WILLIAM F. NOLAN/
GEORGE CLAYTON JOHNSON
Flucht ins
23. Jahrhundert
Roman
Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 4
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
FLUCHT INS 23. JAHRHUNDERT
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Als die Bevölkerungsdichte auf der Erde ein schier unerträgliches Ausmaß erreicht hat und sämtliche Appelle zur Familienplanung und Empfängnisverhütung wirkungslos bleiben, haben die Jugendlichen – und sie sind bei weitem in der Überzahl – es schließlich satt, sich von den Erwachsenen bevormunden zu lassen: Sie übernehmen die politische Macht. Jedem Menschen wird nach der Geburt ein Kristall implantiert, der eine ganz bestimmte Lebensdauer hat. Wenn die dem Betreffenden zugemessene Lebenszeit abgelaufen ist, beginnt der Kristall zu flackern und zeigt an, dass sich sein Träger zum Tiefschlaf, zur Euthanasie zu melden hat. Doch immer wieder gibt es Ausreißer, Flüchtlinge – sogenannte Läufer -, die sich diesem Schicksal entziehen wollen. Auf solche Personen werden berufsmäßige Killer, die Sandmänner, angesetzt, die eine gnadenlose Jagd auf die Euthanasie-Kandidaten veranstalten.
Logan ist einer jener Killer, aber eines Tages beginnt auch der Kristall in seiner Hand zu flackern. Er beschließt, sein Glück zu versuchen: Die Hetzjagd der Killer beginnt. Sie führt durch eine von Alpträumen gequälte Welt, durch eine Gesellschaft menschlicher Wölfe, rebellierender Beatniks, von Drogen bis zur Besessenheit vergiftet... durch eine riesige Unterwasserstadt, die allmählich unter dem Druck des Meeres zusammenbricht... durch Ruinenstädte, bewohnt von psychopathischen Wilden... immer auf der Suche nach der legendären Freistatt, einer Zuflucht, in der man weiterleben kann...
Doch existiert diese Freistatt überhaupt?
Flucht ins 23. Jahrhundert ist die literarische Vorlage des gleichnamigen, immens erfolgreichen Kinofilms aus dem Jahr 1976 mit Michael York als Logan, Jenny Agutter als Jessica und Richard Jordan als Francis, der heute zu Recht als Klassiker des SF-Kinos gilt. Der Roman war überdies die Vorlage für die – in Deutschland nicht ausgestrahlte – TV-Serie Logan's Run.
GEWIDMET ALL DEN IRREN FREUNDEN,
MIT DENEN WIR AUFWUCHSEN –
UND DIE BEI UNS WAREN,
ALS WIR DIESES BUCH SCHRIEBEN:
Frankenstein und Micky Mouse
Jack, Doc und Reggie und dem Tempel der Vampire
Fu Man Chu, Long John Silver, Tom Mix und Buck Jones
Der Ilias und der Odyssee, dem Superman und dem Green Hornet
Jack Armstrong, dem All-American Boy, und
Dem Glöckner von Notre Dame
Dschingis Khan, King Kong und dem Land Oz
Mr. Hyde und dem Phantom der Oper
Dem Seewolf, Captain Nemo und dem Großen Weißen Wal
Batman und Robin, Black Country, Ted Sturgeon und den Ohren von Johnny Bear
Rhett Butler und Jiminy Cricket
Matthew Arnold, Robert Frost und dem Demolished Man
Dem Sturm aufs What Mad Universe
Dante und Dr. Lao, Dick Tracy und Tricky Dick
Punch, dem Unsterblichen Lügner und den Mädchen in ihren Sommerkleidchen
Dem Mann mit der eisernen Maske
Marco Polo und den Mars–Chroniken
Bogie und dem Malteser Falken
Flash Gordon, Prinz Eisenherz, Krazy Kat und dem Tanz der Toten
Thomas Wolfe
Dem Einhorn im Garten
Hammett und Chandler und Du spielst den Schwarzen und der Rote kommt
Papa Hemingway, Mickey Spillane und Popeye, dem Seemann
Den Märchen und den Gute-Nacht-Geschichten
Einem Diamanten so groß wie das Ritz und einer Bluthochzeit in Chicago
La Belle et la Bête und dem Spiel mit den Spiegeln
