Teil eins
März
Vielleicht sollten die zwei Männer in Feinrippunterhemden ein großes weißes Tuch über mein Gesicht ziehen, mich in das frische Loch auf dem Friedhof fallen
lassen, sodass mein Körper und mein Schädel, von einem dumpfen, aber nicht weniger entsetzlichen Geräusch begleitet, aufprallen. Sie sollten Erde hinterherwerfen und mich unter Blumen begraben. Vielleicht könnten ihre Kinder ordentlich der Größe nach aufgereiht danebenstehen und das eine oder andere unschuldige Kinderlied
anstimmen, während ich, die in diesem Fall dann entfernte Tante oder Cousine der Mutter,
beerdigt werde.
So eine Tante oder Cousine der Mutter, die man aus vagen Erzählungen kennt, aber keine Erinnerungen an gemeinsam verbrachte heiße Sommer- oder endlose Wintertage hat, beerdigt man mit immerhin einem geringen
Aufwand, da sich keiner laut auszusprechen traut, die entfernte Tante oder
Cousine der Mutter nicht wirklich gekannt zu haben, geschweige denn, sich nicht
an sie zu erinnern. Eine solche Beerdigung also, zu der man aus Höflichkeit kommt, weil es die restliche Sippschaft auch tut, und bei der man sich
aus Höflichkeit reichlich am Buffet bedient, weil das sowieso schon ein anderer
entfernter, aber höflicher Verwandter bezahlt hat; eine Beerdigung, bei der man der Tante oder
Cousine beinah unbekannterweise noch einen letzten Gruß ausrichtet, nachdem man schon mehrere Obstler gegen die Aufregung getrunken
hat, und sich dann aber blitzschnell auf den Heimweg macht, um der Scham zu
entgehen, anderen spitzfindigen Gästen der Beisetzung darüber Rede und Antwort stehen zu müssen, wie denn das Verhältnis zu der eben in der Erde Versenkten war. So eine Beerdigung wünsche ich mir jetzt.
Wunden schmerzen besonders im Winter. Narben jucken besonders, wenn es kalt ist.
So etwas muss man aushalten können. Sie sind noch jung, hat der Doktor gesagt, da wär’s doch schade drum! Dann gab er mir einen Klaps, aber nicht auf den Po, und hat
mich mit einem Wisch aus der Praxis geschickt. In einem Jahr soll ich
wiederkommen. In einem Jahr werde ich wieder kräftig sein. Der Doktor sagt, ich solle mir dieses eine Jahr einfach nehmen. Das Mäderl hat sich ja jetzt schon fast vernichtet! Vollkommen abgebrannt. Fast tot.
Die fahle Haut. Die Augenringe. Diese Mutlosigkeit! Dass sich das Mäderl nicht geniert … All das hat der Arzt gesagt.
Jetzt bin ich beurlaubt und auch noch krankgeschrieben. Man hat mir wirksame
Tabletten verschrieben – in einer Großpackung. Meine einzige Aufgabe ist es, wieder gesund zu werden. Ein
Genesungsversprechen abzugeben und einzulösen. So ein Glück, denkt da ein anderer. Ein Jahr lang ganz entspannt sein. Vor allem jetzt, wo
doch gleich der Frühling kommt. Der Doktor hat keinen Preis genannt. Das wird bestimmt nicht
billig. Aber jetzt bin ich gespannt, ob das Innenfleisch sich erholt. Wer will
schon so lang mit seinem Gehirn allein sein! Wenn man so lange nicht arbeitet,
ist man dann überhaupt noch ein Mensch?
Es heißt, dass es hilft, sich auf den Boden zu werfen. So wie es damals nicht nur die
beiden Schäferhunde, sondern alle Schäferhunde es taten: sich allesamt auf ein Kommando totstellten und minutenlang
einfach nur ihre Schnauzerl in den Himmel streckten. So will ich gerade in den
Winterhimmel schauen. So eine Starrheit, die hätte ich auch gern drauf. Die Mitglieder des Hundevereins kamen alle! In Uniform!
Sie kamen alle mit ihren Schäferhunden, die einen Kreis um das Grab bildeten. Das war ein Anblick!
Unvergesslich! Die Hunde saßen ruhig und artig neben ihren Herrchen, ohne zu hecheln. Die nach Abzeichen süchtigen Männer bewiesen, wie gut sie nicht nur ihre Hunde erzogen hatten, sondern auch
sich selbst. Es wurde eine lange Prozedur.
