Dunkle Seiten

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Karneval des Todes

 

 

 

 

 

 

 

 

Twilight-Line Medien GbR

Redaktion „Dunkle Seiten“

Obertor 4

98634 Wasungen

Deutschland

 

1. Auflage, August 2017

ISBN 978-3-944315-53-9
eBook-Edition

 

© 2017 Twilight-Line Medien GbR

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

Inhalt

 

Jan Orbahn: Hölle und Verdammnis

Anna-Katharina Höpflinger: Der goldene Schädel

Nadine Baumann: Karneval des Lebens

Andreas Dörr: Die Frau im Feld

Christian Veit Eschenfelder: Mr. Rabbit

Tim Pollok: Des Todes Ehrenplatz

Heidi Gensheimer: Mardi Gras – Begegne dem Tod

Alexander Knörr: Rudi

Iolana Paedelt: Spieglein, Spieglein an der Tür

Sebastian Hallmann: Maskenball des Grauens

M.W. Ludwig: Eigentlich bin ich ganz anders

Lyakon: Hotel California

Thomas Williams: Der letzte Karneval

Cleo A. Wiertz: Faschingsball

Nadine Buch: Allerseelen-Traum

Doris E. M. Bulenda: Balur der Krieger

Marc Hartkamp: Möhnentanz

Grit Kasdorf: Der Sturm

Peter Stohl: Das Fest des Prinzen Fortuno

Monika Grasl: Der Buscho Umzug

Sarah Ziegler: Dunkle Gestalten

Uta Maria Jürgens: Geleit

Catharina Bombardi: Fremde Haut

 

Hölle und Verdammnis

Jan Orbahn

 

 

Claras Miene war verschlossen. Starr. Sie lächelte nicht, sie runzelte kaum die Stirn und sie wurde nicht zornig. Ihr Gesicht verriet keine Emotion. Sie trug ihr eigenes Antlitz wie eine Maske.

„Nun, Clara. Wie geht es ihnen heute?“

Sie saß auf meiner Therapiecouch und blickte aus dem Fenster. Sie strich sich dabei durch das kurze blonde Haar. Vor einigen Tagen noch war es eine prächtige Lockenmähne gewesen. Aber in einer der letzten Nächte war sie in die Küche gegangen und hatte mit einem Küchenmesser ihre Haare zerschnitten. Sie hatte mir erzählt, dass sie geweint hatte. Wenn man ihr Maskengesicht betrachtete, dann war das schwer vorstellbar. Aber ich glaubte Clara. Ich denke dieser radikale Schnitt - im doppelten Sinne - war einfach notwendig und würde ihr gut tun.

„Ich fühle mich besser, Dr. Brown.“, sagte sie und ihre Stimme trug etwas Zuversichtliches in sich. Aber Zweifel schwang darin mit. Als ob sie sich selbst nicht glauben konnte. Oder nicht wollte.

„Was haben Sie in den Tagen seit der letzten Sitzung getan? Von einem Friseurbesuch einmal abgesehen.“

Clara blickte aus dem Fenster und ließ sich Zeit, bevor sie antwortete. Das war nicht ungewöhnlich. „Das war meine Mutter. Sie hatte mich gehört und war mir in die Küche gefolgt. Sie beobachtete mich, aber sie hat nichts gesagt. Erst als ich alle Locken abgeschnitten hatte, setzte sie mich auf einen Hocker und schnitt mir die Haare. Und die ganze Zeit sagte sie kein Wort.“

„Was fühlten Sie dabei?“

„Es… es war seltsam. Ich wollte einfach nur meine Locken loswerden und Mama… Mama hat es verstanden. Sie hat nichts gesagt, aber das war gut. Das war … schön. Sie hat mich einfach nur verstanden.“

Ich nickte ernst und machte mir Notizen.

„Und ihr Vater?“

Sie antwortete mit einem leisen Lachen. Ehrlich belustigt, aber Clara verzog keine Miene. Die Maske war ihr zur zweiten Natur geworden.

„Papa sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Er hat mich erst nur angestarrt, aber je länger das dauerte, umso alberner wurde es. Er hat übertrieben gezittert und gestammelt. Dann hat er mich umarmt und gesagt: Jetzt sparen wir zumindest Geld für Shampoo und Conditioner und können uns die Hypothek leisten. Und dann hat er mich angegrinst.“ Claras Mundwinkel zuckte. Nur ganz leicht.

„Und danach?“

„Meine Mama und ich sind einkaufen gegangen. Ich wollte mir ein paar neue Sachen kaufen. Den Look verändern, verstehen Sie?“

Ja, das verstand ich gut. Tatsächlich sah ich es zu einem gewissen Grad als heilsam an. Clara waren Wunden geschlagen worden. Und nun, ganz langsam, begann die Heilung. Es würden Narben zurückbleiben, aber das macht das Leben aus. Am Ende des Tages sind Menschen doch nichts anderes als wanderndes Narbengewebe mit hübscher Kleidung und Haaren auf dem Kopf.

