Theodor Fontane
Die schönsten Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Ausgewählt und mit einem Nachwort von Günter de Bruyn
Herausgegeben von Günter de Bruyn
FISCHER E-Books
Theodor Fontane, am 30. Dezember 1819 in Neuruppin / Brandenburg geboren, war beinahe 60 Jahre alt, als sein Romanschaffen mit dem historischen Roman »Vor dem Sturm« 1878 einsetzte. Der Weg dorthin war lang und führte Fontane vom Apothekerberuf über journalistische Tätigkeiten schließlich zu seinen großen realistischen Zeit- und Gesellschaftsromanen. Fontane starb am 20. September 1898 in Berlin.
Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebt heute im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u. a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays »Als Poesie gut« und »Die Zeit der schweren Not«, die autobiographischen Bände »Zwischenbilanz« und »Vierzig Jahre« sowie die Romane »Buridans Esel« und »Neue Herrlichkeit«.
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Wer sich im Kulturraum der Mark Brandenburg bewegt, kommt an Theodor Fontane ebenso wenig vorbei wie an Günter de Bruyn. Kein anderer Autor der Gegenwart kennt sich besser aus in Preußens vielgestaltiger Kulturgeschichte, keiner liebt die Landschaft der Mark Brandenburg so wie Günter de Bruyn. Für diese Zusammenstellung hat er die fünf Bände von Fontanes »Wanderungen« nach den schönsten Stellen durchsucht. Die ausgewählten Texte folgen dabei den Erstdrucken, die Fontanes Reiseeindrücke oft farbiger und unmittelbarer festgehalten haben als die überarbeiteten späteren Fassungen. Die Auswahl erschien erstmals im Rahmen der gemeinsam mit Gerhard Wolf herausgegebenen Reihe »Märkischer Dichtergarten«. Für die Neuausgabe hat Günter de Bruyn den Band noch einmal durchgesehen und den umfangreichen Anhang aktualisiert.
Erschienen bei FISCHER E-Books
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ISBN 978-3-10-490529-7
Vom Zermützel-See aus, in den sich, von Osten her, der aus den Rheinsberger Seen kommende Hauptarm des Rhins ergießt, ist es unbedingt der Rhin, der die südlich vom »Zermützel« gelegenen Wasserbecken durchfließt. Ob andererseits die Bäche und Wässerchen, die nördlich vom »Zermützel« die Verbindung zwischen den oberen Seen herstellen, auch als Rhin zu bezeichnen sind, ist fraglich. Die Leute nennen diese Wässerchen »die Beck« (Bach), andere hingegen bezeichnen es als den West-Arm des Rhin.
Das glänzendste Beispiel hierlandes, wie solche schnurgerade durch die Landschaft gezogene Linie die Schönheit des Bildes wesentlich erhöhen kann, ist die Glienicker Brücke, die sich unterhalb des Babelsberges über die Havel zieht. Der Blick von Babelsberg erhält erst dadurch seinen vollen Reiz.
Dies »unstreitig« bezieht sich auf die Klödenschen Auslassungen über die »Stadtstelle«, die es bestreiten, daß hier eine Stadt gestanden habe. Er nimmt an, daß es eine heidnische Begräbnisstätte gewesen sei und findet in den Steinreihen nichts als Art Feldstein-Umzäunung oder Einfriedigung dieser Stätte. Er irrt darin ganz unbedingt. Hätte er die Stelle gesehen, wie sie jetzt daliegt, so hätte er sich auf den flüchtigsten Blick von seinem Irrtum überzeugen müssen.
Der ganze mittelalterliche Sagen- und Geschichtenschatz tritt überall vielleicht, sicherlich aber in der Mark, völlig typisch auf. Es gibt Gruppen, Rubriken. Jede Rubrik hat ihre bestimmte Anzahl von Nummern. Rubrik »Teufelssee« acht Nummern, »heiliger See« acht Nummern. Dazu gesellen sich noch folgende Rubriken: schwarze Frau, weiße Frau, erstochener Bruder, stummer Mönch, frommer Abt, der über den See schreitet usw. Die Rubriken »unterirdischer Gang« und »vergrabener Schatz« haben, wie überall, die meisten Nummern.
Prinzessin Wilhelmine (die Markgräfin) erzählt an einer anderen Stelle ihrer Memoiren: »Ich war all die Zeit über so leidend, daß ich versichern darf, zwei Jahre lang von nichts anderem als Wasser und trocken Brot gelebt zu haben«. Es scheint fast, daß sie die Entsagung, die ihr ihr Krankheitszustand auferlegte, der Kärglichkeit der Königlichen Tafel zur Last legen will. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß es so knapp in Wusterhausen hergegangen sein sollte. Der König war ein sehr starker Esser, und alle Personen von gutem Appetit haben die Maxime: »Leben und leben lassen«. Außerdem liegen glaubhafte Berichte vor, aus denen sich ganz genau ersehen läßt, was an Königs Tisch gespeist wurde. Es gab: Suppe, gestovtes Fleisch, Schinken, eine Gans, Fisch, dann Pastete. Dazu sehr guten Rheinwein und Ungar. In Wusterhausen kamen noch (weil es die Jahreszeit mit sich brachte) Krammetsvögel, Leipziger Lerchen und Rebhühner hinzu, besonders auch Früchte zum Dessert, darunter die schönsten Weintrauben. Das klingt schon einladender, als die Beschreibung der Prinzessin.
An der Stelle (4 Meilen von Fürstenwalde), wo der Hirsch erlegt wurde, befindet sich noch jetzt ein steinernes Monument, welches den Hirsch in liegender Stellung darstellt.
Auch in Berlin, so sehr es sich von dem spezifisch Märkischen im Laufe der Zeit entfernt hat, kommen immer noch Dinge vor, die dem Vorstehenden in Kleinlichkeit und Enge durchaus entsprechen. Ein Oberprimaner, Sohn wohlhabender Eltern, der sich zum Abiturientenexamen vorbereitete, lud zwei Kameraden ein, mit denen er gemeinschaftlich arbeiten wollte. Dabei tranken sie drei »Weiße«, was den Vater, als er am andern Tag die Flaschen sah, zu der Bemerkung veranlaßte: er verbäte sich solche »Bacchanale« ein für allemal.
