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Still halten

Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2017

www.verbrecherei.de

Einbandgrafik: Christian Walter
Buchsatz und Ebook: Christian Walter

Der Verlag dankt Insa Hansen-Goos, Martin Neusiedl,
Janina Reichmann und Annica Strehlow
.

ISBN Print: 978-3-95732-273-9

ISBN Epub: 978-3-95732-293-7

ISBN Mobipocket: 978-3-95732-294-4

Jovana Reisinger
STILL HALTEN
Roman
Verlagssignet

April zwei
Der Schmerz zieht langsam und leise ins Hirn, bis er schneidend und prägnant ist. Dann ist er richtig da! Der Schmerz hält einen dann fest und will einen gar nicht mehr loslassen. Da kann man an alles Mögliche denken, aber der lässt sich nicht austricksen. Selbst die extravagantesten Überlegungen sind nutzlos. Ich stütze mich auf dem Tisch ab, bevor ich mich auf dem Fußboden wälze. Meine Finger bohren sich in meinen Schädel, dass ich glaube, mir gerade sämtliche Haare vom Kopf reißen zu müssen. Schmerz mit Schmerz behandeln. Meine Ellbogen kippen weg, und ich falle vornüber auf die Tischplatte, auf die ich meinen Kopf jetzt presse. Erst als ich mich auf das Surren der Heizungsrohre konzentriere, komme ich wieder ins Gleichgewicht. Wer aus dem Gleichgewicht fällt, sollte sich schleunigst ein neues suchen. Mit dem Surren der Heizungsrohre kann man den Schmerz einkreisen. Das Surren muss nur immer lauter sein, als der Schmerz selbst. Dann wird er kleiner. Kleiner als ein Stecknadelkopf einer Stecknadel. Die flache Hand schlägt auf die Tischplatte ein. Die andere fühlt sich schon taub an.
Wenn man eine Krankheit im Kopf hat, glaubt einem das keiner, da kann man das auch gleich bleiben lassen, das mit dem Erzählen. Geschichten erzählen sollte man nur, wenn man die Geschichten erzählen kann. Mein Körper kann die Geschichte nur erzählen, wenn er Wunden hat, denn dann spricht er für sich, ohne dass ich mich anstrengen muss. Wunden habe ich aber selten bekommen. Mir ist aber auch nichts vergönnt. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als gefühllos in das Draußen zu schauen, das ich nicht mehr kenne.
In der Wohnung bleiben, wegen des Nachdenkens und der Erholung. Das hat mir der Arzt verschrieben. Das ist mein Luxus. Das ist mein eigener Schmerz, der gehört nur mir.
Andere stürzen in diesem Fall ungünstig aus dem Fenster. Ich schaue auf eine Krankschreibung. Auf die Tablettenschachtel. Auf die Postkarten vom Mann.
Als ich versuche aufzustehen, schlage ich noch einmal mit meinem Kopf auf dem Tisch und danach auf dem Boden auf. Die Krankheiten im Inneren sind kaum noch erträglich, die Narben aber können zu einem Schlachtruf werden. Seht her, ich bin ein beschädigtes Stück, wie ein abgenutztes Haushaltsgerät liege ich auf dem Boden. Ein Gerät seit jeher ohne Sinn und Verstand und im Wert weiter gesunken! Jetzt muss ich mich anstrengen, wieder von Nutzen zu sein, bevor ich wie eine unbewohnte Frau langsam verrecke. Geistlos und unter einem Schwächeschleier. Ist das die Krönung der Schöpfung? Von der Hoffnung kann ich zumindest nichts abschöpfen. Die ist schon fast aus.
So ein Stück Mensch auf dem Küchenboden kann nirgends mehr hinhüpfen. Und nur beim Hüpfen wackelt der Busen so richtig schön. Jetzt liegt der Busen da, kaum sichtbar, so flach ist der. Aber die Person wird schon mehr. Das sieht man ihr an. Die hat an Farbe gewonnen. Irgendwo hüpfen vielleicht noch ein paar Arbeitslose oder Flüchtlinge aus einem Obergeschoss. Da brennt’s! Da brennt die Gier nach dem Fleisch gleich lichterloh! Falsches Fleisch, richtiges Fleisch, Schweinefleisch, Menschenfleisch – Haupt­sache gierig danach greifen! Hier brennt nichts. Nicht einmal die blinde Wut hat diesen Körper bisher angesteckt. Die merken doch das Fallen gar nicht. Die betrachten dann vielleicht noch einmal das Haus, aus dem sie gesprungen sind, vielleicht finden sie es doch noch schön. Dann wäre das ein gutes Ende. Der Aufprall wird hart genug.