„Dr. Brown?“

„Ja?“

„Kann ich Sie etwas fragen? Ohne dass Sie es gleich notieren und gegen mich verwenden?“

Nanu? „Selbstverständlich. Und Sie…“ Ich zögerte und entschied mich für ein kleines Wagnis: „Du musst dir keine Sorgen machen. Ich verwende meine Notizen nicht gegen dich. Ich will dir helfen.“

„Ja… Das weiß ich doch. … Es ist nur so, dass … es wirkt nicht immer so. Jeder sagt, dass er mir helfen will. Aber ich sehe doch wie sie mich verachten.“

„Ich verstehe. Falls es dir hilft, ich verachte dich nicht. Tatsächlich bin ich beeindruckt, wie gut du mit der Situation umgehst.“

Das machte sie hellhörig. Ihre Augen wurden etwas größer, aber ansonsten blieb ihr Gesicht leer und starr. „Wirklich?“

Ich nickte. „Clara, andere Menschen in deiner Situation sind vollkommen katatonisch oder die reinsten Nervenbündel. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede.“ Ich zeigte mit dem Zeigefinger auf sie und nickte. „Aber du redest darüber - zumindest zum Teil - und stellst dich deinen Dämonen. Ich denke, du bist auf einem guten Weg. Wichtig ist, dass DU dich achtest.“

„Aber wie soll ich das machen?“, rief sie. „Jeder sieht in mir die Schulnutte.“

Das war offensichtlich ein wunder Punkt. Clara hatte in den vergangenen zwei Schuljahren einen recht … promiskuitiven Lebensstil gepflegt. Als sie das erste Mal meine Praxis betreten hatte, trug sie einen kurzen Rock, ein knappes, enges Top und so viel Makeup wie ein Las-Vegas-Showgirl - wenn auch eines mit Geschmack. Es hat gedauert und einiges an Überzeugungsarbeit verlangt, bis sie sich nach und nach offenbarte und über ihren Freund sprach - und den Freund davor und den Freund davor und so weiter. Für ein Schulmädchen war sie sehr … erfahren. Bisher schien sie das nicht gestört zu haben. Clara verfügte über Selbstbewusstsein. Aber inzwischen waren nur noch die Ruinen dieses Egos erhalten. Etwas war passiert. Etwas hatte diese junge Frau so massiv angegriffen, dass es ihr sämtliche Emotionen aus dem Gesicht gewischt hatte. Das Leben hatte Clara eine Maske aufgesetzt. Oder - was ich eher zu glauben geneigt war - hatte es ihr die Maske vom Gesicht gerissen und Clara wusste nur nicht, wie sie damit umgehen sollte?

„Ich kann dich nicht von diesem Image befreien. Das kannst nur du selbst. Aber ich denke, es ist wichtig, dass du diesen Teil von dir akzeptierst. Du willst jetzt anders sein, das ist in Ordnung. Aber du musst akzeptieren, was du vorher warst, Clara. Und du darfst es nicht als etwas betrachten, das dich schlecht oder wertlos machte. Es waren deine Entscheidungen und vielleicht waren sie nicht immer gut. Aber sie waren doch bestimmt nicht immer schlecht.“

Clara blickte auf ihre Hände. Mir fiel auf, dass die einst manikürten Nägel inzwischen zerkaut waren.

„Aber was ist, wenn diese Entscheidungen Menschen geschadet haben?“

Jetzt war meine Neugier geweckt. „Haben sie das?“

Clara lehnte sich gegen die Sofalehne und schlang die Arme um sich. Sie starrte ins Leere. Dann nickte sie.

„Möchtest du darüber reden?“

Wieder schwieg sie. Ich konnte deutlich sehen, wie das Mädchen mit sich rang. Ihre Maske zuckte leicht und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Ich bin nicht dumm“, begann sie stockend. „Ich weiß, welchen Ruf ich bei den Jungs habe. Ich lasse jeden ran. Vielleicht stimmt das auch.“ Clara zupfte an ihrer Kleidung, strich sie glatt und zerknüllte sie dann wieder. „Ich habe es den Jungs nie schwergemacht. Ich war ja neugierig. Und ich fand es toll, wenn sie nur Augen für mich hatten. Und. Und.“ Ihr Blick fixierte mein Klemmbrett. Ihre Wangen wurden rot. „Ich fand es klasse. Es hat mir gefallen.“

Ich nickte und legte ganz betont meine Notizen zur Seite.

„Das ist doch nur natürlich.“

„Ja, kann sein. Aber ich … ich habe vielleicht übertrieben. Ich habe Dinge ausprobiert und … naja, manches war toll. Und manches hat mir nicht gefallen.“

Clara knetete ihre Hände. Sie hatte die Beine angewinkelt und versteckte ihr Gesicht.

Ich wartete. Clara wollte auf etwas Bestimmtes hinaus. Aber ich durfte sie nicht drängen. Sie erinnerte mich an ein verängstigtes Tier, vielleicht ein Kätzchen, das sich nur zögernd voran wagte.

„Ich habe gesehen, wie die Jungs gestorben sind“, sagte sie.

Donnerwetter! Damit hatte ich nicht gerechnet.

