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Wie Großvater den Krieg verlor

Von Gerdt Fehrle

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Fehrle, Gerdt: Wie Großvater den Krieg verlor
Überarbeitete Neuauflage 2017

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Sie hießen beide Otto. Sie betrachteten die Welt mit den gleichen schmetterlingsblauen Augen. Sie heirateten beide ein Mädchen namens Gertrud. Sie heirateten zu Beginn der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts, fast zeitgleich mit Hitlers Machtübernahme. Sie zeugten jeweils vier Kinder. Sie schworen dem Führer Treue bis in den Tod und zogen für ihn in den Krieg. Sie kämpften diesen Krieg für ihn, sie verloren diesen Krieg für ihn. Aber sie gaben beide nicht ihr Leben. Sie hatten während der langen Kriegsjahre gleich viel Massel. Sie überlebten. Frankreich, Nordafrika, Russland. Sie überlebten ohne den kleinsten Kratzer.

Deshalb konnten sie auch nun, fast zwei Jahrzehnte nach der bedingungslosen Kapitulation, nach Gefangenschaft und Entnazifizierung, mitten im Wirtschaftswunder mit dem Knaben Spaziergänge unternehmen. Kurze Ausläufe zu Beginn, weil das Kind noch allzu klein war. Längere dann etwas später. Durch den Schönbuch bei Stuttgart oder durchs nahe Siebenmühlental der eine Otto. Durch die Löwensteiner Berge bei Heilbronn oder den Wald gleich hinter dem Haus der andere Otto. Denn auch dies hatten beide Ottos gemeinsam, ohne es freilich vom jeweils anderen zu wissen: die Vorliebe für frische Luft und die Freude an Wanderungen in der Natur. Sowie eine gewisse Zuneigung zu dem Knaben, diesem stillen, ängstlichen Kind, das nun einmal da und das ihr Enkel war.

Natürlich gab es auch große Unterschiede zwischen den beiden Ottos. Der eine war 1908 als zweiter Sohn des Dorfnachtwächters Karl in Echterdingen auf den Fildern geboren: Otto Nullacht.

Der andere erblickte 1911 in Nagold im Schwarzwald das Licht der Welt und war einziger Spross eines Akademischen Rats und philosophischen Schriftstellers mit Namen Emil: Otto Elf.

Der Vater von Otto Elf lehrte sporadisch an der Universität Freiburg. Später, nach seiner Emeritierung, verbrachte er die Zeit damit, auf dem Sofa zu liegen, Wermut zu trinken oder, in seinen klareren Phasen, in den Phasen ohne Alkoholnebel, mit Schachspielen. Er starb an einer Blutvergiftung. Die zog er sich zu, weil er sich eine Handwarze mit der Schere abschnitt, anstatt zum Arzt zu gehen.

Die Mutter Otto Elfs war eine bigotte Pietistin, die der Legende nach ein einziges Mal mit ihrem Gatten geschlafen hatte, um den kleinen Otto zu empfangen, und mit dreiunddreißig in die Wechseljahre kam. Nach der Aufzucht des kleinen Otto beschäftigte sie sich ausschließlich mit dem Umgestalten der Wohnung und dem Anstreichen von Möbeln, und ihre Gestaltungswut war gefürchtet. Verschont davon blieb lediglich das durch den Gatten Emil dauerbesetzte Sofa im Wohnzimmer.

Otto Elf wuchs somit im Millieu des wilhelminischen Bürgertums auf, Otto Nullacht hingegen in einfachsten Verhältnissen. Es trennte die beiden Ottos also mehr als der Abstand einiger Lebensjahre.

Auch in Erscheinungsbild, Temperament und Weltanschauung waren die beiden Männer mit dem in vielem so ähnlichen Schicksal sehr verschieden: stattlich, großsprecherisch und von fast biblischer Wucht Otto Nullacht. Otto Nullacht herrschte über eine gar nicht so kleine Schar Menschen wie der gute Hirte über seine Herde. Zu dieser Herde gehörten Gertrud, seine Gattin, und anfangs drei, später nur noch zwei Söhne. Die Totgeburt, das Mädchen zwischen dem ersten und dem zweiten Sohn, wurde nie erwähnt.

Zur Herde gehörte auch die alte Lell, die sieben Jahre lang um nichts in der Welt sterben wollte, obwohl sie aus zahnlosem Mund unablässig das Gegenteil beteuerte. Und die dann doch starb, langsam, lang erwartet und nichtsdestotrotz plötzlich.

Und zu Otto Nullacht gehörte außerdem die Belegschaft der Firma Fein bei Stuttgart. Dort, beim Fein, dirigierte Otto nicht nur den von ihm selbst im Hungerwinter 1946 gegründeten Männerchor. Er stand auch stets fleißig und ohne einen einzigen Krankentag an der Werkbank, wurde schließlich Werkstattleiter und von den frühen Fünfzigern bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1973 Betriebsratsvorsitzender. Arbeitgeberfreundlich. Zum Meister allerdings brachte er es nicht. Und das wurmte ihn zeitlebens.

Dann gab es da noch seine Brüder und Schwestern bei den Methodisten, die methodistische Gemeinde Leinfelden-Echterdingen. Denen las Bruder Otto als Laienprediger sonntags oft und ordentlich die Leviten. Ein rigider, in drastische Worte gefasster Glaube an den Herrn Jesus, eine auf wörtlicher Bibeltreue fußende Moral, laut und pathetisch vorgetragen.

Sie waren gefürchtet, die Predigten Otto Nullachts. Wegen ihrer Wucht, Wortgewalt und Unerbittlichkeit. Vor allem aber wegen ihrer Längen. Otto Nullacht überzog die Predigtzeit regelmäßig, gern anderthalb Stunden statt einer dreiviertel, Gattin Gertruds Ermahnungen zum Trotz.

„Oddo, dua nedd so laang …“, mahnte sie ihren Otto, im Küchenkittel am Herd stehend, über die Bratenkachel, das sprudelnde Spätzlewasser oder den Gemüsetopf gebeugt, Schweißperlen auf der Stirn.