Noch kurz vor ihrem Tode soll Sophie Charlotte gesagt haben: »Ich sterbe nun also und tue damit alles, was ich für S. Majestät zu tun imstande bin, indem ich ihn nicht bloß von einem Druck befreie, den er in meiner Gegenwart immer empfand, sondern ihm auch Gelegenheit zu einem ›pomphaften Begräbnis‹ gebe, was für ihn, bei dem Geschmacke, den er nun einmal hat, immer das Wichtigste bleibt.«
In diesem königlichen Erlasse, der, in seiner äußersten Strenge, doch noch immer einen echt und schön menschlichen Ton anschlägt, tritt uns, neben vielem anderen, auch ein Etwas in wundervoller Ausgesprochenheit entgegen, auf das ich hier noch eigens hinweisen möchte: der persönliche Stempel, den die Hohenzollern-Könige, fast ausnahmslos, ihren »Ordres« zu geben gewußt haben. Andre Könige haben meist etwas Abstraktes und sind bloße Träger des Königtums an sich. Die Hohenzollern aber sind in erster Reihe allemal Menschen und erst in zweiter Reihe Spezial- und Obermenschen mit Königspflichten. Ihre Persönlichkeit geben sie nicht auf. Deshalb ist denn auch alles voll Leben und Interesse, selbst bei solchen, die nicht allzu populär waren, wie beispielsweise bei Friedrich Wilhelm IV.
Auch diese Zeit unter Friedrich Wilhelm III. hatte wieder, wie hier beiläufig erzählt werden mag, einen hervorragend espritvollen Mendelssohn, Abraham Mendelssohn, wenn er auch minder zu Ruhm und Ansehen kam als sein Vater Moses Mendelssohn und sein Sohn Felix. Dieser Abraham Mendelssohn liebte deshalb, als alter Herr, zu sagen: »Es ist mir eigen in meinem Leben ergangen; in meiner Jugend war ich nichts als der Sohn meines Vaters und in meinem Alter bin ich nichts als der Vater meines Sohnes.«
Es liegt mir begreiflicherweise daran, einen so diffizilen Punkt nach Möglichkeit klargestellt zu sehen, weshalb ich mich auch noch in diese Anmerkung flüchte. Was an Historischem in diesen »Wanderungen« enthalten ist, gruppiert sich: in allgemein Gekanntes, in wenig Gekanntes und in gar nicht Gekanntes. Es ist selbstverständlich, daß der Mann von Fach an der ersten, räumlich sehr überwiegenden Gruppe vorübergehen muß und an der zweiten (in der sich übrigens einige Raritäten vorfinden) vorübergehen kann. Aber die dritte Gruppe, der beispielsweise alle Kirchenbuchaufzeichnungen angehören, hat Anspruch auf Beachtung auch von seiten des Berufshistorikers. Dies im Hinblick auf Einzelheiten aussprechen ist etwas sehr andres, als mit dem Ganzen historische Prätensionen erheben.
Wie gut es mir auf den alten Herrensitzen ergangen ist, davon legen die vier Bände Zeugnis ab. Auf eines aber möcht ich eigens noch hinweisen dürfen, und zwar auf den für mich sehr wichtigen Umstand, daß ich bei den Mitteilungen, die mir zuteil wurden, niemals durch Ängstlichkeiten gequält worden bin. Es kam nie vor, daß die linke Hand wieder zu nehmen trachtete, was mir die rechte Hand eben gegeben hatte. Jene so häufigen Kautelen und Einengungen, die bekanntlich viel grausamer sind als Vorenthaltung, blieben mir sämtlich erspart. Ich empfing alles »auf Diskretion«, ohne daß mir diese Diskretion jemals zur Bedingung gemacht worden wäre. Ja, was noch mehr überraschen wird, ich bin auch nachträglich niemals eines Vertrauensbruchs oder eines faux pas oder einer Ungeschicklichkeit bezichtigt worden, Was alles ich nicht dankbar genug anerkennen kann. Aber freilich, wenn es mir einerseits glückte, mich vor einem direkten In-Ungnade-Fallen zu schützen, so hat es mir doch andrerseits (einen einzigen Fall abgerechnet) auch nie gelingen wollen, in eine direkte Gnade zu kommen. Es war eben immer nur »a hair-breadth’s escape«. So wenigstens glaub ich aus einem gewissen elegischen Ton schließen zu dürfen, in dem diese Dinge, wenn das Kapitel schließlich vorlag, behandelt zu werden pflegten. Es kann aber auch kaum anders sein, und berühmte Historiker, wie mir versichert worden ist, haben Schlimmeres erfahren müssen.
»Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.« Das hab ich an mir selber erfahren, und die ersten Anregungen zu diesen »Wanderungen durch die Mark« sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen. Die Anregungen wurden Wunsch, der Wunsch wurde Entschluß.
Es war in der schottischen Grafschaft Kinroß, deren schönster Punkt der Leven-See ist. Mitten im See liegt eine Insel, und mitten auf der Insel, hinter Eschen und Schwarztannen halb versteckt, erhebt sich ein altes Douglas-Schloß, das in Lied und Sage vielgenannte Lochleven-Castle. Es sind nur Trümmer noch, die Kapelle liegt als ein Steinhaufen auf dem Schloßhof, und statt der alten Einfassungsmauer zieht sich Weidengestrüpp um die Insel her; aber der Rundturm steht noch, in dem Queen Mary gefangensaß, die Pforte ist noch sichtbar, durch die Willy Douglas die Königin in das rettende Boot führte, und das Fenster wird noch gezeigt, über dessen Brüstung hinweg die alte Lady Douglas sich beugte, um mit weit vorgehaltener Fackel dem nachsetzenden Boote den Weg und womöglich die Spur der Flüchtigen zu zeigen.
Wir kamen von der Stadt Kinroß, die am Ufer des Leven-Sees liegt, und ruderten der Insel zu. Unser Boot legte an derselben Stelle an, an der das Boot der Königin in jener Nacht gelegen hatte, wir schritten über den Hof hin, langsam, als suchten wir noch die Fußspuren in dem hochaufgeschossenen Grase, und lehnten uns dann über die Brüstung, an welcher die alte Lady Douglas gestanden und die Jagd der beiden Boote, des flüchtigen und des nachsetzenden, verfolgt hatte. Dann umfuhren wir die Insel und lenkten unser Boot nach Kinroß zurück, aber das Auge mochte sich nicht trennen von der Insel, auf deren Trümmergrau die Nachmittagssonne und eine wehmütig-unnennbare Stille lag. Nun griffen die Ruder rascher ein, die Insel wurd ein Streifen, endlich schwand sie ganz, und nur als Phantasiebild noch stand eine Zeitlang der Rundturm vor uns auf dem Wasser, bis plötzlich die unstete Phantasie weiter in ihre Erinnerungen zurückgriff und ältere Bilder vor das Bild dieses Sees und dieser Stunde schob. Leisen Tones klang es herüber. Es waren Bilder aus der Heimat, ein unvergessener Tag.