Claras Vorgarten war Ort eines spektakulären Verbrechens gewesen. Drei Teenager waren in der letzten Halloween-Nacht bestialisch ermordet worden. Nur aus diesem Grund suchte Clara meine Praxis auf. Seit jenem Tag zeigte sie keinerlei Emotionen mehr. Und erschwerend kam hinzu, dass sie die Jungs gekannt hatte. Ihre Mutter hatte die Befürchtung geäußert, dass Clara das Verbrechen gesehen hatte. Aber in ihrem Tonfall, in ihrer Wortwahl, hatte ich etwas anderes gehört - die unausgesprochene Angst, dass Clara mehr wusste.

Ich schwieg - und wartete. Clara begann stockend zu erzählen.

„Ich… Ich war alleine zuhause. Meine Mama und ich hatten einen Streit gehabt und sie war zu einer Freundin gefahren. Papa war auf Geschäftsreise gewesen. Ich glaube, er war auf Montage, ich weiß es nicht genau. Wissen Sie, wo wir wohnen, Dr. Brown?“

Ich nickte. Claras Familie war erst wenige Wochen zuvor in ein altes Haus am Stadtrand gezogen. Es lag direkt am Wald. Ich war nie dort gewesen, aber Clara hatte kurz davon erzählt. Die restlichen Details hatte ich der Zeitung entnehmen können.

„Ich mag das Haus nicht. Es ist so weit weg von … naja, von allem. Und… es ist stockdunkel. Mein Zimmer geht raus zum Wald und wenn ich mich hinlege und das Licht ausschalte… Es ist einfach nur dunkel.“ Sie schüttelte den Kopf. „Abends bin ich lieber im Wohnzimmer, im Obergeschoss. Das geht zur Straße raus. Ich kann den Fernseher anmachen und den Kamin und dann ist die Dunkelheit und die Stille erträglich.“

Ich nickte und signalisierte ihr fortzufahren.

„Ich war genervt. Das neue Haus ist weit ab vom Schuss und außerdem hatte mir meine Mama Handy und Autoschlüssel abgenommen, damit ich ja nicht auf eine Halloween-Party gehe. Ich saß einfach nur rum und daddelte im Internet, als mich Maddy per Video-Chat anrief.“ Maddy war Claras Cousine. „Sie hatte sich zu Halloween immer Geistergeschichten ausgedacht oder Legenden so sehr ausgeschmückt, dass man sie praktisch nicht mehr erkennen konnte. Das war immer toll gewesen.“ Claras Mundwinkel zuckten leicht. Vielleicht bestand noch Hoffnung diese Maske abzulegen. „Aber an dem Abend rief sie mich aus einem ganz anderen Grund an. 'Clara, ich hab einen Link geschickt bekommen', hat sie gesagt und sie hatte so komisch geguckt. Ich hatte gedacht, dass sie mir wieder einen unheimlichen Streich spielen wollte. 'Dann mal her damit', hab ich gesagt. Und sie hat ganz leicht den Kopf geschüttelt und mir gesagt, dass das dieses Mal kein Spaß ist. Ich habe ihr natürlich nicht geglaubt, ich kenne sie ja und außerdem war Halloween. Und dann habe ich das Video geöffnet. Es war auf einer dieser Pornoseiten im Internet zu finden und ganz kurz, keine halbe Minute lang.“ Claras Augen füllten sich wieder mit Tränen. Als sie weitersprach zitterte ihre Stimme. „Ich… Es…“ Sie leckte sich die Lippen. „Es war das Zimmer eines … Jungen. Und er hat … mit dem Smartphone … er filmte uns beim … als wir miteinander geschlafen haben.“

Ich blinzelte erschrocken. „Wie hast du das nicht bemerken können?“

Claras Gesicht verkrampfte sich. Die Maske hielt, aber ihre Mundwinkel kämpften dagegen an. Ihre Wangen wurden nass. Sie sah elend aus. Sie atmete schnappend und zeigte hinter sich. „Er… er… er war…“

Oh, dieses kleine Arschloch.

Ich musste dem Impuls widerstehen, Clara in den Arm zu nehmen. Das war nicht meine Aufgabe und es würde die professionelle Distanz zwischen uns hinwegfegen. Aber in Momenten wie diesem wünschte ich mir, dass ich etwas mehr tun könnte. Doch dieses Fegefeuer musste Clara jetzt alleine durchschreiten. Meine Rolle war es nur ihr zu zeigen, dass es einen Ausweg gab. Aber das war nicht nötig. Sie fand den Weg ganz alleine.

„Er hieß Spence. Er war schon immer ein Arsch, aber das hat mir auch gefallen. Manche seiner Sprüche waren witzig und er wirkte immer so… so… cool!“

„Hast du ihn zur Rede gestellt?“

Clara schüttelte heftig den Kopf. Dann zögerte sie. Schließlich wurde es ein schwaches Nicken.

