VIIUnsere Welt steht vor einer Ära des immensen Wandels, und viele werden überrascht sein über das unerwartete Ausmaß und Tempo dieser Veränderungen. Exponentieller Wandel bedeutet riesige Chancen, bedeutet für uns aber gleichzeitig eine enorme Verantwortung.
Ich bin davon überzeugt, dass solche unvorhergesehenen Ereignisse wie zum Beispiel der Brexit im Vergleich zu den lawinenartigen Folgen des technologischen Wandels verblassen werden. Der technologische Wandel wird das Menschsein und alle seine Aspekte grundlegend verändern.
In der Vergangenheit wurden radikale Umgestaltungen der menschlichen Gesellschaft stets von einzelnen Faktoren getrieben, zum Beispiel Holz, Stein, Bronze, Eisen, Dampf, Strom, Fabrikautomation oder World Wide Web. Heute sehe ich dagegen von Wissenschaft und Technologie verursachte Megaveränderungen auf uns zukommen, die zusammen nicht nur unsere Wirtschaft und unsere Kultur, sondern auch unsere Biologie und unsere Ethik auf den Kopf stellen werden.
Lassen Sie es mich klar sagen: Dieses Buch will nicht eine anstehende technologische Revolution feiern. Es soll aber auch kein Wehklagen sein über einen drohenden Niedergang der Zivilisation, wie wir sie kennen. Wenn Sie, wie ich, ein Filmfan sind, dann haben Sie wahrscheinlich auch die unzähligen Hollywood-Utopien und dystopischen Schreckensvisionen satt. Mit blindem Optimismus oder lähmender Angst kann man keine Zukunft bauen.
Mit diesem Buch will ich stattdessen die Debatte anregen, wie wir die Entwicklung von Wissenschaft und Technik besser lenken, nutzen und kontrollieren können. Nur so werden wir sicherstellen, dass sie ihre primären Zwecke erfüllen, nämlich dem Menschen zu dienen und zu unserem Wohlergehen beizutragen.
Mein Ehrgeiz war, diese Diskussion über einen engen Kreis von überspannten Technikfans, ernsthaften Akademikern und bedachten Analysten auszuweiten und in die breite Öffentlichkeit zu tragen, die noch überhaupt nicht verstanden hat, welche Tragweite der technologische VIIIWandel hat. Als Futurist – und zunehmend als „Nowist“ (Jetztforscher) – hoffe ich auch, die Zukunft, die für viele unverständlich und wenig relevant erscheint, den Menschen mit realistischer Wahrnehmung und einer neuen Dringlichkeit nahezubringen.
Dieses Buch ist als Anstoß gedacht für eine engagierte und leidenschaftliche Diskussion über das, was ich für das wichtigste Zukunftsthema der Menschheit halte. Ich denke, meine Rolle besteht darin, diese Debatte zu lancieren und zu fördern. Ich habe es mir deshalb zur Aufgabe gemacht, ein starkes Manifest zu schreiben und nicht eine trockene Blaupause oder einen Reiseführer in die Zukunft.
Ich meine, dass wir uns von der Diskussion der Experten über das Machbare und den Weg dorthin verabschieden und stattdessen anfangen sollten, grundsätzlich über die wünschenswerte Rolle dieser transformativen Technologien nachzudenken, wenn wir wollen, dass sie der Menschheit dienen sollen. Nur weil wir etwas tun können, bedeutet das noch lange nicht, dass wir es auch tun sollen!
Um diesen Prozess des Nachdenkens anzutreiben, versuche ich zu beschreiben, welche ich für die wichtigsten Triebfedern der anstehenden Veränderungen halte. Zugleich werde ich eine Einschätzung ihrer potenziellen Folgen wagen. Ich möchte damit eine Reihe von Grundsatzfragen beantworten, die sich aus dem beschleunigten – und in vielen Fällen sogar exponentiellen – Fortschrittstempo in Wissenschaft und Technik ergeben.
Ich werde zu zeigen versuchen, dass es vor allem darauf ankommt, das Wohlergehen der Menschen in den Mittelpunkt unserer Entscheidungs- und Steuerungsprozesse zu stellen, wenn es um die künftigen Investitionen in wissenschaftliche und technologische Forschung, Entwicklung und Kommerzialisierung geht. Am Ende des Tages sollte Technologie nicht das sein oder werden, was wir suchen, sondern, wie wir suchen.
Im Verlauf des Buchs werde ich einige Szenarien beschreiben, die verschiedene mögliche Wege in die Zukunft markieren. Und am Ende werde ich eine Reihe fiktiver Ideen präsentieren, die dazu dienen, die Diskussion über den besten Weg für die Menschheit in Gang zu setzen sowie darüber, wie wir die richtigen Entscheidungen über unsere gemeinsame Zukunft treffen können.
IXUm diesen ambitionierten Dialog zu eröffnen und die Diskussion zu lenken, habe ich meine Gedanken in zwölf Grundsatzkapitel zusammengefasst:
Kapitel 1: Ein Vorwort für die Zukunft. Zur Halbzeit der zweiten Dekade unseres Jahrhunderts stehen wir an einer Weggabelung in der Geschichte der Technologie. Es ist heute ein entscheidender Moment, denn viele der anstehenden Veränderungen werden nicht nur selbstverstärkend und exponentiell sein, sondern vor allem unumkehrbar. Ich bin überzeugt, dass wir jetzt die letzte Gelegenheit haben, die Herausforderungen von morgen zu hinterfragen, Dinge wie künstliche Intelligenz oder die Manipulation menschlicher Gene. Wir müssen hier rechtzeitig die richtige Balance finden, bevor es zu spät ist.
Kapitel 2: Technik oder wir? In diesem Kapitel erkläre ich, wie Technologie den Menschen zunehmend simulieren und ersetzen kann, aber auch, warum Maschinen nie so sein werden wie wir. Technologie besitzt keine Ethik, und deshalb muss ihr bevorstehendes Eindringen in die intimsten Bereiche unseres Privatlebens und in unsere biologischen Abläufe auf höchster gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene verhandelt werden. Ich werde Ethik als Bedeutungsträger und Differenzierungsmerkmal des Menschen beleuchten, die sich über die Unterschiede von Religion und Kultur hinwegsetzt.
Kapitel 3: Die Megashifts. Digitale Transformation wird heute gerne als Paradigmenwechsel du jour für Wirtschaft und Gesellschaft gefeiert. In Wirklichkeit ist sie nur eine von insgesamt zehn Megaverschiebungen („Megashifts“), die sich gegenseitig verstärken und die Zukunft der Menschheit für immer verändern werden. Ich werde im Einzelnen auf Trends wie Mobilisierung, Automatisierung und Roboterisierung eingehen und zeigen, dass sie keine langsamen oder graduellen Veränderungen sind, an die wir uns mit der Zeit gewöhnen und anpassen können. Es sind vielmehr die Auslöser tsunamiartiger Disruptionen und Umwälzungen, und sie könnten eventuell sogar ein Massensterben weiter Teile unserer bestehenden globalen Wirtschaftsinfrastruktur auslösen.