Den Daredevil Dogs der Luft, der Patrouille im Morgengrauen und dem langen lauten Schweigen
Doug Fairbanks, Errol Flynn und den Keystone Kops
Tarzan und dem Land, das die Zeit vergaß
Tom Swift, Huck Finn und Oliver Twist
Citizen Kane, Sindbad und Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss
Ali Baba, den Marx Brothers und Dangerous Dan McGrew
Der Bohnenstange
Dem einsamen Ranger, der kleinen Annie und einer Handvoll Venus und ehrbaren Kaufleuten
Dem Tag, an dem die Erde stillstand
Der Highway-Patrouille
Kazan, der Zeitmaschine und Weine nicht um mich
Captain Midnight und Lights Out
Shackleton, Terry und den Piraten, Richard Löwenherz und den Ratten in den Wänden
Dem Most Dangerous Game
Lil' Abner, S. I. Perelman und Smoky Stover
Den sieben Zwergen und Mandrake, dem Zauberer
Billy the Kid, Geronimo, Stephen Vincent Benét und dem Haus Usher I und II
Dem Hund von Baskervilles und dem Schiff von Ishtar
Robin Hood, Scarface und Tommy Udo
der Astounding, Amazing, Fantastic, Startling, Unknown Galaxy, den Weird Tales und Planet Stories, Black Mask und dem Magazine of Fantasy and Science Fiction
Rhysling, dem blinden Sänger der Spaceways
UND, MIT LIEBE:
den Grünen Hügeln der Erde.
Die Samen des Kleinen Krieges wurden in den ruhelosen Sommern der sechziger Jahre gesät, mit Sit-Ins und Studentendemonstrationen, als die Jugendlichen ihre Stärke erprobten, in den frühen siebziger Jahren, als über 75 Prozent der Bevölkerung auf der Erde unter einundzwanzig war, die Bevölkerung sich immer rascher vermehrte – und damit der Prozentsatz der Jugendlichen.
1980 betrug ihre Zahl 79,7 Prozent.
1990 waren es bereits 82,4 Prozent.
Im Jahr 2000 wurde die kritische Masse erreicht.
Ihr Haar war verfilzt, fleckig und geschwollen ihr Gesicht; Blut rann ihr übers Knie; sie hatte sich an einem stählernen Brückenmast das Bein aufgeschlagen.
Ein stechender Schmerz brannte in ihrer Seite.
Sie rannte.
Strahlend stand die gelbweiße Scheibe des Mondes am Himmel, und die Nacht war voller Gestalten. Schatten glitten auf Schatten.
Wann hatte sie den Fluss überquert? War es letzte Nacht gewesen... vorletzte Nacht? Wo war sie jetzt? Sie wusste es nicht.
Zu ihrer Rechten, hinter dem dunklen Asphaltband, sah sie die endlosen Drähte einer Hochspannungsleitung. Auf dem Pflaster standen Schaukeln und Rutschen. Der Kindergarten einer Fabrik; es musste Stoneham oder Sunrise sein.
Befand sich dort vielleicht ihr Baby?
Sie bog nach links ab, entfernte sich von der summenden Hochspannungsleitung, tauchte in die nachtschwarze Tiefe zwischen den Gebäuden. Und dann wurde ihr Weg plötzlich von einer hohen Barriere blockiert. Sie drehte sich um. Vielleicht konnte sie wieder über den Fluss zurück.
Ausruhen. Wenn sie nur ausruhen könnte!
Halt! Sie erstarrte; blieb bewegungslos stehen. Vor ihr, in den Schatten, war jemand. Ein lautloser Schrei würgte in ihrer Kehle.
Der Sandmann! Der Schlafbringer!
Die panische Angst ließ ihr Herz donnernd gegen die Brust schlagen. Sie wirbelte herum, verkrampfte die Hände in der splittrigen Wand; ihre Fingernägel brachen, als sie Halt an dem rauen Holz suchte. Doch der Zaun war zu hoch.
Einen Augenblick lang (ein Jahrhundert?) hing sie dort und versuchte ihre Muskeln zu zwingen, ihren ach-so-großen Körper hochzuziehen, doch sie hatte keine Kraft mehr. Irgendetwas in ihr zerriss, sie fiel zu Boden.
Verkrümmt lag sie da und betrachtete den pechschwarzen Blumenkristall in ihrer rechten Handflüche.
