Juridismus
Konturen
einer kritischen Theorie
des Rechts
Suhrkamp
Einleitung: Entsetzlich rechtschaffen
I. Juridismus – eine Annäherung mit Hegel
1. »Äußerlichkeit des Einsseins«. Juridismus als Trennung
1.1 Die Sozialität menschlicher Subjektivität
1.2 Die Dissoziationseffekte des abstrakten Rechts
1.3 Was heißt Versöhnung? Hegel’sche Therapieempfehlungen
2. »Hassende Strenge der Pflichtgemäßheit«. Gesetzeskritik und Antisemitismus im Geist des Christentums
2.1 Leere, Formalität, Imperativität: Das Judentum als Manifestation eines kantischen Juridismus
2.2 Liebe, Vergebung, Versöhnung: Das frühe Christentum als Manifestation der Hegel’schen Sittlichkeit
2.3 Entsetzlich liebevoll: Das Scheitern der christlichen Juridismuskritik
3. Erpresste Versöhnung (Kritik der Juridismuskritik)
3.1 »Then must the Jew be merciful«. Christliche Juridismuskritik in Shakespeares Der Kaufmann von Venedig
3.2 »I’m arrogant because I forgive people?« Pathologien der Vergebung in Lars von Triers Dogville
3.3 »Kriminelle Verwegenheit«. Juridismuskritik als politische Paralysierung in E. L. Doctorows Ragtime
3.4 Wie ist eine kritische Theorie des Rechts (noch) möglich?
4. »Prosa des Lebens«: Der römische Geist und das Prinzip der Rechtspersonalität in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte
4.1 Integration durch Entzweiung. Die Neufassung der Sozialität als Sittlichkeit im Naturrechtsaufsatz
4.2 Abstraktheit, Privatheit, Universalismus:
Rom als Gründungsstätte der Rechtssubjektivität
4.3 Rechtspersonalität als abstrakte Freiheit und konkrete Unfreiheit
4.4 Der Zusammenhang von Atomismus und Despotismus
5. »Dogmatismus« und »Langeweile«: Das kommunikative Defizit der Rechtssubjektivität in der Phänomenologie des Geistes
5.1 Der Stoizismus des Rechtssubjekts
5.2 Der Skeptizismus des Rechtssubjekts
5.3 Ironien der rechtlichen Subjektivierung
6. Zwischenfazit: Hegels Depotenzierung des Rechts und der Rechtskritik
II. Genealogische Radikalisierungen:
Marx und Nietzsche
7. »Isolierte, auf sich zurückgezogene Monaden«. Marx’ politische Kritik der Absonderung
7.1 Das Trennende des Rechts
7.2 Das Zusammenführende des Kommunismus
8. »Bleiernes Missbehagen« und »stolzes Wissen«. Nietzsches Genealogie der unterwerfend-unterworfenen Rechtssubjektivität
8.1 Noch einmal: Rom als Gründungsstätte der Rechtssubjektivität
8.2 Das unterwerfend-unterworfene Rechtssubjekt
8.3 Die Doppelgestalt der juridischen Affektstruktur
8.4 Die Transgression der Rechtssubjektivität
9. Zwischenfazit: Genealogische Repotenzierung der Rechtskritik – und des Rechts
III. Postjuridische Politik und Ethik
10. »Juristische Weltanschauung«. Vom Dilemma der Verrechtlichung zum Paradox der Rechte bei Habermas, Honneth und Brown
10.1 Verrechtlichung als Kolonisierung (Habermas)
10.2 Verrechtlichung als Verabsolutierung (Honneth)
10.3 Verrechtlichung als politisches Paradox (Brown)
11. »Grunzen, wühlen, grinsen«. Gilles Deleuze’ postjuridische Ethik
11.1 Das Gericht gegen das Leben
11.2 Illegale Existenzweisen
11.3 Das Recht des Lebens
12. Zwischenfazit: Exodus – Politik und Ethik jenseits des Rechts
IV. Postjuridisches Recht
13. Das »menschliche Dasein« des Gesetzes
13.1 Was heißt »menschlich«?
13.2 Das Recht der Sozialität
13.3 Die Sozialität des Rechts I:
Die Vermittlung des Willens
13.4 Die Sozialität des Rechts II:
Die Gemeinschaft der Interpret*innen
13.5 Die Sozialität des Rechts III:
Recht als anlockende Einladung
14. Zwischenfazit: »Menschliches« Recht schaffen
15. Schluss: Anders als entsetzlich
Siglen
Nachweise
Danksagung
Dem Recht wird in modernen Gesellschaften die Erfüllung einer ganzen Reihe von Funktionen zugemutet. Es ist das wichtigste politische Steuerungsinstrument, weil der Staat auf die Entwicklung der Gesellschaft vor allem mittels legislativer Maßnahmen Einfluss nehmen kann; es soll soziale Konflikte befrieden und Ordnung stiften, indem es einen verbindlichen Rahmen für den zivilen Verkehr bereitstellt; es soll Leib und Leben der Gesellschaftsmitglieder schützen, indem es allgemeine Sicherheit garantiert.[1] Laut der Definition von Kant, welche die prägnanteste Bestimmung des Rechts und zugleich seine entschiedenste Rechtfertigung liefert, ist das Recht »der Inbegriff der Bedingungen […], unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«.[2] Als Inbegriff der Bedingungen der Vereinigung von individueller und allgemeiner Freiheit wird dem Recht eine Bedeutung zugemessen, die heute kein anderes gesellschaftliches Interaktionsmedium für sich beanspruchen kann.