Auch eine Wasserfläche war es; aber nicht Weidengestrüpp faßte das Ufer ein, sondern ein Park und ein Laubholzwald nahmen den See in ihren Arm. Im Flachboot stießen wir ab, und sooft wir das Schilf am Ufer streiften, klang es, wie wenn eine Hand über knisternde Seide fährt. Zwei Schwestern saßen mir gegenüber. Die ältere streckte ihre Hand in das kühle, klare Wasser des Sees, und außer dem dumpfen Schlag des Ruders vernahm ich nichts als jenes leise Geräusch, womit die Wellchen zwischen den Fingern der weißen Hand hindurchplätscherten. Nun glitt das Boot durch Teichrosen hin, deren lange Stengel wir (so klar war das Wasser) aus dem Grunde des Sees aufsteigen sahen; dann lenkten wir das Boot bis an den Schilfgürtel und unter die weit überhängenden Zweige des Parkes zurück. Endlich legten wir an, wo die Wassertreppe ans Ufer führt, und ein Schloß stieg auf mit Flügeln und Türmen, mit Hof und Treppe und mit einem Säulengange, der Balustraden und Marmorbilder trug. Dieser Hof und dieser Säulengang, die Zeugen wie vieler Lust, wie vielen Glanzes waren sie gewesen? Hier über diesen Hof hin hatte die Geige Grauns geklungen, wenn sie das Flötenspiel des prinzlichen Freundes begleitete; hier waren Le Gaillard und Le Constant, die ersten Ritter des Bayard-Ordens, auf und ab geschritten; hier waren in buntem Spiel, in heiterer Ironie, fingierte Ambassaden aus aller Herren Länder erschienen, und von hier aus endlich waren die heiter Spielenden hinausgezogen und hatten sich bewährt im Ernst des Kampfs und auf den Höhen des Lebens. Hinter dem Säulengange glitzerten die gelben Schloßwände in aller Helle des Tags, kein romantischer Farbenton mischte sich ein, aber Schloß und Turm, wohin das Auge fiel, alles trug den breiten historischen Stempel – die Fundamente der Romantik lagen da. Von der andern Seite des Sees her grüßte der Obelisk, der die Geschichte des Siebenjährigen Krieges im Lapidarstil trägt.
So war das Bild des Rheinsberger Schlosses, das, wie eine Fata Morgana, über den Leven-See hinzog, und ehe noch unser Boot auf den Sand des Ufers lief, trat die Frage an mich heran: So schön dies Bild war, das der Leven-See mit seiner Insel und seinem Douglas-Schloß vor dir entrollte, war jener Tag minder schön, als du im Flachboot über den Rheinsberger See fuhrst, die Schöpfungen und die Erinnerungen einer großen Zeit um dich her? Und ich antwortete: nein.
Die Jahre, die seit jenem Tag am Leven-See vergangen sind, haben mich in die Heimat zurückgeführt, und die Entschlüsse von damals blieben unvergessen. Ich bin die Heimat durchzogen, und ich habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte. Jeder Fußbreit Erde belebte sich und gab Gestalten heraus, und wenn meine Schilderungen unbefriedigt lassen, so werd ich der Entschuldigung entbehren müssen, daß es eine Armut war, die ich aufzuputzen oder zu vergolden hatte. Eine Fülle, ein Reichtum sind mir entgegengetreten, denen gegenüber ich die bestimmte Empfindung habe, ihrer niemals auch nur annährend Herr werden zu können; denn das immerhin Umfangreiche, das ich in Nachstehendem biete, ist auf wenig Meilen eingesammelt: am Ruppiner See und vor den Toren Berlins. Und sorglos hab ich es gesammelt, nicht wie einer, der mit der Sichel zur Ernte geht, sondern wie ein Spaziergänger, der einzelne Ähren aus dem reichen Felde zieht.
Es ist ein Buntes, Mannigfaches, das ich zusammengestellt habe: Landschaftliches und Historisches, Sitten- und Charakterschilderung – und verschieden wie die Dinge, so verschieden ist auch die Behandlung, die sie gefunden. Aber wie abweichend in Form und Inhalt die einzelnen Kapitel voneinander sein mögen, darin sind sie sich gleich, daß sie aus Liebe und Anhänglichkeit an die Heimat geboren wurden. Möchten sie auch in andern jene Empfindungen wecken, von denen ich am eignen Herzen erfahren habe, daß sie ein Glück, ein Trost und die Quelle echtester Freuden sind.
Berlin, im November 1861
Th. F.
Lieber Freund. Ob du reisen sollst, reisen in der Mark? Die Antwort auf diese Frage – eine Frage, die ich noch dazu heraufbeschworen habe – ist nicht eben leicht. Und doch würde es mir nicht anstehn, »nein« zu sagen. So denn also »ja«. Aber »ja« unter Vorbedingungen. Wer es wagt, muß allerlei mitbringen. Laß mich Punkt für Punkt aufzählen, was ich für unerläßlich halte.
Wer in der Mark reisen will, der muß zunächst Liebe zu »Land und Leuten« mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit. Er muß den guten Willen haben, das Gute gut zu finden, anstatt es durch krittliche Vergleiche totzumachen.
Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein. Diese mögen zu Hause bleiben. Es ist mit der märkischen Natur wie mit manchen Frauen. »Auch die häßlichste« – sagt das Sprichwort – »hat immer noch sieben Schönheiten.« Ganz so ist es mit dem »Lande zwischen Oder und Elbe«; wenige Punkte sind so arm, daß sie nicht auch ihre sieben Schönheiten hätten. Man muß sie nur zu finden verstehn. Wer das Auge dafür hat, der wag es und reise.
