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In Brüssel laufen die Fäden zusammen – und ein Schwein durch die Straßen.

Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie soll das Image der EU-Kommission aufpolieren. Aber wie? Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die Idee nimmt Gestalt an – die Gestalt eines Gespensts aus der Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. David de Vriend dämmert in einem Altenheim gegenüber dem Brüsseler Friedhof seinem Tod entgegen. Als Kind ist er von einem Deportationszug gesprungen, der seine Eltern in den Tod führte. Nun soll er bezeugen, was er im Begriff ist zu vergessen. Auch Kommissar Brunfaut steht vor einer schwierigen Aufgabe. Er muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen; »zu den Akten legen« wäre zu viel gesagt, denn die sind unauffindbar. Und Alois Erhart, Emeritus für Volkswirtschaft, soll in einem Think-Tank der Kommission vor den Denkbeauftragten aller Länder Worte sprechen, die seine letzten sein könnten.

Und was macht Brüssel? Es sucht einen Namen – für das Schwein, das durch die Straßen läuft. Und David de Vriend bekommt ein Begräbnis, das stillschweigend zum Begräbnis einer ganzen Epoche wird: der Epoche der Scham.

 

ROBERT MENASSE, geboren 1954 in Wien, lebt dort als Romancier und Essayist.

 

ZULETZT ERSCHIENEN:

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Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas

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Robert Menasse

Die Hauptstadt

Roman

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Erstausgabe, 2017.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung eines Motivs von Fotolia

eISBN 978-3-518-73582-4

www.suhrkamp.de

 

 





»Rêver, c'est le bonheur;
attendre, c'est la vie.«


Victor Hugo

Prolog

 





Da läuft ein Schwein! David de Vriend sah es, als er ein Fenster des Wohnzimmers öffnete, um noch ein letztes Mal den Blick über den Platz schweifen zu lassen, bevor er diese Wohnung für immer verließ. Er war kein sentimentaler Mensch. Er hatte sechzig Jahre hier gewohnt, sechzig Jahre lang auf diesen Platz geschaut, und jetzt schloss er damit ab. Das war alles. Das war sein Lieblingssatz – wann immer er etwas erzählen, berichten, bezeugen sollte, sagte er zwei oder drei Sätze und dann: »Das war alles.« Dieser Satz war für ihn die einzig legitime Zusammenfassung von jedem Moment oder Abschnitt seines Lebens. Die Umzugsfirma hatte die paar Habseligkeiten abgeholt, die er an die neue Adresse mitnahm. Habseligkeiten – ein merkwürdiges Wort, das aber keine Wirkung auf ihn hatte. Dann sind die Männer von der Entrümpelungsfirma gekommen, um alles Übrige wegzuschaffen, nicht nur was nicht niet- und nagelfest war, sondern auch die Nieten und Nägel, sie rissen heraus, zerlegten, transportierten ab, bis die Wohnung »besenrein« war, wie man das nannte. De Vriend hatte sich einen Kaffee gemacht, solange der Herd noch da war und seine Espressomaschine da stand, den Männern zugeschaut, darauf achtend, ihnen nicht im Weg zu stehen, noch lange hatte er die leere Kaffeetasse in der Hand gehalten, sie schließlich in einen Müllsack fallen lassen. Dann waren die Männer fort, die Wohnung leer. Besenrein. Das war alles. Noch ein letzter Blick aus dem Fenster. Es gab da unten nichts, was er nicht kannte, und nun musste er ausziehen, weil eine andere Zeit gekommen war – und jetzt sah er … tatsächlich: Da unten war ein Schwein! Mitten in Brüssel, in Sainte-Catherine. Es musste von der Rue de la Braie gekommen sein, lief den Bauzaun vor dem Haus entlang, de Vriend beugte sich aus dem Fenster und sah, wie das Schwein nun rechts an der Ecke zur Rue du Vieux Marché aux Grains, einigen Passanten ausweichend, beinahe vor ein Taxi lief.