Kapitel 4: Automatisierte Gesellschaft. In diesem Kapitel geht es darum, dem weitverbreiteten und gefährlichen Irrglauben zu begegnen, wonach der Trend zur Automatisierung nur die Arbeiterklasse – oder von mir aus auch die Angestelltenklasse – bedroht. Die nächste große Automatisierungswelle wird weit über die Fabrik oder das Büro hinausgehen und sogar unsere biologischen Prozesse erfassen, wie das Altern oder den Geburtsvorgang. Bislang waren wir gewohnt, dass sich der gesellschaftliche Wandel wellenartig vollzieht und dass wir oft jahrzehntelang Zeit hatten, darauf zu reagieren. Ich frage mich manchmal, ob wir als Spezies überhaupt darauf vorbereitet sind, unsere XUnabhängigkeit aufzugeben und sie einer gesichtslosen Technologie zu übereignen. Sind wir wirklich gewillt, den größten Verlust von Selbstbestimmung und individueller Kontrolle in der Geschichte der Menschheit hinzunehmen?
Kapitel 5: Das Internet unmenschlicher Dinge. In diesem Kapitel beschreibe ich die zu erwartenden Herausforderungen an die Menschheit durch das „Internet der Dinge“ (Internet of Things oder IoT). Laut vorherrschendem Glauben wird die digitale Transformation diesen Trend weiter beschleunigen und dabei viele neue Geschäftsstrategien in ihrem Windschatten mitziehen. Aber haben wir schon mal darüber nachgedacht, welches der Unterschied ist zwischen einem Algorithmus und den Dingen, die uns zu Menschen machen? Dinge, die ich „Androrithmen“ nennen werde. Wird das Internet dieser nicht menschlichen Dinge uns zunächst langsam, dann aber immer schneller zwingen, unsere Menschlichkeit aufzugeben und immer mechanistischer zu werden, um relevant zu bleiben? Wenn Computer zuerst mobil, dann tragbar und am Ende sogar essbar oder implantierbar werden: Geben wir damit nicht unseren einmaligen Wettbewerbsvorteil als Planetenbewohner zugunsten eines dubiosen digitalen Kicks auf?
Kapitel 6: Magisch, manisch, toxisch. Hier nehme ich unsere lange Liebesaffäre mit der Technik kritisch unter die Lupe und beschreibe deren immer häufigere Evolution von magisch über manisch bis toxisch. Wir geben uns dem Leben in Form zunehmend fremdvermittelter und künstlich verarbeiteter Zufallsbegegnungen hin und haben dabei das Gefühl, unterhalten zu werden, aber in Wahrheit werden wir nur die Sklaven unserer Hormone sein – und damit zunehmend das Ziel der sanften Verführer des „Big Tech“.
Wir mögen ja die Nacht durchtanzen auf der großen Hochzeitsparty des quantifizierten Lebens, die der technologische Fortschritt für uns abzieht. Aber sind wir auch auf den Kater vorbereitet am Morgen danach – und in alle Ewigkeit?
Kapitel 7: Digitale Fettsucht – die neue Volkskrankheit. Digitale Verfettung mag vielleicht heute nicht so im öffentlichen Bewusstsein verankert sein wie körperliche Fettleibigkeit, aber sie ist dabei, sich zu einer neuen Volkskrankheit unbekannten Ausmaßes auszubreiten. Während wir uns suhlen und sattfressen an einem Überangebot von Nachrichten, Updates und algorithmisch erzeugten Informationen, stecken wir gleichzeitig immer tiefer in einem Technosumpf aus fragwürdigen Informationen und Unterhaltungsangeboten. Angesichts der bevorstehenden Flutwelle neuer Technologien und Kontaktplattformen wird es höchste Zeit, genauso ernsthaft über unsere digitale Ernährung nachzudenken, wie wir es mit unserer leiblichen tun (oder tun sollten).
XI Kapitel 8: Vorsicht vs. Vorgriff. In diesem Kapitel behaupte ich, dass der sicherste – und vielversprechendste – Weg in die Zukunft weder über das Verhindern von Fortschritt noch über das Verniedlichen von digitalen Risiken führt, deren Lösung wir anderen überlassen. Wir können nicht von der nächsten Generation verlangen, dass sie auch noch unsere technologischen Spielschulden bezahlt. Wir können die Folgen auch nicht einfach aussitzen, denn sie werden sofort sichtbar sein, und zwar in einem bislang nie gekannten Ausmaß. Ich behaupte, dass die heute am häufigsten angewandten Gegenstrategien – Vorsicht und Vorgriff – beide nicht ausreichen, um den kombinatorischen und exponentiellen Bedrohungen des unkontrollierten technischen Fortschritts zu begegnen. Abwarten wäre genauso gefährlich wie ein „just do it“. Transhumanismus, der meines Erachtens einem lemmingartigem Wettlauf zum Abgrund ähnelt, wäre die schrecklichste aller sich bietenden Optionen.
Kapitel 9: Glück darf kein Zufall sein. Geld mag die Welt regieren, aber das Menschenglück muss an erster Stelle stehen. Das menschliche Streben nach Glück findet sich in allen Philosophien und Kulturen wieder. Glück entzieht sich aber jedem Versuch der Messung ebenso wie der technischen Reproduktion. Big Tech kann vielleicht immer besser schnelle hedonistische Lusterlebnisse vermitteln. Die Frage aber bleibt: Wie können wir tiefes Glücksempfinden bewahren, das mit Empathie, Mitgefühl und Bewusstsein verbunden ist? Glück mag oft zufällig sein, aber wir müssen trotzdem versuchen, die Technologie dazu einzusetzen, die unvermeidbaren Risiken des Lebens zu reduzieren, ohne seine rätselhaften und spontanen Seiten aufzugeben.
Kapitel 10: Digitale Ethik. In der rasanten Geschwindigkeit, wie Technologie das menschliche Leben immer mehr durchdringt, lässt sich die Forderung nach einer digitalen Ethik von Einzelnen und Organisationen immer weniger ignorieren. Wir haben nicht einmal eine gemeinsame globale Sprache, um die anstehenden Fragen diskutieren zu können, geschweige denn eine gemeinsame Vorstellung über Rechte und Pflichten im Digitalzeitalter. Die Dritte Welt wischt Umweltschutz und Nachhaltigkeit als Luxusprobleme reicher Länder beiseite, und in Zeiten wirtschaftlicher Krisen fallen sie meistens ganz unter den Tisch. Digitale Ethik wird sich im Gegensatz dazu sehr bald in den Mittelpunkt des politischen und wirtschaftlichen Diskurses drängen – und drängen müssen. Eine ethische Diskussion über digitale Technologie ist längst überfällig, denn sie könnte eine noch größere Gefahr für die Menschheit werden als das atomare Wettrüsten.