Drittens. Wenn du reisen willst, mußt du die Geschichte dieses Landes kennen und lieben. Dies ist ganz unerläßlich. Wer nach Küstrin kommt und einfach das alte graugelbe Schloß sieht, das, hinter Bastion Brandenburg, mehr häßlich als gespensterhaft aufragt, wird es für ein Landarmenhaus halten und gleichgültig oder wohl gar voll ästhetischem Mißbehagen an demselben vorübergehn; wer aber weiß: »hier fiel Kattes Haupt; an diesem Fenster stand der Kronprinz«, der sieht den alten unschönen Bau mit andern Augen an. – So überall. Wer, unvertraut mit den Großtaten unserer Geschichte, zwischen Linum und Hakenberg hinfährt, rechts das Luch, links ein paar Sandhügel, der wird sich die Schirmmütze übers Gesicht ziehn und in der Wagenecke zu nicken suchen; wer aber weiß, hier fiel Froben, hier wurde das Regiment Dalwigk in Stücke gehauen, dies ist das Schlachtfeld von Fehrbellin, der wird sich aufrichten im Wagen und Luch und Heide plötzlich wie in wunderbarer Beleuchtung sehn.
Viertens. Du mußt nicht allzusehr durch den Komfort der »großen Touren« verwöhnt und verweichlicht sein. Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet, aber es kommt doch vor, und keine Lokalkenntnis, keine Reiseerfahrung reichen aus, dich im voraus wissen zu lassen, wo es vorkommen wird und wo nicht. Zustände von Armut und Verwahrlosung schieben sich in die Zustände modernen Kulturlebens ein, und während du eben noch im Lande Teltow das beste Lager fandest, findest du vielleicht im »Schenkenländchen« eine Lagerstätte, die alle Mängel und Schrecknisse, deren Bett und Linnen überhaupt fähig sind, in sich vereinigt. Regeln sind nicht zu geben, Sicherheitsmaßregeln nicht zu treffen. Wo es gut sein könnte, da triffst du es vielleicht schlecht, und wo du das Kümmerlichste erwartest, überraschen dich Luxus und Behaglichkeit.
Fünftens und letztens. Wenn du das Wagstück wagen willst – »füll deinen Beutel mit Geld«. Reisen in der Mark ist alles andre eher als billig. Glaube nicht, weil du die Preise kennst, die Sprache sprichst und sicher bist vor Kellner und Vetturinen, daß du sparen kannst; glaube vor allem nicht, daß du es deshalb kannst, »weil ja alles so nahe liegt«. Die Nähe tut es nicht. In vielbereisten Ländern kann man billig reisen, wenn man anspruchslos ist; in der Mark kannst du es nicht, wenn du nicht das Glück hast, zu den »Dauerläufern« zu gehören. Ist dies nicht der Fall, ist dir der Wagen ein unabweisliches Wanderungsbedürfnis, so gib es auf, für ein Billiges deine märkische Tour machen zu wollen. Eisenbahnen, wenn du »ins Land« willst, sind in den wenigsten Fällen nutzbar; also – Fuhrwerk. Fuhrwerk aber ist teuer. Man merkt dir bald an, daß du fort willst oder wohl gar fort mußt, und die märkische Art ist nicht so alles Kaufmännischen bar und bloß, daß sie daraus nicht Vorteil ziehen sollte. Wohlan denn, es kann dir passieren, daß du, um von Fürstenwalde nach Buckow oder von Buckow nach Werneuchen zu kommen, mehr zahlen mußt als für eine Fahrt nach Dresden hin und zurück. Nimmst du Anstoß an solchen Preisen und Ärgernissen – so bleibe zu Haus.
Hast du nun alle diese Punkte reiflich erwogen, hast du, wie die Engländer sagen, »deine Seele fertig gemacht« und bist du zu dem Resultate gekommen: »Ich kann es wagen«, nun denn, so wag es getrost. Wag es getrost, und du wirst es nicht bereuen. Eigentümliche Freuden und Genüsse werden dich begleiten. Du wirst Entdeckungen machen, denn überall, wohin du kommst, wirst du, vom Touristenstandpunkt aus, eintreten wie in »jungfräuliches Land«. Du wirst Schloß- und Klosterruinen auffinden, von denen höchstens die nächste Stadt eine Ahnung, eine leise Kenntnis hatte; du wirst inmitten alter Dorfkirchen, deren zerbröckelter Schindelturm nur auf Elend deutete, große Wandbilder oder in den treppenlosen Grüften reiche Kupfersärge mit Kruzifix und vergoldeten Wappenschildern finden; du wirst Schlachtfelder überschreiten, Wendenkirchhöfe, Heidengräber, von denen die Menschen nichts mehr wissen, und nur Sagen und Legenden und hier und da die Bruchstücke verklungener Lieder werden »auf der Heide« und ihren Dörfern zu dir sprechen. Das Beste aber, dem du begegnen wirst, das werden die Menschen sein, vorausgesetzt, daß du dich darauf verstehst, das rechte Wort für den »gemeinen Mann« zu finden. Verschmähe nicht den Strohsack neben dem Kutscher, laß dir erzählen von ihm, von seinem Haus und Hof, von seiner Stadt oder seinem Dorf, von seiner Soldaten- oder seiner Wanderzeit, und sein Geplauder wird dich mit dem Zauber des Natürlichen und Lebendigen umspinnen. Du wirst, wenn du heimkehrst, nichts Auswendiggelerntes gehört haben wie auf den großen Touren, wo alles seine Taxe hat; der Mensch selber aber wird sich vor dir erschlossen haben. Und das bleibt doch immer das Beste.
Berlin, im August 1894
Th. F.
Ist’s norderwärts in Rheinbergs Näh’,
Ist’s süderwärts am Molchow-See?
Ist’s Rottstiel tief im Grunde kühl,
Ist’s Kunsterspring, ist’s Boltenmühl?
Die Schweize werden immer kleiner. Der Entdeckung der sächsischen Schweiz ist die der märkischen Schweiz auf dem Fuße gefolgt, und bei dem vorherrschenden Hange, immer mehr zu lokalisieren, sehen wir die Tage herannahen, wo wir in unserer Mark, also in dem vielleicht unschweizerischsten Lande der Welt, wenigstens ebenso viele Schweize besitzen werden, wie das alte, etwas mißbräuchlich behandelte Original Kantone umschließt. Es gibt schon jetzt eine Freienwalder, eine Neustädter, eine Buckower Schweiz (dies sind die drei alten Kantone), zu denen sich neuerdings, der Schweizen in der Uckermark und Neumark zu geschweigen, nunmehr auch die Ruppiner Schweiz gesellt hat. Als einer Art Pitschner dieser Gegenden, der die Sturzbäche derselben passiert und ihre Kulme erklettert hat, geziemt es mir wohl, einen kurzen Bericht über dieselben zu geben.