Hier drinnen brennt nicht einmal eine Kerze. Wie ungemütlich ist es denn auf diesem Küchenboden! Wenn die Frau nicht für die Gemütlichkeit sorgt, wird sie auch von allen anderen vergessen. Wer will schon in einer Wohnung leben, die so dermaßen ungemütlich ist. Aber sauber ist sie. Da kann man vom Boden essen. Sauberkeit ist das A und O, und ich bin darin geübt. Die harte Schule der Mutter vor der großen Depression. Ich fahre mit meiner Zunge einmal über den Boden. Hm, das schmeckt nach nichts! Die Frau verlangt nach mehreren helfenden Händen, aber keine werden ihr entgegengestreckt. Arme Person. Da muss sie sich selbst aufhelfen. Wer ist denn auch so waghalsig und legt die Medikamente immer woanders hin. Das muss doch alles seine Regelmäßigkeit haben. Ohne Fleiß kein Preis. Oder vielleicht doch: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich mache die Augen zu, weil es einfacher ist, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen als an die Realität. Da klopft es an der Tür, aber ich bin zu schwach aufzustehen. Mein Name wird gerufen, aber ich kann noch gar nicht sprechen. Dann geht die Tür von selbst auf. Huch, die Füße kenne ich, die stecken in bekannten Schuhen. Das ist nicht eingebildet. Scham! Wie ich hier auf dem Boden liege, ist nicht besonders sexy. Allerdings bin ich offensichtlich nicht tot, weil der Mann mir aufhilft und mich festhält. So sind die Wochen verschlichen, und so kommen die Vermissten zurück. Der Mann wäscht die Platzwunde auf der Stirn rein. Das ist ein Augenblick, in dem gebrechliche Knochen heil werden. Der kommt ja doch immer wieder zurück. Das gefällt mir sehr gut.

Teil eins

März
Vielleicht sollten die zwei Männer in Feinrippunterhemden ein großes weißes Tuch über mein Gesicht ziehen, mich in das frische Loch auf dem Friedhof fallen lassen, sodass mein Körper und mein Schädel, von einem dumpfen, aber nicht weniger entsetz­lichen Geräusch begleitet, aufprallen. Sie sollten Erde hinterher­werfen und mich unter Blumen begraben. Vielleicht könnten ihre Kinder ordentlich der Größe nach aufgereiht danebenstehen und das eine oder andere unschuldige Kinderlied anstimmen, während ich, die in diesem Fall dann entfernte Tante oder Cousine der Mutter, beerdigt werde.
So eine Tante oder Cousine der Mutter, die man aus vagen Erzählungen kennt, aber keine Erinnerungen an gemeinsam verbrachte heiße Sommer- oder endlose Wintertage hat, beerdigt man mit immerhin einem geringen Aufwand, da sich keiner laut auszusprechen traut, die entfernte Tante oder Cousine der Mutter nicht wirklich gekannt zu haben, geschweige denn, sich nicht an sie zu erinnern. Eine solche Beerdigung also, zu der man aus Höflichkeit kommt, weil es die restliche Sippschaft auch tut, und bei der man sich aus Höflichkeit reichlich am Buffet bedient, weil das sowieso schon ein anderer entfernter, aber höflicher Verwandter bezahlt hat; eine Beerdigung, bei der man der Tante oder Cousine beinah unbekannterweise noch einen letzten Gruß ausrichtet, nachdem man schon mehrere Obstler gegen die Aufregung getrunken hat, und sich dann aber blitzschnell auf den Heimweg macht, um der Scham zu entgehen, anderen spitzfindigen Gästen der Beisetzung darüber Rede und Antwort stehen zu müssen, wie denn das Verhältnis zu der eben in der Erde Versenkten war. So eine Beerdigung wünsche ich mir jetzt.
Wunden schmerzen besonders im Winter. Narben jucken besonders, wenn es kalt ist.
So etwas muss man aushalten können. Sie sind noch jung, hat der Doktor gesagt, da wär’s doch schade drum! Dann gab er mir einen Klaps, aber nicht auf den Po, und hat mich mit einem Wisch aus der Praxis geschickt. In einem Jahr soll ich wiederkommen. In einem Jahr werde ich wieder kräftig sein. Der Doktor sagt, ich solle mir dieses eine Jahr einfach nehmen. Das Mäderl hat sich ja jetzt schon fast vernichtet! Vollkommen abgebrannt. Fast tot. Die fahle Haut. Die Augenringe. Diese Mutlosigkeit! Dass sich das Mäderl nicht geniert … All das hat der Arzt gesagt.