Im Vereinshaus des Schäferhundevereins hängen große Porträts der Mitglieder. Bei jedem neuen Hundezugang wird ein neues Porträt der beiden, Herrchen und Hundi, geschossen und zeremoniell an die Wand gehängt. In der Zeremonie wird dann anschließend mit Waffen auf Scheiben geschossen. Sonntags gibt es dazu Weißwürstl. Erst dann dürfen die Zungen der Hunde aus den Mäulern hängen. Aber abbekommen tun sie trotzdem nichts. Das Würstl gehört dem Herrchen und niemandem sonst. Der Vati und unser Hund hängen da auch. Und wenn einer tot ist, dann wird das Bild mit einem schwarzen
Band verziert. Es wird auf Scheiben geschossen. Fällt diese Prozedur auf einen Sonntag, gibt es Weißwürstl. Vati und Hundi sind beide tot.
Unzählige Geschwister vom Hundi sind gekommen, um den einzigen Vati zu beerdigen. Es
standen immerhin mehr Menschen als Schäferhunde um das offene Grab.
Die Mutter ist daran zerbrochen. Selbst als nutzlos gewordenes Stück Fleisch hatte es der Vater nicht fertigbracht, wenigstens im Wind anständig zu baumeln, als sie ihn fanden. Als der Sarg in das Grab gelassen wurde,
stieß dieser immer wieder am Rand an, weil das Loch zu klein war. Für die Totengräber wäre ein guter Rat teuer gewesen. Sind doch alle um sie herum gerade so dressiert.
Die Prozedur wurde nicht abgebrochen, lediglich das Grab vor allen Anwesenden
vergrößert, was die Hunde und die Hundebesitzer nervös machte. Der ein oder andere stieg auf den Schwanz seines Hundes oder drosch mit der Leine auf ihn ein, wenn er winselte. Der Mutti
hat das sehr gefallen. Wer wird denn hier schon herumheulen, nur weil einer tot
ist. Als der Sarg endlich in die Erde passte, bellten die Hunde auf ein
Kommando und verfielen dann in ein lautes, trauriges Jaulen. Die abzeichensüchtigen Männer waren sehr stolz, den Vati, einen von ihnen, so gut verabschiedet zu haben.
Die Mutter ging nach Hause und stand einfach nicht mehr auf, blieb im Bett
liegen und vergaß eine lange Zeit lang sich zu waschen. Man hat mir gesagt, dass es hilft, sich
in so einem Fall auf den Boden zu werfen.
Da gibt es einen Schlag. Da haut es das Fenster auf und mir gegen den Körper. Da haut es den Rahmen mitsamt der Glasscheibe auf, und weil ich gerade in
die hell erleuchteten Erdgeschossfenster schaue, schlägt der rechte Fensterflügel mir unvermittelt ins Gesicht. Die Scheibe zerbricht nicht. Der Aufprall
klingt dumpf, aber weit weniger entsetzlich, als ich mir den Aufprall eines
sehr schweren, toten Körpers im Grab vorstelle, und verklingt sofort mit meinem kurzen Aufschrei im um
die Häuser jagenden Wind. Kein Hund jault für mich. Mein Gesicht wird erst taub, dann heiß, während mein Körper ein paar Schritte rückwärts taumelt und meine beiden Hände vorsichtig mein Gesicht abtasten, als ich mich gegen eine Straßenlaterne lehne und im tiefen Schneematsch stehe. Bravo! Die Scham schleicht mir
ins Hirn und das Gefühl, bei etwas wirklich Beleidigendem erwischt worden zu sein, verdrängt den Schmerz. Ich bleibe still.
Da starrt mich die Erdgeschossfamilie längst arglos und unvermittelt an. Nur die stattlichen Schäferhunde auf den Portraits über dem Esstisch schauen in einen Himmel, wie sie es schon bei der Beerdigung
meines Vaters getan haben. Selbst die sind schon lange fort. So lang ist das
alles schon her. Da hat uns das Schicksal ausgetrickst und wieder zusammengeführt.