Kapitel 11: Erde 2030: Himmel oder Hölle? Wenn wir uns in unserer Vorstellungskraft in Richtung nahe und mittelfristige Zukunft bewegen, ist es leicht, sich einige gigantische Veränderungen vorzustellen, XIIdie unser Arbeits- und Privatleben bis zur Unkenntlichkeit verändern werden. Darum geht es in diesem Kapitel. Einige seismische Umgestaltungen werden hochwillkommen sein, so wie die Gelegenheit, basierend auf einem garantierten Grundeinkommen vielleicht eines Tages aus Neigung und Leidenschaft zu arbeiten statt für den Broterwerb. Andere, oft selbstverständlich erscheinende Privilegien, wie die freie Auswahl als Konsument oder der freie Wille in der Lebensgestaltung, werden womöglich zu schwachen Erinnerungen verkommen oder nur noch den Superreichen vorbehalten sein. Himmel oder Hölle? Sie haben die Wahl – aber die Zeit drängt!
Kapitel 12: Zeit für Entscheidungen. Im abschließenden Kapitel dieses Buchs behaupte ich, dass es höchste Zeit ist, Technologie zu umarmen, aber nicht Technologie zu werden. Dabei geht es nicht nur darum, Technologie an sich anzuwenden, sondern darum, Technologie stärker in unseren Alltag zu integrieren und abzugrenzen. Wir dürfen das Beantworten der anstehenden ethischen, wirtschaftlichen, sozialen und biologischen Fragen nicht auf ein anderes Forum oder auf die nächste Generation verschieben. Es wird Zeit, den Einsatz von Massentechnologie so zu gestalten und gegebenenfalls zu regulieren, wie wir es bei anderen potenziell transformativen Erfindungen längst tun, zum Beispiel bei der Atomkraft. Das ist nicht der Schlusspunkt eines Dialogs, sondern der Startschuss für eine Auseinandersetzung, die in unseren Massenmedien, in unseren Schulen, in unserer Politik und – vor allem – in unseren Chefetagen im Mittelpunkt stehen muss. Technologen und Technokraten dürfen nicht länger eine Unschuldsmiene aufsetzen und die Verantwortung für die Zukunft auf andere abwälzen können.
Ich hoffe, dass dieses Buch Sie inspiriert und zum Nachdenken über die bevorstehenden Herausforderungen anregt. Ich lade Sie ein, Teil unserer TVH Community zu werden. Besuchen Sie uns auf
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Zürich Sommer 2017 |
Gerd Leonhard |
2 Die Menschheit wird sich in den kommenden 20 Jahren stärker verändern als in den 300 Jahren davor.
3 Wir Menschen sind geneigt, unser Bild von der Zukunft aus unserer Gegenwart abzuleiten oder sogar aus unserer Vergangenheit. Wir gehen davon aus, dass etwas, das bisher funktioniert hat, uns in Zukunft, wenngleich in leicht verbesserter Form, ebenfalls ganz gute Dienste leisten wird. Aber die neue Realität sieht anders aus: Der zunehmende Wandel – angefeuert von exponentiellen und kombinatorischen Technologien – macht es immer unwahrscheinlicher, dass unsere Zukunft einfach nur eine Fortsetzung unserer Gegenwart sein wird. Sie wird höchstwahrscheinlich ganz anders aussehen – weil die Voraussetzungen und der Rahmen sich ebenso verändert haben wie die Logik, auf der unsere Annahmen basieren.
Als Futurist ist es meine Aufgabe, mir die nahe Zukunft (in meinem Fall meistens die nächsten fünf bis acht Jahre) vorzustellen, mich ganz in sie zu versenken und mir eine Meinung zu bilden. Dann arbeite ich mich langsam zurück in die Gegenwart, statt wie sonst üblich von heute nach morgen zu schauen.
Den Anfang dieses Buchs bildet deshalb ein Bericht über die nahe Zukunft. Danach gehe ich auf die Herausforderungen ein, die sich heute aus ihr ergeben. Daran schließt sich ein Manifest, ein leidenschaftlicher Appell an uns alle an, innezuhalten und erst einmal nachzudenken, bevor wir vom faszinierenden Strudel der Technologie erfasst und von ihm fortgerissen werden, wobei wir uns womöglich von unserer Menschlichkeit entfernen. Statt ihr näherzukommen (oder, wie manche Protagonisten vorschlagen, „unsere menschlichen Begrenzungen“ hinter uns zu lassen). Es ist eine gute Gelegenheit, uns daran zu erinnern, dass die Zukunft nicht einfach so von selber passiert: Sie wird ja von uns geschaffen, Tag für Tag. Und früher oder später wird man uns für die Entscheidungen, die wir heute treffen, zur Verantwortung ziehen.
Wir leben in einer der aufregendsten Epochen der Menschheitsgeschichte, und ich bin ein Optimist, was die Zukunft angeht. Aber wir müssen unbedingt einen ganzheitlichen Ansatz finden, wenn wir die Kontrolle über unsere Technologien nicht verlieren wollen – es geht dabei um nichts Geringeres als um das, was uns zu Menschen macht und wie wir es beschützen.
4Heute stehen wir an einem Wendepunkt: Die exponentiellen Wachstumskurven in vielen Bereichen von Wissenschaft und Technik haben einen kritischen Punkt erreicht; ab jetzt wirkt sich die weitere Verdopplung von einer Messperiode zur nächsten dramatisch aus.
Den ursprünglichen Taktgeber beim Exponentialwachstum bildet Moore’s Law, ein Prinzip des Intel-Mitbegründers Gordon Moore aus den 1970er-Jahren, wonach sich die Prozessorleistung (also die Menge der Rechenoperationen, die ein Computer ausführen kann) etwa alle 18 bis 24 Monate verdoppelt und sich die Kosten halbieren.1 Ein handelsüblicher Computer leistet also von Jahr zu Jahr doppelt so viel und wird proportional gesehen immer billiger.