Noch ein paar Tage zuvor war er blutrot gewesen – so wie er vor sieben Jahren blau gefunkelt hatte und sieben Jahre zuvor sonnengelb. Eine Farbe für jede sieben Jahre ihres Lebens. Nun war sie einundzwanzig, und ihre Blume war schwarz. Schwarz wie der Schlaf. Schwarz wie der Tod.
Gemessenen Schrittes kam die Gestalt über das vom Mondschein beschienene Pflaster auf sie zu. Sie blickte nicht auf. Sie starrte auf ihre Handfläche, denn hier waren ihre Zukunft und ihre Vergangenheit eingeschrieben. Alle ihre Tage und alle ihre Nächte; alle ihre Ängste und alle ihre Hoffnungen.
Warum hatte sie an eine Freistatt geglaubt? Verrückt. Unmöglich.
Warum war sie nicht wie alle die anderen gewesen, die den Schlaf hingenommen hatten?
Schwarz stand die Gestalt über ihr, doch noch immer blickte sie nicht auf. Sie flehte ihn nicht an, weil sie wusste, dass Flehen sinnlos war.
Stattdessen tauchte sie in ihre eigene Welt.
Sie war nicht hier, ausgestoßen und verdammt, beschämt und erschreckt; sie befand sich auf der heiligen Freistatt – einer großen, windgeschützten Wiese, durch die ein kühler silberner Strom floss – eine Welt, in der die Zeit nicht existierte.
Aber warum tastete ihre Hand unter dem zerrissenen Kleid nach dem elektronischen Messer, das sie dort versteckt hatte? Warum sehnte sie sich plötzlich danach, den summenden Stahl durch die Brust ins Herz zu stoßen? Warum?
Sie sah, dass sich die Waffe hob.
Der Homer!
Sie sah das Mondlicht auf dem dunkelblauen Lauf glitzern.
Der Homer!
Sie sah das blasse, verschlossene, mitleidlose Gesicht des Sandmanns...
Sie sah seine Augen über der Waffe; sah, wie die Finger weiß wurden, als sie sich um den Abzug legten.
Der Homer!
Und dann ein halblauter Knall.
Es war das Letzte, was sie hörte.
Und das Letzte, was sie spürte, war das Eintauchen in die Tiefe, aus der es keine Rückkehr gab, als der Homer in ihren Körper schlug, ihn zerfetzte, ihn vernichtete.
Logan war müde, doch der kleine Mann sprach unentwegt weiter.
»Sie wissen, wie das ist, Bürger«, sagte er. »Niemand hat das Gefühl, dass er wirklich alles getan hätte. Dass er alle die schönen Reisen gemacht hätte, all die schönen Mädchen gesehen, dass er das Leben in seiner ganzen Fülle genossen hätte.
Ich bin ja nicht anders als jeder andere. Ich möchte auch gern noch leben, um fünfundzwanzig oder dreißig Jahre alt zu werden... aber gerade das geht nicht. Und ich kann es akzeptieren. Ich bedaure es nicht. Keiner kann es aufhalten, meine ich. Ich habe ein gutes Leben geführt. Oh ja, ich habe meinen Anteil am Leben gehabt, und keiner kann sagen, dass Sawyer ein Jammerlappen sei.«
Irgendetwas zwang ihn zu reden. Solange er redete, brauchte er nicht zu denken. Logan hatte viele von ihnen an ihrem letzten Tag gesehen, die sich über die letzten Stunden hinwegredeten.
»Wissen Sie, was ich tun werde?«, fragte der Mann, dessen Kristallblume in der Handfläche rot aufleuchtete, schwarz wurde, dann wieder rot. Er wartete nicht auf eine Antwort. Er redete mit schneller Stimme und sagte Logan genau, was er tun würde.
Im TS-Hauptquartier hatte Logan seinen grauen Anzug angezogen, und er fragte sich, ob der Mann auch so zu ihm sprechen würde, wenn er seine schwarze Tunika trüge. Aber ohne Zweifel würde er das tun. Offensichtlich war Sawyer ein Mann, der das Leben genoss, ohne sich um die Männer von Tiefschlaf und ihre Waffen zu kümmern. Das war fein. Er war ein guter Bürger, und gute Bürger garantierten eine stabile Welt.