„Ich habe meinen Computer zugeschlagen. Maddy hat versucht mich anzurufen, aber ich bin nicht rangegangen. Ich… ich konnte ihr einfach nicht… Was hätte ich denn sagen sollen?!“ Sie schniefte. „Ich saß in der Dunkelheit. Ich wollte nicht reden. Ich hab geheult. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist. Und dann hat es geklingelt. An der Tür. Ich bin nicht runtergegangen, sondern habe aus dem Fenster gesehen. Es war dunkel, nur die Laterne hat etwas Licht gespendet. Da standen drei Clowns vor der Tür!“, flüsterte sie und Entsetzen hallte in ihrer Stimme nach. „Ich starrte sie einfach nur an und dann ganz langsam drehte einer von ihnen den Kopf und sah mich an. Er hatte ein kalkiges Gesicht, total blass und ausdruckslos, und er starrte mich an. Und dann grinste er und winkte. Das war Sp… der Junge, der mich gefilmt hatte.“ Clara presste die Lippen zusammen. Es ließ ihr Gesicht noch emotionsloser wirken.

„Er ist einfach bei dir aufgetaucht?“, fragte ich verwundert. „Was wollte er?“

„Was wohl?“, sagte Clara mit deutlicher Bitterkeit. „Einen schnellen Fick. Einen Blowjob von der Schulschlampe. Oder vielleicht lasse ich ja auch seine Kumpels ran und mache bei einer kleinen Orgie mit.“

„Hat er das gesagt?“

Claras Gesicht zuckte. „Ich… ich hab die Beherrschung verloren. Ich hab das Fenster aufgerissen und ihn angeschrien. Ich habe geheult, ich habe gebrüllt, ihn als Schlappschwanz beschimpft. Wissen Sie was das Schlimmste war, Dr. Brown?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Er fand es witzig. Er hat mich ausgelacht. Der Mistkerl stupst seine Kumpels an und sagt: 'Guck dir die hysterische Bitch an!' Und vielleicht war ich hysterisch, aber das war ich mit recht und dieser Wichser lacht einfach, lacht, lacht, lacht. Und… Und…“ Clara zitterte und Tränen strömten über ihre Wangen. Und sie flüsterte: „Dann habe ich ihn gerufen.“

Ich runzelte die Stirn. Claras Finger krallten sich in ihre Hosenbeine. Sie mied meinen Blick. Da war noch etwas im Raum, ein letztes Geheimnis, von dem ich noch nicht einmal etwas geahnt hatte.

„Clara. Wen hast du gerufen?“

Sie starrte auf den Boden.

„Ich hab geflucht. Hab ihnen die Hölle und Verdammnis gewünscht. Ich hab gebrüllt, dass ihn der Teufel holen soll, ihn und seine bescheuerten Freunde.“ Sie atmete tief ein und bei den nächsten Worten erstickte das Entsetzen beinahe ihre Stimme. „Und er ist gekommen!“

Ich runzelte die Stirn. „Wer? Der Teufel?“

„Die Jungs haben gelacht. Und dann wurden sie plötzlich ganz still, als dieses Geräusch kam, und es war so laut und es kam aus dem Wald und da stand jemand, der war seltsam und groß und von ihm kam dieses unheimliche Geräusch. Ungefähr so...“

Clara starrte mich an mit diesem emotionslosen Maskengesicht und öffnete den Mund ganz leicht. Ein seltsamer Laut füllte den Raum, als würde Clara ganz langsam gurgeln, aber mit Knistern und Knacken in der Kehle. Es erinnerte mich an ein gewaltiges Insekt. Mir standen die Haare zu Berge.

„Und dann bewegte sich dieses … Wesen. Es… Er machte erst einen ganz großen Schritt, aber total langsam und unnatürlich. Und seine Haltung war so… so… komisch.“ Clara sprang auf. „Ungefähr so...“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und neigte den Oberkörper fast waagerecht zur Seite. Danach hob sie den einen Ellbogen so hoch wie möglich. Die Haltung war unnatürlich und musste unbequem sein. Sie machte erst langsame, dann schnellere Schritte durch den Raum, wobei der erhobene Arm wild hin und her pendelte. Jedes Mal wenn sie den Fuß aufsetzte, knirschte das alte Parkett unter ihr. Und dann sah sie mich an, den Mund leicht geöffnet, die Augen weit aufgerissen und machte diesen schrecklichen Laut.

Ich hielt mein Klemmbrett wie einen Schild und musste dem Impuls widerstehen aufzuspringen und fortzulaufen.

Vielleicht hatte Clara das bemerkt. Sie richtete sich wieder auf und setzte sich. Ich hatte das Gefühl, dass ihr das nicht leichtgefallen war.

„Was…“, ich leckte mir die Lippen und kämpfte den Schreck nieder. Das Herz schlug mir bis zum Hals. „Was ist danach geschehen?“

„Es war schrecklich. Dieses Wesen stolperte auf die Jungs zu und als es sie fast erreichte - da gingen sämtliche Lichter aus. Die Straßenlaterne, unsere Frontlampe - es war als hätte man einen Schalter umgelegt. Und dann … dann gingen die Schreie los. Erst war es nur einer der Jungs, dann die anderen und dieses komische Geräusch war über allem und dann weinte einer der Jungs und bettelte. Und dann hörte man ein lautes Knacken, als wenn man in einen Apfel beißt, genau so klang das. Und dann waren die Jungs still und man hörte nur noch dieses… Kaugeräusch.“

Clara umklammerte ihre Beine und wippte sanft vor und zurück. Ihr Blick war leer. Jetzt verstand ich, woher das Maskengesicht kam. Aber irgendwoher nahm sie die Kraft und erzählte weiter. Inzwischen klang ihre Stimme unbeteiligt, sogar leicht verträumt.