Die Familie ist lahmgelegt. Sie haben ihre Aktivitäten unterbrochen, bei denen ich sie seit siebenundzwanzig Minuten ungeniert
hatte beobachten können. Ehrlicherweise habe ich zunächst die Hundeporträts erkannt, erst dann die Menschen. Sonst wäre ich an dieser Wohnung vorbeigelaufen, wie an jeder anderen auch. Schuld daran
ist meine Neugier. Dass das derselbe Hundeverein ist, in dem mein Vater war,
das hat mich erstaunt. Daran besteht kein Zweifel, da ich direkt auf die
Schnauzen der beiden porträtierten Schäferhunde schauen kann und eindeutig das Abzeichen des Vereins erkenne. Die
abzeichensüchtigen Männer hängen sich ihre Abzeichen gut sichtbar auf. Das macht vieles einfacher. Bei
meinem Vater hingen die Bilder ganz genauso. Die beiden Hunde waren die artigsten im Hundeverein. Die Besten. Darauf war man besonders stolz. Sofern man nicht selbst den artigsten Hund haben wollte. Sie sind erst später verstorben. Durch ein Gift wurden die Hunde niedergestreckt und die Familie
vertrieben. Aus der neiderfüllten, aber sehr schönen Gegend in die Stadt.
Das einzig störende Geräusch, das ich noch wahrnehme, ist der Moderator aus dem Fernseher. Alles andere
ist verstummt. Die Erdgeschossfamilie, deren entfernte, allerdings bald darauf
tote Tante oder Cousine der Mutter ich vor wenigen Minuten noch so dringend
sein wollte, um einen Grund zu haben, bei ihnen läuten zu dürfen und über unsere gemeinsame Vergangenheit zu plaudern, als wäre es eine schöne gewesen, schaut mich jetzt feindselig wie interessiert an, wie es Familien
aus Angst vor plötzlich eintreffenden, entfernten Verwandten oder unverwandten Fremden in diesem
Land und besonders in diesem Landstrich tun, aus dem diese Erdgeschossfamilie
und ich stammen. Früher stellte man sich als entfernter Verwandter vor, um sich so zumindest eine
Jause zu verdienen. Nur durchs Sein. Ich bin dein, also gib mir.
Ich sehe zwei Möglichkeiten: Stummes Wegrennen oder das Bitten um ein Taschentuch und vielleicht
gar um ein Glas Wasser, um das Blut, das bereits innen von der Nase in den Hals
und außen von der Nase in den Mund rinnt, wegzuspülen, aber damit auch möglicherweise zugeben zu müssen, dass ich die Erdgeschossfamilie ungeniert beobachtet habe, und riskieren
zu müssen, dass wir über unser aller trostloses Leben plaudern müssen.
Die Frau, die zwar genauso alt ist, aber verlebter aussieht als ich, schaut
abwechselnd in alle Gesichter. Die Männer in den Unterhemden wollen nicht aufstehen, die Kinder in den Schlafanzügen wollen nicht aufstehen, die andere Frau, die gerade frisches Bier ins Zimmer
getragen hat, hat sich erst einmal hingesetzt und schaut zu den beiden Männern. Dann steht die gleichaltrige Frau ruckartig auf und kommt näher. Da hat sich’s entschieden. Ich halte den Zettel vom Arzt in meiner Manteltasche fest, als könnte ich mich damit nicht nur an meine Vergangenheit klammern, sondern mich auch
gleichzeitig gegen diese schützen. Das ist wie ein Zertifikat. Der Schnee schmilzt auf der Fensterbank, so
heiß kommt es aus der Stube mitsamt dem dümmlichen Kinderlachen der beiden Schlafanzugträger. Ich habe sie sofort erkannt. Selbst aus ihrem Kinderkörper ist eine anständige Frau geworden. Hier ein bisschen rundlich und da ein bisschen ungepflegt,
aber es ist ja auch ein ganz banaler Tag. Kein Gefühl der Fremdheit stellt sich ein. Die Hunde im Hintergrund schauen in den
Himmel, und ich schaue ihnen dabei geistesdebil zu. Man sagt, dass es hilft,
sich so lange auf den Boden zu werfen, bis man nichts mehr spürt. Ich trete näher an sie heran.
Sie: Das tut mir leid. Und versucht dabei höflich zu lächeln.
Ich starre abwechselnd auf die rosigen Wangen der gleichaltrigen, aber
verlebteren Frau und auf die speckigen Oberarme der Unterhemdenträger. Ein eigener Mann. Das ist freilich das Schönste für uns Frauen. Hätt’s nicht ein schönerer sein können, Lisl?