Dieser Verdopplungseffekt ist inzwischen auf vielen anderen Gebieten zu beobachten, zum Beispiel in neuronalen Netzwerken (Stichwort „Deep Learning“), in der Genetik, in der Materialforschung und in der Fertigungstechnik. Der Abstand zwischen den einzelnen Verdopplungsschritten wird in vielen Bereichen immer kürzer, was das Tempo der Veränderungen und ihre Tragweite für fast jede Aktivität auf unserem Planeten erhöht. Wir haben praktisch schon den Punkt auf der Exponentialkurve passiert, als der Anstieg noch so langsam war, dass wir die Veränderung kaum gespürt haben. Anders ausgedrückt: Die Zeit der kleinen Schritte, also von 0,01 zu 0,02 und 0,04 zu 0,08, ist längst vorbei.
Glücklicherweise sind wir aber auch noch nicht so weit, dass die Verdopplungsschritte so groß sind, dass wir sie nicht mehr überblicken und darauf reagieren können. Rücken wir das Ganze perspektivisch gerade: Wir stehen auf den meisten Gebieten ungefähr bei 4. Der nächste Schritt auf der Exponentialkurve wird aber nicht, wie in einem linearen System, 5 sein, sondern 8, dann 16, 32, und so weiter. Das heißt: Ab sofort wird jeder neue Schritt deutlich spürbarer werden! Und dieses Exponentialwachstum der Technologie wird fast alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft erfassen und verändern, von der Energieversorgung bis zur Kommunikation, von den Medien bis zur Medizin, zum Gesundheitswesen und unserer Lebensmittelversorgung.
Betrachten wir zunächst die Autoindustrie: Vor sieben Jahren hatten Elektroautos eine Reichweite von gerade mal 70 Kilometern. Die neuesten Modelle von Tesla oder BMW kommen mit einer Batterieladung 400 bis 500 Kilometer weit.23 Vor sieben Jahren gab es nur eine Handvoll Ladestationen; inzwischen hat New York mehr Strom- als Benzintankstellen.4 Diese Entwicklung ist fast atemberaubend! Jeden Monat hören wir von einem neuen Durchbruch in der Batterieleistung, die bislang größte Hürde beim massenhaften Umstieg auf E-Mobilität. Und es ist ganz klar, wie es weitergehen wird: Bald werden wir unsere E-Autos nur noch einmal in der Woche aufladen müssen, dann nur noch einmal 5im Monat und schließlich nur noch einmal im Jahr. Spätestens dann werden riesige Luxuslimousinen mit Benzinmotoren nur noch Museumsstücke sein.
Der Preisverfall in der Gentechnik ist mindestens genauso dramatisch. 2008 kostete die Entzifferung des ersten menschlichen Genoms über 10 Millionen US-Dollar. Heute können wir unsere eigene DNA für ein paar Hundert Dollar sequenzieren lassen.5 Stellen wir uns vor, was passiert, wenn jeder Medizinstudent oder Laborpraktikant über einen Computer mit exponentiell höherer Rechenleistung als heute und außerdem über Anschluss an die Cloud verfügt. Der Preis für eine Genomsequenz wird auf 50 Dollar oder weniger sinken.6
Und stellen wir uns dann vor, was passiert, wenn die Genomprofile von 200 oder 300 Millionen Menschen (hoffentlich gut abgesichert) in der Cloud gespeichert sind und von Forschern dazu verwendet werden können, sie mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) und Supercomputern zu analysieren, neue Medikamente und Behandlungsformen zu entwickeln. Das könnte alles in den Schatten stellen, was wir bisher in der Wissenschaft gesehen und erlebt haben. Diese Möglichkeiten werden ganz neue ethische Probleme aufwerfen. Unsere Lebenserwartung wird weiterhin deutlich steigen – jedenfalls die Lebenserwartung derjenigen, die sich diese neuen Behandlungen leisten können. Wenn wir unsere Genome tatsächlich umprogrammieren können, werden wir zumindest theoretisch in der Lage sein, unseren Alterungsprozess zu verlangsamen oder gar anzuhalten – wir könnten sogar eines Tages unsterblich werden. Aber wem hilft das wirklich? Nur den Reichen? Werden Milliardäre ewig leben, während die Armen auf der Welt sich nicht einmal Malariatabletten leisten können?
Angesichts dieses ungeheuren Tempos wird klar, dass ein Festhalten an linearem Denken über die Zukunft direkt in die Katastrophe münden wird. Wir müssen deshalb dringend unsere Annahmen über das Ausmaß, die Geschwindigkeit und die potenziellen Auswirkungen dieser bevorstehenden Veränderungen anpassen. Viele tun sich jedoch schwer damit, zu erkennen, welche Bedrohungen sich aus diesem radikalen Siegeszug der Technologie über den Menschen ergeben; sie glauben, dass alles noch in weiter Ferne liegt, also warum sollten sie sich heute schon den Kopf darüber zerbrechen? Wir stehen doch erst bei 4! Noch stellen wir uns wenig kritische Fragen über Dinge wie den Verlust der Privatheit, über durch Technologie verursachte Arbeitslosigkeit oder über den Verlust von wichtigen menschlichen Fähigkeiten. Wir haben doch noch Zeit!
Das wird sich sehr schnell ändern. Uns muss klar sein, dass die größten Veränderungen auf kombinatorischen Innovationen beruhen werden, also auf Entwicklungen, die sich aus dem Zusammenwirken 6mehrerer Megatrends und Disruptionen ergeben. In Kapitel 3 werden wir zum Beispiel sehen, wie Unternehmen inzwischen Big Data und das Internet der Dinge (IoT) so mit künstlicher Intelligenz, Mobilität und Cloud-Computing verknüpfen können, dass daraus ganz neue und potenziell explosive Geschäftsmodelle entstehen.
