«Gullivers Reisen bedeutet mir mehr als irgendein anderes Buch!» George Orwell
Nie war Swifts Gulliver aktueller als heute! Fantasy-Saga, Politsatire und launiges Leseabenteuer für Alt wie Jung, ist dieses kanonische «Weltbuch» (Hellmuth Karasek) eine tiefsinnige Generalabrechnung mit menschlicher Bos- und Dummheit.
«Überall ist Liliput, wo ein großer Mensch unter kleine Menschen gerät.» Heinrich Heine
Gullivers Reisen nach Liliput und zu den Riesen kennt jedes Kind. Und doch ist dieser Kardinalklassiker viel mehr als eine fantastische Abenteuergeschichte. Die Erlebnisse des Helden, realistisch ausfabuliert, sind gespickt mit Seitenhieben auf Kirche, Politik und Gesellschaft. Swift gelingt das einzigartige Kunststück, seine Leserschaft mit einem «Roman der Menschenfeindschaft» (Herder) bestens zu unterhalten. Denn sein wiehernder Spott gilt unserer ganzen kuriosen Gattung mitsamt ihrer Erbärmlichkeit und Selbstüberschätzung.
«Wie Jonathan Swift unmerklich lehrt, was der Mensch ist, so belehrt uns Christa Schuenke unauffällig, dass es einmal eine deutsche Sprache gab, die weniger stromlinienförmig war als die heutige.» Kurt Flasch, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Jonathan Swift
GULLIVERS REISEN
Roman
Aus dem Englischen übersetzt von
Christa Schuenke
Nachwort von Dieter Mehl
Mit 8 historischen Illustrationen
MANESSE VERLAG
Reisen zu etlichen fernen Völkern
der Welt in vier Teilen von
LEMUEL GULLIVER
vormals Schiffsarzt, alsdann Kapitän
auf mehreren Schiffen
Der Verleger an den Leser
Der Verfasser dieser Reisebeschreibungen, Mr. Lemuel Gulliver, ist ein alter und vertrauter Freund von mir. Auch sind wir mütterlicherseits verwandt.1 Als Mr. Gulliver vor ungefähr drei Jahren der vielen neugierigen Leute überdrüssig war, die ihn immerfort in seinem Hause in Redriff#22 heimsuchten, erwarb er in seiner Heimatgrafschaft Nottinghamshire, unweit von Newark, ein kleines Grundstück mit einem behaglichen Hause darauf, wo er nunmehr ein zurückgezogenes Leben führt, bei seinen Nachbarn aber dabei in hohem Ansehen steht.
Er sei zwar in Nottinghamshire geboren, wo sein Vater lebte, habe ich Mr. Gulliver sagen hören, seine Familie stamme jedoch aus Oxfordshire, was durch den Umstand bestätigt wird, dass mir in derselben Grafschaft, auf dem Kirchhof von Banbury, etliche Gräber und Gedenksteine der Gullivers ins Auge fielen.
Ehe er aus Redriff fortging, übergab er die folgenden Aufzeichnungen meiner Obhut und erteilte mir zugleich Vollmacht, über dieselben nach meinem Gutdünken zu verfügen. Ich habe sie mir dreimal gründlich durchgelesen. Der Stil ist äußerst schlicht und einfach, und der einzige Mangel, den ich daran finden kann, ist, dass sich der Verfasser, was bei Reisenden gar häufig vorkommt, ein wenig umständlich auszudrücken beliebt. Doch hat die ganze Sache unverkennbar den Anschein von Wahrhaftigkeit, und des Verfassers Wahrheitsliebe war in der Tat so sprichwörtlich bekannt, dass es bei den Einwohnern von Redriff unterdessen nachgerade ein geflügeltes Wort ist, eine Behauptung zu bekräftigen, indem man sagt, sie sei so wahr, als stammte sie aus dem Munde des Mr. Gulliver.
Wohlberaten von etlichen ehrenwerten Personen, welchen ich diese Aufzeichnungen mit des Verfassers Erlaubnis ausgehändigt habe, will ich nunmehr darangehen, dieselben in die Welt zu entlassen, und tue dies in der Hoffnung, dass sie unseren jungen Edelleuten wenigstens für eine Zeit zu besserer Kurzweil dienen mögen als das übliche Geschreibsel über Politik und die Parteien.