Die Kinder kichern schadenfroh, auch wenn es nicht ihre Idee gewesen war, die
Fenster aufzustoßen, um der schaulustigen Fremden die Nase einzuschlagen. Mir graust vor den
Schmerzen, die noch kommen werden. Der teure Fetzen, den ich mir absichtlich für den Arztbesuch angezogen habe, bringt mich jetzt in Verlegenheit. Der Doktor
hat gesagt, ich solle mich schonen. Vollkommen schonungslos werde ich hier mit
der eigenen Vergangenheit konfrontiert. Da bekommt man Gänsehaut. Da möchte man sich gleich wieder hinsetzen. Die Frau rät mir dringend zu einem Arzt, weil mir das Blut aus dem Gesicht tropft. Wie
irrsinnig, da ich doch soeben von einem komme. Mein Körper zieht sich zusammen. Im Kopf rauschen elf Jahre vorbei. Jetzt wird erst
einmal das Fenster kontrolliert. Eine Störung im Erdgeschoß. Ein jeder ist plötzlich hilflos, weil eine Fremde gegen die Scheibe geknallt ist. Der wurde wohl
der Vogel gestohlen.
Die frischen Wangen sind nun ganz dicht vor mir, die dazugehörigen Hände kippen meinen Kopf nach hinten. Gierige Blicke werden in meine Nasenlöcher geworfen, und zarte Finger untersuchen gekonnt die Knochen. Ich spüre das Blut hinunter rennen. Der teure Stoff hält auch nichts von mir ab. Mir bleibt nichts erspart. Sparen hätte man sich diese Begegnung können. Alte Geschichten soll man nicht aufwärmen. Dies bedauere ich mehr als den Fleck auf meinem Mantel. Was ich will,
interessiert hier niemanden. Das ist wohl auch der Grund, warum ich es nicht
bekomme. Wahnsinniger Durst.
Die betrunkenen Männer haben ihren Schreck und gleichzeitig ihr Interesse an mir überwunden und stoßen mit ihren Bierkrügen an, ich bin ein Trinkgrund. Der Eine streicht sich über seine Brust, der Ältere zupft sich am Bart rum, das muss der Vater der Lisl sein.
Er: Was haben Sie denn eigentlich so nah an der Scheibe gemacht, dass die Ihnen
gleich so ins Gesicht sausen konnte?
Ich bleibe stumm, weil mir gerade das Blut den Mund füllt, ein glücklicher Umstand. Das bringt die Unterhemdenmänner zum Tuscheln.
Die Männer: Wir sind doch kein Schaufenster!
Der Linke: Ich bin doch kein Pupperl.
Der Rechte: Das kann schon mal passieren in so einer windigen Stadt, dass man
gegen fremde Fenster rennt, just in dem Moment, in dem es aufspringt.
Er reibt sich erneut seinen Bart, während der andere ein Stück Wurst in seine dicken Finger nimmt und es sich so langsam in den Mund führt, dass man glauben möchte, hier wird ein Werbespot gedreht.
Der Linke: Ja, wissen Sie das denn nicht!
Der Moderator brüllt, weil jemand den Jackpot geknackt hat: Millionen! Millionen! Top! Top Dollar! Top Euro! Millionen über Millionen!
Der Linke: Man spricht ja nicht umsonst von der windigen Stadt und ihren
windigen Bewohnern. Ich halt’s nicht mehr aus, dass ständig Leute in die Stadt kommen, ohne sich vorher über das Wetter zu informieren.
Und schmatzt, weil er sich so freut.
Der Rechte: Im Grunde haben Sie ja unser Fenster gerettet, vielleicht wär’s ja gegen die Hausmauer geschlagen und zerbrochen. Und schmatzt jetzt munter
mit.
Das ist Logik. Erst jetzt fängt er an, vor Glück zu grunzen, woraufhin sich sein Gegenüber ebenfalls ein großes Stück Wurst von der Platte in den Mund schiebt und mit offenem Mund kaut, dass es
ihm vereinzelt die Brocken wieder auf den Teller haut, die aber beide einfach
gleich wieder hinterherschieben. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Geteilte Wurst
ist halbe Freud.
Der Linke: Ja, da sagen wir aber schönen Dank. Und lacht.
