Kurt Früh
Die dunklen Seiten der Heuschrecken
Eliane Rauschs zweiter Fall
Die dunklen Seiten der Heuschrecken
Eliane Rauschs zweiter Fall
Wirtschaftskrimi
edition punktuell.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und
Personen lehnen sich teilweise an erlebte Ereignisse an,
teilweise sind sie, wie auch die Namen der
beschriebenen Personen und die Orte des Geschehens,
frei erfunden. Einzelne Begebenheiten können Ähnlichkeiten
mit wahren Begebenheiten haben.
© 2017 by edition punktuell, CH-9103 Schwellbrunn
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Umschlaggestaltung: Janine Durot
Umschlagbild: Adobe Stock, Stefan Körber
eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbH, www.herold-va.de
Satz: edition punktuell, Schwellbrunn
ISBN Buch 978-3-905724-55-4
ISBN eBook 978-3-905724-56-1
www.editionpunktuell.ch
Montag, 23. April 2007
Eliane Rausch knallte die Türe ihres VW Golf mit einem kräftigen Schub zu. Was für ein Tag. Die Emotionen schlugen Purzelbäume. Sogar ein Parkplatz direkt vor dem alten Wohnblock stand heute frei. Wann war ihr das zum letzten Mal passiert? Auf dem kurzen Weg bis zum Hausgang wühlte sie hektisch durch die modische Desigual-Tasche, suchte nach ihrem Handy. Sie konnte es kaum erwarten, Senta von den Neuigkeiten zu berichten. Eliane drückte kräftig auf das Display. Schon nach dem zweiten Piepston meldete sich Senta. Eliane schoss sofort los.
«Senta, ich hab’s geschafft», schrie sie immer noch aufgewühlt ins Telefon.
«Was? Du kriegst den Job?»
«Ja.»
Im selben Augenblick erreichte sie den Hauseingang. Energisch drückte sie die Türe auf. Ohrenbetäubendes Klirren und Scheppern liess sie die Türe erschrocken zurückziehen. Den Widerhall von Aluminium, das auf dem steinernen Untergrund aufschlug, begleitete ein blecherner, hohler Sound eines Eimers, der über den Boden rollte. Postwendend übertönten südländische Flüche, die anhielten, als im Hausgang sonst längst Stille eingekehrt wäre, die gespenstische Szene hinter der Türe.
«Chasche nöd ufpasse, huere Siech.» Der einzige verständliche Wortfetzen, der schier unendlichen Schimpftirade, den sie aufschnappte, liess sie für einen Augenblick erstarren.
«Senta, ich ruf dich sofort zurück.»
«Was ist los, Eliane, was ist das für ein Lärm?»
«Ich melde mich gleich.» Eliane drückte die Linie weg. Es dauerte Sekunden, bis sie Mut fasste, einen erneuten Anlauf zu wagen. Behutsam schob sie die zerkratzte, durch die Jahrzehnte geschundene Eingangstüre des alten Stadthauses zwanzig Zentimeter auf, schob vorsichtig den Kopf in den Spalt, um einen ersten Eindruck der vertrackten Situation zu erhaschen. Nur mit Mühe gelang es ihr, ein Grinsen zu unterdrücken. Wie eine aufgezogene Marionette fuchtelte ein kugelförmiges Wesen in ein ursprünglich weisses Malergewand gestopft, im Gang herum. Dicke, schwulstige Finger zeigten abwechslungsweise mal zu verspritzten Seitenwänden, mal auf die zäh fliessende Farbe, die sich unbeirrt auf dem Boden des Eingangs ausdehnte. Mittlerweile schien das Wesen die Sprache verloren zu haben, stand mit aufgerissenen Augen neben der sich weiter ausbreitenden Farbpfütze. Schockiert zog es die Mütze vom Kopf. Quer im Gang lag eine zusammengeklappte Aluminiumleiter, daneben ein umgekippter Kübel, der in der klebrigen Substanz Halt gefunden hatte.
«Ollala!» Mehr brachte Eliane als Erstes nicht heraus, während sie staunend hinter der Türe hervorgaffte.
«Du bische tschuld.» Die hohe Stimme des bunt getupften Kugelmonsters im Gang tönte singend, beinahe weinerlich. Die aufgerissenen Augen – der Schock war ihm ins Gesicht geschrieben – zogen sich zusammen, dünne Schlitze musterten Eliane missmutig.
«Ich, wieso ich? Wie bitte sollte ich erkennen, dass Sie die Leiter, dazu noch einen vollen Farbkübel, direkt hinter die Eingangstüre stellen? Ich bin doch keine Hellseherin.» Sie schob die Türe, die sich jetzt widerstandslos öffnen liess, ganz auf und suchte einen Flecken Boden im Gang, auf den sie stehen könnte, ohne in die Farblache zu treten.
Elianes Laune liess es nicht zu, sich weder vom kleinen Malheur noch von dem schuldzuweisenden farbverschmierten Kugelmonster die Stimmung zu vermiesen. Nein, dazu war der Tag zu gut verlaufen.
Vor gerade mal einer Stunde besiegelte sie mit einem festen Händedruck den neuen Arbeitsvertrag. Ihr Herz bebte. Vor über drei Monaten bewarb sich Eliane für die ausgeschriebene Stelle als Gerichtsschreiberin am Handelsgericht in Zürich. Über vier Jahre Bezirksgericht schienen ihr genug. Sie suchte nach einer neuen Herausforderung. Die Beförderung zur Gerichtsschreiberin am Bezirksgericht bot man ihr nach nicht einmal zehn Monaten, nach Abschluss ihres ersten Falles, an. Gern nahm sie das Angebot an, es ehrte sie. Natürlich wusste sie, wem sie es zu verdanken hatte. Die folgenden zwei Jahre nutzte sie, um ihre mündliche und schriftliche Anwaltsprüfung abzulegen. Sie bestand mit Bravour. Jetzt fühlte sie sich bereit, den nächsten Schritt zu wagen, eine ambitiöse Herausforderung anzunehmen. Komplexere handelsrechtliche Streitigkeiten werden am Handelsgericht ausgefochten, nicht am Bezirksgericht.
Angespornt von der Fantasie, in die Fussstapfen ihres viel zu früh verstorbenen Vaters zu treten, verfolgte sie ihr Ziel, Richterin zu werden, seit der Zeit am Gymnasium konsequent. Schon im Schulalter begleitete sie ihren Vater an freien Tagen ins Gericht. Die Richter beeindruckten Eliane und prägten ihren Werdegang entscheidend.