Der stand dann schon, in Hut und Mantel, die akribisch vorbereitete Predigt auf einem zusammengefalteten A4-Blatt in der Tasche, das Gesangbuch in der Hand, in der Tür.

„… jojo …“, war die brummige Antwort. Er mochte es nun mal nicht, wenn man sich in seine Sachen einmischte.

Nur die alte Ahne, Otto Nullachts Mutter und ehemalige Dorfnachtwächtersfrau, unterwarf sich ihrem Sohn nicht.

„Die Geschichte von der Ahne“ war nicht die erste Geschichte, die der Knabe von seinen Großeltern zu hören bekam. Die erste, das war „Die Geschichte vom blutroten Fädle“. Gemerkt hat er sich die Geschichte von der Ahne dennoch, wie all die anderen auch.

Denn die Ahne war etwas ganz Besonderes. Ohne viel Worte zu machen, blieb die alte Frau immer sie selbst. Ohne offenen Widerstand, ohne lautes Wort, aber stur und unbeugsam.

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„Die Geschichte von der Ahne“:

Die Ahne war alt. Uralt sogar. Neunundachtzig Jahre war sie und lebte immer noch. Seit 1914 war sie Witwe. Kriegerwitwe. Die Ahne wohnte nicht in Otto Nullachts Haus an der Hauptstraße 17, sondern bei ihrem Ältesten, bei Ottos Bruder Karl, bei „de Hendrrheefer“, den Hinterhöfern, wie man im Haus an der Hauptstraße 17 zu sagen pflegte.

Sie, die Ahne, hatte ihre ganz eigene Art. Sie war lieb und freundlich und sanft und stur. Vor allem aber war sie lieb. Diese ihre Art war es, die den Knaben in den ersten Monaten nach der dramatischen Geburt und den daraus entstandenen Folgen am Leben erhielt. Hauptsächlich Sauerstoffmangel, dann ein nur wenige Wochen nach der Geburt auftretender Keuchhusten gefährdeten den Säugling.

„… där kommd nedd dovoo …“, urteilten die Ärzte knapp. Der schafft’s nicht.

Aber sie hatten die Rechnung ohne die Ahne gemacht. Ihre Freundlichkeit war es, die der Knabe mochte und, noch schwankend zwischen Hierbleiben und wieder Gehen, die ihn zum Bleiben bewegte.

Die Ahne und der Knabe, die beiden hatten eine ganz besondere Beziehung zueinander. So erzählte man lachend und nicht immer frei von Neid. Aber das sah man auch. Es gab ein einziges kleines Bild. Ein Schwarzweißbild, ein Schnappschuss: die Ahne auf dem Sofa, schwarz gekleidet, wie es sich für eine Witwe gehörte, im weißen Strampler der Knabe, erschreckt über die Welt, mit großen, weit aufgerissenen Augen, aber doch im Gefühl augenblicklicher Geborgenheit auf dem Schoß der alten Frau.

Auf diesem verblichenen Bildchen erkannte man auch nach Jahrzehnten noch das enge Band, das zwischen diesen beiden Menschen bestand. Man sieht die beiden so, wie sie waren. Einander zugetan, zwei alte Freunde, trotz ihrer offensichtlichen Verschiedenheit tief vertraut miteinander, die uralte Frau und der schwächliche, keuchhustengeplagte Säugling. Schrumpelig, zahnlos und gebrechlich die eine, glatzköpfig und verstört der andere. Aber bei ihr weinte er nicht, der Säugling. Und das war schon viel in den ersten Tagen, Wochen und Monaten nach der Geburt.

„Mai Schwaarzrr …“, mein Schwarzer, nannte die Ahne ihn, und den gepeinigten Kleinen störte es nicht im mindesten, dass sich diese Liebeserklärung aus ihrer rauen, altschwäbischen Kehle anhörte wie das Krächzen einer Krähe. Im Gegenteil. Wenn sie sprach, horchte der Knabe auf. Suchte mit den dunklen Augen, die noch nicht weit sahen, lauschte aufmerksam, still, in den Armen oder auf dem Schoß der Alten.

Und die Ahne?

Die Ahne war schon so lange die Ahne. Sogar sie selbst hatte fast vergessen, dass es einmal eine andere Zeit gegeben hatte, eine Zeit, in der sie noch nicht die Ahne gewesen war, sondern die Frau des Dorfnachtwächters.

Von dieser Zeit aber gab es mehr als nur blasse Erinnerungen. Es existierte noch ein zweites Bild von der Ahne, nicht nur das eine mit dem mageren Kind im weißen Strampelanzug. Nein, es hatte noch eine Fotografie überdauert, und die zeigte sie, als sie noch keine Greisin war, sondern die Friederike, genannt Rike, eine junge Frau, Mutter von zwei kleinen Kindern. Auf diesem Bild ist sie vielleicht fünfundzwanzig, höchstens dreißig Jahre alt. Sie steht aufrecht, ergeben und doch voller Empörung dem Lauf des Schicksals gegenüber, das auf sie wartet, auf sie und ihren Mann.

Ihr Mann, der Karl, Nachtwächter von Echterdingen.

Der steht neben ihr. Groß und verlegen. Man sieht, dass sie es war, die mit dem Fotografen gesprochen, den Termin in der fotografischen Anstalt, den Preis ausgehandelt hatte.

Einander fremd und befangen durch die ungewohnte Atmosphäre des Fotostudios stehen sie auf diesem Bild für immer und ewig reglos nebeneinander. Sie trägt eine feine dunkle Bluse, die beste, die sie hat, einen schweren, bäuerlichen, schwarzen Rock. Die seidene Schürze über dem Rock und ihr schön geflochtener, dichter Dutt verleihen ihrem Aussehen Stolz und Würde.