Der Anspruch des Rechts, die Rolle des wichtigsten gesellschaftlichen Integrationsmediums zu übernehmen, ist jedoch von jeher nicht unumstritten. Bei Alltagskonflikten wird versucht, den 10Rechtsweg möglichst zu vermeiden, was für ein intuitives Misstrauen gegenüber den Schlichtungskräften des Rechts spricht. Philosophische Traktate und politische Pamphlete attackieren die Ungerechtigkeit und Gewaltförmigkeit etablierter Rechtsverhältnisse. Das Theater, die Literatur, der Film und die Kunst erzählen von der Klaustrophobie bürokratischer Welten, der Ausweglosigkeit juristischer Logiken oder der Unbarmherzigkeit legaler Exekution und mobilisieren dagegen die Schönheit der Freundschaft, die Verbindlichkeit der Liebe oder die Intensität der Überschreitung. Eine der wichtigsten Figuren aus dem umfangreichen Korpus literarischer Rechtskritiken stellt der Pferdehändler Michael Kohlhaas dar, der Mitte des 16. Jahrhunderts am Ufer der Havel in Brandenburg gelebt haben soll. Der titelgebende Kohlhaas wird im ersten Satz der Novelle (1810) von Heinrich von Kleist als »einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit« vorgestellt.[3] Die Geschichte führt diesen eingangs behaupteten Zusammenhang von Rechtschaffenheit und Entsetzlichkeit vor, indem sie zeigt, dass das Einklagen eines Rechts zur Ausbildung problematischer Charaktereigenschaften führen kann. Anfangs ist Kohlhaas selbst Opfer einer Unrechtstat: Ein Junker setzt zwei von Kohlhaas gepfändete Pferde zur Feldarbeit ein und magert sie vollkommen ab, weigert sich dann aber, sie wieder in ihren urspünglichen Zustand zurückzuversetzen. Kohlhaas versucht zunächst mehrfach, seinen Anspruch bei ordentlichen Gerichten und mittels Bittschriften an den Kurfürsten geltend zu machen, was aber aufgrund des Einflusses des beklagten Junkers erfolglos bleibt. Kohlhaas wird daraufhin in der Verfolgung seiner Rechtsansprüche immer fanatischer, er versteift sich so sehr auf seine Forderung nach Schadensersatz, dass alle anderen Angelegenheiten völlig aus dem Blick geraten und ihm sein Leben schließlich völlig entgleitet. Er ist nicht mehr in der Lage, den begrenzten Wert des Streitgegenstandes zu erkennen, und setzt alles daran, den Junker zur Verantwortung zu ziehen. Kohlhaas führt einen Rachefeldzug gegen ihn, überfällt seine Burg, tötet zahlreiche Bewohner*innen und beginnt schließlich, ganze Dörfer niederzubrennen. Er überschreitet damit freilich selbst die Grenzen der geltenden Rechtsordnung, aber die Ursache des Unglücks, so heißt es im Text, liegt gerade nicht in Kohlhaas’ verbrecherischer, 11sondern in seiner juridischen Subjektivität: »Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.«[4] Wenn man dieser Diagnose Glauben schenken darf, so kann der problematische Aspekt von Kohlhaas’ Handeln nicht selbst als Verletzung rechtlicher oder quasirechtlicher Ansprüche verstanden werden. Vielmehr scheint er gerade in einem Zuviel an Recht, an einem zu starken Gerechtigkeitsbegehren zu liegen: Die Entsetzlichkeit liegt ja nicht im Rechtsbruch, sondern tatsächlich in der Rechtschaffenheit. Mit was für Maßstäben lässt sich aber dann Kohlhaas’ Handeln beurteilen? Um was für eine Art von »Entsetzlichkeit« handelt es sich? Und was hieße es, wenn sich herausstellte, dass das Recht die zahlreichen ihm zugeschriebenen Funktionen nur um den Preis der systematischen Erzeugung solcher »Entsetzlichkeiten« erfüllen kann?
Das vorliegende Buch versteht sich als Beitrag zu einer sozialphilosophischen Rechtskritik. Mit sozialphilosophisch ist eine Kritikstrategie gemeint, die gesellschaftliche Verhältnisse dahingehend untersucht und beurteilt, inwiefern sie ein gutes oder gelingendes menschliches Leben als Zusammenleben erlauben. Die Sozialphilosophie wird also nicht nur als eine philosophische Subdisziplin verstanden, die sich dem Sozialen als einem thematischen Gegenstandsbereich widmet, sondern auch als eine spezifische Perspektive, die ganz bestimmte normative Kriterien zugrunde legt.[5] Diese Kriterien erschöpfen sich dabei nicht, wie es etwa in der politischen Philosophie der Fall ist, in der Gerechtigkeit oder Stabilität von Institutionen, sondern beinhalten einen wenigstens minimalen ethischen Perfektionismus. Das Recht sozialphilosophisch zu kritisieren bedeutet demnach nicht nur, auf die Ungerechtigkeit des Rechts, also auf eine Kluft zwischen Recht und Moral oder 12zwischen positivem Recht und Naturrecht hinzuweisen, sondern es bedeutet, das Recht als strukturelles Hindernis einer gelungenen Sozialität zu exponieren. Eine sozialphilosophische Rechtskritik erscheint insofern besonders gut geeignet, den von Kohlhaas verkörperten Zusammenhang von Rechtschaffenheit und Entsetzlichkeit zu dechiffrieren, als sie die Kritik nicht selbst wieder im Namen einer andersgearteten oder höherstufigen Rechtschaffenheit vorbringen muss, sondern das »Rechtgefühl«, das Kohlhaas »zum Räuber und Mörder« macht, als sozial defizitäre Form der Subjektivität begreifen kann.