»...und dann gehe ich rüber zum Castlemont Glashaus und schnappe mir die drei jüngsten und schönsten Mädchen. Eine Blondine; das ist klar. Wissen Sie, mit dunkelblauen Augen und blauweißen Haaren. Dann eine mit schwarzen, kurzen Haaren und eine mit goldbrauner Haut. Drei herrliche Mädchen. Ich hab' gehört, sie tun alles für einen, wenn man seinen letzten Tag hat.«
Der Mann starrte auf seine Handfläche. Die Blume blinkte rot, dann schwarz, dann rot.
»Haben Sie sich jemals gefragt, ob der Denker Fehler macht wie andere Leute? Wissen Sie, ich glaube nämlich, dass ich noch gar nicht einundzwanzig bin. Ich hab' ganz einfach das Gefühl, dass erst fünf Jahre vergangen sind, seit ich vierzehn war. Und dann wäre ich doch erst neunzehn.« Er sagte es ohne Überzeugung. »Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, als sich meine Blume veränderte und ich vierzehn war. Damals war ich in Japan und besuchte zum ersten Mal den Fujiyama. Was für ein wundervoller Berg! Er gibt einem mehr als alle Berge der Welt! Haben Sie ihn jemals gesehen?«
Logan nickte. Er hatte ihn gesehen.
»Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Kann nicht mehr als fünf Jahre her sein – allerhöchstens sechs. Glauben Sie, die Maschine könnte solche Fehler machen?«
Logan wollte sich nicht daran erinnern, wie viele Jahre vergangen waren, seitdem er vierzehn gewesen war. Wenigstens hatte er immer versucht, nicht daran zu denken. Seine Blume war immer noch rot, aber...
»Nein«, sagte Sawyer, indem er seine eigene Frage beantwortete. »Einen solchen Fehler könnte die Maschine niemals machen.« Er schwieg ein, zwei Minuten lang; dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Ich nehme an, ich habe Angst.« Die Blume blinkte rot... schwarz... rot... schwarz.
»Die meisten Leute haben Angst«, sagte Logan.
»Aber so ängstlich bin ich wiederum nicht«, fuhr der Mann fort. Er schluckte, hob eine Hand. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Bürger. Ich bin kein Feigling. Ich werde nicht davonlaufen. Ich habe schließlich auch meinen Stolz. Das System ist schon richtig, dass weiß ich. Mehr Menschen kann die Welt nicht ernähren. Man muss etwas dagegen tun, damit die Bevölkerung nicht immer weiter wächst... ich bin immer loyal gewesen, und das wird sich auch jetzt nicht ändern.«
Die beiden Männer standen auf dem rumpelnden Rollsteig, der sie durch einen Dreimeilen–Komplex trug. Schließlich begann der Mann wieder zu sprechen: »Glauben Sie wirklich, dass ein Jäger... dass ein Jäger so schrecklich ist, wie die Leute sagen?«
»Ja«, sagte Logan. »Ich glaube es.«
»Was mich verblüfft, ist, wie sie einen erledigen, der davonläuft. Wenn sie mal auf ihn gefeuert haben, meine ich. Wie dann das Geschoss seine Körpertemperatur erhöht. Sie sagen, es brennt einem das ganze Nervensystem kaputt. Jeden Nerv im Körper.«
Logan antwortete ihm nicht.
Das Gesicht des kleinen Mannes war grau. Ein Muskel zuckte an seiner Wange. Er keuchte. »Lieber Gott«, sagte er und schluckte.
Sawyer holte tief Luft. Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück.
»Natürlich ist es notwendig. Ohne die TS-Männer und die Jäger gäbe es ja noch viel, viel mehr Läufer. Wir könnten uns das gar nicht erlauben. Ein Läufer verdient, was er kriegt, wenn Sie mich fragen. Ich meine, er braucht ja nicht wegzulaufen. Ein Schlafzentrum, in dem sie einen einschläfern, das ist doch gar nicht so schlimm, nicht wahr? Wir haben mal eines besichtigt, als ich zwölf war. Ein Freund und ich. In Paris. Sauber und nett. Ist wirklich nicht schlimm.«
Logan dachte an die Schlafzentren mit ihrer Buntheit, den hellen, leuchtenden Wänden, den Wärtern in zart pastellfarbenen Roben, der elektronischen Orgel, die Engelschöre begleitete, dem Hautspray aus Halluzinogen, das den verwirrten Blick des Leidens hinwegwischte und ihn durch ein bleibendes, glückliches Lächeln ersetzte. Er dachte an den ruhigen, schwach erleuchteten Grabraum mit den Aluminiumregalen, auf denen sauber ausgerichtet dünnhäutige Stahlkanister standen, die die Namen und Nummern der Entschlafenen trugen.