Er steckt in der Uniform eines württembergischen Infanteristen. Mütze auf dem Kopf, Schnauzer, Hundeblick. Man kennt das Datum, an dem die Fotografie angefertigt wurde. Es ist der 5. August 1914, und man weiß ebenso wie das Paar auf dem Foto, was dann kommen wird. Denn der deutsche Kaiser kennt plötzlich keine Parteien mehr und lädt die Jugend seines Reiches zu einem frisch-fröhlichen Krieg ein. Der Kampf ums Dasein, den er über Jahrzehnte hinweg propagiert hat, soll nun endlich beginnen und Deutschland, diesem abstrakten Gebilde aus weiß Gott wie vielen Staaten, Kleinstaaten, Stadtstaaten und sonstigen Gebieten, den Platz an der Sonne bringen. Jetzt kennt dieser Kaiser nur noch Deutsche und Feinde, und keine fünf Wochen später ist Friederikes Karl tot.

Ab jetzt, als Witwe mit zwei vaterlosen Söhnen, wird die Ahne nie mehr eine Frau sein. Mit Mitte zwanzig wird sie zu dem, was sie die weiteren sechzig Jahre ihres Lebens bleiben wird: die Ahne.

Und sie jedenfalls war anders als die anderen in Otto Nullachts Familie. Obwohl sie selbstverständlich dazugehörte. Da war Otto Nullacht sehr besitzergreifend. Beherrscht aber hat er sie nicht.

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Pyknisch, klein, verzagt: Otto Elf war bis auf die blaue Augenfarbe äußerlich das Gegenteil von Otto Nullacht. Seine Lebensumstände waren es ebenfalls. Otto Elf genoss die Kindheit und Jugend eines verhätschelten einzigen Sohnes.

Hochbegabt wie der Vater, schloss Otto Elf das Gymnasium als Landesbester ab. Das brachte ihm ein Stipendium für das Studium der Physik ein. Die Universitäten des Reiches standen Otto offen, und er entschied sich für Tübingen, die Stadt Schellings, Hegels, Hölderlins.

Die Diplomarbeit wurde prämiert, ein Folgestipendium für die Promotion verliehen, eine Doktorandenstelle in Berlin angenommen. Berlin, die Reichshauptstadt. Der Abschluss dieser Promotion summa cum laude fiel bereits in die zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reiches“ und löste große Heiterkeit aus. Das Jung-Genie geriet nämlich während des Rigorosums so in Fahrt, dass es mit beiden Händen gleichzeitig an der Tafel schrieb und zum Schluss auch mit beiden dem Führer seine Reverenz erwies. Man applaudierte amüsiert.

Um in Berlin dazuzugehören, trat der verweichlichte Otto Elf aus Karriereüberlegungen heraus in die SA ein. Und bereute es sofort. Vom ersten Tag an hasste er es. Er hasste die braune Uniform und den Drill. Er hasste die grobschlächtigen Mitkämpfer im Glied, die wiederum ihn, den schlappschwänzigen Akademiker und angehenden Doktor, verachteten. Er hasste das Marschieren auf den Plätzen Berlins, vor allem sonntags. Er hätte so gerne lange geschlafen. Denn er war frisch verheiratet zu dieser Zeit, seine junge Frau, die Gertrud, wenn auch schwierig in ehelichen Dingen, um nicht zu sagen unwillig, so doch attraktiv. Aber wo kämen wir denn da hin in Deutschland? Ein deutscher Ingenieur schläft nicht aus. Ein deutscher Ingenieur hängt nicht am Rockzipfel einer Frau. Ein deutscher Ingenieur marschiert für Partei und Vaterland.

Nach der Promotion trat Otto aus der SA aus, blieb aber der Laufbahn wegen Mitglied der NSDAP. Einen Lehrauftrag an der Universität lehnte er ab. Stattdessen nahm er eine Stelle in der Entwicklungsabteilung von BMW Flugmotoren in München an. Diese Stelle bekam Otto Elf nicht aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Partei, sondern durch Vermittlung seines einzigen lebenslangen Freundes und Bundesbruders aus der Tübinger Studentenverbindung. Dieser Freund und Bundesbruder machte während des Dritten Reiches und später in der Bundesrepublik Deutschland groß Karriere und stürzte während eines gemeinsamen Wochenendes mit dem Ehepaar Elf in den Alpen im Suff die Hüttentreppe hinunter und brach sich das Genick.

Otto Elf begann bei der Entwicklungsabteilung von BMW Flugmotoren im Sommer 1940. Er setzte seinen in technischen Dingen hervorragend funktionierenden Verstand dafür ein, die Flugzeuge, die England terrorisierten, schneller, besser, überlegener zu machen. Um die Ergebnisse zu testen, flog er in Rommels Afrikakorps mit und bekleidete dort den Rang eines Majors. Zur kämpfenden Truppe gehörte er nie.

In Afrika erlebte Otto Elf den rasanten Vormarsch Rommels, den Fall von Tobruk, von El Alamein. Er testete Flugmotoren und war auf Treibstoffpumpen spezialisiert. Diese Spezialisierung hätte ihm nach dem Krieg viel Geld einbringen können, hätte er etwas mehr Weitsicht, Mut und Durchhaltevermögen besessen.

Noch vor der Kapitulation des Afrikakorps kehrte er zurück nach Deutschland. Dieses Deutschland wurde inzwischen an allen Ecken und Enden von alliierten Flugzeugen angegriffen. Die deutsche Luftwaffe, ihre Offiziere und Piloten und nicht zuletzt die Techniker im Hintergrund verloren gewaltig an Ansehen. Göring, als Chef der Luftwaffe, wurde von der Bevölkerung hinter vorgehaltener Hand „Meier“ genannt, und zwar, wie Otto Elf immer wieder amüsiert behauptete, weil Göring großspurig verkündet haben sollte, sich so nennen zu lassen, würde jemals ein feindliches Flugzeug am Himmel über Berlin auftauchen.

Durch Zufall stieß Otto dann auf das Team von Wernher von Braun. Und landete bei der V-Waffen-Entwicklung in Peenemünde.

Verwöhnt, genialisch und doch durch und durch schwach, herrschte Otto Elf über nichts und niemanden, nicht einmal über sich selbst. Und wahrscheinlich war es das, was Gertrud ihm verübelte. Neben allem anderen, den berühmt-berüchtigten Schweineschmalz-Paketen und dem einen großen, unverzeihlichen Fehler, wieder nach Deutschland zurückzukehren, anstatt in den Staaten zu bleiben und die Familie nachzuholen ins gelobte Land.