Am zweiten Vorstellungsgespräch erhielt sie die mündliche Zusage. Zeitweise glaubte sie sich in einem Verhör. Abwechselnd beschossen sie der Chef des Personaldienstes im Pingpong mit der Leitenden Gerichtsschreiberin mit Fragen, forderten sie heraus, prüften sie. Wird so die Spreu vom Weizen getrennt?, fragte sich Eliane im Clinch der beiden Befrager. Der Höhepunkt des Spiessrutenlaufens, die kurze Vorstellung beim Präsidenten des Handelsgerichts, zudem sie die Leitende Gerichtsschreiberin begleitete. Ganze acht Minuten nur dauerte die Präsentation, die Zurschaustellung, so empfand sie das kurze Gespräch. Sein vielsagendes Nicken zu Frau Mäder bei der Verabschiedung signalisierte wohl seine Zustimmung zur Anstellung.
«Den Arbeitsvertrag stellen wir Ihnen wie besprochen zu. Eine reine Formsache. Bitte senden Sie uns ein Exemplar unterzeichnet zurück. Vertragsbeginn ist der 1. Juli. Ich freue mich sehr, Sie bald in unserem Team begrüssen zu dürfen, Frau Rausch.» Eliane hätte sich Frau Mäder vor Freude um den Hals werfen können. Natürlich blieb sie sachlich, dankte für das Vertrauen, gelobte, sich mit bestem Wissen und Gewissen für die Belange des Gerichts einzusetzen.
«Sorry, tut mir leid, aber ich kann wirklich nichts dafür», hielt Eliane den nicht enden wollenden Beschuldigungen mit sturem Kopfschütteln und erhobenen Augenbrauen entgegen. Trotz bedrohlicher Nähe zwängte sie sich zwischen Wand und Farbmonster vorbei, trippelte die noch farbfreien Zentimeter der Wand entlang. Mit zwei ausladenden, weiten Schritten stieg sie über die Farbpfütze, entschwand die Treppe hinauf.
Nur ein knappes Jahr verging, nach dem Tode des achtzigjährigen, ehemaligen Besitzers des Stadthauses, bis die Erben die Liegenschaft an eine finanzstarke Immobiliengesellschaft verhökert hatten. Der Entscheid zur Sanierung des Gebäudes folgte umgehend. Die Aussenarbeiten starteten vor zwei Monaten mit der Einrüstung des Hauses.
Eliane hastete hinauf in den dritten Stock, in ihre 3-Zimmerwohnung. Das Handy schon am Ohr öffnete sie die Wohnungstüre, als sich Senta nach dem zweiten Piep meldete.
«Was war denn das eben?», fragte sie erstaunt.
Eliane schilderte ihre Erlebnisse im Treppenhaus.
Senta lachte: «Wow, das Gepolter bekam ich ja kurz mit. Dann leider nichts mehr, du unterbrachst die Leitung ja sofort. Blieb der Typ cool?»
«Oh nein. Er fluchte los wie ein Rohrspatz, blieb schockiert stehen, als klebe er am Fussboden fest und schaute zu, wie ihm die Farbe entgegenfloss. Gedanklich sass er sicher schon beim Feierabendbier. Jetzt putzt er mindestens noch eine Stunde. Und natürlich beschuldigte er mich postwendend ‹Du bische tschuld, du bische tschuld›, krächzte er mich mehrmals an, dabei sah er köstlich aus. Wie ein kugelrunder Wicht, fuchtelte mit den Händen herum, flüchtete Millimeter um Millimeter Richtung Wand, weil ihn die Sauce immer mehr bedrängte.»
«Ich hätte mich halb totgelacht», meinte Senta nicht besonders einfühlsam.
Senta und Eliane, beste Freundinnen, kannten sich seit ihrer gemeinsamen Zeit am Gymnasium und studierten im selben Jahrgang Jura. Einen Grossteil ihrer Freizeit gestalteten sie zusammen. Senta lernte bei einigen zufälligen Begegnungen im Praktikumsjahr Elianes Vorgesetzten, Anton Schläpfer, kennen. Hals über Kopf verliebte sie sich. Eliane erwies sich als nützliche, einfallsreiche Kupplerin. Senta, ehemals Krähenbühl, heiratete Toni Schläpfer an einem prachtvollen Spätsommertag im letzten Jahr auf dem Appenzeller Gäbris.
«Du, ich machte mich augenblicklich aus dem Staub. Der betrachtete mich aus seinen Augenwinkeln, als fasse er die Idee, mich an den Putzarbeiten zu beteiligen. Aus seiner Sicht gab es nur einen Schuldigen an diesem Desaster. Und das war ich. Apropos Staub, du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier ausschaut, seit die Renovationsarbeiten begonnen haben?»
«Eliane, wolltest du dich bei mir über die Renovationsarbeiten beklagen? Riefst du deshalb an?», fragte Senta etwas sarkastisch, sie wusste ja genau, was Eliane auf dem Herzen lag.
«Nein, natürlich nicht. Jetzt weisst du es ja schon. Ich erhalte die Stelle!»
«Eliane, ich gratuliere dir, ich freue mich so für dich. Toni wird sich genauso freuen, er erkundigte sich schon zweimal, ob du dich schon gemeldet habest.»
«Du, seine Referenzauskünfte müssen überzeugend gewirkt haben. Ich bring ihm nächstes Mal gerne eine gute Flasche Wein mit.»
«Das tat er doch gerne für dich. Nicht nur aus Gefälligkeit, er schätzt dich sehr und hält viel von deinen Leistungen. Das weisst du ja.»
«Senta, ich freu mich riesig, dass es klappt. Wir können ja am Samstag beim Badminton etwas plaudern. Ich springe noch schnell unter die Dusche, und fahre heute Abend noch zu meiner Mutter. Sie wartet ebenso gespannt auf den Entscheid. Hoffentlich ist der Maler weg, bis ich zu Mutter fahre.»
«Wirst schon nicht gefressen. Also danke für deinen Anruf. Grüsse Edith herzlich von mir.»
«Werde ich! Tschüss, bis bald.»
Eliane stand noch immer im Gang. Aus dem Treppenhaus drangen rhythmische Wischbewegungen bis in den dritten Stock.
Mittwoch, 22. März 2006
Bedrückte Stimmung herrschte im Sitzungszimmer der Elias Cantinieri Investment AG. Kurzfristig, auf Grund der katastrophalen Ergebnisse der Parifashion AG, einer Tochtergesellschaft der Elias Cantinieri Investment AG, berief Elias Cantinieri eine ausserordentliche Verwaltungsratssitzung ein. Finanzchef Thomas Wenger beendete soeben seine Präsentation der Umsatz- und Ertragsentwicklung der Parifashion, die das Ausmass des Desasters deutlich hervorstrich. Die Mitglieder des Verwaltungsrates warteten auf eine Regung von Elias Cantinieri, dem VR-Präsidenten, auf ein Statement, eine Ansage, schlimmstenfalls einen Wutausbruch. Aber es kam nichts. Er sass regungslos im Stuhl, den Blick auf die PowerPoint-Präsentation gerichtet, die aufgeblättert vor ihm lag. Er liess sich Zeit, ungewohnt lange. Endlich hob er den Kopf. Mit zusammengekniffenen Augen scannte er die betretenen Gesichter seiner VR-Mitglieder. Keiner erweckte den Anschein, eine rettende Idee einzubringen.