Das Defizit der Rechtssubjektivität wird hier allerdings keineswegs nur in Extremfällen wie dem spektakulären Fanatismus von Michael Kohlhaas vermutet, sondern als charakteristisches Merkmal von Subjektivität in durch die europäische Rechtskultur geprägten Gesellschaften überhaupt verstanden. Diese Analyse beruht zunächst auf der Annahme, dass das Recht als ein wesentliches gesellschaftliches Interaktionsmedium entscheidenden Einfluss auf die Subjektkonstitution hat: Die Rechtsform affiziert ganz grundsätzlich die Weise, wie wir uns zu uns selbst, zur Welt und zu anderen verhalten. Kohlhaas ist insofern nur das paradigmatische Beispiel der in westlichen Gesellschaften hegemonialen Subjektivität: Wir alle sind »entsetzlich rechtschaffen«. »Entsetzlich« ist an diesem Subjektivierungsregime, dass in ihm genau diejenigen Werte untergraben werden, zu deren Schutz das Recht eigentlich eingerichtet ist: Das europäische Recht, so soll gezeigt werden, fabriziert eine (Inter-)Subjektivität, die den Individuen eine sinnvolle Ausübung der ihnen rechtlich garantierten Freiheit gerade verstellt.
Damit ist der Maßstab der Kritik zugleich als ein immanenter Maßstab definiert: Anstatt abstrakte Kriterien eines guten oder gelingenden Zusammenlebens von außen festzulegen, konfrontiert eine immanente Kritik die Realität sozialer Praktiken mit den in ihnen selbst verkörperten normativen Prinzipien. Das »gute Leben« hat keine transhistorische oder transkulturelle Essenz, die von rechtsförmig verfassten Gesellschaften einfach verfehlt würde. Vielmehr hat das Recht in seinen historisch spezifischen Erscheinungsformen selbst an der Formierung von Vorstellungen über und Ansprüchen an die Qualität menschlicher Sozialität mitgewirkt, die es zugleich immer auch untergräbt. Kleists Michael Kohlhaas zeigt, dass das Recht, obwohl es Raub und Mord eigentlich ausschlie13ßen soll, Raub und Mord gerade hervorrufen kann – etwas nüchterner ließe sich die Grundthese dieser Arbeit so pointieren, dass das moderne Recht, obwohl es Freiheit und Gleichheit realisieren soll, Freiheit und Gleichheit behindert. Dies tut es auf eine nur sozialphilosophisch zu erfassende Weise, nämlich indem es an der Formung affektiv-habitueller Charakterdispositionen teilhat, welche die Fähigkeit zur Teilnahme am sozialen Leben untergraben, derer es zur Realisierung jener Grundwerte der Moderne bedarf. Genauer gesagt soll die Entsetzlichkeit des Rechts im Folgenden vor allem in vier Hinsichten erläutert werden: als ideologische Täuschung, psychologische Deformation, Verlust kommunikativer Qualität und als politische Paralysierung. Als Sammelbezeichnung für diese Phänomene wird hier der Begriff des Juridismus vorgeschlagen.
Diese sozialphilosophische Herangehensweise möchte andere zeitgenössische kritische Rechtstheorien aufgreifen, ergänzen, spezifizieren und zum Teil korrigieren. Die größten Überschneidungen gibt es mit Ansätzen, die vor allem in Anschluss an Michel Foucault die disziplinierenden und exkludierenden Effekte moderner rechtlicher Subjektivierung untersuchen. Vor allem feministische[6] und post- bzw. dekoloniale[7] Rechtskritiken haben darauf verwiesen, dass das moderne Recht, das der Liberalismus als universell gültige Bedingung einer gerechten Gesellschaftsordnung auszugeben versucht, in Wirklichkeit eine ganz bestimmte Subjektivität (nämlich diejenige weißer, europäischer und männlicher Besitzindividualisten) konstituiert und privilegiert und so die alltäglichen Erfahrungen und tradierten Wissensbestände subalterner Subjektivitäten systematisch ausschließen oder abwerten muss. Diese Erkenntnis soll hier dahingehend zugespitzt werden, dass diese rechtlichen Ausschließungs- und Privilegierungsmechanismen auch und vor allem die hegemoniale Subjektivität zu einer sozial defizitären Existenzweise 14degenerieren lassen. Eine Untersuchung der verschiedenen Verwerfungen und Verdrängungen, welche für die hegemoniale Subjektformation konstitutiv sind, kann dabei zum Teil auch auf psychoanalytische Rechtstheorien[8] zurückgreifen. Spezifische Facetten der Defizität von Rechtssubjektivität bestehen zum einen im privatisierenden und somit entpolitisierenden Effekt der Inanspruchnahme von Rechten, wie sie eine Vielzahl politischer Rechtskritiken insbesondere anhand der Menschenrechte an den Tag gebracht hat,[9] zum anderen in der Degradierung von Denken und Urteilen auf bloßes Richten, wie ontologische Rechtsphilosophien im Anschluss an Martin Heidegger monieren.