Otto Nullacht hingegen war sogar unter den Nazis laut und kraftvoll und derb und zeit seines Lebens sowohl gewerkschaftlich als auch sozialdemokratisch orientiert. Er war gleichermaßen furchtlos und zum Fürchten, dabei jedoch ohne die geringste Ahnung, was in anderen Menschen im Allgemeinen und in Kindern im Besonderen vor sich ging. Der Knabe jedenfalls fürchtete ihn.

Unabhängig davon war Otto Nullacht in allem, außer bei der Arbeit, eher Abstinenzler, wenigstens aber sehr zurückhaltend. Er rauchte nicht und er trank nicht. Von einem gelegentlichen Glas Bier „zom Veschbrr“, zum Abendbrot, oder einem Schoppen Württemberger Rotwein, einem „Katzenbeißer“ oder „Haberschlachter Trollinger“, einmal abgesehen.

Während Otto Elf eigentlich immer mit einem vollen Glas Whisky in der Hand im Sessel saß. Mit hochrotem Kopf und wahlweise in sich zusammengesunken oder nach vorne übergekippt. Wie ein hochwohlgeborener Penner hing er in seinen Polstern. Und kommentierte die Welt, die über den Fernseher zu ihm kam, oder die familiär-häuslichen Ereignisse um ihn herum. Das Treiben seiner Frau. Das Treiben seiner Söhne, von denen er den einen mochte und den anderen nicht ausstehen konnte. Das Kommen und Gehen der beiden Töchter, von denen er ebenfalls die eine bevorzugte, sowie das zähe Heranwachsen des Knaben, der oft zu Gast war.

Angst wie Otto Nullacht allerdings machte Otto Elf dem Knaben nicht. Im Gegenteil, er weckte in dem Kind, das mit vier, fünf Jahren noch gar nicht recht zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte, ein oft in Ohnmacht und Verzweiflung umschlagendes Mitgefühl. Eingreifen, helfen, unterstützen, das war der Impuls, den der Knabe verspürte. Und eines konnte er auf jeden Fall schon früh ausmachen: dass es nicht recht war, als Großvater morgens um halb zwölf durchs Wohnzimmer zu torkeln und seltsame Dinge zu sagen, dabei Worte wie Sex, Banditen, Hure, Verbrecher, Politikerschweine zu benutzen, die dem Knaben zwar wenig sagten, der Großmutter aber die Röte ins Gesicht trieben.

Nähern konnte man sich Otto Elf nicht, wie übrigens keinem um den Knaben herum. Mit Ausnahme der Ahne. Deshalb spielte der heranwachsende Knabe meist für sich. Bastelte. Malte. Und lauschte den Geschichten der Erwachsenen. Das tat er am allerliebsten. Den Erwachsenen lauschen. Egal, was er zu hören bekam. Erinnerungen, Märchen, Lieder, Worte. Den tiefen, pastoralen Bass von Otto Nullacht, das hohe Fisteln von Otto Elf, den Spott, den beide Gertruds pflegten, auch sie so unterschiedlich, wie zwei Frauen ihrer Zeit nur unterschiedlich sein konnten, und doch in vielem ähnlich. Alles Gesprochene begeisterte den Knaben. Worte entführten ihn, trösteten ihn, halfen ihm. Die Geschichten der Großeltern öffneten ihm ein Fenster, unterbrachen die Stille, in der das Kind lebte, ohne es zu ahnen, füllten einen leeren Raum.

Früh entdeckte der Knabe, dass sich aus den wenigen Worten, die die Alten gebrauchten, um etwas zu erzählen, die wundersamsten Abenteuer erschaffen ließen. Welten, in denen es zwar brutal und blutrünstig zuging, in denen ihn aber auch niemand im Stich ließ oder über ihn lachte.

Es kam wohl von der Ahne. Sie war die Erste. Sie begann, mit dem Knaben zu sprechen, lange bevor er auch nur ein einziges Wort verstand. Stundenlang, so sagte Otto Nullacht lachend und kopfschüttelnd, saßen die beiden da, die Alte und das Kind. Vor dem Haus an der Hauptstraße. Verkehr gab es damals, zu Beginn der Sechzigerjahre, noch nicht. Oder am Durchlass zum Nachbarhaus. Der war damals noch nicht zugemauert. Das machte der Großvater erst, als dort im Nachbarhaus Italiener einzogen.

Manchmal saßen sie aber auch bloß miteinander in einer Ecke vom „Schdiable“, wie das bescheidene kleine Esszimmer im Haus genannt wurde. Hier oder da oder dort saßen die beiden, die Alte und der Knabe, sie im schwarzen Witwenkleid, das lange, dünne Haar wie einst im August 1914 zum Dutt gebunden. Und sie sprach zu ihm in diesem kaum je abreißenden, dunklen altschwäbischen Singsang, der von Ereignissen handelte oder auch von nichts, der vielleicht nur Sinn ergab für die Alte und den Knaben und die Sehnsucht eines vergeblichen, langen Lebens in sich trug. Eines Lebens, das den schwäbischen König gesehen hatte und den deutschen Kaiser, den Zeppelin und den Namenszug des Gatten auf der Gedenktafel „Unseren Gefallenen im Weltkrieg“.

„Die Geschichte von der Ahne und der Gedenktafel“:

Die Tafel war an der evangelischen Ortskirche angebracht, außen, am Seitenschiff. Der Namenszug auf dieser Tafel war alles, was von ihrem Mann übrig geblieben war. Zu dieser Tafel pilgerte sie bis zu ihrem Ende jede Woche mindestens einmal. Oft täglich. Diesem Namenszug brachte sie kleine Blumensträußchen dar, Veilchen, Vergissmeinnicht, Gänseblümchen. Gänseblümchen waren hübsch, wuchsen überall und kosteten nichts. Oder auch nur ein Gebet.