Vizepräsident und Partner Dr. Adalbert Wolf zog die Lesebrille von der Nase, faltete die Bügel zusammen und positionierte sie geräuschlos auf der Tischplatte.
Johannes Meier, seit über zehn Jahren im Verwaltungsrat, rutschte angespannt auf seinem Stuhl herum. Die Investitionen in die Parifashion AG finanzierte die lokale Filiale einer Grossbank in Zug, die er seit bald zwei Dekaden leitete. Die Zahlen, die man ihm heute vortrug, lösten mehr als einmal nervöse Zuckungen aus. Tief sass die ultimative Forderung seines Vorgesetzten in der Zentrale, gewisse Risikopositionen schnellstmöglich abzubauen. Die Elias Cantinieri Investment AG stand weit oben auf der Liste.
Duri Camin, das vierte Mitglied im Verwaltungsrat, ein Jugendfreund von Elias Cantinieri, stolzer Hotelbesitzer in Pontresina, wirkte dagegen gelassen. Sie wählten sich gegenseitig in den Verwaltungsrat ihrer Gesellschaft. Cantinieri verbrachte seit bald dreissig Jahren die Herbstferien im Engadin bei Duri Camin. Camin war sich gewohnt, mit finanziellen Problemen umzugehen. Sein Hotelbetrieb steckte in den letzten Jahren mehrmals in Liquiditätsproblemen, meist in Zusammenhang mit Renovationsprojekten, die mehr als einmal sämtliche Budgetvorgaben sprengten. Heute genoss er es geradezu, dass ihn die Situation der Parifashion nicht direkt betraf.
«Meine Herren», begann Cantinieri immer noch mit zusammengekniffenen Augen, ohne sich im ausladenden Präsidentenstuhl aufzurichten. «Die Situation ist dramatisch. Wir müssen dringend eine Lösung finden. Die Verluste des letzten Jahres deckten wir noch aus der Substanz der Gesellschaft. Die Verluste, die, sollte sich der Trend der ersten beiden Monate fortsetzen, jetzt monatlich auflaufen, müssen wir mit Darlehen aus der Holding ausgleichen, sonst ist die Gesellschaft in wenigen Monaten pleite. Und eine Pleite können wir uns keinesfalls leisten.»
«Und Wagenknecht, den wir letzten Sommer als hoffnungsvollen neuen Geschäftsführer einstellten? Der überzeugte uns doch. Bringt er die Gesellschaft auch nicht voran?» Meier, der Cantinieri kurzerhand unterbrach, wirkte gereizt.
«Hans (alle nannten Johannes Meier Hans), ich glaube, er macht, was in seiner Macht steht. Allerdings muss ich gestehen, dass wir ihm nicht die Mittel bereitstellten, die er forderte. Um die Umsätze nur auf das Vorjahresniveau anzuheben, müsste erstens massiv in Werbemittel investiert und zweitens der Online-Shop von Grund auf neu entwickelt werden. Das bedeutet kurzfristige Investitionen von gegen zehn Millionen Euro. Ob es gelingt die Massnahmen erfolgreich umzusetzen, steht auf einem anderen Blatt», Cantinieri schaute nachdenklich auf die Präsentationsblätter. «Ich gab die Investitionsanträge nicht frei. Das bindet ihm natürlich die Hände. Das Risiko war mir einfach zu hoch, sie übersteigen unsere Mittel.»
2003 übernahm die Elias Cantinieri Investment AG die deutsche Modekette Parifashion AG in Friedberg, im Norden von Frankfurt. Eine mittelgrosse Gesellschaft mit sechzig Filialen in allen wichtigen Städten Deutschlands. Branchenkenner prognostizierten dem Modemarkt überdurchschnittliche Wachstumsraten über die nächsten Jahre. Sie begründeten die Prognosen mit den zusätzlich verfügbaren finanziellen Mittel der Fünfzehn- bis Fünfunddreissigjährigen, die im Wesentlichen für elektronische Geräte und verstärkt für trendige Kleidung ausgegeben werden sollen. Elias Cantinieri, damals besessen von der Idee, auf diesen Zug aufzuspringen, gelang es, die VR-Mitglieder für die Vision zu begeistern, mit dieser Akquisition zu einem wichtigen Player in diesem Marktsegment mit exzellenten Erfolgschancen zu avancieren. Ihm sagte man diesen gewissen Riecher nach, das Gespür, erfolgversprechende Investitionen frühzeitig zu erkennen. Keiner im VR widersetzte sich den Argumenten. Einstimmig beschlossen sie den Kauf der Gesellschaft. Die Entwicklung in den ersten Jahren bestätigten seine Vorhersagen. 2005 planten sie als zusätzlichen Meilenstein der Gesellschaft auf den Zug des On-line-Handels aufzuspringen. Sie beauftragten einen der bekanntesten Softwareanbieter einen trendsetzenden State of the Art-Internetshop zu entwickeln, ausgerichtet auf junge, kaufkräftige Konsumenten.
Gravierende Fehler in der Analyse und Programmierung der Arbeitsabläufe in der Abwicklung zurückgesandter Pakete führte zu desaströsen Zuständen in der Logistikabteilung. Kundenrücksendungen blieben palettenweise unbearbeitet im Wareneingang stehen. Das System verlor Daten, wodurch die Zuordnung der Gutschriften auf die Kunden in vielen Fällen verunmöglicht wurde. Als Folge trugen Kunden ihre Unzufriedenheit an die Presse, die sich die Chance, das publizistische Sommerloch zur umfangreichen Berichterstattung zu nutzen, nicht entgehen liess. Aufgrund der Presseberichte brach der Umsatz innert Wochenfrist auch in den Ladengeschäften um dreissig Prozent ein und erholte sich nur noch marginal.
Auf den unglücklich agierenden Geschäftsführer, der die Entlassung mit Fassung trug, folgte Michael Wagenknecht, ein angesehener Fachmann der Branche. Sein eigenes Modegeschäft veräusserte er zwei Jahre zuvor. Er beabsichtigte, sich in den vorzeitigen Ruhestand zu verabschieden, als ihm ein auf die Suche eines neuen Geschäftsführers angesetzter Headhunter überzeugte, nochmals eine Challenge, wie er es nannte, anzunehmen.