[10] Auch Positionen, die ausgehend von der Rechtsgewaltkritik Walter Benjamins auf die grundlegende Angewiesenheit des Rechts auf staatliche Gewalt verweisen,[11] sind für den vorliegenden Kontext bedeutsam, weil sie eine Erklärung anbieten, auf welche Weise das Recht seine Referenz im Leben (und somit seinen zentralen Beitrag für die Subjektkonstitution) sichert. Allerdings soll wohlgemerkt das Defizit der Rechtssubjektivität nicht (oder zumindest nicht nur) darin bestehen, passiv einem repressiven Gewaltregime ausgesetzt zu sein. Vielmehr erzeugt das Recht, und zwar ebenfalls durch seine Zwangsmittel, auch egozentrische, triumphalistische, rigidisierte oder eskalative Charakterdispositionen. Marxistische Rechtstheorien schließlich, die sowohl in der Rechtsformanalyse von Eugen Paschukanis als auch in den Rechtstheorien 15der frühen Frankfurter Schule um Franz Neumann und Otto Kirchheimer noch immer wichtige Stichwortgeber finden können, sind teilweise geeignet, der Analyse rechtlicher Subjektivierung einen gesellschaftstheoretischen Rahmen zu geben, weil sie den funktionalen Zusammenhang des bürgerlichen Rechts mit der kapitalistischen Produktionsweise entlarven.[12] Diesen Ansätzen kann hier allerdings nur so weit gefolgt werden, als sie das Recht nicht zu einem bloßen Überbauphänomen oder zur Widerspiegelung der ökonomischen »Basis« herabstufen. Stattdessen soll das Recht als konstitutives Element der bürgerlichen Gesellschaft in den Blick geraten.
Methodisch steht diese Arbeit in Nachbarschaft zu neueren sozialphilosophischen Studien aus dem Umfeld der kritischen Theorie. Inzwischen scheint sich hier größtenteils die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass nicht alle gesellschaftlichen Probleme und Fehlentwicklungen mit dem normativen Vokabular des Rechts und der Gerechtigkeit erfasst werden können. Phänomene wie Entfremdung, Verdinglichung, Beschleunigung, Kommodifizierung, Erfahrungsarmut, Konsumismus oder Erschöpfung sind Resultate von gesellschaftlichen Strukturen, die auch auf Ungerechtigkeit und Ungleichheit beruhen, aber es geht etwas Wesentliches verloren, wenn man diese Defizite nur als Läsionen von rechtlichen oder quasirechtlichen Ansprüchen begreift. Zur Beschreibung dieser Phänomene hat sich inzwischen der Begriff der »sozialen Pathologie« eingebürgert. Damit ist nicht nur die Relevanz der Sozialphilosophie als jener Subdisziplin bekräftigt, welche sich mit dem sozialen Gewebe als der sittlichen Substanz einer Gesellschaft beschäftigt, sondern bereits grundlegend das Paradigma des politischen Liberalismus in Frage gestellt, das systematisch die intersubjektiven Bedingungen deartikuliert, welche die Individuen überhaupt erst in die Lage versetzen, die Rolle autonomer Subjekte einzunehmen.[13] Ein wesentlicher Unterschied liegt allerdings darin, 16dass diese kritischen Theorien das Recht und die liberalen Rechtstheorien zumeist als zwar unzureichend, aber dennoch berechtigt ansehen; falsch am Recht und an den liberalen Rechtstheorien sei demnach nur ihr Absolutheitsanspruch. In diesem Buch wird hingegen die radikalere These vertreten, dass das Recht, zumindest in der im Westen hegemonialen Form, nicht nur ein unzureichendes Gegenmittel, sondern vielmehr selbst eine Ursache für diejenigen Missstände ist, die von der neueren kritischen Theorie als soziale Pathologien bezeichnet werden. Adaptierte man diese begriffliche Anleihe aus dem Bereich der Medizin, so ließe sich hier von Pathologien des Juridismus sprechen.
Eine grundlegende Schwierigkeit für eine solche Diagnose besteht allerdings darin, dass sie sich innerhalb einer Geistesgeschichte situiert sieht, in der die Pathologisierung des Juridismus regelmäßig als Instrument der Herrschaftssicherung und Exklusion eingesetzt wurde. Denn nicht nur das Recht, auch die Rechtskritik gehört von jeher zum philosophisch-politischen Diskurs Europas. Der paradigmatische Fall ist hier die christliche Stigmatisierung des Judentums als »Gesetzesreligion«. Schon der paulinischen Rechtfertigungslehre zufolge sind diejenigen, die an der buchstäblichen Bedeutung der Gesetze festhalten, »verstockt« und somit unfähig, von Gott erlöst zu werden. Diese im Namen der Liebe formulierte Gesetzeskritik hat in der Geschichte Europas immer wieder auch eine gewalttätige Form angenommen, etwa wenn sie zur Rechtfertigung antisemitischer Pogrome und Vertreibungen Verwendung fand: Nicht zu Unrecht meinte Nietzsche, man solle Handschuhe anziehen, wenn man das Neue Testament anfasst. Auch andere marginalisierte Gruppen sind Opfer der integrierenden, bagatellisierenden oder beschlagnahmenden Effekte der Rechtskritik geworden. Dieser Effekt lässt sich schon an Michael Kohlhaas demonstrieren: Wenn sein Rechtgefühl ihn auch zum Räuber und Mörder machte, so kann die Kritik dieses Gefühls zur Komplizin des ursprünglichen Unrechts werden, indem sie die Empörung des Opfers beschwichtigt.