Am liebsten ging die Ahne alleine dorthin. Und konnte das auch bis zu ihrem Ende, denn sie starb gesund und buchstäblich über Nacht. Nur ganz zu Anfang, als der Krieg endlich zu Ende und die Tafel frisch angebracht war mit dieser langen Liste von Namen, schleppte sie auch einmal die beiden Söhne mit, Karl, den älteren, und Otto, den jüngeren. Dann nicht mehr.

Fünfzig Jahre später leistete ihr dann der Knabe auf ihrem Arm in der stillen Zwiesprache mit Karl, dem Gatten, und mit Gott, dem Allmächtigen, wieder Gesellschaft. Den Knaben nahm sie gern mit zu der Tafel. Ihm erzählte sie von ihrem Karl, der ein guter Mann gewesen war und ein zärtlicher Vater. Der ihr nichts hinterlassen hatte außer diesem Namenszug. Und das Haus an der Hauptstraße 17, das freilich damals, 1914, mehr eine Hütte war als ein Haus. Und natürlich die beiden Söhne. Freude und Last waren die, während des Krieges immer hungrig, immer frierend, dass es zum Heulen gewesen war, „zom Blärra“. Und auch danach, bis die Söhne endlich eine Lehrstelle, dann Frau und Beruf hatten.

„Ach Goddle …“

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Und der Knabe?

Der Knabe brachte das Seinige ein. Er brachte der Ahne auf ihre ganz alten Tage noch einmal Freude. Dieses riesige Staunen in den großen schwarzen Augen darüber, immer noch am Leben zu sein. Mit seiner stets wachen Konzentration, seinem ausdauernden Lauschen konnte der Knabe nie genug bekommen von der Alten. Und war ihr Sonnenschein.

Sie lachten oft, die Umstehenden, die Ausgeschlossenen, die dazukamen, Otto, Gertrud, sie störten, setzten zu halb gut gemeintem, halb spöttischem Geschwätz an, ehe sie sich zurückzogen. Denn Lärm und Spott prallten ungehört an den beiden ab.

Aber ihnen blieb nicht viel Zeit miteinander. Der Knabe kam 1961 zur Welt, die Ahne verließ diese keine zwei Jahre danach, Anfang 1963. Sie starb zwar hochbetagt und friedlich, für den Knaben aber war sie plötzlich weg, und er schrie. Plötzlich war alles wieder wie ganz am Anfang. Alles war wieder Chaos und Angst und Terror. Doch das Schreien half nichts, und irgendwann resignierte der Knabe. Das Wunderbare in seinem Leben, die säuselnde Stimme, der Geruch nach Kernseife, Naphthalin und alter Frau, das den Knaben wie nichts auf der Welt beruhigt hatte, all das war für immer verschwunden.

Erst später kehrte etwas von dem, was der Knabe so sehr gemocht hatte an den Stunden, die er mit der alten Frau verbracht hatte, zurück. Er bemerkte es zum ersten Mal, als der Großvater diese Geschichte zum Besten gab, „Die Geschichte vom blutroten Fädle“.

Diese Geschichte war wie vieles von Otto Nullacht brutal. Sie war alles andere als geeignet für ein Kind von vier oder fünf Jahren. Sie verfolgte das Kind bis in seine Träume.

Dem Knaben kam es nicht zu Bewusstsein, aber plötzlich war wieder etwas von ihr, der Ahne, da. Dabei hatte Otto Nullacht nur so dahergeschwätzt, wie die Älteren eben daherschwätzen. Viel erlebt hatten sie ja. Als Opfer wie als Täter. Und über alldem wie ein böser Schatten ein Name, „drr Hiddlr“.

Hitler.

Immer ging es auch um ihn, egal, ob sie von Schweinebraten, dem Fernsehprogramm oder der Rente sprachen. Irgendwann landeten sie beim Hitler. Und seinen Autobahnen. Und dass es unter ihm keine Verbrecher … Und beim großen Krieg. Polen, Frankreich, England, Afrika. Die Bomben. Der Hunger. Die Juden. Stalingrad.

Sicher lag es daran, dass überhaupt wieder jemand zu ihm sprach, wenn auch beiläufig, und an der Ähnlichkeit der Stimmen, am altschwäbischen Dialekt, den Otto Nullacht noch mit fast derselben Intensität sprach wie die Ahne. Und die für den Knaben der Inbegriff von Geborgenheit war. Schwäbisch.

Es war auf einem der ersten richtigen Spaziergänge, an die der Knabe sich erinnern konnte. Nur er und der Großvater, was ziemlich gruselig war. Und zunächst alles andere als eine angenehme Aussicht. Nur der Ottl war noch mit dabei. Aber der Ottl war ohnehin immer dabei.

Man ging „zom Zebbelinstoi“, zum Zeppelinstein. Dazu mussten sie nicht das Auto aus der Garage fahren. Sie mussten nur die Hauptstraße überqueren und das Gässle hineinlaufen. Schon waren sie aus dem Dorf hinaus und fast auf den Fildern. Erst später, als er ein klein wenig größer und schon besser zu Fuß war, fuhr der Großvater mit seinem weißen VW 1500 das Siebenmühlental hinunter oder in den Schönbuch hinauf. Im Schönbuch gab es noch Wildschweine. Und wenn sie viel Glück hätten, so der Großvater, bekämen sie welche zu sehen. Der Knabe starb allein bei der Vorstellung schon vor Angst.

Aber so weit war man noch nicht. Erst einmal zum Zeppelinstein, zu Fuß neben dem Großvater her, die Nase in etwa auf Höhe von dessen Manteltaschen. Es war nämlich leicht neblig an diesem Tag und kalt. Es mochte Winter gewesen sein oder März. Der Knabe war warm eingepackt, trug Mütze, Schal und Handschuhe. Darauf, dass er immer warme Kleidung trug und genug aß, achteten sie verlässlich. Die Bäume jedenfalls waren kahl, die Felder und Wege menschenleer, trotz Sonntag.

Der Großvater roch seltsam aus der Manteltasche. Sie war aber dennoch attraktiv, weil sich dort die Schokolade befand. Die hatte die Gertrud dem Otto zugesteckt. Der Knabe hatte es genau gesehen.