Die Ruppiner Schweiz, halben Wegs zwischen Ruppin und Rheinsberg gelegen, trägt ihren Ruhm zur Hälfte auf Kosten des nachbarlichen Rheinsbergs, und wir würden uns nicht wundern, diesen landschaftlichen Stolz der Grafschaft eines Tages von Seiten der benachteiligten Nachbarstadt wenigstens teilweise reklamiert zu sehen. Vorläufig ist der Ruppiner Besitztitel – vielleicht weil er mehr Grafschafts- als Stadt-Charakter hat – noch unbestritten.
Wodurch sich die Ruppiner Schweiz von ihren andern märkischen Schwestern unterscheidet, das ist ihr Wasserreichtum, ihr Reichtum an Seen. Während Freienwalde dieses Schmuckes beinah völlig entbehrt und Buckow, den großen See zu Füßen der Stadt abgerechnet, in seinen eigentlichen »Gebirgs-Partien« nur zwei kleine Edelsteine (allerdings vom reinsten Wasser) aufweist, sind Fluß und See das eigentliche Lebenselement der Ruppiner Schweiz. Diese Wasserfülle, abgesehen von der Schönheit, die sie unmittelbar der Landschaft leiht, hat auch das Kind des Sandes, die Fichte, verdrängt; – kostbare Buchen steigen zu beiden Seiten der bald schmalen, bald breiten Wasserflächen auf, und der Fuß des Touristen, statt auf Kiennadeln auszugleiten, freut sich des saftigen Mooses oder raschelt behaglich im abgefallenen Laub.
Die Ruppiner Schweiz hat mehr Länge als Tiefe; – eigentliche Dörfer gehören ihr nicht zu, und nur Weiler und Kolonistenhäuser, hier und da dorfartig gruppiert, ziehen sich am Ufer der verschiedenen Wasserbecken entlang. Alle diese Seen – in der Reihenfolge von Nord nach Süd: der Kalk-, der Tornow-, der Zermützel-, der Tetzen- und Molchow-See – hängen durch eine schmale Wasserstraße untereinander zusammen, und diese Wasserstraße, vielfach ihren Charakter wechselnd, heißt der Rhin[1]. Aus dem Kalksee kommend, zunächst über Steingeröll hinplätschernd (ganz nach Art eines Bergwassers) zieht er von See zu See, bis er an der Südspitze des Molchow-Sees die Heimat seiner Berge aufgibt und nach kurzem Schlängellauf in das große Wasserbecken eintritt, das zu Füßen der Ruppiner Schweiz sich ausdehnt. Dies Wasserbecken ist der Ruppiner See. Hier streift er – ähnlich wie sein hochdeutscher Namensvetter im Bodensee – den Rest seiner Jugend von sich, und, ruhig geworden bis zum Stillstand, windet er sich von nun an durch die Lücher und Brücher hin, die den Namen Linum als Mittelpunkt haben. In Poesie geboren, hat er kaum noch eine andere Bestimmung, als den Torfkahn auf seinem Rücken zu tragen.
Wenn dieser der prosaische Genoß seiner reiferen Jahre ist, so sind Förstereien und Wassermühlen die Gefährten seiner Jugend. Überall wo sein Wasser über ein Wehr fällt, wo hochaufgeschichtete Bretterbohlen an seinem Ufer liegen, da ist er jung, da sind die Stätten seiner Schönheit. Jede dieser Stätten, zwischen zwei Seen gelegen, dürfte die Hand nach dem stolzen Namen »Interlaken« ausstrecken, aber, im Bewußtsein eignen Wertes, verschmähen sie es, mit vornehmen Anklängen zu prunken, und geben sich lieber, ohne jegliche Prätension und nur auf sich selber gestellt, als Rottstiel und Pfefferteich, als Boltenmühle und Kunsterspring. Und wie sie selber klug auf alles verzichten, was die Quelle lästiger Vergleiche werden könnte, so verzichten auch wir darauf, untersuchen zu wollen, wem unter ihnen der Preis der Schönheit gebührt. Wie unter schönen Schwestern die Streitfrage nie gelöst wird, »wer eigentlich die schönere sei«, weil es heute diese ist und morgen jene, je nach der Kleidfarbe, die sie tragen, oder nach dem Bande, das zufällig an ihrem Hute flattert, so ist auch hier die Frage nach der größeren Schönheit eine bloße Frage der Beleuchtung, der Stimmung, des Schmucks. Wenn heute Boltenmühle in Malven siegt, so siegt morgen Kunsterspring in roten Ebereschen, und ein helleres oder dunkleres Abendrot, ein schmaleres oder breiteres Band, das der Regenbogen über die Landschaft spannt, entscheidet darüber, ob Rottstiel über Pfefferteich oder Pfefferteich über Rottstiel triumphiert.
Auch die »Historie« ist leisen Fußes durch diese Gegenden hingeschritten, und in Binenwalde, am Ufer des Kalksees, gehen die Geschichten davon von Mund zu Mund. Es sind Geschichten aus der Zeit von »Kronprinz Fritz«. Von Rheinsberg aus herüberkommend und nach dem »Försterhaus im See« (seitdem verfallen; die Insel selbst zum Weideplatz geworden) das wohlbekannte Zeichen gebend, glitt ein Kahn aus dem Schilfgürtel hervor und der Stelle zu, wo der Prinz, unter den Zweigen einer überhängenden Buche, die schöne Sabine, das »Insel- und Försterkind«, erwartete. Die schöne Sabine stand lächelnd-aufrecht im Kahn, das Ruder mit raschem Schlage führend, bis im nächsten Moment das Ruder an’s Ufer und sie selbst dem Harrenden entgegenflog.
Aber diese Tage (und auch sie mehr Idyll als Historie) liegen weit zurück. Die alte Waldesstille ist wieder drüberhin gewachsen, und nur die Sage davon klingt noch leise nach, wie denn alles leise an dieser Stelle klingt. Eine ewige Sonntagsruhe liegt über diesen Gründen; lautlos die Natur, wenn, wie in diesem Augenblick, die nachbarliche Mühle schweigt.