«Also, ich sehe dunkle Wolken aufziehen, Elias. Einen zusätzlichen Kredit akzeptieren meine Gremien in der Bank sicherlich nicht mehr. Um ganz ehrlich zu sein, mir wurde auferlegt, bestehende Kredite mittelfristig zurückzufahren. Wir müssen uns etwas einfallen lassen», unterstrich Meier seine Aussage mit einem missfallenden Kopfschütteln.
Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen im Sitzungszimmer. Wenger füllte sein Glas mit Mineralwasser. Cantinieri wischte sich kleine Schweisstropfen von der Stirn.
«Was ist eigentlich aus dem Verkaufsauftrag geworden? Wir erteilten doch vor einem Jahr der Prisma den Auftrag, einen Käufer für die Parifashion zu suchen. Wo stehen wir da?», warf Duri Camin zur Überraschung aller in die Runde.
Elias Cantinieri beschäftigte sich in den vergangenen zwei Jahren immer wieder mit dem Gedanken, sich von einigen Beteiligungsgesellschaften zu trennen, investiertes Kapital in die Gesellschaft zurückzuführen und seinen Ruhestand finanziell abzusichern. Zur professionellen Transaktionsabwicklung erteilten sie der Zürcher Unternehmungsberatungsgesellschaft Prisma AG, einer ausgewiesenen Spezialistin für Merger and Akquisition (M&A), ein Verkaufsmandat. Ein erstes Projekt, den Verkauf einer Produktionsgesellschaft, schloss die Prisma im vergangenen Jahr erfolgreich ab. Die positiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit und das persönliche Vertrauen, das sich während der gemeinsamen Aktivitäten entwickelte, veranlasste Cantinieri im vergangenen Frühling, die Prisma auch mit dem Verkauf der Parifashion zu beauftragen. Der Geschäftsführer der Prisma, Philipp Roth, meinte damals: «Bei der angesagten Preisvorstellung von dreissig Millionen rennen uns potentielle Käufer die Bude ein.» Dann überschlugen sich die Ereignisse bei der Parifashion.
Elias Cantinieri strich mit der Hand mehrmals über seinen kahlen Scheitel. «Vor einem Jahr waren wir überzeugt, bei einem Preis von 30 Millionen Euro einen Käufer auswählen zu können. Das änderte mit der missglückten Shop-Einführung drastisch. Mit sechs Millionen weniger Eigenkapital und laufenden Verlusten in Millionenhöhe sprangen sämtliche Interessenten ab. Die Chance, in diesem Zustand einen Käufer zu finden, rutschte unter null.»
«Welchen Kaufpreis könnten wir heute noch erwarten?», setzte Camin nach.
«Schwierig», kommentierte Finanzchef Wenger, der die Erstkontakte mit potentiellen Käufern führte. «Vielleicht fünf oder sechs Millionen. So viel Eigenkapital weisen wir zurzeit in den Büchern aus. Erschwerend kommt dazu, dass bisher kein potentieller Käufer in der Branche die der Parifashion gehörende Dessousfabrik mitübernehmen wollte.»
Dr. Wolf hielt sich bisher auffallend ruhig, intervenierte nie, und wenn, nur mit einem technischen Kommentar zu juristischen Fragen. Persönlich äusserte er sich nicht. Er griff sich mit der rechten Hand ins Gesicht und begann sein Kinn bis zu den Backenknochen zu massieren. Die Gesichtszüge unverändert angespannt, meinte er in einem Ton, der seinen Missmut deutlich zum Ausdruck brachte: «Wenn niemand die Gesellschaft mit der Dessousfabrik übernehmen will, hängen wir sie um an unsere Holding und suchen separat einen Käufer. Die erzielt ja, wenn auch kleine, so doch noch Gewinne, die heute im Loch der Parifashion verschwinden.»
«Ist eine Überlegung wert, Adi, wir müssen jetzt umgehend eine Lösung finden. Jeden Monat, den wir zuwarten, verlieren wir viel Geld. Ich schlage vor: Wir holen den Wagenknecht in die Schweiz, rechnen alle denkbaren Szenarien durch, um uns einen realistischen Überblick zu verschaffen. Nach der Aufbereitung der Informationen treffen wir uns nochmals und fällen einen Entscheid. Einverstanden?»
Alle nickten stumm.
«Besten Dank, meine Herren. Thomas, nimm das so ins Protokoll, ich sende euch frühzeitig eine Einladung für das nächste Meeting.»
Einen Moment lang schwiegen alle. Keiner mochte sich als Erster erheben oder sich nochmals äussern. Die dunkeln Gewitter, die am Horizont aufzogen, liessen sie in Lethargie verfallen. Jeder am Tisch war sich der Tragweite der zu treffenden Entscheidungen bewusst. Als drehe man an einem Schalter, wechselte das Schönwetterprogramm in einen zähen Überlebenskampf. Dass mehr als die Hälfte des Anlagevermögens der Elias Cantinieri Investment AG im Risiko stand, realisierten sie heute erstmals in dieser erschreckenden Klarheit.
Freitag, 7. April 2006
Philipp Roth, Verwaltungsratspräsident und Hauptaktionär der Prisma AG, sass bereits am ausladenden Glastisch, als seine VR-Kollegen Dr. Roland W. Scherz und Dr. Maximilian A. Blickendsdorfer bestens gelaunt das Sitzungszimmer betraten. Sie nutzten die kurze Unterbrechung der Kaderbesprechung für eine Pinkelpause. Beide versuchten ihre ausgelassene Stimmung – sie schienen Tränen gelacht zu haben – zu unterdrücken und setzten sich, einen seriösen Gesichtsausdruck annehmend, an den Tisch. Dr. Scherz versuchte ein erneut aufflammendes Lachen mit zusammengebissenen Zähnen zu unterdrücken, einen grochsenden Laut, der den aufgepusteten Wangen entwich, gelang ihm allerdings nicht mehr zu verhindern. Blickensdorfer entging nur mit Mühe einem erneuten Lachanfall.
«Gibt es etwas, worüber wir auch lachen können?», fragte Dr. Sven Hungerer. Hungerer, Finanzanalyst, war wie alle im Raum, Partner der Prisma AG.