Das Dorf, die letzten Scheuern und Stadel und Misthaufen der Bauern, die es damals in Echterdingen noch gab, lagen bald hinter ihnen. Schon befanden sie sich bei den alten Streuobstwiesen. Auch die gab es damals noch. Boskop, Jakob-Fischer oder die köstlichen Stuttgarter Geißhirtle.

Hinter den Streuobstwiesen begannen die Felder, alles wertvolles, fruchtbares Land. Jetzt lag es aufgebrochen, schutz- und trostlos da. Aber im Herbst ernteten die Bauern hier zum Beispiel das berühmte Filderkraut, Deutschlands bestes Sauerkraut, sagte die Gertrud, und wurden wohlhabend damit.

Und dann sah man von weitem schon die großen, schon fast sechzig Jahre alten Eichen und die übermannshohen Haselnusshecken. Die Bäume standen wie Wächter an den Ecken des grünen Gevierts, das von den Hecken umfriedet wurde und in dessen Zentrum sie den Stein gesetzt hatten.

Da fing der Großvater an mit der Geschichte. Einfach so, mehr sich selbst als dem Knaben erzählte er „Die Geschichte vom blutroten Fädle“. Die erste dieser Geschichten. Vielleicht hatte ihn eine Spinnwebe am Weg an die Ereignisse von damals erinnert, ein dünnes, seidenes Fädchen, das aussah wie jenes damals? Oder einer der letzten roten Äpfel, die noch an den laublosen Wiesenbäumen hingen? Man brauchte ja bloß zwei Schritte vom Weg hinein ins steifgeforene Gras zu machen, direkt unter die Bäume. Die Äste hingen ohnehin weit herab. Ein Griff, ein Biss, säuerlich, aber gut.

Vielleicht kam ihm die Geschichte aber auch deshalb in den Sinn, weil sie immer da war, sie und all die anderen, die über den Ottl und dass er hätte fortmüssen, die vom „Herbertle seim letzten Schnaufer“, die von dem Juden und dem Apfelbutzen, die von „de Chrischbeem“ und wie sie alle hießen. Jetzt eben diese, ungerufen.

„Ausrra Einheid …“, begann er bedächtig, unsere Einheit, die Hände in den Manteltaschen, also dort, wo sich auch die Schokolade befand. Der Hain mit dem Zeppelinstein schon in Sichtweite. Aber der Großvater bemerkte das gar nicht. Zu vertraut war ihm der Hain, zu beschäftigt war er mit seinen Erinnerungen. Auch den Knaben hatte er im Augenblick vergessen und den Ottl sowieso. Auf den steifgefrorenen Feldweg vor sich starrte er, gerade so, als suchte er dort etwas. Jetzt war er wieder dort. Russland, Polen, „dr Hiddlr“. Sogar das Kind merkte es.

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„Die Geschichte vom blutroten Fädle“:

Ottos Einheit lag in Weißrussland, als es passierte, irgendwo in den Wäldern zwischen Minsk, Krakau und Danzig. Und wie alle Geschichten, die grausam und tödlich sind, war sie schnell erzählt. Schneller jedenfalls, als ein Apfel gegessen war, einer der letzten, die noch an einem der Streuobstbäume hingen, den Ottos entschlossene Hand gepflückt hatte. Diese Geschichte war zugleich auch die Geschichte einer Briefmarke. Und die Geschichte von Ottos Fingern, die nicht die geschicktesten waren, wenn es um das Feine ging. Aber die Briefmarke, die war der eigentliche Held in der Geschichte.

Jedenfalls hatte Otto Post bekommen. Feldpost. Von der Gertrud. Von wem auch sonst.

Post zu bekommen war natürlich immer ein besonderes Ereignis für die Männer an der Front oder hinter der Front, weit weg von zu Hause.

Was in dem Brief stand, ob er sich über den Brief freute oder ob es jener Brief war, in dem die Gertrud ihm schrieb, dass sie den Ottl holen wollten, das erwähnte der Großvater nicht. Er erzählte auch nicht, warum er in dem Kübelwagen saß, um den Brief zu lesen und auch gleich zu beantworten. Jedenfalls hatte Otto Gertruds Brief bereits gelesen und auch schon einen Antwortbrief geschrieben, in einen Feldpostumschlag gesteckt, die gummierte Falz beleckt und ihn zugeklebt. Er brauchte jetzt nur noch nach der Feldpostmarke zu fingern und diese auf den Umschlag zu kleben.

Aber, „Kruzidürken …“, die Marke will nicht, wie Otto Nullacht das will. Die zeigt sich sperrig, ja widerspenstig. Hüpft ihm vom Daumen, klebt noch kurz am Zeigefinger und flattert dann hinab in den Fußraum des Kübelwagens. Dort landet sie, weil Otto auf dem Beifahrersitz hockt, unterm Lenkrad, genau zwischen Gaspedal und Bremse.

„Oddo, wa machschd denn … du Kaschber, du aldrr“, spottete der Kamerad von hinten, der Karl, der auf dem Rücksitz des Kübelwagens saß. Und lachte, weil der Otto sich fluchend verrenkte, um an diese verdammte Malefizbriefmarke zu kommen, die dort zwischen Gaspedal und Bremse lag und aufgehoben werden wollte.

„Mensch, Karle …“, antwortete der Großvater, kam aber nicht weiter. Denn in dem Augenblick, in dem Otto abtauchte und im Fußraum und sozusagen von der Bildfläche verschwand, knallte es. Zerbarst Glas. Fuhr ein Granatsplitter durch die zerbrechende Windschutzscheibe des Kübelwagens. Otto spürte zuerst den Glasregen auf seinem Rücken. Dann, obwohl es zeitlich in umgekehrter Reihenfolge geschah, den scharfen Lufthauch. Und dann den Tod. Aber es war nicht sein Tod.

„Karl, elles en Ordnong …?“

Mit der Briefmarke zwischen den Fingern setzte Otto sich wieder auf, es war eine grüne, mit einem Adolf darauf.