»Nein«, bestätigte Logan. »Es ist nicht so schlimm.«
Wieder sprach Sawyer. »Manchmal allerdings wundere ich mich über diese TS-Männer. Also ich könnte das niemals tun, was sie so tun. Nicht, dass ich Läufer verteidige. Die sind Abschaum. Abschaum verteidige ich nicht. Aber ich frage mich, wie ein Mann ein solches grausames Geschoss in–«
»Ich muss hier runter«, sagte Logan.
Er verließ den Rollsteig.
Logan ärgerte sich, dass er das getan hatte. Er wohnte nicht in diesem Teil des Komplexes. Seine Wohneinheit lag fast eine Meile weiter, aber er hatte das Gequatsche des Mannes nicht mehr ertragen können. Natürlich kannte er auch diese Sektion. Vor einem Jahr hatte er hier einen Mann gejagt. Einen Läufer namens Nathan. Aber er wollte nicht mehr daran denken.
Er schlenderte durch die überdachte Durchgangsstraße.
Vor ihm lag das Juwelengebäude. Logan blieb stehen, er schaute auf die riesige Wand, die dem Gebäude den Namen gegeben hatte – ein Mosaik, zusammengesetzt aus winzigen Stückchen leuchtenden Feuerglases, erinnerte an den Brand von Washington. Orange, Purpur und leuchtend rote Flammen erstreckten sich einen Teil der Fassade hinauf; Körper brannten; brennende Gebäude stürzten in sich zusammen.
Aber das phantastische Meisterwerk war unvollendet. Große dunkle Stellen unterbrachen das Muster. Nur der berühmte Mosaikkünstler Roebler 7 konnte mit dem ätzenden Feuerglas umgehen, und als er den Schlaf akzeptiert hatte, starb sein Geheimnis mit ihm. Niemals würde das Kunstwerk vollendet werden.
Direkt unter der Mauer sah er einen Mann mit einem Schild. Verblüfft starrte Logan ihn an. Der Mann war ungefähr fünfzehn Jahre alt, gut genährt, hatte mädchenhafte Gesichtszüge und große, träumerische Augen. Dünne silberne Bartstoppeln umsäumten sein Kinn, sein Haar war schulterlang. Auf dem Schild um seinen Hals stand: FLIEHT!
So saß er ruhig mitten auf dem Bürgersteig. Einige wütende Bürger umdrängten ihn. Einer von ihnen spuckte den bärtigen Mann an.
»Drecksack!«
»Schwein.«
»Abschaum der Menschheit!«
»Feigling!«
Geduldig lächelte der Mann seinen Quälgeistern zu. Er gab jedem von ihnen einen Zettel, den er von einem Stapel auf seinem Schoß nahm.
»Das ist ekelhaft«, sagte eine dicke Frau und zerknüllte den Zettel in der Hand. »Ungesetzlich!«
Als Logan näherkam, hielt ihm der Mann einen der Zettel hin. Er nahm ihn.
LEHNT DEN SCHLAF AB! FLIEHT! WENN ES GENUG LÄUFER GÄBE, HÄTTEN SIE NICHT GENÜGEND JÄGER. DANN GÄBE ES NICHT GENUG TS-MÄNNER! ES STEHT GESCHRIEBEN, DASS DAS LEBEN EINES MENSCHEN EINE ZEITSPANNE VON DREIMAL ZWANZIG JAHREN PLUS ZEHN BETRÄGT. SIEBZIG JAHRE! BEGNÜGT EUCH NICHT MIT EINUNDZWANZIG JAHREN. FLIEHT! LEHNT DEN SCHLAF AB!
Eine Polizeiflugmaschine landete lautlos auf dem Bürgersteig. Logan beobachtete, wie zwei Offiziere in zitronengelben Tuniken ausstiegen und auf den bärtigen Mann zugingen. Er versuchte nicht zu entkommen. Sie führten ihn ab.