Kai-Uwe Frigge, von der Notbremsung nach vorn geworfen, fiel in den Sitz zurück. Er verzog das Gesicht. Er kam zu spät. Er war genervt. Was war jetzt wieder los? Er war nicht wirklich zu spät, es war nur so, dass er bei einem Treffen immer Wert darauf legte, zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit da zu sein, vor allem an Regentagen, um sich auf der Toilette noch schnell wieder in Ordnung zu bringen, das regennasse Haar, die beschlagene Brille, bevor die Person kam, mit der er verabredet war –

Ein Schwein! Haben Sie das gesehen, Monsieur?, rief der Taxifahrer. Springt mir fast vor den Wagen! Er beugte sich weit über das Lenkrad: Da! Da! Sehen Sie es?

Jetzt sah es Kai-Uwe Frigge. Er wischte mit dem Handrücken über die Scheibe, das Schwein lief seitlich weg, schmutzig rosa glänzte der nasse Leib des Tiers im Licht der Laternen.

Wir sind da, Monsieur! Näher kann ich nicht ranfahren. Also so was! Läuft mir ein Schwein fast in den Wagen! Schwein gehabt, kann ich da nur sagen!

Fenia Xenopoulou saß im Restaurant Menelas am ersten Tisch neben dem großen Fenster mit Blick über den Platz. Sie ärgerte sich, dass sie viel zu früh gekommen war. Das war nicht souverän, wenn sie schon wartend dasaß, wenn er kam. Sie war nervös. Sie hatte befürchtet, dass es wegen des Regens einen Stau geben würde, sie hatte zu viel Wegzeit einkalkuliert. Nun saß sie bereits beim zweiten Ouzo. Der Kellner umschwirrte sie wie eine lästige Wespe. Sie starrte das Glas an und befahl sich, es nicht anzurühren. Der Kellner brachte eine Karaffe mit frischem Wasser. Dann brachte er einen kleinen Teller mit Oliven – und sagte: Ein Schwein!

Wie bitte? Fenia blickte auf, sah, dass der Kellner gebannt auf den Platz hinausschaute, und nun sah sie es: Das Schwein lief auf das Restaurant zu, in einem lächerlichen Galopp, diese kurzen vor und zurück schwingenden Beinchen unter dem runden schweren Körper. Sie dachte zuerst, das sei ein Hund, eines von diesen abstoßenden Biestern, die von Witwen gemästet werden, aber – nein, es war tatsächlich ein Schwein! Fast wie aus einem Bilderbuch, sie sah den Rüssel, die Ohren als Linien, als Konturen, so zeichnet man für Kinder ein Schwein, aber dieses schien aus einem Horrorkinderbuch entsprungen. Es war kein Wildschwein, es war ein verdrecktes, aber eindeutig rosa Hausschwein, das etwas Irres hatte, etwas Bedrohliches. Am Fenster lief das Regenwasser herunter, verschwommen sah Fenia Xenopoulou, wie das Schwein plötzlich vor einigen Passanten abbremste, die Beinchen durchgestreckt, es rutschte, warf sich zur Seite, knickte ein, gewann wieder Boden und galoppierte zurück, nun in Richtung Hotel Atlas. In diesem Moment verließ Ryszard Oswiecki das Hotel. Schon beim Verlassen des Lifts, während er das Hotelfoyer durchquerte, hatte er sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf gezogen, nun trat er hinaus in den Regen, eilig, aber nicht zu schnell, er wollte nicht auffallen. Der Regen war ein Glück: Kapuze, eiliger Schritt, das war unter diesen Gegebenheiten völlig normal und unauffällig. Niemand sollte später aussagen können, er habe einen Mann flüchten sehen, etwa so alt, schätzungsweise so groß, und die Farbe der Jacke – natürlich, die wisse er auch noch … Rasch wandte er sich nach rechts, da hörte er aufgeregte Rufe, einen Schrei und ein seltsam quietschendes Keuchen. Er hielt kurz inne, schaute zurück. Jetzt bemerkte er das Schwein. Er konnte nicht glauben, was er sah. Da stand ein Schwein zwischen zwei dieser schmiedeeisernen Pfosten, die den Vorplatz des Hotels säumten, es stand da mit gesenktem Kopf, in der Haltung eines Stiers, bevor er zum Angriff übergeht, es hatte etwas Lächerliches, zugleich doch Bedrohliches. Es war völlig rätselhaft: Woher kam dieses Schwein, wieso stand es da? Ryszard Oswiecki hatte den Eindruck, dass alles Leben auf diesem Platz, zumindest soweit er ihn nun überblickte, erstarrt und eingefroren war, die kleinen Augen des Tiers reflektierten schimmernd das Neonlicht der Hotelfassade – da begann Ryszard Oswiecki zu laufen! Er lief nach rechts weg, blickte nochmals zurück, das Schwein riss schnaufend den Schädel hoch, machte ein paar kleine Schritte rückwärts, drehte sich um und rannte quer über den Platz, hinüber zu der Baumreihe vor dem Flämischen Kulturzentrum De Markten. Die Passanten, die die Szene beobachtet hatten, sahen dem Schwein nach und nicht dem Mann mit der Kapuze – und jetzt sah Martin Susman das Tier. Er wohnte in dem Haus neben dem Hotel Atlas, öffnete just in diesem Moment das Fenster, um zu lüften, und traute seinen Augen nicht: Das sah aus wie ein Schwein! Er hatte gerade über sein Leben nachgedacht, über die Zufälle, die dazu geführt hatten, dass er, ein Kind österreichischer Bauern, nun in Brüssel lebte und arbeitete, er war in einer Stimmung, in der ihm alles verrückt und fremd erschien, aber ein frei laufendes Schwein da unten auf dem Platz, das war allzu verrückt, das konnte nur ein Streich seiner Phantasie sein, eine Projektion seiner Erinnerungen! Er schaute, aber er sah das Schwein nicht mehr.