„Als die Lichter wieder angingen, hatte er die Leichen der Jungs zu einem Dreieck geordnet und das Blut breitete sich ganz schnell aus. Er stand einfach nur da und drehte sich langsam. Ich glaube, er wollte einfach nur sehen, ob er alles richtig gemacht hatte. Und dann sah er mich an, seine Augen waren so schwarz und sie sahen mich an. Ganz genau mich, nur mich. Und dann winkte er. Und dann ging er rückwärts davon, mit diesen seltsamen Bewegungen, und verschwand im Wald.“

Das war also, was geschehen war. Die drei jungen Männer waren umgebracht worden und Clara hatte es beobachten müssen. Dieses Ereignis - wie ich es einmal beschönigend nennen will - hat das Mädchen traumatisiert. So schwer, dass ihr Verstand die Wahrheit nicht ertragen konnte und eine Geistergeschichte darüber ausbreitete. Es ist müßig darüber zu spekulieren, was wirklich geschehen ist. Das wird sich mit der Zeit ergeben. Wichtig ist, dass Clara sich dem Trauma gestellt hat. Viele Menschen glauben, dass das der entscheidende Schritt ist. Dass sie nur laut aussprechen muss, was geschehen ist und dass es ihr auf quasi magische Art und Weise bessergehen würde. Das war natürlich nicht der Fall. Clara würde noch viele Sitzungen brauchen. Ich führte noch ein längeres Gespräch mit ihr; erläuterte ihr unter anderem das weitere Vorgehen. Dann konnte ich sie endlich nach Hause schicken.

 

Ich beobachtete von meinem Bürofenster aus, wie Clara auf das Auto ihrer Mutter zustolperte. Sie trug schwer an ihrer Last. Sie schleppte sich voran und ging zur Seite geneigt. Das ließ mich nicht los.

 

Der Tag verging, aber irgendetwas nagte in meinem Hinterkopf. Claras Darstellung ihres Ungeheuers. Etwas daran war vage vertraut. Wie ein Name, den man schon einmal gelesen hatte, oder die Stimme im Radio, die man nicht vergessen konnte. Es ließ mir keine Ruhe.

Als ich nach Hause kam, setzte ich mich in mein Büro. Ich löste einige Sudokus, um mich vom Tag abzulenken, das tat ich immer. Aber dieses Mal wollte es mir nicht recht gelingen. Warum hatte mir Claras Vorstellung solche Angst gemacht? Ich blickte ins Leere und ging das Gespräch noch einmal durch. Konzentrierte mich auf diese Empfindung. Versuchte die gekrümmte Clara zu ergründen. Und dann blickte ich zufällig - oder vielleicht leitete mich mein Unterbewusstsein - in mein Bücherregal, wo ein rotes Buch stand. Ich hatte es vor Jahren auf einem Flohmarkt erstanden, einmal durchgeblättert und dann in den Winterschlaf zwischen Kochbücher und Tolstoi geschickt. „Folkloria und Kreaturia“ lautete der Titel und die Buchstaben waren in einer verschnörkelten und altertümlichen Schrift auf den Buchrücken gedruckt. Etwas war hierin enthalten. Ich wusste es. Ich trug das Buch zu meinem Sessel und blätterte es langsam durch. Die meisten Monster der Folklore kamen vor: Vampire. Wiedergänger. Der schwarze Hund. Aber auch einige weniger vertraute, wie etwa der Nix oder der Hakemann.

Und dann sah ich es. Eine Kreatur von der ich noch niemals zuvor gehört hatte. Der Schratritter. Die Zeichnung stellte einen Mann dar, scheinbar. Aber wenn es ein Mann war, dann hatten ihn gewaltige Hände verdreht, wie eine ungebrannte Tonfigur. Sein Oberkörper war zur Seite gebogen, das Gesicht verzerrt, fast schon entstellt. Seine Arme waren unnatürlich lang, der Rest des Körpers missgestaltet. Auf der Zeichnung lagen ihm mehrere Frauen zu Füßen, die meisten in schrecklich verrenkter, aber eindeutig verzückter Haltung.

Ich las den Eintrag und legte das Buch beiseite. Mir lief ein Schauer über den Rücken und ich konnte lange keinen Schlaf finden. Denn im Buch stand folgendes: „Der Schratritter suchet Damen, welche er beschützen kann. Eine Dame in Not oder in Verzweiflung, eine gekränkte und besudelte Frau, rufet manches Mal in den Wald, wo er ihre Rufe höret und ihr zur Hülfe eilet. Er attackiert ihre Peiniger und errettet die junge Maid. Sein Blick bohrt sich in ihre Seele und sie verfallen zunächst in Schwärmerei, dann in Lust und Liebe zu diesem Held. Kein Gefühl rührt mehr ihr Antlitz, nur sein Wille lässt sie leben. Die Sehnsucht nach dem Ritter drückt die Maiden nieder bis sie schließlich in den Wald gehen, um sich ihm hinzugeben.