Die Flugmaschine erhob sich in den Abendhimmel.
Eine Frau neben Logan kicherte und schnalzte mit der Zunge.
»Das ist schon der dritte Irre, den sie in diesem Monat verhaftet haben. Man könnte glauben, sie seien organisiert. Man kriegt ja Angst.«
Ein Mädchen in einem grünen, dünnen Seidenkleid kam aus einer Tür und ging neben Logan her. Er beachtete sie nicht. Es war dunkler geworden, der Himmel war übersät von Sternen. Eine Klimaanlage summte.
Logan blieb stehen, um sich den Tri-Dim-Report anzusehen.
Die riesige Fassade des TD-Zeitungsprojektors leuchtete auf. Eine vertraute, dreihundert Fuß große Gestalt erschien; der Mann lächelte freundlich auf die Menge herunter. Der dreidimensionale Sprecher trug Wildlederkleidung. Seine großen Augen waren klar und blickten unschuldig.
»Guten Abend, Bürger«, strahlte er. »Hier ist Madison 24 mit den letzten Nachrichten. Im Labyrinth hat es heute Abend Ärger gegeben. Zwei Tote waren die Folge einer Schlägerei in einer Zigeunergang auf einem Bahnsteig in der Nähe von Stafford Heights. Vierzehn Menschen wurden verletzt, einschließlich dreier Zigeuner. Die Polizei stellt Nachforschungen an, und es wird bestimmt noch heute
Festnahmen geben.«
Die riesige Gestalt schwieg einen Augenblick lang, um die Worte wirken zu lassen, dann fuhr sie fort:
»Der dreifache Mörder Harry 7 wurde heute Morgen im Trancas-Komplex festgenommen. Seine Freunde wurden eingeladen, seiner Hinrichtung beizuwohnen. Aber nicht eine einzige Person erschien. Nicht eine einzige.« Das riesige Gesicht nickte ernst. »Sagt euch das etwas, Bürger? Mir sagt es etwas. Ja, wirklich! Es sagt mir, dass wir ein stolzes, gesetzestreues Volk sind, das sich der Läufer und Mörder schämt, und dass wir...«
Logan hörte nicht weiter zu. Plötzlich wurde er sich des Mädchens an seiner Seite bewusst.
»Sie sind nicht glücklich«, sagte das Mädchen in Grün. »Ich merke das immer. Man hat mir die Gabe in die Wiege gelegt, dass ich Unglück fühle.« Ihre Augen leuchteten. »Ich sympathisiere mit unglücklichen Menschen.«
Sie legte ihre Hand auf sein Geschlecht und begann zu fummeln. Er schüttelte die Hand ab.
Logan ging weiter, seine Schritte wurden länger.
»Ich könnte Sie glücklich machen«, rief das Mädchen. Nur noch schwach war ihre Stimme zu hören: »...Sie glücklich machen.«
Glücklich. Logan dachte über das Wort nach. Die Ruhelosigkeit in ihm wurde stärker. Man kann Glück nicht kaufen.
Aber natürlich könnte man...
Das Halluzinetikum in der Roeburt Avenue war eins der größten in der Stadt. Die von erfahrenen Ärzten verabreichten Drogen machten nicht süchtig. Logan hatte einige ausprobiert und entdeckt, dass LF die glücklichsten Effekte produzierte.
Lysergic Foam, den man aus der vor mehr als anderthalb Jahrhunderten entdeckten Formel für LSD weiterentwickelt hatte. Es dauerte sechzig Sekunden, bis die Droge im Blutstrom war. Danach: erweiterte Sinneswahrnehmung. Synthetisches Glücksgefühl.
»LF«, sagte Logan zu dem weißgekleideten Mann.
»Dosis?«
»Standard.«
»Folgen Sie mir bitte.« Logan wurde in das blaue Zimmer geführt, einen kleinen, allseitig gepolsterten Raum mit einem Tisch, einem Stuhl und einem blauen Boden.
Eine Frau kam gerade aus dem Zimmer heraus. Ein verträumtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, ihre Augen waren glasig.
Logan nahm das Drogenfläschchen, das man ihm aushändigte, und schluckte den Inhalt. »Wünsche einen guten Flug«, sagte der Mann in Weiß, und dann schloss er die Tür hinter sich.