Ausgestreckt am Hügelabhang, den Wald zu Häupten, den See zu Füßen, so träumst du hier bis die immer wachsende Stille dich erschreckt. Mit angespannten Sinnen lauschest du, ob nicht doch vielleicht ein Laut, ein leisester nur, zu hören sei. Da endlich beginnt das Klingen des Waldes, die Rätselmusik der Einsamkeit. Der See ist glatt und sonnenbeschienen, aber es ruft aus ihm; die Bäume rühren sich nicht, aber es zieht durch sie hin; aus dem Walde klingt es, als würden Geigen gestrichen; nun schweigt es und ein fernes, fernes Läuten beginnt. Ist es Täuschung oder ist es mehr? Ein wachsendes Bangen kommt über dich, bis plötzlich das Klappern der Mühle neu beginnt, und der schrille Ton der Säge den Mittagszauber zerreißt.
Wer will sagen, wenn er die Ruppiner Schweiz durchwandert, wo dieser Zauber am mächtigsten wirkt.
Und fragst du doch: »den vollsten Reiz
Wo birgt ihn die Ruppiner Schweiz?
Ist’s norderwärts in Rheinsbergs Näh’?
Ist’s süderwärts am Molchow-See?
Ist’s Rottstiel tief im Grunde kühl?
Ist’s Kunsterspring, ist’s Boltenmühl?
Ist’s Boltenmühl, ist’s Kunsterspring?
Birgt Pfefferteich den Zauberring?
Ist’s Binenwalde?« – nein, o nein,
Wohin du kommst, da wird es sein,
An jeder Stelle gleichen Reiz
Erschließt dir die Ruppiner Schweiz.
»An jeder Stelle gleichen Reiz«, aber doch mit der einen Einschränkung, daß wir uns in der Helvetia propria dieser Gegenden halten und von dem westlichen Ufer des Rhin und seiner Seenkette nicht auf das östliche hinübertreten. Tuen wir diesen verhängnisvollen Schritt (wie wir es vorhaben) nichtsdestoweniger, so sind wir aus unserer eigentlichen Schweiz heraus und wandeln nur noch an ihrer Grenze hin. Mit andern Worten: das östliche Ufer hat keinen andern Reiz mehr als den, welchen es seinem Gegenüber, der Nachbarschaft des westlichen Ufers, entnimmt. Aber Ausnahmen auch hier, und unter diesen Ausnahmen zunächst das alte Dorf Molchow, das wir, über eine Schmalung des gleichnamigen Sees hinweg, zu erreichen trachten. Der Blick von der hochgewölbten Brücke aus läßt noch nicht erkennen, daß wir auf dem Punkt stehen, von dem schönheitsreichen Westufer auf das schönheitsarme Ostufer überzutreten, denn noch ist alles Poesie, und ein weißes Segel, bewegungslos, wächst wie ein tropisches Blumenblatt aus der blauen Fläche des Sees zu unsrer Linken auf, und der Himmel und sein weiß Gewölk, als wäre es eine Spiegelung des Bildes unten, steht ausgespannt darüber.
Und malerisch wie die Auffahrt, so das Dorf selbst; die einzelnen Häuser eingesponnen in Gärten und Laub. Die Studentenblume blüht, der Kürbis hängt im Gezweig, und der Hahn begrüßt uns vom Gartenzaun und kräht in den lachenden Morgen hinein. Alles hell und licht; ein rechter Gegensatz zu dem finster klingenden Molchow, das an alle Abgrunds-Schrecken des Schillerschen »Taucher« mahnt.
Alles hell und licht, nur nicht ein rondellartiger Grasplatz inmitten des Dorfs. Hier wird begraben, mehr in Unkraut als in Blumen hinein, und aus der Mitte dieses Platzes wächst ein Turm auf, der aussieht, als habe ihn ein Schilderhaus mit einer alten Windmühle gezeugt. Von beiden etwas. Und wie der Turm, so die Glocke, die in ihm hängt. »Ave Maria, gratia plena« steht an dem obern Rand, aber die Glocke selbst ist geborsten. Die Inschrift war kein Talisman. Zweihundert Jahre jetzt, da fanden die Molchower von 1670 auf einer halb Heide gewordenen, halb waldbestandenen Feldmark eine Glocke zwischen zwei Bäumen aufgehängt; das aufgeschossene Unterholz hatte sie bis dahin ihren Blicken verborgen. Das war die Glocke von Eggersdorf, das im Dreißigjährigen Kriege, wie hundert andere Dörfer, wüst geworden war und es auch geblieben ist. Die Molchower aber erbarmten sich des Findlings und bauten ihm den Glockenturm. Eine Leiter führt nun hinauf, die glücklicherweise von denen, die dort oben regelmäßig wohnen, entbehrt werden kann; denn nur Dohlen sind hier zu Haus. Wenn die geborstene Glocke gezogen wird, fliegen sie auf. Manche von ihnen – wenn es wahr ist, was man sich vom Raben- und Krähen-Alter erzählt – mag die Glocke kennen aus ihren Eggersdorfer Tagen her und Betrachtungen anstellen zwischen damals und heut.
In der Stelle, wo der Molchow-See nach Norden zu in den Zermützel-See übergeht, liegt das gleichnamige Dorf (Zermützel); ihm fahren wir jetzt zu. Ehe wir es indes erreichen, streifen wir zuvor ein altes Waldrevier, »die Stendenitz«, das unter George Wilhelm der gelegentliche Schauplatz von Wildschweinsjagden war. Noch früher hatte hier ein gleichnamiges Dorf gestanden, das, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, lediglich noch in dem Namen des Revieres fortlebte. Um 1750 aber, wo es unter dem großen König hieß »nur Menschen« und die Verwirklichung dieses Grundsatzes eine Massenkolonisation herbeiführte, die vielleicht selbst die großen Kolonisationstage unter Albrecht dem Bären in den Schatten stellte, mochte man sich auch entsinnen, daß hier zwischen dem Molchow- und Zermützel-See einst ein Dorf Stendenitz gestanden habe, und vier Büdner wurden hier hergesetzt, um an dieser wüsten, weltvergessenen Stelle eines jener Kolonistenetablissements zu bilden, wie sie damals zu Hunderten aus der Erde wuchsen.
Die Kärglichkeit unserer märkischen Scholle, – die Ausnahmen kümmern uns hier nicht – kann man nicht leicht besser studieren als an diesen »Etablissements«. Hundert Jahr Arbeit sind gewesen wie ein Tag, und eine Ziege, ein Kirschbaum und ein Streifen Roggenland, über das der alte Beherrscher dieser Gegenden, der Strandhafer, immer wieder Lust zeigt, siegreich herzufallen, diese drei sind nach wie vor der einzige Reichtum dieser und ähnlicher Ansiedelungen. Wenn ein Zweifel daran wäre, so würde ihn die Begräbnisstätte lösen, die zu dem Etablissement Stendenitz gehört.