Nun wäre aber dieses Buch fürwahr noch einmal so lang geworden, hätte ich mich denn nicht erkühnt, nicht nur bei den zahllosen Passagen über die Winde und Tiden sowie über allerlei Irrwege und Kursberichtigungen, sondern auch dort, wo recht nach Seemannsart allzu genau beschrieben wird, wie das Schiff den Stürmen trotzt, und ferner bei gewissen Berichten über Längen- und Breitengrade die eine oder andere Kürzung vorzunehmen, obschon ich wohl nicht vollends grundlos annehmen muss, dass Mr. Gulliver darob ein wenig missvergnügt sein möchte. Ich war indes entschlossen, das Werk so weit als möglich dem allgemeinen Begriffsvermögen des Lesers verdaulich zu machen. Sollte mich Unwissenheit in den Angelegenheiten der Seefahrt jedoch zu Fehlern verleitet haben, so stehe ich alleine dafür ein. Und falls irgendein Reisender begierig ist, das ganze Werk in ungekürzter Form zu sehen, wie es von des Verfassers Hand gekommen, so stehe ich nicht an, ihm zu willfahren.
Des Lesers Neubegierde bezüglich der näheren Lebensumstände des Verfassers indes soll auf den ersten Seiten dieses Buches gestillt werden.
Richard Sympson
Reisen zu etlichen
fernen Völkern der Welt
I. Teil
Eine Reise nach Lilliput
1. Kapitel
Der Verfasser gibt Auskunft über seine Person und seine Familie sowie über seine ursprüngliche Veranlassung zu reisen. Er erleidet Schiffbruch und schwimmt um sein Leben, erreicht sicher die Küste von Lilliput, gerät in Gefangenschaft und wird ins Landesinnere verbracht.
Mein Vater besaß ein kleines Gut in Nottinghamshire; von seinen fünf Söhnen war ich der dritte. Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte er mich nach Cambridge auf das Emmanuel College3, wo ich drei Jahre blieb und mich in meine Studien vertiefte. Indes belastete mein Unterhalt (obschon der mir gewährte Zuschuss äußerst knapp war) seine beschränkten Mittel allzu schwer, weshalb er mich bei dem berühmten Londoner Wundarzt Mr. James Bates in die Lehre gab, bei dem ich mich vier Jahre aufhielt, während deren mir mein Vater ab und an kleinere Summen Geldes zukommen ließ, welche ich darauf verwandte, die Navigation zu erlernen und mir noch andere mathematische Kenntnisse anzueignen, die einem jeden, der zu reisen vorhat, nützlich sind, war ich doch seit jeher überzeugt, dass früher oder später das Reisen mein Los sein würde. Nachdem ich den Mr. Bates verlassen hatte, kehrte ich zurück zu meinem Vater, verschaffte mir mit seiner und der Hilfe meines Onkels John sowie dank einiger anderer Verwandter vierzig Pfund nebst der Zusage auf weitere dreißig Pfund im Jahr – für meinen Lebensunterhalt in Leiden.4 Dort widmete ich mich zwei Jahre und sieben Monate lang dem Studium der Heilkunde, denn ich war überzeugt, dass mir dieselbe auf ausgedehnten Seereisen von Nutzen wäre.
Nicht lange nach meiner Rückkehr aus Leiden empfahl mich mein gütiger Lehrmeister Mr. Bates dem Kapitän der «Swallow», Abraham Pannell, als Schiffsarzt; dort blieb ich dann drei Jahre und ein halbes und nahm an mehreren Fahrten nach der Levante und anderen Gegenden teil. Wieder daheim, fasste ich auf Zureden meines Lehrmeisters Mr. Bates, der überdies nicht wenige Patienten zu mir schickte, den Entschluss, mich in London niederzulassen. Ich mietete ein kleines Haus in der Old Jewry5, und weil man mir zu einer Änderung meines Familienstandes geraten hatte, heiratete ich Mrs. Mary Burton6, die zweite Tochter des Strumpfwarenhändlers Mr. Edmond Burton aus der Newgate Street, von dem ich eine Mitgift von vierhundert Pfund erhielt.
Allein, zwei Jahre später starb mein braver Meister Bates, und weil ich nur wenige Freunde besaß, so gingen meine Geschäfte allmählich immer schlechter, denn mein Gewissen wollte es nicht dulden, dass ich mich der üblen Gepflogenheiten allzu vieler meiner Zunftgenossen befleißigte. Nachdem ich mich also mit meinem Weibe und einigen Bekannten beratschlagt hatte, beschloss ich, abermals zur See zu gehen. Ich heuerte nacheinander auf zwei Schiffen als Wundarzt an und machte sechs Jahre lang mehrere Reisen nach den beiden Indien7, was mir zu einem gewissen Zuwachs meines Vermögens verhalf. Die freien Stunden brachte ich mit der Lektüre der besten Schriftsteller des Altertums sowie der Neuzeit zu, war ich doch allemal mit einer stattlichen Anzahl von Büchern versehen; weilte ich indes an Land, so unterhielt ich mich damit, die Sitten und die Wesenszüge der Menschen zu beobachten und ihre Sprachen zu erlernen, was mir dank meines ausgezeichneten Gedächtnisses mit Leichtigkeit gelang.