Dann heben sie synchron ihre Gläser und stoßen an, dass es nur so schwappt.
Die könnten sich doch wenigstens wie ordentliche Menschen anziehen, auch wenn sie nie
gelernt haben, sich wie Menschen zu benehmen. Beide fixieren mich mit kleinen
misstrauischen Augen.
Ich: Ich geh jetzt das Naserl richten.
Eifriges Nicken aller Anwesenden, obwohl meine Stimme kaum Kraft hatte.
Dann wird sich noch einmal beratschlagt. Kommt die denn niemandem bekannt vor?
Muss man einer Fremden Hilfe anbieten, wenn sie sich selbstverschuldet am
eigenen Besitz das Gesicht eingeschlagen hat? Jetzt ist guter Rat teuer. Aber
die verschränkt schon ihre Hände vor der Brust. Das fahle Haar hängt ihr vom Schädel. Die Augenringe waren vorher schon da. Die ist doch krank. Die soll sich
niederlegen.
Sie: Wohnen Sie wenigstens in der Nähe? Und schaut besorgt.
Ihre Mutter: Sie müssen schon sicher nach Hause kommen, sonst haben wir noch Schuld. Und reißt ein Taschentuch in Fetzen, um mir diese geübt in die Nasenlöcher zu schieben. Den Rest drückt sie mir in die Hand.
Die Schlafanzugträger und die Unterhemdenherren lachen. Die Mutter der Lisl gibt mir die Hand. Die
Lisl hebt die Ihrige zum Abschied. Eine Entschuldigung wird gemurmelt. Fast in
einem Chor.
Dann wird das Fenster geschlossen. Es wird sogar richtig gut verschlossen. Es
wird auch noch mal von drinnen daran gerüttelt und gezerrt, es wird sich versichert, dass es nicht noch einmal
aufspringen und jemanden erschlagen kann, und ich werde einfach vor den
Glasscheiben draußen stehen gelassen. Das war’s.
Ich ziehe das Schreiben aus der Manteltasche. Da steht es eindeutig. Diese Frau
braucht Ruhe. Ruckzuck ins Bett.
Der Körper kennt den Weg und bringt mich von selbst nach Hause. Wohne auch schon lange
genug am selben Fleck. Ich biege in die letzte Straße nach links ein und kann das Haus, in dem ich lebe, erkennen, ohne mich zuhause
zu fühlen, ohne mich sicher zu fühlen, ohne überhaupt etwas zu fühlen. Es schneit ganz leicht. Jetzt ist der Winter bald vorbei. In anderen Städten ist schon Frühling. In den Nasenlöchern je ein Zipfel vom Taschentuch, den Fleck im langen Mantel. Tapfer sein!
Erst als ich vor der eigenen Wohnungstür stehe, wird es mit dem Kopf für einen kurzen Moment besser. Die letzten Minuten habe ich nur mit Gehen ohne
Denken zugebracht. Ich reiße die Tuchzipfel als den recht schäbigen Beweis dafür, dass mir tatsächlich was passiert ist, aus den Löchern und werfe sie in den Mistkübel vor dem Haus. Dann steige ich die Stiegen hoch und drehe mich noch einmal
um, sie sind mir noch nicht einmal gefolgt. Die haben mich wirklich nicht
erkannt. Man sagt, dass es hilft, sich tot zu stellen, wenn man ein Hund ist.
Aber wer gibt mir das erlösende Kommando? Und stürmen tut’s auch.
Ich ziehe mir angestrengt das Nachthemd an, das Gute, so dass man wenigstens
etwas Erstklassiges zum Schlafen trägt, wenn schon sonst nichts mehr erstklassig ist. Sich für einen Mann herzurichten, ist keine Schande. Aber auch keine Berufung. Das Bett
ist mir aber geklaut worden, es ist nicht mehr weich und vertraut. Der Körper zieht, als wär er unvollständig. Ich sehne mich nach einem erlösenden Fieber. Ich schaue noch einmal auf den Wisch, der Heilung verspricht. Das
ist die Erklärung. Diese Frau hat etwas falsch gemacht mit ihrem Leben. Sonst wäre sie nicht in dieser Lage. Das ist die Lösung. Mir bleibt jetzt so einiges erspart. Da werden die aber schauen, jetzt ist
Schonzeit. Wo ist die Karriere nun? Die hat sich davongeschlichen. Ich habe ihr
ein Heim geschaffen, in meinen Körper hätte sie einziehen können. Von mir Besitz ergreifen. Und was ist jetzt damit? Einen ausgelaugten Körper hat sie mir zurückgelassen, und um den darf ich mich jetzt wieder selber kümmern. Das war eine Frauenfalle. Man hat mir doch versprochen, ich kann alles
haben. Wenn ich spute: geile Karriere, geile Wohnung, geiler Mann, geiler Body.