«War nur ein Witz, Sven, nicht ganz stubenrein. Gehört sicher nicht hierher», meinte Scherz – inzwischen hatte er sich wieder im Griff –, der Hungerer als brillanten Betriebswirtschafter schätzte, ihn jedoch als prüde und hinterwäldlerisch beurteilte. Scherz und Hungerer hatten das Heu noch nie auf derselben Bühne. Dr. Roland W. Scherz, ein Lebemann mit ätzenden grosskotzigen Allüren, gebärdete sich oft wie eine Diva. Nicht Kunden gegenüber. Nein, da geizte er nicht mit gespielter Unterwürfigkeit, zog opulente Schleimerkomödien ab, raffiniert, intelligent. Roth und Hungerer störten sich zuweilen mächtig an Scherz’ herausforderndem Verhalten. Die Erträge, die Scherz Jahr für Jahr der Gesellschaft einfuhr, liessen sie allerdings grosszügig über die negativen Seiten hinwegsehen. Roth und Hungerers Wertvorstellungen, sie betätigten sich als aktive Mitglieder in einer evangelischen Freikirche, unterschieden sich deutlich von der ihrer beiden Partner. Nebst Scherz gehörte auch Dr. Maximilian A. Blickensdorfer, Jurist, ein pingeliger Paragraphenreiter, zum Team der Partner der Gesellschaft, der ausschliesslich Schweizer Kunden betreute. Seine Intelligenz nutzte er, um sich komplexe Vertragsgebilde oder Firmenkonstrukte auszudenken. Die meisten dienten einzig dazu, Steuern zu sparen. Scherz und Bickensdorfer verstanden sich sehr gut. Ihr Gespür, wo immer möglich, noch ein paar Franken oder Euro mehr herauszuschinden, empfanden sie als Seelenverwandtschaft.
«Gut, wenn es für uns nichts zu lachen gibt, dann können wir jetzt weitermachen. Soll ich beginnen, Philipp?» Sven Hungerer blickte mürrisch zu Philipp Roth, fühlte sich auf den Schlips getreten, da man ihm, wie es den anschein machte, den Witz vorenthielt.
Den ersten Freitag im April jeden Jahres kreuzten sich die vier Partner der Prisma immer fett und rot im Kalender an. Der Zahltag. Zu Beginn der Kaderbesprechung präsentierte Sven Hungerer als Finanzchef der Gesellschaft die Abschlusszahlen jedes einzelnen Auftrags der im Vorjahr abgeschlossen und fakturiert wurde. Mit der Bekanntgabe des Jahresgewinns wartete er immer bis nach der ersten Kaffeepause, quasi als Krönung seiner Präsentation. Als Höhepunkt des Tages. Der Moment, der den Partnern das Blut in Wallung versetzte. Die Bonusabrechnung des letzten Geschäftsjahrs.
Roth gehörte siebzig Prozent der Gesellschaft. Die Partner konnten sich in den vergangenen Jahren mit je zehn Prozent in die Gesellschaft einkaufen. Nebst einem üblichen Jahressalär machte der Bonus jedoch einen Betrag aus, der das Jahresgehalt um ein Mehrfaches übertraf. Entsprechend gespannt fieberten die Partner jeweils dem Tag der Bonuspräsentation entgegen.
Die Prisma beriet Unternehmen beim Kauf und Verkauf von Gesellschaften, erarbeitete Finanzierungsstrategien, begleitete ihre Auftraggeber bei der Ausgestaltung von Transaktionsstrukturen und übernahm federführend Kaufs- und Verkaufsverhandlungen. Der bisherige Erfolg der Prisma basierte im Wesentlichen darauf, dass sie branchenunüblich tiefe Kostensätze in ihren Mandatsverträgen offerierte, sich im Erfolgsfall jedoch höhere prozentuale Erfolgsbeteiligungen ausbedingte.
Das letztjährige Ergebnis reihte sich als das positivste ein in die Reihe der letzten fünf erfolgreichen Geschäftsjahre. Entsprechend aufgekratzt erwarteten die Partner den Höhepunkt der Präsentation.
Mit einem Grinsen betrachtete Philipp Roth die Runde. Er genoss es, den Moment, auf den alle gespannt warteten, hinauszuzögern.
«Also, Sven, schiess los.»
Hungerer zupfte vier Blätter aus einem blauen Plastikmäppchen, hielt sie einen Augenblick mit beiden Händen fest, bis er feierlich jedem Partner eines austeilte. Ein Prozedere, das sich seit Jahren am ersten Freitag im April wiederholte. Gierig griff Scherz nach seinem Blatt, konzentrierte sich augenblicklich auf die unterste Zahl.
«Yes, yes, yes», posaunte er ins Sitzungszimmer.
«Jeah…, super…», grölte es von der andern Tischseite.
Roth und Hungerer hielten sich vornehm zurück, genossen die Freudentänze ihrer Partner. Das Resultat kannten sie seit zwei Wochen.
«Meine Fresse», stiess Scherz heraus. «1,8 Millionen für jeden, das ist einfach geil.» Scherz störte sich nicht im Geringsten an seiner saloppen Sprache und hämmerte mit der Faust mehrmals auf die Glasplatte des Sitzungstisches, dass die Kaffeetassen hüpften und klirrten.
«Kollegen», unterbrach Roth Scherz’ Begeisterungsausbruch, «ich gratuliere zu diesem hervorragenden Ergebnis, wirklich beeindruckend. Ich freue mich natürlich auch sehr, möchte jedoch zu bedenken geben, dass die Entwicklung nicht immer so weitergehen kann. Denkt bitte daran, es können auch wieder einmal andere, schwierigere Zeiten kommen.»
«Philipp, mal nicht schon wieder schwarz. Die Resultate der ersten drei Monate zeigen doch weiter aufwärts», monierte Scherz, die Hände verwerfend. «Nicht wahr? Jetzt müssen wir expandieren, Philipp, powern! Stell sofort zwei, drei Assistenten ein, die uns die Routinearbeit abnehmen. Wir müssen effizienter werden, zusätzliche Projekte übernehmen. Unser Erfolg spricht sich in der Branche herum. In Deutschland musste ich bereits Aufträge ablehnen.»
«Ich bin derselben Meinung», fällt Blickensdorfer in Scherz’, zum Monolog ausartenden Wortschwall. «Mit einem Verkäufer mehr in meinem Team liesse sich auch in der Schweiz mehr herausholen.»
Gegenseitig angestachelt schraubten die beiden Länderchefs ihre Wünsche immer weiter in die Höhe. Roth und Hungerer staunten nur über das angeblich unerschöpfliche Reservoir an Gelegenheiten, die sie mangels zusätzlicher Mitarbeiter hätten brach liegen lassen müssen.
«Stopp, stopp», unterbrach Roth. «Unsere Budgets für dieses Jahr sind abgesegnet. Wir können uns gerne überlegen, ob wir am einen oder andern Ort noch jemanden dazu nehmen wollen. Allerdings muss ich darauf hinweisen: Eine Erhöhung unserer Fixkosten bedeutet bei einem reduzierten Umsatz auch weniger Ertrag. Das sollten wir schon bedenken.»