Jetzt bin ich beurlaubt und auch noch krankgeschrieben. Man hat mir wirksame Tabletten verschrieben – in einer Großpackung. Meine einzige Aufgabe ist es, wieder gesund zu werden. Ein Genesungsversprechen abzugeben und einzulösen. So ein Glück, denkt da ein anderer. Ein Jahr lang ganz entspannt sein. Vor allem jetzt, wo doch gleich der Frühling kommt. Der Doktor hat keinen Preis genannt. Das wird bestimmt nicht billig. Aber jetzt bin ich gespannt, ob das Innenfleisch sich erholt. Wer will schon so lang mit seinem Gehirn allein sein! Wenn man so lange nicht arbeitet, ist man dann überhaupt noch ein Mensch?
Es heißt, dass es hilft, sich auf den Boden zu werfen. So wie es damals nicht nur die beiden Schäferhunde, sondern alle Schäferhunde es taten: sich allesamt auf ein Kommando totstellten und minutenlang einfach nur ihre Schnauzerl in den Himmel streckten. So will ich gerade in den Winterhimmel schauen. So eine Starrheit, die hätte ich auch gern drauf. Die Mitglieder des Hundevereins kamen alle! In Uniform! Sie kamen alle mit ihren Schäferhunden, die einen Kreis um das Grab bildeten. Das war ein Anblick! Unvergesslich! Die Hunde saßen ruhig und artig neben ihren Herrchen, ohne zu hecheln. Die nach Abzeichen süchtigen Männer bewiesen, wie gut sie nicht nur ihre Hunde erzogen hatten, sondern auch sich selbst. Es wurde eine lange Prozedur.
Im Vereinshaus des Schäferhundevereins hängen große Porträts der Mitglieder. Bei jedem neuen Hundezugang wird ein neues Porträt der beiden, Herrchen und Hundi, geschossen und zeremoniell an die Wand gehängt. In der Zeremonie wird dann anschließend mit Waffen auf Scheiben geschossen. Sonntags gibt es dazu Weißwürstl. Erst dann dürfen die Zungen der Hunde aus den Mäulern hängen. Aber abbekommen tun sie trotzdem nichts. Das Würstl gehört dem Herrchen und niemandem sonst. Der Vati und unser Hund hängen da auch. Und wenn einer tot ist, dann wird das Bild mit einem schwarzen Band verziert. Es wird auf Scheiben geschossen. Fällt diese Prozedur auf einen Sonntag, gibt es Weißwürstl. Vati und Hundi sind beide tot.
Unzählige Geschwister vom Hundi sind gekommen, um den einzigen Vati zu beerdigen. Es standen immerhin mehr Menschen als Schäferhunde um das offene Grab.
Die Mutter ist daran zerbrochen. Selbst als nutzlos gewordenes Stück Fleisch hatte es der Vater nicht fertigbracht, wenigstens im Wind anständig zu baumeln, als sie ihn fanden. Als der Sarg in das Grab gelassen wurde, stieß dieser immer wieder am Rand an, weil das Loch zu klein war. Für die Totengräber wäre ein guter Rat teuer gewesen. Sind doch alle um sie herum gerade so dressiert. Die Prozedur wurde nicht abgebrochen, lediglich das Grab vor allen Anwesenden vergrößert, was die Hunde und die Hundebesitzer nervös machte. Der ein oder andere stieg auf den Schwanz ­seines Hundes oder drosch mit der Leine auf ihn ein, wenn er winselte. Der Mutti hat das sehr gefallen. Wer wird denn hier schon herumheulen, nur weil einer tot ist. Als der Sarg endlich in die Erde passte, bellten die Hunde auf ein Kommando und verfielen dann in ein lautes, trauriges Jaulen. Die abzeichensüchtigen Männer waren sehr stolz, den Vati, einen von ihnen, so gut verabschiedet zu haben.
Die Mutter ging nach Hause und stand einfach nicht mehr auf, blieb im Bett liegen und vergaß eine lange Zeit lang sich zu waschen. Man hat mir gesagt, dass es hilft, sich in so einem Fall auf den Boden zu werfen.