Die Erkenntnis von der mindestens potentiellen Komplizenschaft der Rechtskritik mit Herrschaft und Exklusion macht das Projekt einer kritischen Theorie des Rechts zu einer prekären Aufgabe. Sie konsultiert einen Textkorpus, der in ganz handfeste politische Interessen verwickelt ist, und sie operiert mit Begriff17lichkeiten, die von jenen Interessen kontaminiert sind. Hegel, Marx und Nietzsche: An jedem einzelnen dieser Rechtskritiker lassen sich nicht nur Motiv und Gestalt einer sozialphilosophischen Rechtskritik rekonstruieren, sondern auch die spezifisch mit dieser Kritikstrategie zusammenhängenden Irrwege, Verlockungen und Gefahren identifizieren. Eine Theorie ist nur dann kritisch, wenn sie sich über ihre eigene Eingebettetheit in die Geschichte Rechenschaft ablegt; eine Theorie ist also dann kritisch, wenn sie zugleich Gesellschafts- wie Selbstkritik ist. Dieser Anforderung will die vorliegende Studie dadurch nachkommen, dass sie neben dem systematischen auch einen philosophiegeschichtlichen Anspruch verfolgt. Der philosophiegeschichtliche Anspruch besteht zum einen darin, die verschiedenen Stränge der Juridismuskritik, die sich in höchst disparaten philosophischen Positionen auffinden lassen, als solche herauszupräparieren und miteinander in einen Dialog zu bringen. Der Ertrag dieser vergleichenden Lektüre soll dann dabei helfen, überhaupt erst die begrifflichen Konturen für die systematische Analyse und Kritik rechtlicher Subjektivierung bereitzustellen und das Phänomen des Juridismus als problematisierungsbedürftiges Strukturmerkmal rechtsförmig verfasster Gesellschaften ins Bewusstsein zu rücken. Zugleich dient die Auseinandersetzung mit der Ideengeschichte zum anderen auch dazu, die in den einzelnen Theorien gespeicherten geschichtlich-politischen Frontstellungen zu markieren, um hieraus historisch informierte philosophische Schlussfolgerungen zur Vermeidung spezifischer Fallstricke ziehen zu können.
Eine politische Konsequenz, die aus der potentiellen Komplizenschaft der Rechtskritik mit dem Unrecht gezogen werden kann, besteht zum Beispiel in der Anerkennung der Bedeutung des Rechts gerade für die Subjektivität traditionell exkludierter oder unterdrückter Gruppen: Zum einen ermöglicht erst die Zuerkennung des Status als gleiches Rechtssubjekt den Einzelnen die Entwicklung von Selbstachtung und Würde, zum anderen bleibt auch der retrospektive Bezug auf die eigene Emanzipationsgeschichte als eines Kampfs um Anerkennung gleicher Rechte eine wichtige Quelle des Bewusstseins politischer Handlungsfähigkeit. Die Radikalität der Kritik rechtlicher Subjektivierung impliziert damit nicht die Forderung der Abschaffung oder Überwindung von Recht, wie sie in einigen Varianten marxistischer oder anarchistischer Gesell18schaftskritik erhoben wird. Vielmehr wird hier der Vorschlag einer radikalen Transformation von Recht unterbreitet. Diese Transformation zielt auf die Ermöglichung anderer als »entsetzlicher« Subjektivitäten. Dafür ist es folgerichtig notwendig, ein Recht zu denken, das statt ideologisch aufklärerisch, statt psychologisch deformierend affektiv attraktiv, statt antikommunikativ kommunikativ und statt politisch paralysierend ermächtigend ist.
Rechtsphilosophisch gesehen bedeutet eine derartige Transformation des Rechts allerdings die Preisgabe eines Elementes, das für das Recht gemeinhin für konstitutiv gehalten wird: seine ethische Enthaltsamkeit. Die kategoriale Trennung von Recht und dem guten Leben lässt sich nach der Analyse und Kritik rechtlicher Subjektivierung nicht länger durchhalten: Wenn das Recht ein gutes Leben und Zusammenleben nicht nur nicht garantiert, sondern sogar systematisch untergräbt, und wenn zugleich die Überwindung oder Abschaffung von Recht ebenfalls keine besseren Bedingungen für die Entwicklung einer gelingenden (Inter-)Subjektivität bietet, so folgt daraus die Notwendigkeit der Etablierung eines ethisch gehaltvollen Rechts, einer Eu-Nomie. Die einzig verfügbare Eigenschaft des Menschen, die den Maßstab einer solchen ethischen Transformation des Rechts abgeben könnte, ohne paternalistisch oder essentialistisch zu werden, wird hier mit Hegel in der unhintergehbaren Sozialität menschlicher Subjektivität gesehen: Ein Recht, welches ein gutes oder gelingendes menschliches Leben als Zusammenleben ermöglicht, ist ein soziales Recht. Ironischerweise ist es gerade diejenige Rechtstradition, die vom philosophischen Diskurs Europas von jeher verächtlich oder unsichtbar gemacht wurde, die für eine soziale Transformation des Rechts die wichtigsten Orientierungspunkte bereitstellt, nämlich die jüdische.