Da wo der Wald hart an den See tritt, ist die Ecke eben dieses Waldes abgeschnitten und von vier tiefen Furchen quadratisch umzogen worden. Die vier Furchen vertreten die Stelle einer Mauer oder eines Zaunes. Auf dieser abgeschnittenen Waldecke wird nun begraben; die alten Kiefern sind stehengeblieben und tuen ihren Dienst nicht schlechter als Zypresse und Trauertanne. In hundert Jahren stirbt sich etwas zusammen, auch wenn die Lebendigen nur vier Büdnerfamilien sind; und so drängen sich denn hier die Gräber, die meisten freilich schon wieder zu bloßen Moosplätzen geworden, auf denen verspätete Erdbeeren blühen. Nur zwei Grabtafeln ragen noch auf, schräg gedrückt vom Winde und regenverwaschen, aber die Inschriften nichtdestoweniger ohne sonderliche Mühe zu entziffern.
»Hier ruht in Gott« – so lautet die eine – »der Schneidergesell Andreas Laudon, Kanonier von der 3. Garde-Compani, Attollerie-Bregarde, gest. 3. April 1836«. Daneben die Grabtafel eines siebzehnjährigen Mädchens, Namen und Datum und darunter:
Vielgeliebte, weinet nicht,
Seht mir nach und lebt in Segen,
Gott ist euer Trost und Licht, –
Ich habe mich zur Ruh geleget.
Ich habe auf manchem Begräbnisplatz gestanden, auf wenigen, die mich tiefer erschüttert hätten. Welche Mischung von groteskem Humor und erschütternder Poesie, erschütternd in ihrer Simplizität! Hier Schneidergeselle Laudon, Kanonier, und daneben:
Gott ist euer Trost und Licht,
Ich habe mich zur Ruh geleget.
Zur Ruhe hier! Die Bahre, die diesem Begräbnisplatze dient, hing an dem abgebrochenen Ast einer alten Kiefer, Bahre und Baumstamm waren gleichmäßig mit Flechten überdeckt. Unten am See gurgelte das Wasser im Röhricht, über uns in den Kronen der Bäume ging der Wind.
Alles Klage. Und doch wie schön! Zwischen den hohen Bäumen hindurch blickten wir in das Blau von See und Himmel.
Bald hinter Stendenitz liegt Zermützel. Der Weg dahin führt am gleichnamigen See vorüber, aber in einer gewissen Höhe am Abhang hin. Der Ackerstreifen zwischen Weg und See ist überall von gleicher Gestaltung, schmal, zum Ufer hin sich senkend; nur an einer Stelle hebt er sich wieder, springt etwas vor und blickt mit soviel Kühnheit, wie ihm seine Mittel erlauben, auf die Wasserfläche nieder. Ein Vorgebirge im Backofenstil; der »Totenberg«; man muß sagen, er macht seinem Namen Ehre. Die Wirkung, die er übt, wird übrigens wie es immer beim Gruseligen sein muß, durch die einfachsten Mittel erzielt. Ackerfurchen in beinahe peinlich gewissenhafter Ausnutzung des Bodens durchziehen das ganze Terrain; nur den »Totenberg« meiden sie und umkreisen ihn, wie Parallelen eine belagerte und gefürchtete Festung. Eine dieser Linien, vielleicht von einem dörfischen Freigeiste gezogen, rührt schon an den Zauberkreis des Hügels, und tiefer eingeschnitten als die andern, erkennt man deutlich, wie der innere Kampf zwischen Trotz und Furcht die Hand des Pflügers an dieser Stelle energischer führte, als an jeder andern; aber man erkennt auch, daß ihm das Gefühl kam: nun ist es genug! Ausgegraben darf hier werden, nicht geackert. Eine alte Kiefer hält Wacht; so weit ihre Nadeln fallen, ist verbotener Grund. Schädel liegt da an Schädel, natürlich aus der »Schwedenzeit«. Wo das Dunkel beginnt, fangen Torstenson und Wrangel an. Was dem steckenbleibenden Schauspieler die Tabaksdose ist, das ist der steckenbleibenden Forschung unserer Dorfhistoriker die Schwedenzeit; wenigstens in der Grafschaft Ruppin.
Vom »Totenberg« bis zum Dorf Zermützel sind nur noch wenige hundert Schritt. Es liegt entzückend, den Blick auf zwei Wasserflächen und eine mächtige Waldkulisse gerichtet, die die Landschaft nach Westen hin begrenzt.
Unser Weg ging nordwärts geradeaus, um am Abhange hin auf immer gleichem Terrain zunächst eine Waldecke, dann um diese herum die östliche Buchtung einer dritten Wasserfläche, des Tornow-Sees, zu erreichen. Wo Wald und See sich treffen, steht ein weißes Haus, – ein »Etablissement«, wie im vorigen Jahrhundert der offizielle Ausdruck war, – halb noch von Kiefern und jungen Birken, halb von Obstbäumen überschattet. Ein Büdner wohnt darin, der seiner Arbeit nachgeht; aber aus alten Zeiten heißt dies Etablissement der »Teerofen«.
Jetzt liegt es friedlich da und glücklich, als strecke der segenspendende Herbst ihm beide Hände entgegen, denn der Apfelbaum streift die Fenster, während ein Birnbaum, wie müde vom Tragen, seine schweren Malvasier-Birnen auf das Dach des Hauses legt. Friedlich Bild; aber ich entsinne mich eines anderen Tages hier.
Es war im Januar; alles, was einen Pelz und eine Büchse hatte, war auf den Beinen, und seit Tagesgrauen knallte es im Wald und an den drei Seen hin, am Tornow-, Molchow- und Zermützel-See. Um zehn Uhr war Frühstück angesagt; Rendezvous am »Teerofen«. Ich darf wohl sagen, es fehlte keiner. Da waren die Förster und Oberförster: Berger von Alt-Ruppin, Conrad von Rottstiel, Kuse von Pfefferteich, dazu der ganze Adel von diesseit und jenseit des Ruppiner Sees, Offiziere der Garnison und die städtischen Nimrods, die an Billard und Kegelspiel nicht genug haben, und denen nicht wohl ist, wenn sie nicht unter den Zacken eines Sechzehnenders schlafen.