Da gibt es einen Schlag. Da haut es das Fenster auf und mir gegen den Körper. Da haut es den Rahmen mitsamt der Glasscheibe auf, und weil ich gerade in die hell erleuchteten Erdgeschossfenster schaue, schlägt der rechte Fensterflügel mir unvermittelt ins Gesicht. Die Scheibe zerbricht nicht. Der Aufprall klingt dumpf, aber weit weniger entsetzlich, als ich mir den Aufprall eines sehr schweren, toten Körpers im Grab vorstelle, und verklingt sofort mit meinem kurzen Aufschrei im um die Häuser jagenden Wind. Kein Hund jault für mich. Mein Gesicht wird erst taub, dann heiß, während mein Körper ein paar Schritte rückwärts taumelt und meine beiden Hände vorsichtig mein Gesicht abtasten, als ich mich gegen eine Straßenlaterne lehne und im tiefen Schneematsch stehe. Bravo! Die Scham schleicht mir ins Hirn und das Gefühl, bei etwas wirklich Beleidigendem erwischt worden zu sein, verdrängt den Schmerz. Ich bleibe still.
Da starrt mich die Erdgeschossfamilie längst arglos und unvermittelt an. Nur die stattlichen Schäferhunde auf den Portraits über dem Esstisch schauen in einen Himmel, wie sie es schon bei der Beerdigung meines Vaters getan haben. Selbst die sind schon lange fort. So lang ist das alles schon her. Da hat uns das Schicksal ausgetrickst und wieder zusammengeführt.
Die Familie ist lahmgelegt. Sie haben ihre Aktivitäten unterbrochen, bei denen ich sie seit siebenundzwanzig Minuten ungeniert hatte beobachten können. Ehrlicherweise habe ich zunächst die Hundeporträts erkannt, erst dann die Menschen. Sonst wäre ich an dieser Wohnung vorbeigelaufen, wie an jeder anderen auch. Schuld daran ist meine Neugier. Dass das derselbe Hundeverein ist, in dem mein Vater war, das hat mich erstaunt. Daran besteht kein Zweifel, da ich direkt auf die Schnauzen der beiden porträtierten Schäferhunde schauen kann und eindeutig das Abzeichen des Vereins erkenne. Die abzeichensüchtigen Männer hängen sich ihre Abzeichen gut sichtbar auf. Das macht vieles einfacher. Bei meinem Vater hingen die Bilder ganz genauso. Die beiden Hunde waren die artigsten im Hundeverein. Die Besten. Darauf war man besonders stolz. Sofern man nicht selbst den artigsten Hund haben wollte. Sie sind erst später verstorben. Durch ein Gift wurden die Hunde niedergestreckt und die Familie vertrieben. Aus der neiderfüllten, aber sehr schönen Gegend in die Stadt.
Das einzig störende Geräusch, das ich noch wahrnehme, ist der Moderator aus dem Fernseher. Alles andere ist verstummt. Die Erdgeschossfamilie, deren entfernte, allerdings bald darauf tote Tante oder Cousine der Mutter ich vor wenigen Minuten noch so dringend sein wollte, um einen Grund zu haben, bei ihnen läuten zu dürfen und über unsere gemeinsame Vergangenheit zu plaudern, als wäre es eine schöne gewesen, schaut mich jetzt feindselig wie interessiert an, wie es Familien aus Angst vor plötzlich eintreffenden, entfernten Verwandten oder unverwandten Fremden in diesem Land und besonders in diesem Landstrich tun, aus dem diese Erdgeschossfamilie und ich stammen. Früher stellte man sich als entfernter Verwandter vor, um sich so zumindest eine Jause zu verdienen. Nur durchs Sein. Ich bin dein, also gib mir.
Ich sehe zwei Möglichkeiten: Stummes Wegrennen oder das Bitten um ein Taschentuch und vielleicht gar um ein Glas Wasser, um das Blut, das bereits innen von der Nase in den Hals und außen von der Nase in den Mund rinnt, wegzuspülen, aber damit auch möglicherweise zugeben zu müssen, dass ich die Erdgeschossfamilie ungeniert beobachtet habe, und riskieren zu müssen, dass wir über unser aller trostloses Leben plaudern müssen.