„Karl?“

Der Granatsplitter war geradewegs durch die Windschutzscheibe über den Beifahrersitz gesaust, auf dem der Großvater in ganzer Länge gesessen hatte, bevor er sich in den Fußraum des Fahrzeugs hinuntergebeugt hatte, er hatte den Großvater daher um Sekundenbruchteile und ein paar Zentimeter verfehlt und war sauber durch den Hals des hinter Otto sitzenden Kameraden geschossen.

„Bloos no amma blutraoda Fädle isch där ghanga, der Koopf.“ Überall Glasscherben, im Kübelwagen, auf dem Karl, auf Ottos schwarzer Uniform. Ein feiner Glasregen auch auf Karls Gesicht, auf Karls ganz erstaunt dreinblickenden Augen, Gesicht und Augen, die zu einem Kopf gehörten, der, zur Seite geklappt, ohne Verbindung zu Hals und Leib, ganz komisch aussah.

„I hann beinoo lacha miasa“, sagte der Großvater, so schrecklich hätte das ausgesehen, der weggeklappte Kopf und das eine, dünne, rote Fädchen, an dem der Kopf noch am Körper hing.

Der Knabe schlich schweigend neben dem Großvater her, den seltsamen Geruch aus dessen Manteltasche in der Nase und den Rotz, den er ganz leise nach oben zog, damit der Großvater es nicht hörte. Denn der Knabe hasste es, wenn der Großvater sein großes Sacktuch hervorzog. Dann gab es kein Entrinnen mehr für ihn, dann musste geschnäuzt werden. Und vielleicht noch mit Spucke nachgesäubert, pfui Teufel.

Aber nun waren sie auch schon beim Zeppelinstein angelangt. Sie betraten das düstere Geviert zwischen den vier hohen Eichen. Hier war es zwar ein wenig unheimlich, dunkel und tot. Aber der Knabe erkannte auch sofort die Möglichkeiten, die sich auftaten. Es gab jede Menge Platz. Hier konnten sie „Versteckerles“ spielen und „Fangerles“. Begeistert erkundete der Knabe die heckenumsäumten Kieswege, immer allerdings in Sichtweite des Großvaters. Man konnte ja nie wissen. Genussvoll ließ er dann die Schokolade auf der Zunge zergehen, die der Großvater endlich aus der braunen, viereckigen Verpackung brach. Gemeinsam betrachteten sie den großen grauen Stein in der Mitte des Gevierts. Auch dem Ottl gefiel es am Zeppelinstein. Freundlich, fremd, ganz in sich gefangen versuchte der, eine Rolle zu spielen.

„Mosoosaa“, begann der Ottl immer wieder, verdrehte sich noch mehr, als er es ohnehin schon tat, machte ein wichtiges Gesicht und hob den Zeigefinger, um die Bedeutung dessen, was jetzt kam und was niemanden interessierte, zu unterstreichen. „Mosoosaa“ bedeutete „Ich will mal so sagen“, was aber außer den Großeltern und dem Knaben niemand verstand. Dieser Einleitung folgte ein Kommentar, der sich unter den großväterlichen Monolog legte wie ein falscher Generalbass unter eine barocke Melodie. Denn der Ottl wollte eben auch seinen Teil zur allgemeinen Unterhaltung beitragen, auch wenn sie ihn damals hatten holen wollen, im Dritten Reich, und er jetzt, in dem Geviert am Zeppelinstein nicht dazu in der Lage war, sich anständig zu artikulieren. Für Außenstehende kam dadurch eine oft schwer erträgliche Kakophonie zustande, denn der Ottl redete furchtbar undeutlich und ohne darauf zu achten, wer sonst noch sprach. Der Großvater und die Gertrud hatten mit dem Ottl in dieser Hinsicht keine Probleme. Entweder ignorierten sie ihn oder herrschten ihn herzhaft an, doch endlich „sai Lapp“ zu halten. Der Knabe kannte nichts anderes, und es war ihm gleich, wer mit ihm Fangen spielte, der Großvater, der schnell aus der Puste kam und eigentlich auch so gut wie nie mitmachte, oder der Ottl, der nicht zu verstehen war und dessen Bewegungen denen eines neugeborenen Bernhardinerwelpen glichen. Das Wort „behindert“ nahm man übrigens trotz allem nicht gern in den Mund, wenn es um den Ottl ging.

Der Knabe bekam schließlich noch mehr Schokolade. Die schmeckte herrlich. Am meisten liebte er Trauben-Nuss, viel mehr noch als Marzipan. „Die Geschichte vom blutroten Fädle“ würde ihn ein Leben lang begleiten. Aber das war jetzt nicht von Bedeutung. Im Moment zählte nur die Schokolade. Auch wenn sich unter Zucker und Kakaobutter noch ein anderer Geschmack mischte.

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Man hatte ihn, Otto Nullacht wie auch Otto Elf, zu Beginn des Krieges nicht gleich eingezogen. Dazu waren beide zum einen nicht mehr jung genug, zum anderen waren sie beide „uk“-gestellt, unabkömmlich.

Bei Otto Elf war das nicht weiter verwunderlich. Er arbeitete als Wissenschaftler bei BMW Flugmotoren. Das war Rüstungsindustrie.

Und er war nicht nur an der Entwicklung von Motoren beteiligt, die endlich besser als die der Royal Air Force sein sollten, er flog die Maschinen, die erstmalig mit neuer Technik ausgestattet waren, auch selbst. So jemanden schickte man nicht in den Kugelhagel an vorderster Front. Dabei war auch diese Aufgabe alles andere als ungefährlich. Von hundertfünf Testpiloten, die zu Kriegsbeginn mit ihm zusammengearbeitet hatten, überlebten sieben den Krieg.

„I hann emmer gwisdd, maine Sacha send guad“, sagte Otto Elf und erklärte damit, warum er, der erklärte Angsthase und Feigling, sich damals getraut hatte, in die Kanzel eines Kriegsflugzeugs zu steigen. Dazu kam Otto Elfs parteiliches Engagement.

Otto Elfs Gertrud, in der Berliner Zeit Sekretärin bei der Allianz-Versicherung, Frau Doktor in spe und schließlich Frau Doktor summa cum laude, lebte gern in der Hauptstadt. Allerdings war sie auch immer ein wenig angespannt wegen ihres „jüdelnden“ Mädchennamens. Den erwähnte sie dem Knaben gegenüber nie, meinte aber stets, „so hoisadd bloos Juda ond miir“.