Doch meine letzte Reise stand unter keinem guten Stern, und darum verging mir die Lust an der Seefahrt, und ich beschloss, fortan daheim zu bleiben bei meinem Weibe und den Meinen. Ich gab das Haus in der Old Jewry auf und zog erst in die Fetter Lane und dann nach Wapping8, denn ich hoffte, dort unter den Seeleuten Patienten zu gewinnen, doch diese Rechnung ging nicht auf. Nachdem ich drei Jahre lang vergeblich darauf gehofft hatte, dass sich die Dinge zum Besseren wenden möchten, nahm ich ein vorteilhaftes Angebot von William Prichard, Kapitän der «Antelope» an, der eine Reise in die Südsee plante. Am 4. Mai 1699 stachen wir von Bristol aus in See, und zunächst verlief unsere Fahrt auch durchaus glücklich.
Nun schickt es sich aus manchen Gründen nicht, den Leser mit den Einzelheiten unserer Abenteuer auf jenen Meeren zu behelligen. Es mag also genügen zu berichten, dass uns, als wir unsere Fahrt fortsetzten und auf Ostindien Kurs hielten, ein gewaltiger Sturm gen Nordwesten trieb, hinüber nach Vandiemensland9. Nach unseren Berechnungen befanden wir uns 30 Grad 2 Minuten südlicher Breite. Zwölf unserer Männer starben von der harten Arbeit und dem schlechten Essen; der Rest war sehr geschwächt. Am 5. November – in jenen Breiten der Beginn des Sommers –, es war ein ungemein diesiger Tag, erspähten die Matrosen etwa eine halbe Kabellänge10 voraus ein Riff, doch war der Wind so heftig, dass er uns unausweichlich darauf zutrieb und augenblicks daran zerschellen ließ. Rasch setzten wir zu sechsen, fünf der Matrosen und ich selbst, ein Boot aus und schafften es mit größter Anstrengung, von Bord zu kommen – und auch weg von diesem Riff. Wir ruderten nach meiner Berechnung an die neun Meilen, bis wir nicht mehr konnten; steckte uns doch die Plackerei vorher an Bord noch in den Knochen. So überließen wir uns denn der Gunst der Wogen, bis ungefähr nach einer halben Stunde ein jäher Windstoß, der von Norden kam, unser Boot packte und es zum Kentern brachte. Was aus den Gefährten geworden ist, die mit mir in dem Boot gewesen, oder aus denen, die an Bord und auf dem Riff zurückgeblieben waren, vermag ich nicht zu sagen, doch kann ich mir nichts anderes denken, als dass sie allesamt verloren sind. Ich für mein Teil schwamm, von Wind und Flut getrieben, dorthin, wohin das Schicksal mich geleitete. Ein ums andere Mal streckte ich die Beine nach unten aus und spürte keinen Grund, doch als ich fast schon am Ende meiner Kräfte war und nicht mehr weiterkonnte, da hatte ich mit einem Male wieder Boden unter den Füßen, und auch der Sturm war mittlerweile beinah gänzlich abgeflaut. Das Gefälle war so schwach, dass ich bald eine Meile gehen musste, bis ich ans Ufer kam, was nach meiner Vermutung gegen acht Uhr abends war. Alsdann ging ich noch etwa eine halbe Meile weiter, konnte jedoch nirgendwo ein Haus noch irgendwelche Eingeborenen entdecken oder war jedenfalls viel zu geschwächt, als dass ich überhaupt noch in der Lage gewesen wäre, dergleichen zu bemerken. Ich war unendlich müde, und diese Müdigkeit bewirkte denn zusammen mit der Hitze und dem guten Viertel Branntwein, welches ich genossen hatte, ehe ich von Bord gegangen war, dass ich nur mehr schlafen wollte. Und so legte ich mich in das sehr kurze, sehr weiche Gras und sank in den wohl tiefsten Schlummer meines Lebens und schlief nach meiner Schätzung neun volle Stunden lang, denn als ich wieder aufwachte, dämmerte schon der Morgen. Ich wollte mich erheben, doch vermochte ich kein Glied zu rühren, sondern lag auf dem Rücken ausgestreckt und merkte nun, dass meine Arme und Beine auf beiden Seiten fest an den Boden geheftet waren, und auch mein langes, dichtes Haar war in gleicher Weise nach unten gezogen. Desgleichen spürte ich, dass mein Körper von den Achselhöhlen bis hinunter zu den Oberschenkeln mit allerlei dünnen Binden umwickelt war. Ich konnte nur nach oben schauen; die Sonne, die allmählich immer heißer brannte, blendete mich. Ringsumher vernahm ich aufgeregten Lärm, doch in dieser Lage, in der ich mich befand, sah ich nichts weiter als den Himmel über mir. Nach einer kleinen Weile spürte ich, wie