Klar ist aber auch, dass es so gut wie keinen Bereich unseres Geschäfts- und Privatlebens gibt, der von diesen Veränderungen unberührt bleiben wird, egal ob sie gut gemeint sind oder aus Unkenntnis über die möglichen Folgen entstehen – von böser Absicht ganz zu schweigen. Einerseits werden wir Innovationen von unbekanntem Ausmaß erleben. Sie werden, wie wir in Kapitel 9 sehen werden, unser Leben fast unvorstellbar bereichern und der Menschheit zu neuer Hochblüte verhelfen. Aber einige von diesen Entwicklungen drohen den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und unser Menschsein selbst zu gefährden. Im Jahr 1993 schrieb der Computerwissenschaftler und Science-Fiction-Autor Vernon Vinge:
„In den nächsten 30 Jahren werden wir über die nötige Technologie verfügen, um übermenschliche Intelligenz zu erschaffen. Kurze Zeit später wird das Menschenzeitalter zu Ende sein. Ist eine solche Entwicklung unvermeidbar? Und wenn wir es schon nicht abwenden können: Können wir die Ereignisse wenigstens so steuern, dass wir vielleicht überleben werden?“ 7
Das künftige Verhältnis zwischen Mensch und Maschine wird stark vom Wirtschaftssystem abhängen, aus dem es entsteht. Was uns erwarten könnte, ist etwas, das ich im Englischen als „HellVen“ bezeichne, also eine Art Zwitterwort aus Himmel und Hölle (#hellven). Wir rasen einerseits mit Warp-Drive auf eine neue Art von Nirvana zu: Eine Welt, in der wir vielleicht nicht mehr wirklich arbeiten müssen, um zu leben, eine Zeit, in der sich die meisten Probleme der Menschheit mithilfe von Technologie lösen lassen und wir uns wie im Schlaraffenland im Wohlstand bequem einrichten werden – manche meiner Kollegen nennen das gerne die „StarTrek Economy“.8
Die Zukunft könnte aber auch in eine dystopische Gesellschaft münden, die von Supercomputern beherrscht und überwacht wird, von Netzwerk-Bots und Softwareagenten mit Superintelligenz, also von Maschinen, Algorithmen, Cyborgs und Robotern. In einer solchen Welt würden normale Menschen von den Maschinen bestenfalls als Haustiere gehalten oder als nützliches Übel toleriert werden; im schlechtesten Fall würden sie von den Cyborg-Göttern versklavt und im Dunklen 7vor sich hinvegetieren, abgestumpft, ahnungslos, entkörpert und völlig dehumanisiert.
„Du wirst womöglich Gräuel erleben, von Menschen erschaffen, die jenseits deiner Vorstellungskraft liegen.“ 9 – Nikola Tesla
Wie sieht heute für viele von uns der Alltag aus? Wir lagern schon jetzt viele Teile unseres Denkens sowie Entscheidungen und Erinnerungen aus; in erschwingliche und weitverbreitete Endgeräte und damit auf die dahinterliegenden Cloud-Systeme. Man kann sich das gut wie eine Art „externes Gehirn“ vorstellen: Jene waren anfangs nur in der Lage, zu verstehen, wo wir sind oder was wir wollen (wenn es einfach war) – inzwischen könnten sie fast schon unsere digitalen Stellvertreter sein, und irgendwann werden sie uns vielleicht sogar ersetzen. Diese Systeme machen bereits heute digitale Kopien von uns – sollten Sie sich darüber noch keine Sorgen machen, dann stellen Sie sich nur einmal vor, was passieren wird, wenn diese externen Gehirne erst einmal 10 000-mal mächtiger sind als heute. In ungefähr fünf Jahren sind wir so weit.
Sie wollen durch eine fremde Stadt navigieren? Ohne Google Maps haben Sie keine Chance. Keine Ahnung, wo wir heute Abend zum Essen hingehen sollen? TripAdvisor sagt es uns. Keine Zeit, die ganzen E-Mails zu beantworten? GMails neuer intelligenter Assistent erledigt das schon.10
Wir sind zwar noch nicht ganz so weit, dass wir daheimbleiben können, während Cyborg-Doubles unsere viel zu gefährlichen Leben für uns ausführen, so wie im Bruce-Willis-Film Surrogates – Mein zweites Ich aus dem Jahr 2009.11 Und noch können wir uns keinen menschenähnlichen Roboter, einen Synth, kaufen, der unsere Arbeit macht und uns Gesellschaft leistet, so wie in der RTL-Fernsehserie Humans aus dem Jahr 2015. Aber so weit weg ist das alles auch nicht mehr.12
Im Fortgang dieses Buchs werde ich Ihnen erklären, warum ich solche Horrorszenarien für unwahrscheinlich halte. Ich werde aber gleichzeitig die Behauptung riskieren, dass wir jetzt ein paar ganz grundsätzliche Entscheidungen darüber treffen müssen, wie weit wir es unseren Technologien erlauben wollen, unser und das Leben künftiger Generationen zu gestalten und zu beherrschen.
Einige Futuristen behaupten, dass wir den Punkt längst hinter uns gelassen haben, als wir solche Veränderungen überhaupt noch stoppen konnten. Sie sagen, das alles sei ohnehin nur der logische nächste 8Schritt in unserer Menschwerdung, sozusagen die nächste Stufe in unserer „natürlichen“ Evolution. Ich sehe das anders, und ich werde erklären, warum wir Erdenbürger meiner Meinung nach am Ende des Tages die Gewinner sein werden im bevorstehenden Kampf Mensch gegen Maschine.
Als ich anfing, dieses Buch zu schreiben und diese Themen in meine Vorträge einzubauen, kristallisierten sich bald drei Kernbegriffe heraus, die immer und immer wieder auftauchen: exponentiell, kombinatorisch und rekursiv.
1. Exponentiell: Technologie wächst exponentiell. Die Gesetze der Physik verhindern zwar, dass Mikrochips noch viel weiter schrumpfen werden als heute, aber außerhalb der Chipentwicklung hat Moore’s Law noch volle Gültigkeit.13 Die Kurve, auf der die Computerleistung abgebildet wird, verläuft nach wie vor exponentiell – wir Menschen entwickeln uns aber eher linear oder höchstens graduell. Die kognitiven Herausforderungen an uns sind deshalb gewaltig: Technik entwickelt sich exponentiell, der Mensch lebt und denkt linear (und das hoffentlich noch eine ganze Zeit lang).
2. Kombinatorisch: Der technologische Fortschritt basiert heute zunehmend auf dem Zusammenwirken in vielen verschiedenen Gebieten. Wichtige Entwicklungen wie Maschinenintelligenz und Deep Learning, das Internet der Dinge (IoT) und personalisierte Medizin fangen an, sich gegenseitig zu beeinflussen und zu verstärken. Sie sind auch nicht mehr auf bestimmte, eng definierte Einsatzgebiete beschränkt, sondern breiten sich in Wellen aus und lösen auf vielen benachbarten Gebieten Veränderungen aus. Ein gutes Beispiel ist die CRISPR/Cas9-Methode, um DNA gezielt zu editieren und zu verändern. Mit diesen und anderen Methoden des „Human Genome Editing“ wird es vielleicht eines Tages möglich sein, Krebs zu besiegen.14 Doch würde dies unser gesamtes Gesundheitssystem aus den Angeln heben und unser Rentensystem ad absurdum führen?