Logan setzte sich auf den Stuhl. Fast eine Minute lang schloss er fest die Augen und wartete darauf, dass das LF von seinem Blut aufgenommen wurde.
Dann entspannte er sich und öffnete die Augen. Ein schrecklich helles Licht überflutete das Zimmer, und Logan wusste, dass es ein schlechter Flug sein würde.
Das Fenster, dachte er, ich muss zum Fenster. Es war geöffnet, und als er es erreichte, fiel er aus dem Fenster, stürzte mit großer Geschwindigkeit mitten hinein in das Herz des Dreimeilen-Komplexes.
Ein kleiner, untersetzter Mann fing ihn auf.
»Sie wollten flüchten«, sagte der Mann. »Das ist ja großartig.«
»Nein. Ich bin gefallen. Das ist ein großer Unterschied.« Es war wichtig, dass er genau verstanden wurde. »Ich fiel aus einem Fenster. Ich fiel!«
Logan entwand sich den Armen des Mannes und begann zu rennen.
Er rannte durch zischende Feuerschluchten. Es stank. Millionen Stimmen sangen den Schlussteil des Trauerliedes von der ›Schwarzen Blume‹.
Der kleine, untersetzte Mann schlug ihn mit einem einzigen Schlag nieder.
»Schon wieder«, sagte der Mann, über ihn gebeugt.
Aber Logan hatte die Waffe. Mehr brauchte er nicht, um diesem verdammten Kerl zu entkommen!
Er betätigte den Abzug.
Und die Welt explodierte.
Als er hinausging, grinste der weißgekleidete Mann. »Es war wohl wirklich ein guter Flug. Noch einen?«
»Nein, danke«, antwortete Logan. Er verließ das Gebäude.
Er fühlte sich nicht besser.
Als er die obere Terrasse erreicht hatte, ging er langsamer. Eine Gruppe Jugendlicher näherte sich ihm, ihre Handflächen schimmerten wie blaue Glühwürmchen in der Dunkelheit. Als sie vorbeigingen, hörte Logan, dass sie sich hitzig miteinander stritten.
»Die Roten vergessen wohl, dass wir auch Rechte haben.«
»Sie sollten lieber damit anfangen...«
Nachhall des ›Kleinen Krieges‹.
Logan ging weiter, näherte sich dem Spiel der bunten Lichter des Glashauses.
Das große Gebäude bestand aus weißen Michglasscheiben, und das Innere war kaum auszumachen. Eine Gruppe nackter, ineinander verschlungener Körper bildete einen hohen, bogenförmigen Eingang, und die Stufen der Treppe, die nach innen führte, waren von unten erleuchtet.
VERGNÜGEN leuchtete eine Stufe.
BEFRIEDIGUNG besagte eine weitere.
ERLESENE GENÜSSE verkündete eine dritte.
Logan trat ein.
»Ihr Vergnügen ist unser Vergnügen, Sir«, sagte ein flachshaariges Mädchen mechanisch zu ihm. Sie saß hinter einem von der Decke herabhängenden Schreibtisch und trug ein durchsichtiges rotes Satinkleid.
Logan legte seine rechte Handfläche auf den Schreibtisch. Ein kaum hörbares Klicken: Man würde ihm später die Rechnung für seinen Besuch zuschicken.
Er betrat den Empfangsraum und tauchte in eine Woge von Sexualität.
Hier waren sie, die Strandmädchen aus Mexiko und Kalifornien, Japanerinnen mit scheuen Augen, Italienerinnen mit prächtigen Körpern, hübsche Irinnen, schlanke Exotinnen aus Kalkutta, kühle Engländerinnen und üppige Französinnen.
Sie alle waren hier, weil sie sich einsam fühlten oder Langeweile hatten oder Nymphomaninnen waren; ihr Hiersein war Suche nach irgendetwas Neuem und Flucht aus irgendetwas Altem – oder sie hatten überhaupt keinen Grund, bis auf den, dass das Glashaus da war, und dass sie die Zeit für gekommen hielten, sich zu paaren, einander auf der Suche nach der flüchtigen Liebe zu berühren. Man findet niemals diejenigen, denen man in seinen Träumen begegnet...