mir etwas Lebendiges am linken Bein hochkrabbelte, langsam meine Brust überquerte und beinahe bis hinauf ans Kinn kam; als ich, so gut es ging, die Augen senkte, erkannte ich einen Menschen, der nicht einmal ganz sechs Zoll maß, Pfeil und Bogen in der Hand hielt und auf dem Rücken einen Köcher trug. Unterdessen merkte ich, wie mindestens vierzig von seiner Sorte (so vermutete ich jedenfalls) dem ersten folgten. Ich war aufs Äußerste verwundert und brüllte so laut, dass sie alle miteinander ängstlich davonliefen, und wie man mir später erzählte, wurden einige gar verletzt, als sie rechts und links von meinem Leib hinuntersprangen und zu Boden stürzten. Sie kamen indes gleich wieder zurück, und einer, der sich so weit vorgewagt hatte, dass er mir ins Antlitz schauen konnte, hob voller Verwunderung die Hände, wandte den Blick aufwärts und rief mit schriller, aber klarer Stimme: «Hekinah Degul.»11 Die anderen wiederholten diese Worte mehrmals hintereinander, doch wusste ich dazumalen noch nicht, was sie bedeuteten. Wie sich der geneigte Leser wohl vorstellen mag, lag ich die ganze Zeit in großem Unbehagen da und versuchte die Fesseln abzustreifen, und nach und nach gelang es mir auch glücklich, die Stricke zu zerreißen und die Pflöcke herauszuwinden, mit denen mein linker Arm am Boden befestigt war, und wie ich ihn hochhob und ihn betrachtete, entdeckte ich auch das Verfahren, womit sie mich gefesselt hatten, und lockerte zugleich mit einem mächtigen Ruck, der wilden Schmerz hervorrief, um ein weniges die Stricke, welche mein Haar linkerseits festhielten, sodass ich in der Lage war, den Kopf just zwei Zoll anzuheben. Doch ehe ich die kleinen Kreaturen noch zu packen kriegte, rannten sie ein zweites Mal davon, worauf sich ein großes und überaus schrilles Geschrei erhob; sobald sich dasselbe wieder gelegt hatte, hörte ich, wie ein paar von ihnen laut «Tolgo Phonac» riefen, und gleich darauf trafen mehr als hundert Pfeile meine linke Hand und durchbohrten mir die Haut wie lauter Nadeln, und da schossen diese Kreaturen auch schon die nächste Salve in die Luft, ganz so, wie wir es in Europa mit Granaten tun, und ich vermute wohl, dass viele ihrer Pfeile auf meinen Leib herniederprasselten (wenn ich sie auch nicht spürte), und manche trafen mein Gesicht, welches ich hierauf flugs mit meiner linken Hand bedeckte. Als dieser Pfeilregen vorüber war, ächzte ich vor Kummer und Schmerzen, doch sobald ich abermals versuchte, mich zu befreien, feuerten sie eine neue Garbe ab, noch größer als die erste, und etliche von ihnen rückten mir auch mit Speeren zu Leibe, die sie mir in die Seiten bohren wollten, aber zum Glück trug ich ein Wams aus Ochsenleder, das sie nicht durchdringen konnten. Ich hielt es für das Klügste, still liegen zu bleiben, und nahm mir vor, bis zur Nacht so auszuharren, um mich alsdann mithilfe meiner schon losgewundenen Linken mühelos vollends zu befreien. Und was die Eingeborenen anging, so hatte ich immerhin Anlass zu vermuten, dass ich noch allemal in der Lage wäre, es selbst mit den stärksten Heeren aufzunehmen, die sie zusammenbringen konnten, solange jeder einzelne von ihnen nicht größer war als dieser eine, den ich bereits gesehen hatte. Allein, das Schicksal hatte anderes mit mir im Sinne. Als diese Leute merkten, dass ich Ruhe gab, ließen sie ab und beschossen mich nicht mehr länger mit ihren Pfeilen. Freilich schwoll der Lärm noch an, woraus ich schloss, dass ihrer immer mehr wurden, und bald vernahm ich gut vier Ellen von mir entfernt, auf der Höhe meines rechten Ohres, ein Klopfen, welches über eine Stunde anhielt, als ob da Menschen bei der Arbeit wären, und als ich den Kopf so weit nach jener Richtung drehte, wie die Pflöcke und Stricke es zuließen, sah ich, dass da eine ungefähr anderthalb Fuß hohe Bühne gezimmert ward, die über mehrere angelehnte Leitern zu erklimmen war und auf der vier der Eingeborenen Platz hatten. Von dort aus hielt dann einer ihrer Leute, offenbar ein höchst angesehener Mann, mir eine lange Ansprache, von der ich allerdings keine einzige Silbe verstand. Ich hätte freilich noch erwähnen sollen, dass