Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Übersetzung aus dem Französischen von Hanna Klimesch
ISBN 978-3-492-97821-7
La Cheminante, 2016
Published by arrangement with Agence littéraire Astier-Pécher
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: U1 berlin / Patrizia Di Stefano
Covermotiv: © Franzi / shutterstock und Viktorija Reuta / shutterstock
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
1
Sie ist auch vorher schon daran vorbeigekommen, ohne es jedoch zu sehen.
Ohne es sehen zu wollen, um genau zu sein.
Sicherlich wegen des Schleiers, den sie trägt und durch den sie sich von den anderen unterscheidet. Am nächsten Tag ist sie noch einmal daran vorbeigegangen, und plötzlich vollzog sich eine erstaunliche Wandlung. Sie spürte, dass sie Sehnsucht danach empfand.
Die Sehnsucht ist für sie eine in Vergessenheit geratene Sache. Tage, Monate, Jahre des vollkommenen Schweigens haben sie unter sich begraben. Eine lächerliche Sehnsucht, dessen ist sie sich durchaus bewusst. Ihre Existenz ist eine Schande, weil sie in nichts Ehrbarem wurzelt.
Doch wie soll man unterscheiden, was ehrbar ist und was nicht?
Mit dreiunddreißig Jahren spürt sie Verlangen, ja zum allerersten Mal, wird ihr klar. Sie würde es tatsächlich so ausdrücken: Sie hat Lust auf dieses rote Kleid.
Es ist nicht nur Sehnsucht.
Und nicht nur das Kleid.
Aber allein die Tatsache, dass es rot ist, ist schon schlimm genug.
Schließlich fürchtet sie, verrückt geworden zu sein, und läuft nach Hause, in Sicherheit.
2
An diesem Abend kommt der Ehemann spät nach Hause, doch das Abendessen ist fertig. Und wartet auf ihn. Wie sie.
Ihre kleine Tochter ist schon im Bett.
Der Abend ist angespannt ruhig. Als ob der Himmel nach dem Sturm, wie flüchtig er auch gewesen sein mochte, nicht mehr zu seinem unbewegten Gesichtsausdruck zurückfinden würde.
Unbewegt und schweigend isst auch der Ehemann sein Abendessen, während er dem krächzenden Fernseher zuhört. Die kleine Tochter schläft nebenan. Und sie selbst macht kein Geräusch. Nichts und niemand macht mehr ein Geräusch.
Das Schweigen kommt ihr wie ein Beweis vor, und die junge Frau möchte ihn nicht wegwischen oder relativieren.
Der Beweis ist da.
Alles ist aufgeräumt an diesem Abend, der sich dem Ende zuneigt, und kein Wort deutet auf das Geschehene hin. Denn es ist sehr wohl etwas geschehen: Das ruhige Gesicht der jungen Frau trägt Spuren der Sehnsucht. Eine flüchtige Erinnerung, die im Traum der Nacht wachsen wird.
Doch erst einmal legt sich die junge Frau neben ihren Ehemann, der bereits schläft.
3
Beim Aufwachen ist die Sehnsucht noch immer da.
Gemeinsam mit der Nacht gehen nur die schlechten Träume und die schlechten Leidenschaften. Das waren die Worte ihrer Großmutter.
Die Sehnsucht nach einem roten Kleid ist eine schreckliche Sünde, wenn man von klein auf weiß, dass man auf die Welt gekommen ist, um ein schwarzes Kleid zu tragen, ein langes Kleid, das den ganzen Körper bedeckt, das Schwarz der Haare, ja selbst das Schwarz der Augen und was es auszudrücken vermag. Sich in schwarze Dunkelheit zu hüllen bedeutet, geschützt zu sein, geschützt vor dem Verlangen der Männer. Denn diese haben das Recht, Verlangen zu empfinden.
Was die Männer machen oder gerne machen würden, ist immer legitim.
Es ist die Aufgabe der Frauen, die Männer vor den Frauen zu schützen. Sie kennt die große Sünde der Frauen. Von wem und auf welchem Weg sie davon erfahren hat, ist einerlei – sie ist sich sicher, es schon immer gewusst zu haben, seit Menschengedenken, seit Anbeginn der Zeit. Wichtig ist lediglich zu wissen, dass es immer schon die große Sünde der Frau gewesen ist, den Mann zu verführen.
Deshalb muss man Frauen wie sie bis in alle Ewigkeit an ihre Schuld erinnern.
Indem man sie als Frau auslöscht, alles auslöscht, was das Verlangen des männlichen Geschlechts zusätzlich anfachen könnte. Denn das Böse ist und kann nur der Geruch des Weiblichen sein, betonten unablässig diejenigen, von denen sie umgeben war, damals, als die junge Frau noch ein kleines Mädchen war und bei ihrer Großmutter lebte.
4