Die Frau, die zwar genauso alt ist, aber verlebter aussieht als ich, schaut abwechselnd in alle Gesichter. Die Männer in den Unterhemden wollen nicht aufstehen, die Kinder in den Schlafanzügen wollen nicht aufstehen, die andere Frau, die gerade frisches Bier ins Zimmer getragen hat, hat sich erst einmal hingesetzt und schaut zu den beiden Männern. Dann steht die gleichaltrige Frau ruck­artig auf und kommt näher. Da hat sich’s entschieden. Ich halte den Zettel vom Arzt in meiner Manteltasche fest, als könnte ich mich damit nicht nur an meine Vergangenheit klammern, sondern mich auch gleichzeitig gegen diese schützen. Das ist wie ein Zertifikat. Der Schnee schmilzt auf der Fensterbank, so heiß kommt es aus der Stube mitsamt dem dümmlichen Kinderlachen der beiden Schlafanzugträger. Ich habe sie sofort erkannt. Selbst aus ihrem Kinderkörper ist eine anständige Frau geworden. Hier ein bisschen rundlich und da ein bisschen ungepflegt, aber es ist ja auch ein ganz banaler Tag. Kein Gefühl der Fremdheit stellt sich ein. Die Hunde im Hintergrund schauen in den Himmel, und ich schaue ihnen dabei geistesdebil zu. Man sagt, dass es hilft, sich so lange auf den Boden zu werfen, bis man nichts mehr spürt. Ich trete näher an sie heran.
Sie: Das tut mir leid. Und versucht dabei höflich zu lächeln.
Ich starre abwechselnd auf die rosigen Wangen der gleichaltrigen, aber verlebteren Frau und auf die speckigen Oberarme der Unterhemdenträger. Ein eigener Mann. Das ist freilich das Schönste für uns Frauen. Hätt’s nicht ein schönerer sein können, Lisl?
Die Kinder kichern schadenfroh, auch wenn es nicht ihre Idee gewesen war, die Fenster aufzustoßen, um der schaulustigen Fremden die Nase einzuschlagen. Mir graust vor den Schmerzen, die noch kommen werden. Der teure Fetzen, den ich mir absichtlich für den Arztbesuch angezogen habe, bringt mich jetzt in Verlegenheit. Der Doktor hat gesagt, ich solle mich schonen. Vollkommen schonungslos werde ich hier mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert. Da bekommt man Gänsehaut. Da möchte man sich gleich wieder hinsetzen. Die Frau rät mir dringend zu einem Arzt, weil mir das Blut aus dem Gesicht tropft. Wie irrsinnig, da ich doch soeben von einem komme. Mein Körper zieht sich zusammen. Im Kopf rauschen elf Jahre vorbei. Jetzt wird erst einmal das Fenster kontrolliert. Eine Störung im Erdgeschoß. Ein jeder ist plötzlich hilflos, weil eine Fremde gegen die Scheibe geknallt ist. Der wurde wohl der Vogel gestohlen.
Die frischen Wangen sind nun ganz dicht vor mir, die dazugehörigen Hände kippen meinen Kopf nach hinten. Gierige Blicke werden in meine Nasenlöcher geworfen, und zarte Finger untersuchen gekonnt die Knochen. Ich spüre das Blut hinunter rennen. Der teure Stoff hält auch nichts von mir ab. Mir bleibt nichts erspart. Sparen hätte man sich diese Begegnung können. Alte Geschichten soll man nicht aufwärmen. Dies bedauere ich mehr als den Fleck auf meinem Mantel. Was ich will, interessiert hier niemanden. Das ist wohl auch der Grund, warum ich es nicht bekomme. Wahnsinniger Durst.
Die betrunkenen Männer haben ihren Schreck und gleichzeitig ihr Interesse an mir überwunden und stoßen mit ihren Bierkrügen an, ich bin ein Trinkgrund. Der Eine streicht sich über seine Brust, der Ältere zupft sich am Bart rum, das muss der Vater der Lisl sein.
Er: Was haben Sie denn eigentlich so nah an der Scheibe gemacht, dass die Ihnen gleich so ins Gesicht sausen konnte?
Ich bleibe stumm, weil mir gerade das Blut den Mund füllt, ein glücklicher Umstand. Das bringt die Unterhemdenmänner zum Tuscheln.
Die Männer: Wir sind doch kein Schaufenster!
Der Linke: Ich bin doch kein Pupperl.
Der Rechte: Das kann schon mal passieren in so einer windigen Stadt, dass man gegen fremde Fenster rennt, just in dem Moment, in dem es aufspringt.
Er reibt sich erneut seinen Bart, während der andere ein Stück Wurst in seine dicken Finger nimmt und es sich so langsam in den Mund führt, dass man glauben möchte, hier wird ein Werbespot gedreht.