«Ach komm, Philipp», intervenierte Scherz, «wenn weniger Projekte aufliegen, knallen wir die einfach wieder raus. Am besten machen wir nur Zeitverträge, dann sind wir die ruckzuck wieder los.»
«Roland, so funktioniert das hier nicht. Ich stelle kein Personal ein, das ich gleich fallen lasse, wenn der Wind dreht. Übrigens, dir haben wir ja schon einen Sales bewilligt, du hast doch diesen Paolo Ferrini im September eingestellt. Wie entwickelt er sich?»
«Ach», Scherz schüttelte den Kopf und blies Luft durch die Lippen, dass sie vibrierten. «Der muss noch mächtig Gas geben. Bis heute akquirierte ich noch alle neuen Kunden selbst. Ich muss ihn dauernd in die Eier treten, bis er sich mal bewegt. Aber die Schonzeit ist definitiv vorbei. Mal sehen, wie er sich unter Druck entwickelt. Ich hoffe, er erwacht, sonst ziehe ich ihm mal heftig die Schlafmütze vom Kopf.»
«Du hast ihm doch das Projekt Parifashion übertragen, wenn ich mich recht erinnere. Warum passiert da nichts mehr?»
«Warum nichts geht? Die spinnen einfach. Die wollen dreissig Millionen Euro für eine marode Bude, die nur noch Verluste schreibt. Das Management in Friedberg ist hoffnungslos überfordert. Die kriegen das Schiff nicht mehr flott. Wenn die ihre Vorstellungen nicht bald massiv korrigieren, müssen sie froh sein, egal für welchen Preis, einen Käufer zu finden. Sonst sind sie vorher pleite.»
«Ich schlage vor, wir verschieben uns nun zum Mittagessen und begiessen den freudigen Tag mit einem Glas Champagner. Einverstanden?», fragte Roth in die Runde. Keiner widersprach. Zu Fuss verliessen sie den Firmensitz an der St. Peterhofstatt, mitten in der Zürcher Altstadt, in Richtung eines bekannten Nobelrestaurants, das sie etwas despektierlich ihre Kantine nannten.
Mittwoch, 12. April 2006
Auch der zweite Kaffee zeigte keine Wirkung, musste sich Dr. Wolf beunruhigt eingestehen, während er Michael Wagenknecht bei den Vorbereitungen der Präsentation beobachtete. Bisher half Koffein hin und wieder. Eine Pille schlucken? Noch eine? Seit einigen Jahren plagten ihn diese Kopfschmerzen in unregelmässigen Abständen. Mal hinter der Stirn, mal im Hinterkopf, mal an den Schläfen. Heute wieder hinter der Stirn. Hielt er anfangs noch Föhn, Wetterwechsel oder andere Umstände für die Auslöser, schloss er sie heute aus Erfahrung aus. Er trank genügend Wasser, wie ihn seine Frau mahnte. Den Freitag, den er seit dem Sechzigsten zum Homeoffice-Tag deklarierte, nutzte er unterdessen für ausgedehnte Wanderungen mit Manu, seiner Frau. An mangelnder Bewegung lag es kaum. Trotz aller Anstrengungen, positive Veränderungen registrierte er keine. Im Gegenteil, vor Monaten quälten ihn zwei Wochen lang Schmerzen im Knie. Noch ein Leiden, für das es keine logische Erklärung gab. Finanzielle Sorgen beschäftigten ihn nicht. Die angesparten Pensionskassengelder genügten, den Lebensstandard im Pensionsalter beizubehalten. Den Wert der zwanzigprozentigen Beteiligung an der Elias Cantinieri Investment AG bezifferte er bis Ende vergangenen Jahres auf neun bis zehn Millionen Franken. Das relativierte sich heute beinahe täglich. War die Parifashion tatsächlich nicht mehr veräusserbar? Verlangten die Umstände die Investition zusätzlicher Eigenmittel? Er käme nicht darum herum, seine Reserven anzuzapfen. Das Risiko würde er nicht gerne eingehen. Lösten diese Gedanken die Migräne aus? Unrealistisch, das Desaster begann sich erst vor einem halben Jahr abzuzeichnen, nach der Einführung des neuen Internetshops. Die Kopfschmerzen begannen schon früher.
Warum intervenierte er damals nicht, als Elias so besessen von seinem Investitionsvorhaben schwärmte. Den Riecher für lukrative Märkte, das Gespür für erfolgsversprechende Investitionen gaben ihm immer Recht. Vernichtet dieser Missgriff die Anstrengungen der letzten Jahre, versandet das erarbeitete Kapital innert Jahresfrist in einem dunklen Loch? Nein, sich jetzt, im Nachhinein etwas vorzuwerfen, das tat er sich nicht an. Das konnte auch nicht der Auslöser für seine Kopfschmerzen sein. Davon war er überzeugt.
Michael Wagenknecht, seit Herbst Geschäftsführer der Parifashion, präsentierte, top vorbereitet, die strategischen Alternativen, die der Gesellschaft noch verblieben. Realistisch, ohne jede Schönfärberei. Cantinieri sass reg- und ausdruckslos am Sitzungstisch, wirkte niedergeschlagen von den ernüchternden Zahlen. Kein Aufwärtstrend im März, kein Anzeichen, das einen Hoffnungsschimmer für eine Verbesserung der Ausgangslage aufkeimen liess.
«Unschön», mehr sagte Cantinieri nicht, machte eine Pause, zog beide Hände hinter den Kopf, verschränkte sie, streckte den Hals, renkte den Kopf mal nach links, mal nach rechts, atmete tief ein und aus. «Bei sämtlichen Varianten verlieren wir das Eigenkapital und sähen uns gezwungen, noch zwischen drei bis fünf Millionen Franken aus der Holding in die Gesellschaft einzuschiessen.»
«Ja, so sieht es aus», meinte Wagenknecht. Er schaute konzentriert von Cantinieri zu Wolf. Ihm war bewusst, dass es ohne zusätzliche Mittel keinen Ausweg aus der vertrackten Situation mehr gab.
«Übel, übel», murmelte Cantinieri, atmete ein zweites Mal durch.
«Was denkst du, Adi?», wandte er sich Dr. Wolf zu.
«Was soll ich dazu sagen? Wir können jetzt nur noch reagieren, versuchen den Schaden zu begrenzen. Weitere Investitionen aus der Holding in der Hoffnung, die Absatzsituation bessere sich, lehntest du schon im letzten Meeting ab, da stimme ich dir zu. Das frässe das noch verfügbare Eigenkapital der Holding auf ohne Gewähr, die Gesellschaft wieder flottzukriegen. Das Risiko ginge ich auch nicht ein. Also, raus aus dem Investment, möglichst bald.»
«Bitter, bitter», murmelte Cantinieri erneut.