3. Rekursiv: Technologien wie künstliche Intelligenz (KI), Cognitive Computing und maschinelles Lernen beginnen, sich gegenseitig selbst zu verstärken. Das erleben wir heute schon. Zum Beispiel sehen wir das bei sogenannten rekursiven Robotersystemen, die sich selbst neu programmieren können, Updates suchen und herunterladen oder sogar die Stromversorgung, von der sie als Maschinen natürlich weiterhin abhängig sind, steuern und kontrollieren. Fachleute 9sprechen in diesem Zusammenhang von der explosionsartigen Intelligenzentwicklung. Beobachter wie der Oxford-Wissenschaftler Nick Bostrom glauben, dass dies eines Tages zu einer Art künstlicher Superintelligenz führen wird, also Computersysteme, die schneller lernen und denken können als jeder Mensch.15 Angenommen, wir sind in der Lage, künstliche Intelligenz mit einem IQ von 500 zu bauen, was hält uns davon ab, eine mit einem IQ von 50.000 zu bauen? Und was würde passieren, wenn wir es täten?
Zum Glück gibt es noch keine wirklichen Anzeichen für rekursive Superintelligenz. Aber selbst ohne sie tun wir uns heute schon schwer, mit dem Digitaltempo Schritt zu halten, mit der Dauerüberwachung, dem Verlust von Privatheit und Anonymität, mit Identitätsdiebstahl, Datensicherheit und vielen anderen Problemen des digitalen Alltags. Wir müssen heute die Weichen stellen für die Zukunft der Menschheit, mögen sie positiv oder dystopisch sein.
Da wir an einem Scheideweg stehen, müssen wir beim Vorantasten sehr viel besser aufpassen. Dazu müssen wir das Gesamtbild betrachten und uns darüber klar werden, was es bedeuten würde, diese exponentiellen Technologien ganz von der Leine zu lassen – sie könnten nämlich sonst am Ende eine größere Macht über uns ausüben, als wir es uns je vorstellen konnten.
Wir haben keine Zeit mehr zum Abwarten, sonst werden wir die Kontrolle über unser Schicksal „erst ganz langsam und dann sehr schnell“ verlieren. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, was es bedeutet, ein Mensch zu sein – und was es in Zukunft bedeuten könnte (oder sollte), und wir müssen nachdenken und weise Entscheidungen treffen, bevor wir eine Technologie erschaffen, die stark genug ist, die Menschheit zu beherrschen.
Solche Entscheidungen dürfen wir nicht einfach einem „freien Markt“ überlassen: den Risikokapitalisten, den Konzerntechnologen oder den Militärorganisationen. Die Zukunft der Menschheit darf nicht auf dem Profitmuster des vergangenen Industriezeitalters gründen, bei dem Wachstum zum Selbstzweck mutiert. Sie darf sich aber auch keinem bizarren technologischen Imperativ beugen, der vielleicht in den 1980er-Jahren noch nützlich war, heute aber vollkommen überholt ist. Weder Silicon Valley noch die führenden Technologiekonzerne dürfen sich anmaßen, als „Mission Control“ für die Menschheit zu fungieren – nur weil sich mit Technologie viel Geld verdienen lässt.
Zum Glück stehen wir heute (Sommer 2017) noch ungefähr bei 90/10: Ich denke, dass 90 Prozent der Möglichkeiten, die uns die Technologie bietet, wahrscheinlich zu einem guten Ende führen werden, aber 10 Prozent könnten auch negativ enden. Wir müssen diese Balance halten 10oder sie vielleicht sogar auf, sagen wir, 98/2 erhöhen – das wäre jede Anstrengung wert.
Andererseits könnten aus den „schlechten 10 Prozent“ (egal ob dahinter eine böse Absicht steckt oder nicht) ganz schnell 50 Prozent oder mehr werden, wenn wir uns nicht darüber einig werden, wie diese Technologien der Menschheit dienen sollen – sicherlich kein guter Zeitpunkt, einfach mal zu machen und zu sehen, was herauskommt.
Der wichtigste Veränderungsfaktor im Bereich der exponentiellen Technologie ist künstliche Intelligenz (KI), einfach definiert verstehen wir darunter die Fähigkeit, Maschinen (Software oder Hardware, also Roboter) zu entwickeln, die menschliche Fähigkeiten wie Denken und Leben nachahmen können. Die KI wird den Prognosen zufolge doppelt so schnell wachsen wie jede andere Technologie und sogar Moore’s Law hinter sich lassen und damit das Wachstum in der Computerleistung bei Weitem übertreffen.16
„Die bei Weitem größte Gefahr der künstlichen Intelligenz ist, zu früh zu glauben, dass man sie verstanden hat.“ – Eliezer Yudkowsky17
Das Pendant zu KI ist die Gentechnik, insbesondere die Fähigkeit, menschliche DNA zu verändern, um auf diese Weise manche oder sogar alle Krankheiten zu besiegen, also de facto unseren Körper umzuprogrammieren oder gar dem Tod das Spiel ganz zu verderben. KI wird natürlich auch bei diesem Game Changer eine wichtige Rolle spielen.
Allein diese beiden Trends könnten die Spielregeln unseres Lebens neu formulieren. Gemeinsam mit Fortschritten auf vielen benachbarten Gebieten der Wissenschaft werden sie uns in den nächsten 20 Jahren zwingen, ganz neu darüber nachzudenken, was Menschsein bedeutet, wer wir sind und wer wir sein wollen. Aus Platz- und Zeitgründen werde ich mich in diesem Buch auf KI und Maschinenlernen konzentrieren, weil sie unsere Zukunft am meisten und am schnellsten verändern werden, aber auch weil sie die Entwicklung anderer Game Changers in Gebieten wie Genmanipulation, Nanotechnologie und Materialwirtschaft (material sciences) entscheidend beeinflussen werden.
Ray Kurzweil, Gründer der Singularity University, Erfinder, Futurist und globaler Vordenker der digitalen Zukunft, arbeitet heute als Leiter des Ingenieurwesens bei Google. Ray hat großen Einfluss auf das futuristische Denken im Allgemeinen und meine eigene Arbeit im Besonderen, aber er ist auch jemand, dessen Ansichten ich an ein paar Stellen in diesem Buch heftig widersprechen muss.
Kurzweil glaubt, dass Computer die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns spätestens 2025 übersteigen werden und dass ein einzelner Computer bis 2050 so viel Rechenleistung besitzen wird wie alle menschlichen Gehirne auf der Welt zusammen.18
Kurzweil rechnet damit, dass dies zu einem Zustand führen wird, den er „Singularität“ (Singularity) nennt. Dies wäre der Moment, an dem Computer die menschliche Intelligenz übertrumpfen und später weit in den Schatten stellen; dies würde dazu führen, dass die menschliche Intelligenz zunehmend nicht biologisch wird. Es wäre dann früher oder später möglich, dass Maschinen beginnen, unabhängig zu denken. Computer wären dann dank der möglichen Selbstverstärkung in der Lage, ihre ursprüngliche Programmierung hinter sich zu lassen und sich selbst neues Wissen und neue Fähigkeiten anzueignen: in der Tat ein Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte.