dieser wichtige Würdenträger, eh er zu seiner feierlichen Rede anhub, dreimal mit lauter Stimme «Langro Dehul san» rief (diese Worte und die vorausgegangenen hat man mir später wiederholt und übersetzt), worauf sogleich an die fünfzig Eingeborene herbeigeeilt kamen und die Stricke durchschnitten, mit denen meine linke Kopfhälfte gefesselt war, sodass ich mich nun ungehindert nach rechts drehen und die Person des Sprechers und sein Gebaren ins Auge fassen konnte. Er war, so schien es mir, in mittleren Jahren und etwas höher gewachsen als die drei anderen, die er bei sich hatte, einer davon ein Page, der ihm die Schleppe hielt und um ein weniges länger als mein Mittelfinger war; die beiden anderen stützten ihn zur Rechten und zur Linken. Er gestikulierte ganz wie ein großer Redner, und sein Tonfall ließ mich ahnen, dass er viel Drohendes hervorbrachte, aber auch allerlei Verheißungsvolles, Mitfühlendes und Freundliches. Ich erwiderte darauf mit wenigen Worten, dieselben freilich vorgetragen in zutiefst ergebungsvollem Ton, hob die Linke und wandte den Blick zur Sonne, als riefe ich sie zur Zeugin an, und weil ich vor Hunger beinahe am Verschmachten war – das letzte Mal hatte ich schließlich mehrere Stunden vor dem Verlassen des Schiffes etwas zu mir genommen –, verlangte die Natur nun so gebieterisch ihr Recht, dass ich (auch wenn ich damit womöglich gegen die gestrengen Regeln der Etikette verstieß) meine Ungeduld nicht länger zu bezähmen vermochte und ein ums andere Mal mit dem Finger auf meinen Mund wies, um ihnen zu bedeuten, dass ich dringend etwas zu essen nötig hatte. Der Hurgo (so nämlich nannten sie den großen Herrn, wie ich hernach erfuhr) verstand mich durchaus. Er stieg von der Bühne und ließ zu meinen beiden Seiten Leitern aufstellen, und sogleich kamen über hundert Eingeborene zu mir heraufgeklettert und näherten sich meinem Munde, schwer beladen mit Körben voller Fleisch, welche der König, kaum dass er von meinem Erscheinen in Kenntnis gesetzt worden war, hatte zubereiten und herbeischaffen lassen. Ich stellte fest, dass das Fleisch von verschiedenen Tieren stammte, vermochte dieselben aber nicht am Geschmack zu unterscheiden. Es gab Schulterstücke, Keulen und Lenden, welche der Form nach vom Lamm hätten sein können und auch sehr schön angerichtet waren, nur kleiner als die Flügel einer Lerche. Ich aß sie, immer zwei, drei Stück auf einmal, und dazu jeweils drei Brotlaibe, ein jeder ungefähr so groß wie eine Musketenkugel. Die Leute brachten, so schnell sie konnten, Nachschub herbei und bekundeten tausendfach ihre Verwunderung und ihr Erstaunen ob meiner riesigen Gestalt und meines Appetits. Alsdann bedeutete ich ihnen, dass ich etwas zu trinken nötig hatte. Angesichts der Mengen an Essen, welche ich verschlang, kamen sie zu dem Schluss, dass mir mit einer kleinen Menge nicht geholfen wäre, und hievten darum, scharfsinnig, wie sie waren, sehr geschickt ein Oxhoft, eines ihrer größten, hoch, rollten es in die Nähe meiner Hand und schlugen ihm den Deckel ab. Ich leerte das ganze Fass auf einen Zug, was mir nicht schwerfiel, denn es enthielt kaum einen Viertelliter Wein, der mich dem Geschmacke nach an einen leichten Burgunder erinnerte, nur war er noch viel köstlicher. Darauf brachten sie ein zweites Oxhoft, welches ich in der gleichen Weise leerte und sogleich um ein drittes bat, aber sie hatten keines mehr, das sie mir geben konnten. Nachdem ich diese Wunder vollführt hatte, kreischten sie vor Vergnügen und tanzten auf meiner Brust herum und wiederholten etliche Male die Worte «Hekinah Degul», die sie schon am Anfang gerufen hatten. Sie bedeuteten mir, ich solle die beiden Fässer hinabwerfen, ermahnten aber zuvor die Leute dort unten, aus dem Weg zu gehen, und dabei riefen sie laut «Borach Mivola», und als sie die Fässer durch die Luft fliegen sahen, schrie alles wie aus einem Munde: «Hekinah Degul.» Ich muss zugeben, dass ich, während sie vorwärts und rückwärts auf mir herumhüpften, mehr als einmal versucht war, mir die ersten vierzig oder fünfzig, die ich packen konnte, zu schnappen und sie kurzerhand zu Boden zu schleudern. Allein, die