Das Frühstück war kalte Küche, aber desto heißer war der Grog. Über dem Herdfeuer hing ein Kessel, der brodelte und dampfte, und die Büdnersleute gingen auf und ab, um, wo Begehr danach war, mit ihrem kochenden Wasser auszuhelfen. Der Mischung besserer Teil floß aus den eigenen Flaschen. Pelze, Grog und Tabak schufen, noch ehe eine halbe Stunde um war, eine wunderliche Luft, und auf der dicken Wolke saß die Göttin der Jagdanekdote und orakelte in die Versammlung hinein. Nein, sie orakelte nicht, – ihren klassischen Aussprüchen fehlte jedes Dunkel.
Die Büdnersleute waren so ernst. Wie kam das nur? Sonst bei jeder Derbheit, die laut wurde, stimmte ihre Heiterkeit in den allgemeinen Jubel mit ein; heute ging kein Lächeln über ihre Züge. Endlich trat ich an die Alte heran, als sie eben wieder ein Scheit in das Feuer schob, und fragte leise: »Wo ist Hannah?« Sie schüttelte den Kopf; dann sich besinnend, nahm sie mich rasch bei der Hand, führte mich durch eine niedere Tür in den Hinterflur und öffnete eine Kammer, die gerade hinter dem Zimmer lag, in dem die Jäger ihren Imbiß nahmen. Einen Augenblick sah ich nichts, denn die Kammer empfing all ihr Licht von einer zweihandbreiten Öffnung her, durch die eben jetzt, vom Wind getrieben, der Schnee in kleinen Flocken hineinstiebte. Ich suchte mich zurechtzufinden. Die Frau war mittlerweile an ein Strohlager getreten, das ich jetzt rechts, unterhalb des Fensters, erkannte, und schlug ein Laken zurück, welches über das Strohlager ausgebreitet war. Da lag Hannah, die Augen geschlossen, in keinem andern Schmuck als dem ihres langen Haares. Dann deckte die Alte das Laken wieder über und schlich aus der Kammer. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Totenstille; daneben der Lärm; und der Schnee trieb heftiger durch das Fenster und schüttete, noch vor der Zeit, einen Hügel neben der Toten auf.
In zehn Minuten war unter den Gästen alles verändert. Einer hatte geplaudert. »Warum hielt er nicht den Mund?« brummten alle. »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« – »Ich fahre nach Haus.« – »Ich bleibe.« So ging es hin und her. »Von Toten träumen bringt Glück«, getrösteten sich die meisten, ohne Rücksicht darauf, daß hier keiner geträumt hatte, und eine Stunde später knallte es wieder an den drei Seen hin. Aber das Bild Hannahs stand zwischen dem Schuß und dem Wild. Kein Hirsch mehr wurde getroffen. Oberförster Berger stieß mit dem Fuß an den Stecher seiner Büchse, die Kugel pfiff ihm am Ohre vorbei, und das Feuer sengte seinen Bart. Es war eine »wehvolle Jagd«, wie es in alten Balladen heißt.
In der Nordostecke der Grafschaft liegt die Menzer Forst, 24000 Morgen groß, und in ihr der sagenumwobene »Große Stechlin«. Hier waltet ein Leben, das weit abweicht von dem Tun und Treiben im mittleren und südlichen Teile der Grafschaft; der Pflug ist hier zur Ruhe gestellt, auch der Spaten, der den Torf gräbt; nur das Fischernetz und die Angel sind an dieser Stelle zu Haus, und die Büchse knallt tagaus, tagein durch den Wald. Hundert Jahre haben hier wenig geändert; alles blieb, wie es die Tage des großen Königs sahen, nur eines wurde anders: der Schmuggler fehlt, der hier sonst ins Mecklenburgische hinüber sein Wesen trieb. Denn die Menzer Forst trifft nicht nur hart an die Strelitzische Grenze, die Forst setzt sich auch jenseits derselben fort, und ein von abgefallenem Laub halb überdeckter Graben ist alles, was die Territorien scheidet. Nicht viel besser, wie jene ideelle Linie der Längs- und Breitengrade, über die der Reisende hingleitet ohne Ahnung davon.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts oder ein wenig früher oder später wurde die Frage rege: »Was machen wir mit diesem Forst?« Hochstämmig ragten die Kiefern auf, aber der Ertrag, den diese herrlichen Holzbestände abwarfen, war so gering, daß er kaum die Kosten der Unterhaltung und Verwaltung deckte. Hirsche und Wildschweine in Fülle, aber viele Meilen in der Runde kein Haus und keine Küche, dem mit dem einen oder andern gedient gewesen wäre. »Was machen wir mit diesem Forst?« so hieß es wieder. Kohlenmeiler, Teeröfen wurden angelegt, fast von Viertelmeile zu Viertelmeile; aber wenig war damit geholfen: Kohle und Teer hatten keinen Preis. Die nächste, nachhaltige Aushülfe schien die Errichtung von Glashütten zu bieten, hatte man doch das Material dazu unter den Händen. Die Kiefern lieferten die Feuerung, das Laubholz gab die Pottasche, und der quarzene Sand war ja der Grund, auf dem die ganze Waldherrlichkeit ruhte. Also Glashütten! Es entstanden ihrer verschiedene, in Dagow, in Globsow, in Stechlin; ein Feuerschein lag bei Nacht und eine Rauchsäule bei Tage über dem Walde; aber auch die Glashütten vermochten nichts, der Wald brachte es nur spärlich auf seine Kosten.
Da erging Anfrage von Berlin her an die Menzer Oberförsterei: wie lange der Forst aushalten werde, wenn Berlin anfange, aus ihm zu brennen und zu heizen? Die Oberförsterei antwortete mit Stolz: »Die Menzer Forst hält alles aus«. Das war ein schönes Wort, aber doch schöner, als sich mit der Wirklichkeit vertrug. Das sollte bald erkannt werden. Die betreffende Forstinspektion wurde beim Wort genommen, und siehe da, ehe dreißig Jahre um waren, war die ganze Menzer Forst durch die Berliner Schornsteine geflogen. Was Teeröfen und Glashütten in alle Ewigkeit hinein nicht vermocht hätten, das hatte die Konsumtionskraft einer großen Stadt in weniger als einem Menschenalter geleistet. Hülfe war gekommen, die Menzer Forst hatteunverbürgte Wort Friedrichs des GroßenLinumer Torfperiodetabula rasaneuKienenKriege à outrance