 

Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass Clara verschwunden war…

 

 

Der goldene Schädel

Anna-Katharina Höpflinger

 

 

Der ausgemergelte Körper wuchs erniedrigt und gleichzeitig majestätisch aus dem Boden, strebte am Kreuz in den Himmel empor. An seinem Fuß stand die Muttergottes und schien den Vorbeikommenden ins Gesicht zu schauen. Nicht die Trostlosigkeit der Szenerie, sondern dieser Blick der Frau unter dem Kreuz brannte sich in Gions Herz. Umrankt von emporstrebendem Efeu wusste Maria um sein Vorhaben, kannte jedes seiner Geheimnisse.

Gion schlich sich langsam, fast gebückt am Kruzifix vorbei. Er versprach der Muttergottes, dass er dieses Jahr besonders heftig fasten werde. Danach. Denn jetzt war Karneval, eine Zeit, die es erlaubte, Grenzen auszuloten. Gion schaute über die Schulter zurück. Schüttelte Maria tatsächlich den Kopf? Oder war es nur der Wind, der die Efeuranken zittern ließ? Ein Räuspern von Chasper, seinem Kollegen, ließ den jungen Mann wieder auf ihr geplantes Vorhaben fokussieren. Chasper hatte schon den Durchgang zur Kirche erreicht. Er winkte seinem Freund verschmitzt zu und schritt dann durch die überdachte Vorhalle. Hier oben konnte man die beiden Burschen vom Dorf aus nicht mehr sehen. Gion folgte seinem Freund. Er ging huschend um die Kirche herum und bog nach links ab. Rechts befand sich die Marienkapelle, in der seine Mutter gerne betete, links standen Grabdenkmäler vor einer bröckelnden Friedhofsmauer. Der Grabplatz erhob sich verlassen vor ihm und vereinte sich mit der hereinbrechenden Nacht. Die ersten Sterne blitzten auf. Es roch nach Schnee und aufgeschütteter Erde. Direkt vor Gion ragte ihr Ziel aus dem Boden, ein Gebäude mit einem weit heruntergezogenen Satteldach. Der Eingang, der ihn an ein Schlüsselloch erinnerte, führte in einen schwarzen Schlund.

Bitt Gott für die lieben Seelen. Gion nahm den aufgemalten Spruch am Eingang des Ossariums nur aus den Augenwinkeln wahr. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem fensterlosen Raum, der sich vor ihm ausbreitete. Darin flackerte eine einzelne Kerze; doch sie genügte, um dem Ort Leben einzuhauchen. Dank der züngelnden Flamme stoben Schatten durch das Gebäude, flohen, kehrten wieder zurück. Zitternd verfolgten unzählige leere Augenhöhlen die Bewegungen der beiden Burschen. Die Schädel, denen sie gehörten, waren gleichzeitig lebendig und tot. Sie tanzten mit dem Licht der Kerze und waren doch nur schweigende Zeugen einer vergessenen Vergangenheit.

Gion betrachtete die Totenköpfe und war sich sicher, ihre Seelen im Purgatorium stöhnen zu hören. Das reinigende Feuer zischte, lechzte, verlangte nach Sühne und Wahrheit.

„Welcher war es nochmals?“

Chaspers Stimme holte Gion in die Realität zurück. Der junge Mann suchte die Knochenmassen ab, die zu beiden Seiten in gewölbten Nischen aufgestapelt waren. Vor die Schädel waren Perlkränze in Violett und Grau hingestellt worden, deren fein säuberlich aufgereihte Glasperlen das bebende Licht der Kerze wie kleine Spiegel zurückwarfen. Mitten in den Gebeinen befand sich in der einen Nische ein Altartisch. In der anderen hatten geschickte Hände kleinere Knochen zu geometrischen Mustern angeordnet. Diese zweite Nische war ihr Ziel. Gions Augen folgten einem Stern, der aus Wirbeln geformt war. Direkt darunter lag ein gleichmäßiger weißer Schädel, auf den der junge Mann nun zeigte: „Der ist es, direkt neben dem Totenkopf deines Onkels mit eurem Hauszeichen. Er ist besonders schön, und ich habe noch nie jemanden für ihn beten sehen.“

Chasper nickte und öffnete den Leinensack, den er bei sich trug. Bevor Gion sich versah, hatten seine eigenen Hände den Schädel gepackt und zielsicher in die Tasche gesteckt. Chaspers Finger zitterten, aber sonst ließ er sich nichts anmerken, als er den Sack zuband.

„Das wird das beste Kostüm der ganzen Fastnacht!“, jubelte Chasper leise, als sie hastig das Beinhaus verließen. Gion nickte und bemühte sich nicht zurückzuschauen. Sie rannten den steilen Weg hinunter und kamen sicher im Dorf an. Doch auch hier wurde Gion das Gefühl nicht ganz los, dass die Muttergottes ihn tadelnd ermahnte und sich die ruhelos flackernden Blicke der unzähligen Toten in seine Seele gebrannt hatten.

 

Am nächsten Tag, als er sich wieder mit Chasper traf, war Gion ruhiger. Sie würden den geklauten Schädel wieder zurückbringen. Aber erst, wenn sie ihren Spaß mit ihm gehabt hatten.