Aber zuletzt erhielt sie den Ariernachweis, für den man ausnahmsweise die Formulare nur bis zu den Urgroßeltern hatte ausfüllen müssen.

Otto Nullacht hingegen war Schlosser mit allem, was dazugehörte, außer einer eigenen Werkstatt. Mit Stolz trug er die einfache Herkunft vor sich her. Ganz selbstverständlich orientierte er sich an den Linken, wobei ihm die Kommunisten zu radikal und die Sozialdemokraten zu lasch waren. Otto Nullacht war Mitglied einer Gewerkschaft, bis diese und alle anderen zerschlagen wurden. Er war der klassische sozialdemokratische Arbeiter, und alle wussten das. Und sie wussten auch, was er von den neuen Herren Deutschlands hielt, „vo deem Lombapagg“. Er war nie sonderlich diplomatisch, auch nicht ängstlich. Auch nach 1933 nicht.

„Oddo, hald doch dai Gosch.“ Wie oft hatte die Gertrud ihn angefleht. Und noch der Knabe konnte sehen, wie Ottos Frau der Schrecken in die Glieder fuhr beim Gedanken an diese gedankenlose, egoistische, schier gotteslästerliche Selbstsicherheit ihres Ehemanns. „Där hodds wissa wella“, der wollte es wissen, sagte sie immer wieder. Der Otto lachte bloß, ein wenig eitel, ein wenig stolz vielleicht. Aber auch den Kameraden im Regiment, den Unteroffizieren sogar, stockte manches Mal der Atem. Erzählte der Otto. „Oddo, halt dai Lapp“, das Maul sollst halten, verdammt noch mal, sonst kommst doch noch vors Standgericht. Der Otto aber konnte nicht anders. So war er halt gestrickt. Da war nichts zu machen. Jedenfalls berief man ihn, Familienvater, drei Kinder, Jahrgang 1908, trotz bekannter Aversionen gegen alles, was da braun war im neuen Deutschland, erst 1943, kurz nach der Niederlage bei Stalingrad, ein. Da hatten die Echterdinger Churchills eiserne Faust bereits zu spüren bekommen. Und die ersten Fliegerbomben waren schon auf den kleinen Filderflecken zwischen Stuttgart und Flughafen niedergegangen. Wenn auch die richtigen Bombennächte erst noch kommen sollten. Bombennächte, die die Gertrud ganz allein durchstand. Mit den Kindern im Keller, Gott sei Dank kein Volltreffer wie beim Nachbarhaus. Dort waren alle umgekommen. Verbrannt, erstickt. Einen Volltreffer hätte das kleine Haus an der Hauptstraße 17 auch nicht überstanden.

Für Otto Nullacht begann der Krieg in Stuttgart. Stuttgart, dann Magdeburg, später Belarus, Frankreich, Polen, wie der Krieg so verlief, immer mit der Reichsbahn von West nach Ost, von Ost nach West und wieder zurück, später dann zu Fuß oder auf dem Rücken eines der Schlepp-Panzer, mit denen seine Einheit ihre Arbeit erledigte. Gegen Ende permanent die Rote Armee im Nacken. Bis irgendwann, Weihnachten 1944, Neujahr 1945, gar nichts mehr ging. Weder vor noch zurück. Die Russen hatten die Ostfront durchbrochen und Ostpreußen eingekesselt. Tausende saßen in diesem Kessel fest, Zivilisten, Flüchtlinge aus dem Osten, Soldaten der Wehrmacht, Parteibonzen, und unter ihnen Otto Nullacht.

„Doo kommschdd nemme nauss, hanne deegt.“ Aber er kam noch mal raus. Es war nicht in Ostpreußen, wo Otto Nullacht den Krieg verlor.

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„Die Geschichte, wie Großvater den Krieg verlor“:

„So an Griag ischd schnäll vrlaora“, philosophierte der Großvater und lachte. „Päng, on dees waar’s“, und dabei machte er so, wie die kleinen Jungs machen, wenn sie tun, als hätten sie ein Schießgewehr in den Händen, Auge auf Kimme und Korn, Finger am Abzug. Und dabei zielte er spaßeshalber auf den Knaben, machte nochmals „Päng päng päng“ und lachte wieder, weil der Knabe, furchtsam, wie er nun einmal war, aus Angst vor den riesigen Händen des Großvaters und dem lauten „Päng päng päng“ in Deckung ging.

„Dees ischd fir vieele bloos an Augabligg gwäa“, sagte er. Und dass er im Kessel von Ostpreußen mehrmals geglaubt hatte, sein letztes Stündchen hätte geschlagen. Denn die Russen schossen aus allen Rohren, auch noch als sie, Otto und seine Einheit, wie durch ein Wunder doch noch den Hafen erreichten, weil ihr Kompaniechef, Hauptmann Soundso, Schneid hatte, ohne ein Draufgänger zu sein.

„Mer hennd mähr Gligg gheed als Vrschdand“, sagte der Großvater, ließ sein Luftschießgewehr, mit dem er immer noch auf den Knaben zielte, sinken, mehr Glück als Verstand.

Ende Januar saß man zwar plötzlich mit Zehntausenden von Zivilisten, Soldaten und Goldfasanen in Gdingen, das unter den Nazis Gotenhafen hieß, fest. Eingekesselt. Umzingelt. Gefangen wie die Ratten im Loch. Aber es liefen weiter Schiffe aus. Selbst jetzt noch. Und er, Otto Nullacht, ergatterte einen Platz auf der Wilhelm Güstloff.

„Goodahaava …“, flüsterte der Knabe, der sich wieder aus seiner Deckung herausgetraut hatte. Der Großvater hatte ja aufgehört, mit seinem imaginären Gewehr auf ihn zu zielen, Gotenhafen. Das klang komisch. Das klang lustig. Das klang wie „Nachddhääfale“, wie Nachttopf, klang nach Pipi machen.