Das Schwein lief auf die Kirche Sainte-Catherine zu, querte die Rue Sainte-Catherine, hielt sich links, den Touristen ausweichend, die aus der Kirche kamen, lief an der Kirche vorbei zum Quai aux Briques, die Touristen lachten, sie hielten wohl das gestresste, fast schon kollabierende Tier für Folklore, für irgendein lokales Phänomen. Manche würden später im Reiseführer suchen, ob es dazu eine Erklärung gab. Werden nicht im spanischen Pamplona an irgendeinem Feiertag Stiere durch die Straßen der Stadt getrieben? Vielleicht macht man das in Brüssel mit Schweinen? Wenn man das Unbegreifliche dort erlebt, wo man gar nicht erwartet, alles zu verstehen – wie heiter ist dann das Leben.

In diesem Moment bog Gouda Mustafa um die Ecke und stieß fast mit dem Schwein zusammen. Fast? Hatte es ihn nicht doch berührt, sein Bein gestreift? Ein Schwein? Gouda Mustafa sprang in Panik zur Seite, verlor das Gleichgewicht und fiel. Nun lag er in einer Pfütze, wälzte sich herum, was die Sache noch schlimmer machte, aber es war nicht der Dreck der Gosse, es war die Berührung, wenn es denn überhaupt eine gewesen war, mit dem unreinen Tier, durch die er sich beschmutzt fühlte.

Da sah er eine Hand, die sich zu ihm hinunterstreckte, er sah das Gesicht eines älteren Herrn, ein trauriges, besorgtes Gesicht, regennass, der alte Mann schien zu weinen. Das war Professor Alois Erhart. Gouda Mustafa verstand nicht, was er sagte, er verstand nur das Wort »okay«.

Okay! Okay!, sagte Gouda Mustafa.

Professor Erhart redete weiter, auf Englisch, er sagte, dass auch er heute schon gestürzt sei, aber er war so konfus, dass er »failed« sagte statt »fell«. Gouda Mustafa verstand ihn nicht, sagte noch einmal: Okay!

Da kam schon das Blaulicht. Die Rettung. Polizei. Der ganze Platz rotierte, flackerte, zuckte im Blaulicht. Die Einsatzfahrzeuge rasten heulend zum Hotel Atlas. Der Himmel über Brüssel tat seine Schuldigkeit: Es regnete. Jetzt schien es blau blitzende Tropfen zu regnen. Dazu nun ein starker Windstoß – der manchem Passanten den Regenschirm hochriss und umstülpte. 

Gouda Mustafa nahm die Hand von Professor Erhart, ließ sich aufhelfen. Sein Vater hatte ihn vor Europa gewarnt.