Chasper hatte schon vor dem nächtlichen Besuch im Beinhaus goldene Farbe besorgt. Nun warf er Gion spitzbübisch einen Pinsel zu. Die beiden jungen Männer widmeten sich der Aufgabe, den schönen weißen Schädel zu vergolden. Sie begannen etwas zögerlich bei den Augenhöhlen, gingen kecker an die Stirn und pinselten vergnügt den Hinterkopf, bis schließlich der ganze Totenkopf in neuem Glanz erstrahlte. Chasper trat einen Schritt zurück und begutachtete zufrieden ihr Werk. Vom Theaterverein hatte der große Blonde außerdem zwei schwarze Kutten mit Kapuzen sowie Schminke ausgeliehen. Sie würden sich als Todesfiguren verkleiden. Chasper wollte dazu den goldenen Schädel auf dem Arm tragen, Gion sollte eine alte, stumpfe Sense mit sich führen. Da es heikel war, mit dem entwendeten Totenschädel im lokalen Fastnachtsumzug mitzulaufen, hatten sie beschlossen, in der naheliegenden Stadt am Abend durch die Gassen zu streifen. Sie wollten jungen Frauen auflauern, um sie zu erschrecken und vielleicht zu einem Röteli zu überreden. Gion freute sich darauf. Es war ein willkommenes Ausbrechen aus dem sich wie eine endlose Spirale wiederholenden öden Alltag.

 

Am nächsten Tag gegen Abend setzten sie ihren Plan in die Tat um. Per Fahrrad machten sie sich durch den Schneematsch auf den Weg in die Stadt. Den Schädel und die Umhänge trug Chasper in einem Rucksack bei sich. Gion hatte das schwierigere Los gezogen. Er balancierte den Stil der alten Sense auf dem Lenker, während das Sensenblatt auf dem Gepäckträger ruhte.

Als sie in der Stadt ankamen, hatte sich die Sonne bereits hinter die Berge zurückgezogen; die Nacht brach herein. Die beiden Männer ließen die Fahrräder beim oberen Stadttor stehen und zogen die Kutten über. Danach schwärzten sie sich possenreißend gegenseitig die Gesichter und Hände, packten ihre Requisiten und zogen vergnügt los. Die Stadt war gut gefüllt mit Fastnachtstreibenden. Clowns tanzten mit Burgfräuleins durch die Strassen. Eine Piratin versuchte einen Drachen zu verführen. Einige Burschen mit Holzmasken und Glocken trieben bei einer Gruppe vollbusiger Schönheiten den Winter aus, während es eine Horde Stelzenläufer vorzog, mit drei Bären auf das Wohl des regionalen Helden Jörg Jenatsch anzustoßen. Die beiden Todesfiguren erregten in all dem verrückten Treiben keine besondere Aufmerksamkeit. Sie bahnten sich einen Weg durch die engen Gassen der Altstadt und ließen dabei vor einigen Karnevalfeiernden die Sense schwingen, was jene mit grölendem Gelächter belohnten. Danach folgten die Sensenmänner lauter Musik, bis sie von Tanzenden umringt in einem Saal standen, in dem ein Quartett mehr schlecht als recht einen Walzer zu spielen versuchte. Die eher mäßige Musik hielt allerdings niemanden vom Feiern ab, so dass sich Chasper und Gion bald mitten im Reigen befanden. Gion ließ die Sense an der Wand stehen. Chasper legte den goldenen Schädel tollkühn in seine nun niedergestreifte Kapuze, wo jener neckisch hervorblitzte und das schwache Licht des Saals reflektierte. Die beiden Burschen tanzten abwechslungsweise mit einer mittelalterlichen Magd, einer Hexe, einem grauen Hund und miteinander, bis sich plötzlich eine zierliche Frau zwischen sie schob. Ein grünes altmodisches Kleid mit einer sauberen, sorgfältig gebügelten Schürze umschloss ihren schönen Körper. Ansonsten trug sie weder Maske noch Schminke. Ihre Haare waren schwarz, lockig und etwas zu wild, um wirklich gebändigt zu werden. Sie musterte zuerst Gion mit ihren dunklen, ernsten Augen und wandte sich dann Chasper zu. Dieser, bereits ziemlich angeheitert, packte die Fremde lächelnd und entführte sie aufs Tanzparkett. Gion starrte ihnen nach. Sein Herz pochte. War der Blick der Frau tatsächlich derselbe gewesen, wie der der Muttergottes? Fragend, tadelnd? Wusste sie etwa über ihr nächtliches Treiben Bescheid? Gion schüttelte sich und stricht sich eine Strähne aus dem Gesicht. Er schob seine Gewissensbisse beiseite, erinnerte sich ein weiteres Mal selbst daran, dass Karneval war, und verfolgte Chaspers Tanz. Als die Musik endlich schwieg, kam der Freund zu Gion zurück. Die schöne Fremde hielt er in seinen Armen. Gion suchte erneut ihren Blick. Doch nun war dieser weich und verträumt.