Da wurde ich prompt am Türrahmen gestoppt und zum Arzt geschickt. Hier geht’s lang, Fräulein, rauf auf den Untersuchungstisch. Klare Diagnose: Hirnversagen. Jetzt wird
gutes Ausruhen teuer. Längst überfällige Erholungskur. Und die Karriere hat sich ein anderes Heim gesucht. Ich
wurde getäuscht. Aber ich werde nicht jammern. Jammernde Frauen mag mein Mann nicht. So
ein eigener Mann, das ist schon was Tolles für uns Frauen. Zwölf Monate Erholung. Zwölf Monate Tabletten nehmen und viel schlafen, dann wird schon alles wieder gut
sein. Unsere Mütter haben uns auf eine andere Welt vorbereitet.
Ich schlafe wie auf einer harten Wirtshausbank ein. Um mich herum lachen
Besoffene laut, während ich nur ein Nachthemd trage und meine Scham zu bedecken versuche. Das
Dirndl, das spinnt, schreit der Vater der Lisl laut, schaut es euch an, mit dem
g’schwollenen G’sicht. Jessas Maria, schreit die Mutter der Lisl, die ist ein prächtiges Luder, aber doch keine Frau. Zieht’s ihr doch wenigstens den Seidenfetzen aus! Die weiß doch gar nicht, was das ist! Immer lauter wird ihr Lachen, und ich versuche
immer angestrengter, wenigstens noch meinen Busen zu verdecken. Dabei schneit
es unaufhörlich ins Wirtshaus hinein. Die Bescheinigung ist doch noch so frisch und schon
wird einem so elendig mitgespielt. Das hat keine Frau verdient. Mir wurde doch
versprochen, dass alles gut wird zum Schluss. Das verdiente Happy End. Jetzt
endlich lockermachen, hat der Doktor gesagt, wer hat hier eine Heilung
bestellt? Ich. Das kommt doch erst in zwölf Monaten. Jetzt heißt es abwarten. Und es hört gar nicht auf zu schneien. Da hebt sich die Bettdecke. Der Mann ist nach
Hause gekommen. Das ist ein schönes Gefühl, wenn der auch da ist. Eine unverständliche Frage, wie es mir geht. Vergebens will der Mann seinen Kopf auf meinen
flachen Busen legen. Aber ich bin so klein geworden, da ist nichts mehr, was
seinen Kopf halten kann. Manchmal will eine Frau auch einfach nur ihren Kopf in
eine Männerbrust bohren. Das sind die wichtigen Dinge. Man gab mir ein
Heilungsversprechen. Wenn ich mich richtig verhalt und folge, darf ich in einem
Jahr wieder bei euch sein. Für einen Augenblick kann niemand außer mir erfahren, was es heißt, fast verschwunden zu sein. Ich würde gerne erfahren, wie es ist, wenn der Körper schnell von frischem Blut durchgespült wird. Wenn ich nun ganz brav befolge, was man mir gesagt hat, kann ich mich
selbst noch einmal retten. Dann darf ich im März nächstes Jahres wieder von mir behaupten, eine gesunde Frau zu sein. Einfach nur
eine Frau sein, weder schön, noch hässlich. In der Ganzheit zumindest ein Wesen sein. Einen Geist besitzen. Einen
funktionierenden Körper. Darauf muss ich gefasst sein. Manchmal reicht es nicht aus, Dinge einfach
nur auszuhalten. Man muss auch tapfer und stark sein. Wenn einer früh das Kämpfen verlernt hat, ist er später schneller verloren. Verlierer sind auch in dieser Gesellschaft kleine
Schandfleckchen. Da streicht mir die Männerhand angenehm über den Kopf. Selbst der trostloseste Mensch fängt dann an, langsam einzuschlafen. Man hat mir versprochen, dass alles gut
wird. Jetzt warte ich.