Erinnerung daran, was ich durchlitten – und vermutlich war es noch nicht einmal das Schlimmste gewesen, dessen sie fähig waren –, sowie an das Ehrenwort, das ich ihnen gegeben hatte, denn als solches deutete ich selbst mein demütiges Betragen, verscheuchte jene Fantasien alsbald wieder. Und überdies fühlte ich mich diesem Volk, das mich so freigebig und prächtig bewirtet hatte, nunmehr durch die Gesetze der Gastfreundschaft verbunden. Insgeheim aber konnte ich mich nicht genug über die Unerschrockenheit dieser winzigen Wesen wundern, die es wagten, obwohl doch meine eine Hand inzwischen frei war, munter an mir emporzuklettern und auf mir herumzuflanieren, ohne beim bloßen Anblick eines so gewaltigen Geschöpfes, als welches ich ihnen doch erscheinen musste, vor Angst zu zittern. Nach einer Weile, als sie merkten, dass ich nichts mehr zu essen verlangte, erschien vor mir ein Herr von hohem Rang und Stand, ein Abgesandter Seiner Kaiserlichen Majestät. Seine Exzellenz war an meinem rechten Schienbein emporgestiegen und schritt mit einem Gefolge von zwölf Leuten auf mein Gesicht zu, wo er sein mit dem herrschaftlichen Siegel versehenes Beglaubigungsschreiben hervorholte und es mir dicht vor die Augen hielt; alsdann sprach er etwa zehn Minuten lang ohne irgendein Anzeichen von Groll, wohl aber mit einer gewissermaßen unumstößlichen Entschlossenheit, und deutete dabei immer wieder nach vorne in die Richtung, in der, wie ich später erfahren sollte, ungefähr eine halbe Meile entfernt die Hauptstadt lag, nach der ich auf Beschluss des kaiserlichen Staatsrates überstellt werden sollte. Ich erwiderte ihm mit wenigen Worten, was aber ganz umsonst war, und gab ihm mit der schon befreiten Hand ein Zeichen, indem ich erst auf meine andere Hand wies (allerdings über dem Haupte Seiner Exzellenz, denn ich war besorgt, ich könnte ihn oder sein Gefolge verletzen) und dann auf meinen Kopf und meinen Leib deutete, um ihm auf diese Weise zu verstehen zu geben, dass ich meine Freiheit wiederzuerlangen wünschte. Er schien sehr wohl begriffen zu haben, denn er schüttelte missbilligend den Kopf und machte eine Gebärde, die besagte, dass ich als Gefangener zu halten sei. Doch dann vollführte er noch andere Handbewegungen, aus denen ich entnehmen konnte, dass es mir an Speis und Trank nicht mangeln solle und man mich auch sonst sehr gut behandeln werde. Worauf ich von Neuem zu sinnieren begann, ob ich nicht doch versuchen sollte, meine Fesseln zu sprengen, aber da spürte ich im Gesicht und an den Händen – beide von Blasen übersät – den stechenden Schmerz ihrer Pfeile, deren Spitzen nach wie vor in großer Menge in mir staken, und merkte ferner, dass die Zahl meiner Feinde noch weiter wuchs, und so gab ich ihnen zu verstehen, dass sie ganz nach ihrem Belieben mit mir verfahren dürften. Was denn den Hurgo und sein Gefolge dazu bewog, unter vielen Artigkeiten und mit lustigem Mienenspiel den Rückzug anzutreten. Nicht lange danach vernahm ich ein allgemeines Geschrei, worin immer wieder die Worte «Peplom Sela» erschollen, und merkte, wie ein großer Trupp von diesen Leuten auf meiner linken Seite die Stricke so weit lockerte, dass ich mich auf die rechte drehen und mich durch Abschlagen meines Wassers erleichtern konnte, was ich denn auch im Überflusse tat, und das zum großen Erstaunen der auf dieser Seite stehenden Leute, die schon aus meinen Bewegungen erraten konnten, worauf ich aus war, und sogleich nach rechts und links auseinanderliefen, um sich vor der Springflut zu retten, welche tosend und mit aller Gewalt aus mir hervorbrach. Zuvor aber hatten sie mir das Gesicht und beide Hände mit einer Art Salbe bestrichen, die von sehr angenehmem Geruch war und den stechenden Schmerz ihrer Pfeile in Minutenschnelle linderte. Dies alles bewirkte, zusammen mit der Stärkung, die ich ihren überaus nahrhaften Speisen und Getränken verdankte, dass ich alsbald in einen tiefen Schlummer sank. Wie man mir späterhin versicherte, schlief ich an die acht Stunden, und das war auch kein Wunder, hatten mir doch die Ärzte auf Geheiß des Kaisers einen Schlaftrunk in meinen Wein getan.