«Besteht wirklich keine andere Chance, Michael?» Cantinieri wandte sich an Wagenknecht, fixierte ihn mit flackernden Augen.
«Ich wollte das heute noch nicht einbringen. Eine Chance sehe ich, eine kleine, doch es ist noch zu früh, darüber zu sprechen. Ich führte erst ein Telefonat.»
«Komm, erzähl!» Schon die Andeutung eines Hoffnungsschimmers liess Cantinieri sich im Stuhl kerzengerade aufrichten.
«Ich telefonierte letzte Woche mit Aron Pechstein, dem Geschäftsführer der Dalia International AG, einem unserer Mitbewerber in Deutschland. Wir arbeiteten vor Jahren zusammen, den Kontakt behielten wir über die ganzen Jahre. Durch die verschiedenen Presseberichte in den Fachzeitschriften informiert, sprach er mich spontan auf die Situation an. Ich druckste anfangs etwas herum, als er jedoch seine Gesellschaft als denkbaren Interessenten andiente, ergriff ich die Gelegenheit, ihm einige Basisinformationen und Kennzahlen zu nennen.»
«Und, was meinte er?», fragte Elias nach, wach wie den ganzen Tag noch nicht.
«Noch nichts. Er schlug vor, das Thema am Geschäftsleitermeeting vorzutragen.»
«Wann ist das Meeting?», fragte Cantinieri sofort.
«Er meinte, Ende April. Er gibt mir anfangs Mai Bescheid.»
«Deutete er an, wie er sich das vorstellen könnte?»
«Nein, ich sagte ja, das ist alles noch zu früh, deshalb wollte ich das Gespräch auch noch nicht erwähnen.»
«Komm, Michael, irgendetwas deutete er doch an.»
«Wir diskutierten ansatzweise gewisse Opportunitäten. Unsere Filialen interessieren ihn. Die Übernahme der Geschäftsstellen war ein Thema. Er könnte sich vorstellen, die Geschäftsstellen zu übernehmen, also das Personal, die Mietverträge und unsere Kundenbasis. Das würde die Liquidationskosten drastisch reduzieren. Denkbar ist, dass sie für die Kundenbasis ein Angebot unterbreiten. Aber, wie gesagt, das sind reine Spekulationen.»
«Die Idee gefällt mir», warf Dr. Wolf ein. «Damit kämen wir mit einem blauen Auge davon. Ist der Typ vertrauenswürdig? Nicht, dass der uns in einer Due Diligence die Kundendaten kopiert und anschliessend dankend ablehnt.»
«Adi», brauste Elias auf. «Male nicht schon wieder den Teufel an die Wand! Daraus könnte sich eine Win-win-Situation ergeben.»
«Elias, wir müssen klaren Kopf behalten und nicht wieder hirnlos ins Zeug schiessen», kommentierte Wolf so aufbrausend wie Cantinieri zuvor. Wolf, selbst erstaunt über seinen aggressiven Ton, bedauerte den Satz sofort. Zu spitz formuliert. Damit griff er Cantinieri direkt an. «Sorry, Elias, ich meinte das jetzt nicht so, wie es rüberkam.»
«Ich hoffe es», parierte Cantinieri, sich bewusst, dass seine Entscheide die Investment AG in die aktuelle Lage geführt hatten.
«Also, bleiben wir mal schön gelassen und setzen darauf, dass, … wie heisst er schon wieder?»
«Aron Pechstein», widerholte Wagenknecht.
«Ja, genau, dass dieser Pechstein das Interesse seiner Vorgesetzten weckt. Da fällt mir noch ein: Wenn wir die Parifashion schon verscherbeln, müssen wir daran denken, der, äh, … jetzt fällt mir der Name auch nicht ein. Adi, die Gesellschaft, die ein Mandat hatte, die Parifashion zu verkaufen, die … ach, wie hiess die wieder?»
«Die Prisma in Zürich.»
«Ja, genau, die Prisma. Die müssten wir mit ins Boot holen. Wenn wir den Preis für die Parifashion auf, sagen wir mal, auf fünf Millionen Euro senken, ist es doch denkbar, dass auch die Prisma zu diesem Preis einen neuen Interessenten findet.»
«Unbedingt. Wir sollten jedoch zuwarten, bis wir die Antwort der Dalia kennen. Wenn sie Interesse zeigen, führen wir die Verhandlungen selbst. Im Erfolgsfall entfällt so zumindest die Verkaufsprovision.»
«Einverstanden, Adi. Ein Lichtblick.»
Elias Cantinieris Gesicht lebte förmlich auf. Es gelang ihm, ein Lächeln hervorzuzaubern. Wolfs persönlicher Angriff schien verdaut.
In Wolfs Kopf kämpften noch immer Kobolde, die sein Schmerzempfinden malträtierten. Wenigstens liess das Hämmern etwas nach. Verdampfte sein Alterskapital in diesen Monaten am deutschen Fashionhimmel? Wagenknecht könnte sich zum Glücksgriff entwickeln.
Freitag, 5. Mai 2006
«Wie laufen die Geschäfte, Roland?», fragte Detlef Freiherr von Gaisberg, Roland Scherz. Sie betraten gerade die Passage zum nächsten Loch. Drei Schläge über Par, ein Triple Bogey, auf der letzten Bahn nervten ihn noch immer. Er wirkte unkonzentriert, fahrig.
«Wie geschmiert», strahlte ihn Scherz an. «Das Geld liegt auf der Strasse. Wenn die Schweizer ihren Arsch etwas rassiger bewegten, läge deutlich mehr drin. Ich kriege Schübe, wenn ich zusehen muss, wie die in ihrer verdammten Gemütlichkeit Projekte angehen. Die Hälfte der Erträge erwirtschafte ich hier in Deutschland. In der Schweiz stopfen sie sich mit meinem Geld die Taschen voll. Die Kunden rennen uns die Bude ein, und diese Alpenheinis ziehen es vor, putzig Chancen auszulassen, statt zusätzliches Personal einzustellen.»
Freiherr von Gaisberg spielte mit Roland Scherz seit Jahren regelmässig Golf. Als Mitglied der Geschäftsleitung der Beteiligungsgesellschaft Signal Industries GmbH gelangte er oft frühzeitig an börsenrelevantes Insiderwissen. Erfolgsorientiert nutzten sie den Austausch von Informationen zu bevorstehenden Transaktionen zum eigenen Vorteil. Zudem belieferte Gaisberg Scherz regelmässig mit Informationen über Gesellschaften, die der Signal AG angeboten wurden, aber für sie uninteressant waren, was Scherz jeweils zum Anlass nahm, sich bei den Gesellschaften mit der Prisma AG als M&A-Spezialist ins Gespräch zu bringen.