Dieses Buch ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil befragt naheliegenderweise einen Philosophen, in dessen Werk die Analyse und Kritik des Juridismus bereits eine tragende Rolle spielt, nämlich Hegel. Hegels praktische Philosophie ist in besonderer Weise geeignet, die Spezifik einer sozialphilosophischen Kritikstrategie zu explizieren, weil sein Verständnis sozialer Freiheit und sein Begriff von Sittlichkeit ihn mit einem robusten Instrumentarium für die Diagnose »sozialer Pathologien« ausstatten. Hegels Ansatz liefert dieser Arbeit daher den kategorialen Rahmen, der dann in einem zweiten Schritt erweitert, ausbuchstabiert und korrigiert wird. Das 19erste Kapitel greift dem Folgenden voraus, indem es Hegels generellen Ansatz überblickshaft skizziert und dessen Besonderheit als Kritik des Juridismus als Trennung vorstellt. Dabei werden zunächst Hegels Annahmen zur konstitutiven Sozialität menschlicher Subjektivität in Erinnerung gerufen, um dann die unterschiedlichen Dimensionen der Trennungsfunktion des Rechts darzustellen und schließlich Hegels Therapieempfehlungen zu erläutern (1.). Die darauffolgenden Kapitel erklären diese allgemeine Kritikstrategie näher, indem sie jeweils bestimmte Aspekte mit Bezug auf einzelne seiner Werke spezifizieren. In seinem frühen Fragment Der Geist des Christentums glaubte Hegel noch, das Judentum als Lebensform identifizieren zu können, das alle problematischen Aspekte des Juridismus in sich vereint, weshalb den Juden auch völlig zu Recht ein unglückliches Schicksal widerfährt. Dagegen setzt er hier noch auf ganz undialektische Weise frontal die Lebensform der frühchristlichen Gemeinden, deren Mitglieder allein durch die gegenseitige innere Anteilnahme der Liebe verbunden gewesen sein sollen. Hegels Opposition kollabiert jedoch, weil er selbst die ihrerseits gewaltförmigen Effekte einer auf Liebe basierenden sozialen Integration implizit eingesteht (2.). Diese Erkenntnis, dass Rechtskritik genauso gewaltförmig sein kann wie das Recht, wird im dritten Kapitel anhand einer Lektüre verschiedener fiktionaler Bearbeitungen des Konflikts von Juridismus und Juridismuskritik weiter untersucht und dahingehend zugespitzt, dass das Recht gerade für traditionell ausgeschlossene oder unterdrückte Gruppen einen wesentlichen Katalysator für Emanzipation darstellen kann. Daraus wird schon an dieser Stelle der Schluss gezogen, die Perspektive auf eine Gesellschaft ohne Recht aufzugeben (3.). Hegel selbst hat in seinen späteren Schriften das Recht in ein wohlgeordnetes System verschiedener Sittlichkeitssphären integrieren wollen. Als »pathologisch« erscheint nunmehr nur noch die Verabsolutierung des Rechts auf Kosten anderer Sittlichkeitssphären. Als emblematisches Beispiel einer durch und durch verrechtlichten Gesellschaft gilt ihm etwa in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte das römische Imperium, das er auch heranzieht, um die problematischen Momente der Rechtssubjektivität besonders plastisch darzustellen (4.). Ein besonderer Aspekt ist dabei der Verlust kommunikativer Qualität, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes auf dem Wege einer Analogisierung der Rechtssubjektivität 20mit den antiken Philosophien Skeptizismus und Stoizismus aufzeigen will (5.). Das Zwischenfazit des ersten Teils resümiert Hegel so, dass er zwar einen begrifflichen Rahmen für die Analyse des Juridismus bereitgestellt hat, aber durch seine Umstellung auf das Modell einer ganzheitlichen Sittlichkeit, in der unterschiedliche Potenzen die ihnen jeweils zugewiesene Rolle übernehmen sollen, die Ursachen für das Defizit der Rechtssubjektivität gar nicht mehr im Recht selbst suchen kann, sondern als rechtsvorgängig naturalisieren muss. Mit seiner vorschnellen Konzentration auf die Komplementierung des Rechts verspielt Hegel die Perspektive auf dessen Transformation (6.).