Als man mich nach meiner Landung fand, wie ich am Boden lag und schlief, war, scheint’s, der Kaiser gleich in der Frühe durch einen eiligen Boten unterrichtet und im Staatsrate der Beschluss gefasst worden, mich in der beschriebenen Weise zu binden (welches bei Nacht geschah, derweil ich schlief), mir reichlich Speis und Trank zu schicken sowie ein Gefährt heranzuschaffen, welches mich in die Hauptstadt brächte. Ein Beschluss, der einem vielleicht sehr wagemutig und gefährlich vorkommen mag und den, wie ich ganz sicher glaube, wohl nie ein europäischer Fürst bei einer ähnlichen Gelegenheit nachahmen würde, der jedoch in meinen Augen nicht nur überaus klug, sondern auch überaus hochherzig war. Denn angenommen, diese Leute wären bestrebt gewesen, mich, derweil ich schlief, mit ihren Speeren und Pfeilen zu töten, so wäre ich zweifellos mit einem stechenden Schmerz erwacht, der meinen Zorn und meine Kräfte derart aufgestachelt hätte, dass ich es wohl fertiggebracht haben würde, die Bande, die mich hielten, zu sprengen, und alsdann hätten sie, unfähig, Widerstand zu leisten, nicht mehr auf Gnade hoffen können.
Diese Leute sind die vorzüglichsten Mathematiker und haben es mit ihres Kaisers Unterstützung und Ermutigung, denn dieser ist ein sehr berühmter Förderer der Gelehrsamkeit, auch in den Handwerkskünsten zu großer Vollendung gebracht. Jener Herrscher verfügt über etliche auf Rädern befestigte Maschinen, mit denen Bäume und andere schwere Lasten befördert werden können. Seine größten Kriegsschiffe, von denen einige neun Fuß lang sind, lässt er meistens gleich in den Wäldern, wo das Holz wächst, bauen und sie hernach mit den besagten Maschinen drei- oder vierhundert Ellen weit bis ans Meer schaffen. Und so mussten auf der Stelle fünfhundert Zimmerleute und Handwerker an die Arbeit gehen und die größte der vorhandenen Maschinen in Gang setzen. Das war ein hölzernes Gestell, welches sich drei Zoll hoch über dem Erdboden erhob, ungefähr sieben Fuß lang und vier Fuß breit war und sich auf zweiundzwanzig Rädern bewegte. Und das Geschrei, das ich vernahm, galt der Ankunft dieser Maschine, welche anscheinend vier Stunden nach meiner Landung auf den Weg geschickt worden war. Nun manövrierte man sie dergestalt an mich heran, dass sie parallel zu meinem ausgestreckten Körper zu stehen kam, die größte Schwierigkeit aber war, mich auf dieses Fahrzeug hinaufzuhieven. Zu diesem Behufe wurden achtzig Pfähle aufgerichtet, jeder einen Fuß hoch, und alsdann sehr starke Schnüre, ungefähr so dick wie Packschnur, mit Haken an den vielen Binden festgemacht, welche mir die Arbeiter um Hals, Hände, Rumpf und Beine gewunden hatten. Neunhundert der stärksten Männer wurden angestellt, um diese Schnüre mit unzähligen an den Pfählen befestigten Flaschenzügen hochzuziehen, und nach nicht ganz drei Stunden hatten sie mich angehoben und auf die Maschine gehievt und mich daselbst schön fest vertäut. Das alles ward mir erst im Nachhinein erzählt, lag ich doch kraft des meinem Tranke beigemischten Schlafmittels in tiefem Schlummer, derweil die ganze Prozedur an mir vollzogen ward. Fünfzehnhundert von des Kaisers kräftigsten Rossen, ein jedes wohl an die viereinhalb Zoll groß, wurden angespannt, mich nach der Metropole zu ziehen, die, wie ich bereits sagte, eine halbe Meile entfernt war.
