie gemacht?«
»Bitte?«
»Diese kleine Scheißgöre von Tochter meines Mannes. Ich will mal eine Woche erleben, ohne dass sie irgendwo klauen geht oder ein Auto knackt oder im Park mit ihren genauso kleinen Scheißgörenfreunden säuft und Ärger macht. Allmählich sollte ich Kaffee für Ihresgleichen bereitstellen, weil die Hälfte von Ihnen ja sowieso in schöner Regelmäßigkeit hier reinschneit.« Sie trat ein Stück zurück und machte den Weg in den spartanisch möblierten Eingangsbereich frei. »Kommen Sie rein.«
Porter und Nash folgten ihr. Über ihnen wölbte sich eine himmelhohe Decke. In der Mitte hing ein Kronleuchter aus blitzendem Kristall. Porter musste sich regelrecht zusammenreißen, um nicht unaufgefordert die Schuhe auszuziehen, ehe er den weiß polierten Marmorboden betrat.
Mrs. Talbot wandte sich an die Haushälterin. »Miranda, seien Sie so lieb und bringen Sie uns Tee und Bagels – es sei denn, die Gentlemen bevorzugen Donuts?« Beim letzten Satz hatte sich der Hauch eines Lächelns auf ihr Gesicht geschlichen.
Ah, Reiche-Leute-Humor, dachte Porter. »Schon in Ordnung, Ma’am.«
Es gab nichts, was reiche weiße Frauen mehr verabscheuten, als …
»Bitte. Nennen Sie mich Patricia.«
Sie folgten ihr durch den Eingangsbereich und einen Flur entlang in eine große Bibliothek. Der polierte Holzboden schimmerte im Licht des frühen Morgens, das von einem weiteren Kristallleuchter über einem riesigen Kamin reflektiert wurde. Sie winkte sie zu einem Sofa in der Mitte des Raums. Porter und Nash setzten sich. Sie selbst ließ sich ihnen gegenüber auf einem bequem aussehenden Polstersessel mit dazu passender Ottomane nieder und streckte sich nach einer Tasse Tee, die auf einem Beistelltischchen bereitstand. Die Tribune hatte sie augenscheinlich noch nicht angerührt. »Gerade erst letzte Woche hat sie irgendeinen Mist überdosiert, und ich musste sie mitten in der Nacht aus der Notaufnahme in der Innenstadt abholen. Ihre ach so fürsorglichen Scheißfreunde hatten sie dort rausgeworfen, nachdem sie in irgendeinem Club zusammengeklappt war. Haben sie einfach auf einer Bank vor der Klinik liegen lassen. Können Sie sich das vorstellen? Arty war auf Geschäftsreise, und ich musste sie abholen, bevor er wieder daheim war, weil ihn ja niemand aus dem Tritt bringen will. Soll doch die liebe Stiefmama hinter allen aufräumen und so tun, als wäre nie etwas passiert.«
Die Haushälterin kam mit einem großen Silbertablett zurück, das sie auf dem Tisch vor ihnen abstellte. Dann goss sie zwei Tassen Tee ein und reichte die erste Nash, die andere Porter. Auf dem Tablett standen auch zwei Teller. Auf einem lag ein getoasteter Bagel, auf dem anderen ein Schokodonut.
»Ich bediene gern Vorurteile«, sagte Nash und griff nach dem Donut.
»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, murmelte Porter.
»Unsinn. Lassen Sie es sich schmecken.«
»Wo befindet sich Ihr Mann im Moment, Mrs. Talbot? Ist er hier?«
»Er ist früh aufgebrochen, weil er draußen in Wheaton eine Runde golfen wollte.«
Nash lehnte sich nach vorn. »Bis Wheaton ist es etwa eine Stunde.«
Porter griff nach seiner Tasse, nippte vorsichtig daran und setzte sie dann wieder auf dem Tablett ab. »Und Ihre Tochter?«
»Stieftochter.«
»Stieftochter«, korrigierte sich Porter.
Mrs. Talbot runzelte die Stirn. »Wollen Sie mir nicht erst mal erzählen, was sie diesmal angestellt hat? Dann kann ich entscheiden, ob Sie direkt mit ihr sprechen dürfen oder ob ich erst einen unserer Anwälte kontaktieren muss.«
»Sie ist also hier?«
Für einen winzigen Moment riss sie die Augen auf. Dann nahm sie sich zwei Stück Würfelzucker und ließ sie in ihre Tasse fallen, rührte um und nahm einen Schluck. Ihre Finger legten sich um die warme Tasse. »Sie ist in ihrem Zimmer und schläft tief und fest. Seit gestern Abend. Ich habe erst vor einigen Minuten selbst nach ihr gesehen. Sie sollte sich allmählich für die Schule fertig machen.«
Porter und Nash wechselten einen Blick. »Dürfen wir sie kurz sprechen?«
»Was hat sie angestellt?«
»Wir verfolgen eine Spur, Mrs. Talbot. Wenn sie tatsächlich hier ist, gibt es keinen Grund zur Sorge. Dann fahren wir gleich wieder. Wenn sie nicht hier sein sollte …« Porter wollte ihr nicht unnötig Angst machen. »Wenn sie nicht hier sein sollte, könnte es eventuell Grund zur Sorge geben.«
»Sie müssen ihr kein Alibi geben«, warf Nash ein. »Wir wollen nur wissen, ob sie in Sicherheit ist.«
Sie drehte die Tasse in den Händen hin und her. »Miranda? Könnten Sie bitte Carnegie rufen?«
Die Haushälterin hatte bereits den Mund geöffnet, dachte kurz darüber nach, was sie hatte sagen wollen, und überlegte es sich anders. Porter sah ihr nach, als sie sich umdrehte und aus der Bibliothek marschierte, den Flur überquerte und dann die Treppe am hinteren Ende hinaufstieg.
Nash stupste ihn mit dem Ellbogen an, und Porter folgte seinem Blick zu einem gerahmten Bild auf dem Kaminsims. Ein blondes Mädchen in Reitkleidung neben einem Fuchs. Er stand auf und machte ein paar Schritte auf das Foto zu. »Ist das Ihre Stieftochter?«
Mrs. Talbot nickte. »Vor vier Jahren. Einen Monat vorher ist sie zwölf geworden. Hat das Turnier gewonnen.«
Porter starrte auf die Haare. Der Four Monkey Killer hatte sich bislang nur eine einzige Blondine geschnappt; alle anderen waren brünett gewesen.
»Patricia? Was ist los?«
Sie drehten sich um.
In der Tür stand ein Teenager in einem Mötley-Crüe-T-Shirt, einem Bademantel und weißen Pantoffeln. Ihr blondes Haar war vollkommen zerzaust.
»Nenn mich nicht Patricia«, blaffte Mrs. Talbot sie an.
»Entschuldigung, Mutter.«
»Carnegie, diese Herren sind von der Chicago Metro.«
Schlagartig wurde das Mädchen blass. »Was machen die Bullen hier, Patricia?«
Porter und Nash starrten auf ihre Ohren. Auf beide Ohren. Sie waren genau dort, wo sie sein sollten.