Der zweite Teil präsentiert mit Marx und Nietzsche zwei genealogische Radikalisierungen, die einzelne, auch schon von Hegel aufgezeigte Aspekte rechtlicher Subjektivierung aufgreifen. Sie werden als genealogisch bezeichnet, weil sie den konkreten geschichtlichen Hintergründen und Funktionsweisen spezifischer Subjektivierungsregime nachspüren. Radikaler sind sie, weil sie nicht nur andere sittliche Potenzen als Gegengewichte zum Recht etablieren wollen, sondern juridisch konstituierte Subjektformen grundsätzlich zurückweisen. Mit Marx lässt sich die dissoziierende Funktion des Rechts zum einen als Effekt einer politisch gewollten polizeilichen Zerschlagung von Assoziationen, zum anderen als psychologische Deformation in Form der Verbreitung »egoistischer« Einstellungen begreifen (7.). Nietzsche entschlüsselt die Doppelgestalt der Rechtssubjektivität als zugleich unterworfene und unterwerfende; eine Janusköpfigkeit, die sich in der affektiv-habituellen Disposition des Rechtssubjekts einerseits als schlechtes Gewissen und Schuldgefühl, andererseits als stolzer Triumphalismus niederschlägt (8.). Während Marx die freiheitstheoretischen Prämissen Hegels übernimmt, eröffnet Nietzsche mit seiner an einer transgressiven Ästhetik der Existenz orientierten Rechtskritik eine neue juridismuskritische Traditionslinie, die zu ihnen in einer grundsätzlichen Spannung steht. Den beiden Radikalisierungen gelingt es jedenfalls, die konkreten Effekte rechtlicher Subjektivierungen grundlegender und präziser in den Blick zu bekommen als Hegel. Allerdings geben sie keine Auskünfte über entweder eine Verbesserung des Rechtssystems oder über die Möglichkeit eines freien und gerechten Zusammenlebens ohne Recht. So kann das Zwischenfazit zum zweiten Teil lauten, dass beide Radikalisierun21gen zwar den von Hegel angesprochenen Kritikpunkten eine überzeugendere Fassung gegeben haben, aber ebenfalls keine Aussicht auf eine Transformation des Rechts bieten (9.).
Der dritte Teil behandelt mögliche Konsequenzen der sozialphilosophischen Rechtskritik für Politik und Ethik. Dabei werden die beiden von Marx und Nietzsche gesponnenen Fäden wieder aufgenommen: Während die politischen Implikationen der Juridismuskritik eher von Theoretiker*innen ausbuchstabiert werden, die sich im weiteren Sinne in der Tradition des (Post-)Marxismus verorten lassen, wird als Stichwortgeber für die ethischen Konsequenzen mit Gilles Deleuze ein Denker der nietzscheanischen Tradition konsultiert. Die politische Konsequenz betrifft zunächst den Politikbegriff selbst: Politisches Handeln darf nicht länger auf Handeln reduziert werden, das sich in eine juridische Währung konvertieren lässt und sich an den Staat adressiert, sondern es umfasst auch all solche Aktionsformen, die auf der Ebene der Zivilgesellschaft, der Ökonomie oder der Intimbeziehungen direkt ansetzen. Das Verhältnis solcher subinstitutioneller Politikformen zum Recht stellt sich dabei als paradox heraus: Einerseits impliziert die Entwicklung autonomer Sittlichkeitspraktiken eine Zurückdrängung des Rechts als dominantes Interaktionsmedium und die Schaffung von Möglichkeiten, auf die Inanspruchnahme von Rechten zu verzichten, andererseits erweisen sich Rechtsforderungen auch auf der Ebene der »Lebenswelt« oft als unverzichtbarer Motor emanzipatorischer Anerkennungskämpfe. Diese Paradoxie der Rechte führt dazu, dass die Akteur*innen ihre politische Aufmerksamkeit aufspreizen müssen: Sie müssen zum einen soziale Praktiken zu etablieren versuchen, die dem Rechtscode gegenüber indifferent oder inkommensurabel sind, zum anderen müssen sie eben doch auch das Recht fordern und somit seine Transformation betreiben. Diese Problematik wird anhand der Verrechtlichung der Bereiche Intimbeziehungen und Erziehung diskutiert. Als Beschreibung dieses Widerspruchs werden zunächst Jürgen Habermas’ Theorie der Kolonisierung der Lebenswelt und Axel Honneths Theorie der Verabsolutierung rechtlicher Freiheit erwogen, um schließlich jedoch für Wendy Browns feministische Theorie der Paradoxie der Rechte als angemessenste Formulierung der Problemlage zu votieren (10.). Die ethische Konsequenz besteht darin, auf der Ebene der Subjektivität und Intersubjektivität selbst anzusetzen und sich um die Einübung postju22ridischer Existenzweisen zu bemühen. Postjuridisch sind solche Existenzweisen, die sich der Programmierung durch das Recht zu widersetzen versuchen, das heißt Existenzweisen, die sich gegen die juridischen Zumutungen von Triumphalismus, Verschuldung und Apathie sträuben und alternative Haltungen, Einstellungen, Mentalitäten und Affektstrukturen zu erarbeiten versuchen. Elemente einer solchen postjuridischen Ethik finden sich prononciert in den Schriften von Gilles Deleuze, der vor allem schöpfungs- und somit lebenshemmende Effekte juridisch verstandener Urteilspraktiken beklagt. Eine postjuridische Subjektivität lässt Deleuze demgegenüber unter dem Begriff des Minoritärwerdens firmieren (11.). Das Zwischenfazit des dritten Teils versucht das Zusammenspiel der politischen und ethischen Relativierungen des Rechts unter dem Stichwort des Exodus zu pointieren. Als Auszug aus dem Juridismus repräsentieren sie eine spezifische Transformationsstrategie, die sich von anderen, traditionell juridischen Strategien wie der Reform und der Revolution abgrenzen lässt (12.).