Der Countdown zum Herrenturnier Ende Mai im Golfclub Feldafing am Starnberger See, im Südosten Münchens, lief auf Hochtouren. Der Club, dem Dr. Scherz seit über zehn Jahren angehörte, galt mit dem alten Baumbestand, dem Ausblick auf den Starnberger See und die Alpenkette zu einem der schönsten Golfplätze in Deutschland. Dr. Scherz engagierte sich seit Jahren im Club, half aktiv bei der Organisation des Hausturniers mit. Als Dankeschön an seine Frau, – sie spielte kein Golf – wies er ihr jeweils grosszügig die Rolle als Ehrendame zu. Ihr letztjähriges Outfit gab denn auch einiges zu reden, hinter vorgehaltener Hand, wohlverstanden. Auch ihm erschien das Kleid etwas zu extravagant, passte vielmehr zu einer Rolle im «Denver-Clan» als zu einem sportlichen Anlass.
«Gibt es etwas Neues?», fragte Scherz vorsichtig mit einem Augenzwinkern. Dass Gaisberg einen derart kurzfristigen Termin für eine Trainingsrunde vorschlug – er rief erst am Vortag an – liess auf einen schnellen Deal hoffen.
«Heikel, Roland, heikel.»
«Komm, erzähl.»
«Es geht um ein Start-up. Drei Ingenieure stehen kurz vor dem Durchbruch bei der Entwicklung eines mobilen Wasserwirbelkraftwerks. Etwas Vergleichbares besteht auf dem Markt nicht. Eine Sensation, wenn das präsentiert wird.» Gaisberg kontrollierte Scherz’ Reaktion aus den Augenwinkeln, als er auf Bahn 4 sein T setzte. Bedächtig zog er seinen Driver aus der Bag, wartete.
«Und, was jetzt?», fragte Scherz ungeduldig, verfolgte die Übungsschwünge des Freiherrn argwöhnisch.
Der liess sich bewusst Zeit, bis er absetzte und sich Scherz zuwandte. «Ich kenne die Inhaber einer Aktiengesellschaft, die seit zwei Jahren in Konkurs ist. Sie zeigen Interesse, ihre Aktien für ein Butterbrot zu verkaufen.»
«Und dann?»
«Dann bringen wir die Ingenieure dazu, ihre Patente in die Gesellschaft einzubringen. Der Kurs wird explodieren, sobald das bekannt wird. Sie sind übrigens sehr interessiert.»
«Was schaut dabei für uns raus?» Scherz stellte in Gedanken einige Überlegungen an, kam aber zu keinem vernünftigen Resultat.
«Zwei bis drei Millionen.» Gaisberg setzte ab. «Kann auch deutlich mehr werden, wenn’s mal läuft …»
«Ich check’s noch nicht.» Scherz kniff die Augen zusammen.
«Also, nochmals», begann Gaisberg, bemüht die komplexen Abläufe vereinfacht darzustellen. In Scherz’ Gesichtsausdruck zeigte sich kein überzeugender Hinweis, ob er die Transaktion jetzt verstanden hatte. Also setzte er nach: «Verstanden?»
«Ja, so weit schon. Ich müsste also rund zweihundertfünfzigtausend bringen, wenn wir zu 50:50 einsteigen», fragte Scherz sicherheitshalber nach.
«Nein, etwas mehr. Rund sechs Monate Entwicklungszeit sind noch eingeplant, bis die Prototypen einsatzbereit sind. Rechne mal mit einer Million, die wir stemmen müssten. Aber ich sage dir, das wird sich mehr als lohnen.»
«Eine halbe Kiste für mich. Das ist happig.» Scherz kratzte sich am Kinn.
Gaisberg stand, auf dem Schläger aufgestützt, neben Scherz auf dem Abschlagplatz. Er beobachtete, wie Scherz mit sich rang. «Überleg dir mal, was dabei herausschaut. So locker, nebenbei verdienst du keine zwei, drei Millionen. Du kannst den Pool bei eurem neuen Haus gleich fünf Meter länger planen. Wie weit sind übrigens die Arbeiten schon gediehen?»
Scherz war für den Themenwechsel dankbar, seine Gedanken kreisten im Kopf. Die Kosten für das Haus am Starnberger See – das Fundament war gebaut, – begannen schon jetzt, aus dem Ruder zu laufen. Ursprünglich budgetierte er vier Millionen Euro. Heute tendierte die Kalkulation des Architekten deutlich in Richtung sechs Millionen. Er gab sich deshalb keine Blösse: Was spielte ein, zwei Million mehr oder weniger schon für eine Rolle, guter Geschmack ist eben teuer. Er war jemand in der Region, und das durfte man auch sehen. «Das Fundament steht. Der Rohbau wird im Spätherbst fertiggestellt. Im Winter folgt der Innenausbau. Wir planen, im nächsten Mai einzuziehen.»
«Super, dann sollte unser Investment zwei bis drei Millionen wert sein», lachte Gaisberg, holte aus und schoss den Ball mit einem satten Schlag ins Fairway hinaus. Er wendete sich mit hochgezogenen Augenbrauen wieder Scherz zu: «Bist du dabei?»
«Gib mir noch etwas Zeit. Ich muss mir das überlegen. Ist kein Pappenstiel», meinte Scherz. Vorsichtig steckte er sein T in den feuchten Boden und setzte zu lockeren Probeschwüngen an.
«Da ist noch etwas, Roland. Falls du mitziehst, kommen wir nicht darum herum, dass du den Deal federführend übernimmst. Ich darf weder als Käufer noch als Investor in Erscheinung treten. Ich muss für alle Aktivitäten einen Anwalt vorschieben.»
«Wieso?», fragte Scherz erstaunt.
«Das Projekt wurde unserer Gesellschaft angedient. Ich lehnte es ab.» Gaisberg hob die Schultern, verzog das Gesicht zu einer vielsagenden Grimasse. «Man muss ja auch mal für sich schauen. Nicht wahr?»
Scherz setzte zu einem breiten Grinsen an. Das Argument überzeugte ihn. «Ich bin dabei. Fädelst du alles ein?»
«Nein, wie gesagt, ich darf ab sofort nicht mehr in Erscheinung treten. Treffen wir uns doch nächste Woche in meinem Büro? Ich gebe dir die nötigen Informationen, dann stellen wir den Schlachtplan auf.»
Scherz bestätigte den Terminvorschlag mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Gedankenversunken trat er einen Schritt zum T, holte wuchtig aus. Der Ball flog weit, zog mit viel Drall eine Rechtskurve und verschwand, abseits der Fairway, in einem Gebüsch. Er schaute lange ungläubig hinterher. Wann hatte er letztmals einen Abschlag dermassen versaut?