Im Herbst 2015 sagte Kurzweil zu seinen Zuhörern an der Singularity University in Mountain View im Herzen des Silicon Valley:
„Wenn wir uns weiterentwickeln, kommen wir Gott immer näher. Evolution ist ein spiritueller Prozess. Es gibt Schönheit und Liebe, Kreativität und Intelligenz auf der Welt. Das alles hat seinen Ursprung im Neocortex [der stammesgeschichtlich jüngste Teil der Großhirnrinde, GL]. Wir werden den Neocortex des Gehirns erweitern und damit Gott immer ähnlicher.“ 19
Auch ich bin überzeugt, dass Computer in sehr naher Zukunft die rechnerische Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns erreichen werden. Aber Gott hin oder her: Im Gegensatz zu Kurzweil glaube ich nicht, dass wir deshalb unsere Menschlichkeit (inklusive aller ihrer Limitationen) aufgeben sollten – nur damit wir vielleicht „grenzenlose nicht biologische Intelligenz“ erwerben können. Das wäre in meinen Augen ein ganz schlechtes Geschäft – eine Abstufung, kein Aufstieg. In diesem Buch werde ich erklären, warum ich leidenschaftlich dagegen bin, dass wir diesen Weg gehen.
Zum heutigen Zeitpunkt sind wir noch nicht in der Lage, Kurzweils Visionen des „Brain Uploading“ oder des „künstlichen zweiten Neokortex“ zu verwirklichen. Die Chips sind noch nicht klein genug, die 12Netzwerke zu langsam und das Stromnetz außerstande, solche gigantischen „Quantum Computing“-Maschinen ausreichend und bezahlbar mit Energie zu versorgen. Dies sind natürlich nur vorübergehende Barrieren, und wir hören jeden Tag von neuen wissenschaftlichen Durchbrüchen, ganz zu schweigen von den Neuerungen, von denen wir nichts wissen, weil sie irgendwo auf der Welt in geheimen Laboren entstehen.
Wir müssen aber sehr wohl auf die kommende Singularität vorbereitet sein; wir müssen kritisch sein, wissenschaftlich, aber humanistisch, wagemutig und neugierig, aber auch vorsichtig, unternehmerisch – und vor allem von Gemeinsinn geprägt.
Es dauert nicht mehr lange, da werden intelligente Maschinen Aufgaben übernehmen, die bisher nur von menschlichen Arbeitern und Angestellten erledigt werden konnten. Noch sind wir es, die zum Beispiel Sprache wirklich verstehen, komplexe Bilderkennung durchführen oder unsere Körper flexibel und anpassbar einsetzen können. Aber bald werden wir in vielen Lebensbereichen voll und ganz auf unsere Maschinen angewiesen sein. Wir werden also in gewissem Grad mit unseren Maschinen verschmelzen, beispielsweise mittels neuartiger Interfaces wie zum Beispiel Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR), Hologramme, Implantate, Gehirn-Computer-Schnittstellen (sogenannte BCIs oder Computer Brain Interfaces) sowie durch Körperteile, die mithilfe von Nanotechnik und synthetischer Biologie im Labor gezüchtet worden sind.
Wenn Nanobots in unsere Blutbahn gespritzt oder unsere Gehirne mit Kommunikationsimplantaten aufgerüstet werden können, fragt man sich vielleicht schon, wer dann noch entscheiden kann, ob wir Menschen sind oder nicht. Technologie besitzt und kennt keine Ethik, und das ist vermutlich gut so. Aber was geschieht mit unseren Normen, mit den Sozialkontakten, mit unseren Werten und Moralvorstellungen, wenn Maschinen alles für uns erledigen können?
Maschinenintelligenz wird, allen Wünschen von KI-Evangelisten und Silicon-Valley-Futuristen zum Trotz, keine emotionale Intelligenz (EI oder HI – Human Intelligence) besitzen. Jedenfalls nicht in nächster Zeit. Maschinen sind nicht von ethischen Skrupeln geplagt, denn sie existieren nicht wie Menschen. Sie kennen kein „Dasein“ – sie sind allenfalls Duplizierer und Simulatoren. Eines Tages werden Maschinen wohl in der Lage sein, zu lesen, zu analysieren und vielleicht sogar zu verstehen, wie unsere eigenen Wertesysteme funktionieren, unsere 13Sozialkontakte, unsere Ethiken und Glaubenssysteme. Sie werden aber niemals in der Lage sein, in unserer Welt eine gleichberechtigte Existenz zu führen, also das, was Philosophen als unser „Dasein“ definieren.
Wir werden uns vielleicht bald in einer Welt wiederfinden, in der Daten und Algorithmen mächtiger sind als das, was ich als „Androrithmen“ bezeichne: all diese Dinge, die uns eigentlich menschlich machen, also genau das Gegenteil von Daten sind: Gefühle, Intuition, Imagination, Ethik ... (Ich werde später genau erklären, was ich unter einem Androrithmus verstehe.)
Noch ein ganz wichtiger Punkt: Ständige Verdopplungen angefangen bei 4 und weiter auf 8, 16, 32, werden deutlich spürbarere Auswirkungen haben als die von 0,1 auf 0,2 etc. Darin besteht unsere größte Herausforderung: uns ein exponentiell anderes Morgen vorzustellen. Wir müssen die Designer und Verwalter einer Zukunft werden, deren Komplexität unser menschliches Verständnisniveau früher oder später weit übersteigt – wir müssen also eine exponentielle Vorstellungskraft entwickeln.
Für mich beschreibt dieses Zitat aus Ernest Hemingways Roman Fiesta wunderbar, worum es beim exponentiellen Wandel geht:20
„Wie geht man pleite? Auf zweierlei Weise – erst ganz langsam und dann sehr plötzlich“ (gradually, then suddenly).
Um sinnvoll über unsere Zukunft und wie wir sie gestalten wollen, reden zu können, ist es wichtig, diese beiden Paradigmen – „exponentielles Wachstum“ und „erst langsam, dann schnell“ – zu verstehen. Es sind die beiden zentralen Pfeiler hinter den Thesen in diesem Buch. Immer häufiger werden wir erleben, dass aus scheinbar bescheidenen Anfängen plötzlich riesige Chancen oder auch ernste Bedrohungen entstehen. Einige werden plötzlich wieder verschwinden und schnell in Vergessenheit geraten, oder sie werden viel größer sein, als wir es uns je vorgestellt haben. Denken Sie nur an die Solarenergie, an selbstfahrende Autos, digitale Währungen, Computer, die Sprachen verstehen, oder die Blockchain: Es hat oft lange gedauert, bis wir diese Trends wirklich ernst genommen haben, aber auf einmal geht alles ganz plötzlich. Die Geschichte lehrt uns, dass diejenigen, die sich nicht schnell genug anpassen oder die kritische Weggabelung verpassen, die Folgen bitter zu spüren bekommen.