Der vierte Teil bemüht sich schließlich darum, dem Marx’schen Programm eines »menschlichen« Gesetzes folgend, Grundlinien eines Verständnisses von Recht zu umreißen, das andere als entsetzliche Subjektivierungspraktiken tolerieren und initiieren kann und das daher als postjuridisches Recht zu bezeichnen ist. Die Konturen eines postjuridischen oder »menschlichen« Gesetzes werden dabei aus der Annahme über die Unhintergehbarkeit der Sozialität als Bedingung menschlicher Freiheit und menschlichen Wohlergehens gewonnen. Vielversprechende Anknüpfungs- und Inspirationspunkte für eine Transformation der Rechtsform bietet die jüdische Rechtstradition. Das jüdische Recht greift nämlich auf ganz andere Subjektivierungspraktiken zurück als das bürgerliche: Weil es die Gesellschaft als eine horizontale »Gemeinschaft der Interpret*innen« begreift, versteht es sich als ein Recht, das nicht den Charakter eines Imperativs, sondern den einer Lehre hat, die sich nur konfliktuell entfalten lässt. Es ist daher weder auf Triumphalismus noch auf Unterwürfigkeit, sondern auf die Sensibilität guter Leser*innen angewiesen (13.). Das letzte Zwischenfazit kann so resümieren, dass das »menschliche« Gesetz hoffen darf, die emanzipatorischen Leistungen von Rechtlichkeit, die im dritten Kapitel herausgearbeitet wurden, beizubehalten, dabei jedoch die negativen Effekte des bisherigen bürgerlichen Rechts zu überwin23den (14.). Abschließend werden knapp einige Risiken einer solchen Transformation angedeutet, die vor allem in der essentiellen Angewiesenheit des postjuridischen Rechts auf diskursive Verfahren vermutet werden. Um diesen Gefahren zu begegnen, wird für eine am Modell des Exodus gewonnene experimentelle Transformationsstrategie plädiert (15.).
Der Begriff des Juridismus geht von einer problematischen Dominanz des Rechts in den sozialen Beziehungen innerhalb der europäisch geprägten Kulturtraditionen aus. Aber was genau ist problematisch am Recht bzw. an der Rolle, die es im Leben der Menschen spielt? Eine sozialphilosophische Analyse und Kritik des Rechts grenzt sich von zwei möglichen alternativen Kritikstrategien ab: Das Recht soll weder (nur) rechtlich noch (nur) moralisch kritisiert werden. Die rechtliche Kritikstrategie, die etwa das positive Recht mit dem Naturrecht konfrontiert, stellt sich bereits auf den ersten Blick als nicht radikal genug heraus: Weil sie ein bestimmtes Recht nur im Namen eines anderen Rechts kritisiert, kann sie nicht die potentiellen Defizite in den Blick bekommen, die schon in der Rechtlichkeit als solcher liegen. Die moralische Kritikstrategie, die die juridischen Gesetze mit moralischen Anforderungen konfrontiert, ist nicht sozial genug: Sie neigt dazu, die praktische Vernunft in den Verantwortungsbereich einzelner Individuen zu stellen, und ist daher blind für die Beschädigungen, die das Recht dem Gewebe sozialer Praktiken einer Gesellschaft zufügt.
Um die Konturen einer sozialphilosophischen Kritik des Rechts herauszuarbeiten, empfiehlt es sich, zunächst denjenigen Philosophen zu befragen, der wie kein anderer die Programmatik der modernen Sozialphilosophie geprägt hat, nämlich Hegel. Nicht nur finden sich bei ihm die bis heute anspruchsvollsten Reflexionen auf die spezifischen methodologischen und normativen Prämissen eines sozialphilosophischen Vorgehens, hier zeigen sich auch schon die Negativeffekte des europäischen Rechts auf besonders prägnante Weise. Obwohl es überraschend scheinen mag, den preußischen Staatsphilosophen als einen Kritiker des Rechts zu lesen, lassen sich also gerade in Hegels Werk bereits die zentralen Motive einer sozialphilosophischen Juridismuskritik herausarbeiten, die auch für spätere Autor*innen noch paradigmatisch bleiben werden.
Die Besonderheit von Hegels Ansatz besteht darin, die Defizität des Juridismus als eine Form von Trennung zu erläutern. Eine übermäßige Versteifung auf das (eigene) Recht, wie man sie etwa 28bei Kohlhaas beobachten kann, ist für Hegel deshalb problematisch, weil ein Mensch sich so von anderen Menschen absondert, entzweit oder entfremdet. Wenn der Nachweis gelingt, dass das Recht solche Versteifungen regelmäßig und strukturell produziert, dann bedeutet das, dass es nicht oder zumindest nicht nur als Medium der gesellschaftlichen Koordination und Kooperation dient, sondern immer auch gegenläufige Tendenzen mitfabriziert. Hegel hat dieser These von dem strukturell dissoziativen Charakter des Rechts im Laufe seines Lebens unterschiedliche Fassungen gegeben, die jeweils drei Elemente beinhalten: Erstens eine Annahme über die originär soziale Natur des Menschen (ein Argument, warum es überhaupt problematisch ist, wenn Menschen voneinander getrennt sind), zweitens eine Analyse des Dissoziationseffekts rechtlicher Subjektivierung (ein Argument, wie das Recht die Trennung des Menschen vom Menschen zustande bringt) und drittens eine Therapieempfehlung für den Juridismus (ein Vorschlag, wie die Trennung neutralisiert werden kann).
Begriffe wie Absonderung, Entzweiung oder Entfremdung machen nur Sinn, wenn sie sich auf Positionen beziehen, die miteinander »eigentlich« in einer (ursprünglichen oder sinnvollen) Beziehung der Nichtgetrenntheit stehen.[1]29[2]