Der Linke: Ja, wissen Sie das denn nicht!
Der Moderator brüllt, weil jemand den Jackpot geknackt hat: Millionen! Millionen! Top! Top Dollar! Top Euro! Millionen über Millionen!
Der Linke: Man spricht ja nicht umsonst von der windigen Stadt und ihren windigen Bewohnern. Ich halt’s nicht mehr aus, dass ständig Leute in die Stadt kommen, ohne sich vorher über das Wetter zu informieren.
Und schmatzt, weil er sich so freut.
Der Rechte: Im Grunde haben Sie ja unser Fenster gerettet, vielleicht wär’s ja gegen die Hausmauer geschlagen und zerbrochen. Und schmatzt jetzt munter mit.
Das ist Logik. Erst jetzt fängt er an, vor Glück zu grunzen, woraufhin sich sein Gegenüber ebenfalls ein großes Stück Wurst von der Platte in den Mund schiebt und mit offenem Mund kaut, dass es ihm vereinzelt die Brocken wieder auf den Teller haut, die aber beide einfach gleich wieder hinterherschieben. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilte Wurst ist halbe Freud.
Der Linke: Ja, da sagen wir aber schönen Dank. Und lacht.
Dann heben sie synchron ihre Gläser und stoßen an, dass es nur so schwappt.
Die könnten sich doch wenigstens wie ordentliche Menschen anziehen, auch wenn sie nie gelernt haben, sich wie Menschen zu benehmen. Beide fixieren mich mit kleinen misstrauischen Augen.
Ich: Ich geh jetzt das Naserl richten.
Eifriges Nicken aller Anwesenden, obwohl meine Stimme kaum Kraft hatte.
Dann wird sich noch einmal beratschlagt. Kommt die denn niemandem bekannt vor? Muss man einer Fremden Hilfe anbieten, wenn sie sich selbstverschuldet am eigenen Besitz das Gesicht eingeschlagen hat? Jetzt ist guter Rat teuer. Aber die verschränkt schon ihre Hände vor der Brust. Das fahle Haar hängt ihr vom Schädel. Die Augenringe waren vorher schon da. Die ist doch krank. Die soll sich niederlegen.
Sie: Wohnen Sie wenigstens in der Nähe? Und schaut besorgt.
Ihre Mutter: Sie müssen schon sicher nach Hause kommen, sonst haben wir noch Schuld. Und reißt ein Taschentuch in Fetzen, um mir diese geübt in die Nasenlöcher zu schieben. Den Rest drückt sie mir in die Hand.
Die Schlafanzugträger und die Unterhemdenherren lachen. Die Mutter der Lisl gibt mir die Hand. Die Lisl hebt die Ihrige zum Abschied. Eine Entschuldigung wird gemurmelt. Fast in einem Chor.
Dann wird das Fenster geschlossen. Es wird sogar richtig gut verschlossen. Es wird auch noch mal von drinnen daran gerüttelt und gezerrt, es wird sich versichert, dass es nicht noch einmal aufspringen und jemanden erschlagen kann, und ich werde einfach vor den Glasscheiben draußen stehen gelassen. Das war’s.
Ich ziehe das Schreiben aus der Manteltasche. Da steht es eindeutig. Diese Frau braucht Ruhe. Ruckzuck ins Bett.
Der Körper kennt den Weg und bringt mich von selbst nach Hause. Wohne auch schon lange genug am selben Fleck. Ich biege in die letzte Straße nach links ein und kann das Haus, in dem ich lebe, erkennen, ohne mich zuhause zu fühlen, ohne mich sicher zu fühlen, ohne überhaupt etwas zu fühlen. Es schneit ganz leicht. Jetzt ist der Winter bald vorbei. In anderen Städten ist schon Frühling. In den Nasenlöchern je ein Zipfel vom Taschentuch, den Fleck im langen Mantel. Tapfer sein! Erst als ich vor der eigenen Wohnungstür stehe, wird es mit dem Kopf für einen kurzen Moment besser. Die letzten Minuten habe ich nur mit Gehen ohne Denken zugebracht. Ich reiße die Tuchzipfel als den recht schäbigen Beweis dafür, dass mir tatsächlich was passiert ist, aus den Löchern und werfe sie in den Mistkübel vor dem Haus. Dann steige ich die Stiegen hoch und drehe mich noch einmal um, sie sind mir noch nicht einmal gefolgt. Die haben mich wirklich nicht erkannt. Man sagt, dass es hilft, sich tot zu stellen, wenn man ein Hund ist. Aber wer gibt mir das erlösende Kommando? Und stürmen tut’s auch.