14Eine Strategie des Abwartens (wait and see) birgt die Gefahr, dass wir schneller irrelevant werden, ignoriert werden oder einfach nur verkümmern. Wir müssen meines Erachtens dringend eine andere, proaktivere Strategie entwickeln, um zu definieren und zu erhalten, was uns als Menschen in einer digitalisierten Welt ausmacht.
Ich glaube zum Beispiel nicht, dass die Märkte sich beim Thema Mensch vs. Technologie selbst regulieren werden oder auch sollten oder dass sich die Probleme der Übertechnologisierung mithilfe der viel zitierten „unsichtbaren Hand“ von allein lösen lassen werden. Traditionell freie Märkte, die nur an Profit und Wachstum orientiert sind (allen voran die USA), werden die Probleme, die sich aus dem Konflikt Mensch vs. Technologie ergeben, eher verstärken, weil exponentielle technologische Fortschritte schlicht und ergreifend Billionengeschäfte versprechen und damit endlose Gier wecken können.
Die Realität ist, dass sich mit dem Ersetzen und Kopieren (oder auch „Faking“) von menschlichen Eigenschaften, Interaktionen und Vorlieben einfach zu viel Geld verdienen lässt, als dass sich die Venture Capitalists und deren ewig hungrigen Start-ups solche Chancen entgehen lassen werden. Peter Diamandis, XPrize Gründer und Co-Founder einer typisch kalifornischen Firma mit dem treffenden Namen Human Longevity Inc., stellt die Behauptung auf, dass allein mit der Verlängerung des menschlichen Lebens jährlich weltweit mehr als 3,5 Billionen US-Dollar umzusetzen sein werden.21 Ein solcher Zukunftsmarkt könnte die vergleichsweise unbedeutenden Sorgen und banalen Gedanken über die Zukunft der Menschlichkeit verdrängen.
Am Ende geht es also um das Überleben und um das Wohlergehen des Menschen. Wenn wir unsere Zukunft einfach den Risikokapitalisten, Aktienhändlern oder den Militärs und deren Wissenschaftlern überlassen, sehe ich eher schwarz für uns.
Ich denke, es wird zu handfesten Konflikten kommen zwischen den Anhängern dieser unterschiedlichen Weltanschauungen und Paradigmen. Und es werden sich nicht nur Philosophien, sondern auch mächtige Wirtschaftsinteressen gegenüberstehen. Es könnte sogar zu einem Showdown zwischen Humanisten und Transhumanisten (also denjenigen, die Mensch und Maschine zusammenbringen wollen) kommen.
Nachdem Erdöl, Gas und andere fossile Brennstoffe ihre Bedeutung als politischer und militärischer Zündstoff immer mehr verlieren, werden sich die USA und China ein zunehmend hartes technologisches 15Wettrüsten liefern. Die zukünftigen Kriege werden digital geführt werden, und bei den Gefechten wird es um die Vorherrschaft in den Schlüsseltechnologien gehen: KI, Gentechnik, Internet der Dinge (IoT), Cybersicherheit und digitale Waffensysteme.
Europa wird irgendwo dazwischenliegen. Wir Europäer machen uns immer Sorgen um das, was andere als eine Art von Luxusproblem betrachten: Menschenrechte, Glück, Gleichheit, Ethik, nachhaltiges Wachstum, gemeinsamer, also kollektiver Wohlstand. Hier liegen aber meines Erachtens die größten Chancen für Europa, wenn wir weltweit eine entscheidende Rolle spielen wollen. Mehr dazu später.
Die Welt ist voll von Meinungsführern, Entrepreneuren, Wissenschaftlern, Risikokapitalisten, Tech-Gurus aller Couleurs (und ja, auch Futuristen), die gerne den schnellen und freiwilligen Abschied vom Humanismus predigen. Diese eifrigen Technologen wollen uns ihren magischen Transhumanismus aufschwatzen; das Verschmelzen unserer Biologie mit unserer Technologie. Wir sollen Körper und Geist verändern und erweitern, uns in Supermenschen verwandeln. Sie versprechen uns ein Ende von Krankheit und sogar von Tod – ein reizvolles, aber auch ein ziemlich bizarres Bestreben.
Um das in einen Kontext zu bringen, seien hier zwei kontrastierende Positionen beschrieben, die von Zoltan Istvan, einem bekennenden Transhumanismus-Advokaten und einstigen Bewerber um das Amt des US-Präsidenten, und dem Philosophen Jesse I. Bailey stammen:
Der Protagonist: Istvan schreibt in seinem 2013 erschienenen Roman Die Transhumanismus-Wette:
„Der beherzte Code des Transhumanismus wird zum Siegeszug ansetzen. Das ist ein Fakt, unausweichlich und unwidersprochen. Er ist ein Wesenszug undemokratischer Technologie und unseres eigenen technologischen Fortschritts. Er ist die Zukunft. Wir sind die Zukunft, ob es uns passt oder nicht. Sie muss geformt werden, geführt und behandelt mit der Kraft und Weisheit transhumanistischer Wissenschaftler und der mit ihnen verbündeten Nationen und ihren Ressourcen. Sie muss getragen werden in einer Art, die den erfolgreichen Übergang erleichtert, ohne dass wir uns selbst dabei opfern müssen, indem wir ihrer überwältigenden Kraft nachgeben oder unserer Angst davor, diese Kraft zu bändigen.
Du musst deine Ressourcen in die Technologie stecken. In unser Bildungssystem. In unsere Universitäten, unsere Industrien, unsere Ideen. In die Stärksten unserer Gesellschaft. In die hellsten Köpfe unserer Gesellschaft. In die Besten unserer Gesellschaft. Damit wir unsere Zukunft erlangen können.“ 22
16 Der Humanist: Bailey greift diese Annahme in einem Beitrag im Journal of Evolution and Technology an:
„Ich behaupte, dass der Transhumanismus, indem er den Tod als einen grundlegenden Bestandteil des Daseins herausfordert, Gefahr läuft, die Notwendigkeit zu verschleiern, ein freies und authentisches Verhältnis zwischen Technologie, Wahrheit und, am Ende des Tages, dem Dasein selbst zu finden.
Transhumanismus zeichnet zweierlei Bilder: Entweder soll der Körper, den wir heute bewohnen, Jahrhunderte überdauern, oder wir sollen unser Bewusstsein herunterladen und auf mehrere Körper verteilen können. Beide Positionen führen uns weg von der menschlichen Erfahrung zentraler Aspekte der Endlichkeit unserer Verkörperung (auf subtil unterschiedliche, aber bedeutungsvolle Weisen).