Ein Mädchen mit einer blauleuchtenden Handfläche kam auf Logan zu; sie war Eurasierin und mit vierzehn im Jahr ihres Frauwerdens.
»Ich bin sehr erfahren«, versicherte sie. »Sie werden sehen, dass ich viel geschickter bin als viele andere.«
Doch Logan beachtete sie nicht; er winkte einem älteren Mädchen zu, dessen rote Haare tief über den Rücken hinunterflossen. Ihre Haut war schwanenweiß, die langen Wimpern beschatteten korallenfarbene Augen.
»Du«, sagte er.
Das Mädchen glitt in seine Richtung, die dünne Seide ihres Kleides wehte wie eine Wolke hinter ihr her.
»Nicht ich«, lachte sie, während sie sich bei einer blaugoldenen Blondine einhakte.
Logan war irritiert. Gewöhnlich erregte es ihn, hier zu sein, pulste sein Blut in der Vorfreude schneller. Doch an diesem Abend langweilte ihn, was er sah,
Er winkte eine andere zu sich, ein schlankes Mädchen mit slawischen Gesichtszügen und breiten Hüften. Sie lächelte und griff nach seiner Hand.
Sie fuhren mit einem Paternoster nach oben, betraten einen gläsernen Flur und gingen durch die Dunkelheit in einen gläsernen Raum.
Das Mädchen sagte ihm, ihr Name sei Karenya 3.
»Ich bin auch eine Drei«, entgegnete Logan.
»Sag nichts«, flüsterte sie erregt. »Warum wollen Männer immer sprechen?«
Logan setzte sich aufs Bett und begann sein Hemd aufzuknöpfen. Das Mädchen war bereits nackt, es hatte das dünne Gewand aus gesponnener Gaze achtlos beiseite geworfen.
Warum komme ich hierher?, fragte er sich, in dieses einsame leere Haus aus Glas...
Glas war überall um sie herum, gläserne Wände, Decken und Böden. Ein Bett aus Glas. Aus Glas waren die Stühle und die Tische. Das Gebäude war ein einziges riesiges transparentes Etwas, aus dem periodisch bunte Lichter schossen.
Jedes Zimmer hatte eine Einrichtung, die in unregelmäßigen Intervallen beleuchtet wurde, doch es war unmöglich zu wissen, wann gerade Helligkeit durch ein Zimmer loderte. Erwischte das Licht ein Paar beim Liebesakt, dann wurde es plötzlich in strahlendes Silber oder Gold, Rot, Gelb oder Grün getaucht. Andere Paare in der Nähe, über oder unter ihnen, konnten das Schauspiel durch die gläsernen Fußböden, die Wände und Decken beobachten. Dann erstarb das Licht wieder – sprang über in ein anderes Zimmer.
»Los«, sagte das Mädchen. »Leg dich hierhin.«
Logan machte es sich in dem Glasschaumbett bequem. Sie richtete sein Geschlecht auf, streichelte es mit zarter Hand. Er überließ sich ihr, hielt ihren Körper fest und liebkoste ihn in der Dunkelheit, während sie rittlings auf ihm saß, sein Glied tief in sich versenkt.
»Schau!«, rief sie plötzlich.
Im Zimmer über ihnen, mit einem Mal in glühendes Gold getaucht, sahen sie die sich rhythmisch bewegenden Körper eines Mannes und einer Frau, die das Licht um sich herum nicht zu bemerken schienen. Dann wieder Dunkelheit. Und sie schien tiefer zu sein als zuvor.
Logan und Karenya erstarrten in silbernem Licht, Arme und Beine hatten sich ineinander verschlungen. Sie waren sich der Augen bewusst, die sie im ganzen Haus gierig beobachteten.
Wieder Dunkelheit.
Licht flammte auf, erstarb, flackerte, verwehte in den Tiefen des Gebäudes, in denen Männer und Frauen sich ihren tiefsten Leidenschaften hingaben.
Bis die Morgendämmerung durch das Glashaus sickerte und die lange Liebesnacht dem Tag wich.
»Bitte, besuchen Sie uns wieder«, sagte das flachshaarige Mädchen. Ihr schlanker, schöner Körper zeichnete sich durch den hauchdünnen Stoff ab. Doch Logan hatte keinen Blick mehr dafür. Er schwieg.
Die Pflicht rief. Er hatte sein Vergnügen gehabt.