Ich ziehe mir angestrengt das Nachthemd an, das Gute, so dass man wenigstens etwas Erstklassiges zum Schlafen trägt, wenn schon sonst nichts mehr erstklassig ist. Sich für einen Mann herzurichten, ist keine Schande. Aber auch keine Berufung. Das Bett ist mir aber geklaut worden, es ist nicht mehr weich und vertraut. Der Körper zieht, als wär er unvollständig. Ich sehne mich nach einem erlösenden Fieber. Ich schaue noch einmal auf den Wisch, der Heilung verspricht. Das ist die Erklärung. Diese Frau hat etwas falsch gemacht mit ihrem Leben. Sonst wäre sie nicht in dieser Lage. Das ist die Lösung. Mir bleibt jetzt so einiges erspart. Da werden die aber schauen, jetzt ist Schonzeit. Wo ist die Karriere nun? Die hat sich davongeschlichen. Ich habe ihr ein Heim geschaffen, in meinen Körper hätte sie einziehen können. Von mir Besitz ergreifen. Und was ist jetzt damit? Einen ausgelaugten Körper hat sie mir zurückgelassen, und um den darf ich mich jetzt wieder selber kümmern. Das war eine Frauenfalle. Man hat mir doch versprochen, ich kann alles haben. Wenn ich spute: geile Karriere, geile Wohnung, geiler Mann, geiler Body. Da wurde ich prompt am Türrahmen gestoppt und zum Arzt geschickt. Hier geht’s lang, Fräulein, rauf auf den Untersuchungstisch. Klare Diagnose: Hirnversagen. Jetzt wird gutes Ausruhen teuer. Längst überfällige Erholungskur. Und die Karriere hat sich ein anderes Heim gesucht. Ich wurde getäuscht. Aber ich werde nicht jammern. Jammernde Frauen mag mein Mann nicht. So ein eigener Mann, das ist schon was Tolles für uns Frauen. Zwölf Monate Erholung. Zwölf Monate Tabletten nehmen und viel schlafen, dann wird schon alles wieder gut sein. Unsere Mütter haben uns auf eine andere Welt vorbereitet.
Ich schlafe wie auf einer harten Wirtshausbank ein. Um mich herum lachen Besoffene laut, während ich nur ein Nachthemd trage und meine Scham zu bedecken versuche. Das Dirndl, das spinnt, schreit der Vater der Lisl laut, schaut es euch an, mit dem g’schwollenen G’sicht. Jessas Maria, schreit die Mutter der Lisl, die ist ein prächtiges Luder, aber doch keine Frau. Zieht’s ihr doch wenigstens den Seidenfetzen aus! Die weiß doch gar nicht, was das ist! Immer lauter wird ihr Lachen, und ich versuche immer angestrengter, wenigstens noch meinen Busen zu verdecken. Dabei schneit es unaufhörlich ins Wirtshaus hinein. Die Bescheinigung ist doch noch so frisch und schon wird einem so elendig mitgespielt. Das hat keine Frau verdient. Mir wurde doch versprochen, dass alles gut wird zum Schluss. Das verdiente Happy End. Jetzt endlich lockermachen, hat der Doktor gesagt, wer hat hier eine Heilung bestellt? Ich. Das kommt doch erst in zwölf Monaten. Jetzt heißt es abwarten. Und es hört gar nicht auf zu schneien. Da hebt sich die Bettdecke. Der Mann ist nach Hause gekommen. Das ist ein schönes Gefühl, wenn der auch da ist. Eine unverständliche Frage, wie es mir geht. Vergebens will der Mann seinen Kopf auf meinen flachen Busen legen. Aber ich bin so klein geworden, da ist nichts mehr, was seinen Kopf halten kann. Manchmal will eine Frau auch einfach nur ihren Kopf in eine Männerbrust bohren. Das sind die wichtigen Dinge. Man gab mir ein Heilungsversprechen. Wenn ich mich richtig verhalt und folge, darf ich in einem Jahr wieder bei euch sein. Für einen Augenblick kann niemand außer mir erfahren, was es heißt, fast verschwunden zu sein. Ich würde gerne erfahren, wie es ist, wenn der Körper schnell von frischem Blut durchgespült wird. Wenn ich nun ganz brav befolge, was man mir gesagt hat, kann ich mich selbst noch einmal retten. Dann darf ich im März nächstes Jahres wieder von mir behaupten, eine gesunde Frau zu sein. Einfach nur eine Frau sein, weder schön, noch hässlich. In der Ganzheit zumindest ein Wesen sein. Einen Geist besitzen. Einen funktionierenden Körper. Darauf muss ich gefasst sein. Manchmal reicht es nicht aus, Dinge einfach nur auszuhalten. Man muss auch tapfer und stark sein. Wenn einer früh das Kämpfen verlernt hat, ist er später schneller verloren. Verlierer sind auch in dieser Gesellschaft kleine Schandfleckchen. Da streicht mir die Männerhand angenehm über den Kopf. Selbst der trostloseste Mensch fängt dann an, langsam einzuschlafen. Man hat mir versprochen, dass alles gut wird. Jetzt warte ich.