Ungefähr vier Stunden nach Beginn unserer Reise weckte mich ein höchst lächerlicher Vorfall, denn als das Gefährt für eine Weile anhielt, damit irgendetwas, das nicht in Ordnung war, gerichtet werden könne, waren ein paar junge Eingeborene neugierig und wollten wissen, wie ich wohl im Schlaf aussehen möchte; sie erklommen also die Maschine und näherten sich behutsam meinem Gesicht, und einer von ihnen, ein Gardeoffizier, schob das spitze Ende seiner Partisane12 ein gutes Stück weit in mein linkes Nasenloch hinein, und weil das Ding mich wie ein Strohhalm in der Nase kitzelte, musste ich heftig niesen, worauf die Übeltäter sich unbemerkt davonstahlen; drei Wochen sollten vergehen, bis ich den Grund für mein jähes Erwachen erfuhr. Während des restlichen Tages legten wir alsdann noch eine lange Strecke zurück und rasteten endlich bei Nacht, ich mit fünfhundert Bewachern an jeder Seite, die eine Hälfte von ihnen mit Fackeln bewaffnet, die andere mit Pfeil und Bogen, bereit, auf mich zu schießen, falls ich etwa Anstalten machte, mich zu regen. Am anderen Morgen bei Sonnenaufgang setzten wir unseren Zug fort und hatten uns gegen Mittag dem Stadttor bis auf zweihundert Ellen genähert. Der Kaiser und sein gesamter Hof kamen heraus, uns zu begrüßen, doch wollten die hohen Beamten bei Hofe unter keinen Umständen dulden, dass Seine Majestät sich in Gefahr brachte, indem er meinen Leib erklomm.
Das Fuhrwerk hielt an einem Platz, an dem ein altertümlicher Tempel stand, welcher als der größte im ganzen Königreiche galt und vor einigen Jahren durch einen abscheulichen Mord befleckt worden war,13 sodass er nunmehr für die Eingeborenen in ihrem Glaubenseifer entweiht war und, nachdem man allen Zierrat und alles Mobiliar daraus fortgeschafft hatte, profanen Zwecken diente. In diesem Gebäude also sollte ich untergebracht werden. Das Haupttor, welches gen Norden wies, war ungefähr vier Fuß hoch und beinah zwei Fuß breit, sodass ich leicht hindurchkriechen konnte. Dieses Tor hatte rechts und links jeweils ein kleines Fenster, allenfalls sechs Zoll über dem Boden. Durch dasjenige auf der linken Seite zogen die Schmiede Seiner Majestät einundneunzig Ketten, ähnlich den Ketten, an denen in Europa die Damenuhren hängen, auch wohl annähernd ebenso lang wie jene, und befestigten dieselben mit sechsunddreißig Vorhängeschlössern an meinem linken Bein. Gegenüber diesem Tempel, auf der anderen Seite der großen Landstraße, befand sich ein Turm von wenigstens fünf Fuß Höhe. Dort hinauf begab sich, wie man mir sagte, denn sehen konnte ich ihn nicht, der Kaiser mit vielen sehr bedeutenden Herren seines Hofes, auf dass sie Gelegenheit hätten, mich zu betrachten. Auch seien, wie es heißt, wohl über hunderttausend Stadtbewohner zum selben Zwecke dort hinausgekommen, und ich möchte meinen, dass zuzeiten nicht weniger als zehntausend Menschen mithilfe von Leitern meinen Leib erklommen, und das, obwohl ich gut bewacht war. Freilich ward alsbald bekannt gemacht, dass dieses bei Todesstrafe verboten sei. Als die Arbeiter sich vergewissert hatten, dass ich mich unmöglich losmachen konnte, durchtrennten sie sämtliche Schnüre, die mich banden, worauf ich mich erhob und in der erbärmlichsten Verfassung meines Lebens mich befand. Doch der Lärm und das Erstaunen der Leute, als sie mich aufstehen und herumgehen sahen, spotteten jeder Beschreibung. Die Ketten, welche mein linkes Bein hielten, waren an die zwei Ellen lang und ließen mir nicht allein genug Bewegungsfreiheit, um im Halbkreis vorwärts und wieder zurück zu schreiten, sondern weil sie vier Zoll neben dem Tor befestigt waren, erlaubten sie mir obendrein, in den Tempel hineinzukriechen und mich darinnen in voller Länge auszustrecken.