April eins
Diese Frau lebt! Die ist richtig lebendig! Die junge Frau steigt aus dem Bett und geht nichts ahnend aus dem Schlafzimmer heraus und in das Badezimmer hinein, um sich das Gesicht zu waschen. Da ist es auch schon geschehen. Wer hat ihr denn das beschert?
Mit dem linken Zeigefinger zieht sie vorsichtig das Augenlied nach oben, während sie den Kopf leicht nach hinten kippt, um besser in den Spiegel und in ihren Bluterguss im hellblauen Auge schauen zu können. Da bringt es ihr nichts, verdattert zu schauen, das Gesicht ist jetzt neu. Der Bluterguss kam verspätet, aber jetzt ist er da. Ja. Es geht aufwärts. Erste sichtbare Schäden! Hier drin steckt meine Seele. Das ist mein Körper. Freilich kommt der Bluterguss von der Begegnung mit den Grabgräbern. Kaum ist die Karriere hinaus aus dem Frauenkörper, meldet sich der verwundete Geist. Mein Körper ist ein langsamer. Da kann schon einmal ein halber Monat vergehen. Sei es drum. Hauptsache, da ist mal wieder was passiert. Der Bluterguss ist von einem solch tiefen Rot. Rot! Rot! Rot! So ein sattes Rot habe ich noch nie gesehen. Von Natur aus ist mir das zumindest nicht gegeben. Entstelltes Gesicht! Entstellte Frau! In meinem Gewand liegt mein Geld. Aber in meinem Körper, da lebt meine Seele. Mein Verstand! Mein Innerstes. Mein Ich! Habe schon daran geglaubt, es sei mir abhanden gekommen, aber schon ist es wieder zurückgeschlichen. Das ist doch nicht das Zeichen meiner Lebensführung. Ich führe ja nichts mehr an. Ich bin eine einfache Frau geworden. Eine, die sehr viel schläft und ungefährlich ist. Ich mache mir keine Mühe mehr, ich halte jetzt still.
Frauen, die Wunden zeigen, wollen doch nur Aufmerksamkeit. Ach, wie schwach! So ist es nun mal, eine Frau zu sein. Andere gehen anders zugrunde. Schauen kann ich mit beiden Augen. Weh tut es nicht. Es zieht nicht. Mein Kopf schmerzt nicht. Einem Bluterguss im Auge kann auch der pathologische Zustand der Leber zugrunde liegen. Aber es geht hier nicht um meinen Lebensstil. Ich habe keinen Grund zur Beunruhigung. Ich wurde nicht gekündigt. Der Mann bringt noch immer das Geld nach Hause. Ich bekomme auch Geld, ich bin krankgeschrieben. Kein hilfloser Fall, einer mit Zukunft. Künftig werde ich wieder aufstehen. Aber hier geht es doch um etwas anderes. Hier geht es um eine ganze Familie, die wir vertrieben haben. Um einen so dermaßen großen Schmerz, den kann so ein rotes Auge gar nicht symbolisieren! Bei denen war es doch schon seit jeher viel schlimmer: Der Ehemann ein Versager! Die Ehefrau eine Versagerin! Und die samtschlafanzug­tragenden Kinder werden auch Versager.
Meine Glieder hängen heute wie Fetzen vom feschen Frauenleib. Da kann mich auch das Auge nicht weiter aufgeilen. Sie sehen es gleich, diese Frau hält nichts von Schönheitsprodukten. Das hätte man sich aber denken können. So eine ist das nicht. Die ist ganz anders zum Scheitern verurteilt. Ihr Gesicht ist ein Kunstwerk. Es wurde gestaltet.