„Es ist so heiß hier“, japste Chasper. „Kommt ihr raus?“

Die Fremde nickte und antwortete schelmisch: „Ich komme mit dir, wohin du willst. Solange du mich am Ende heimbegleitest.“

Chasper lächelte siegesbewusst und pflügte sich durch die Menge dem Ausgang zu. Die Frau und Gion folgten ihm. Draußen schlugen ihnen angenehme Kühle und der Lärm der Strasse entgegen.

„Ich bin Gion, und der Tänzer hier ist Chasper. Wie heißt du?“, wollte der junge Mann wissen, als sie sich ihren weiteren Weg durch die Feiernden suchten.

„Madlaina Olivia Capol“, sie knickste altmodisch und etwas theatralisch.

Gion musterte sie. Kannte er den Namen? Der Bursche durchforstete die Schubladen seines Gehirns, aber sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Er kam zum Schluss, dass es nicht wichtig war, ob und woher er Madlaina kannte. Der Karneval brachte Menschen zusammen, die sonst nicht miteinander redeten: Reiche und Arme, Freunde und Feinde, Fromme und Feiernde, Bären und Helden. Die Wahrheit lag in dieser Zeit nicht hinter der Maske, sondern sie war die Maske, auf der wild und unbändig das Ungewisse lauerte.

Die Dreiergruppe setzte sich in eine Beiz, bestellte Wein. Die beiden Burschen tauten nun richtig auf. Sie rauchten Pfeife und erzählten Madlaina Gruselgeschichten. Beschwörend ließen sie sie im Totenzug mitwandern, bei den alten Pferdegräbern durch den Wald jagen und mit der weißen Frau einen kostbaren Schatz hüten. Madlaina ließ sich verzaubern und rückte dabei immer näher an Chasper heran. Irgendwann lag seine Hand auf ihrem Schenkel, irgendwann wanderte diese an ihren weißen Nacken. Als Chasper die neue Bekanntschaft sanft zu sich zog, um sie zu einem Kuss zu verführen, wich sie aus und sah den goldenen Schädel. Sie erstarrte einen Augenblick. Die Zeit schien zu gefrieren, dann barst das Eis so plötzlich, wie es gekommen war. Madlaina langte in die Kapuze und fischte den Totenkopf heraus. Ihre Augen wanderten über das goldene Calvarium, ihre Finger klopften einen sanften Rhythmus auf den Knochen.

„Bevor du mich küssen darfst, musst du ihm einen Schmatzer geben“, bemerkte sie plötzlich herausfordernd.

Gion verdrehte die Augen, doch Chasper schmunzelte. Er nahm ihr den Schädel aus den Händen, hob ihn vor seinen Mund, zögerte nur kurz und drückte dann einen ordentlichen Kuss auf die noch vorhandenen goldenen Zähne. Madlaina hatte ihn prüfend beobachtet, nun lachte sie das erste Mal an diesem Abend: „Jetzt bist du mit ihm verlobt!“

Chasper hob die Augenbrauen und kicherte betrunken: „Ja, genau. Der Schädel und ich werden heiraten! Gion, wirst du mein Trauzeuge sein?“

Gion fletschte die Zähne. Ihm ging dieses Spiel zu weit. Er fand, dass Chasper sich von Madlaina zu schnell zu etwas hinreißen ließ. Deshalb packte er den Arm des Freundes und erklärte: „Es ist schon spät. Komm, wir fahren nach Hause, solange wir noch stehen können.“

Chasper zögerte, dann nickte er aber und bemerkte mit einem Blick auf seine Begleiterin: „Der gute Gion ist eben meine Vernunft.“ Nach einem ausgedehnten Seufzer fügte er fragend hinzu: „Sehen wir uns wieder?“

Madlaina nickte. Sie wirkte fröhlich und beschwingt wie eine Verliebte. Ihre schwarzen Locken wippten, als sie ihnen zum Abschied zuwinkte.

Torkelnd liefen die beiden Burschen zu ihren Fahrrädern, schwankend fuhren sie durch die kalte, sternenklare Nacht nach Hause. Der Schädel befand sich wieder im Rucksack, die Sense hatten sie im Tanzsaal liegen gelassen. In ihrem Dorf angekommen, verabschiedeten sich die beiden jungen Männer voneinander. Bevor sie auseinandergingen, schob Chasper seinem Begleiter den Totenkopf zu: „Ich hatte ihn letzte Nacht bei mir, jetzt bist du dran.“

Gion schaute angewidert in Chaspers Gesicht, nahm den Totenschädel dann aber an sich, um nicht als feige zu gelten. Der Knochen fühlte sich kalt an. Als wäre er ein Fremdkörper aus einer anderen Welt. Während Gion langsam heimstapfte, schoss es ihm einmal mehr durch den Kopf, dass sie ihn nicht hätten aus der geweihten Kapelle, der Wohnstatt der Toten, stehlen sollen. Jetzt würde eine arme Seele deswegen leiden müssen. Wiederum schob Gion den beengenden Gedanken weit von sich weg. Es war Fastnacht. Am Karneval wurde sogar die Macht der Muttergottes gebrochen.

Gion fand, trotz seines angetrunkenen Zustandes, seine Haustür. Er schwankte langsam und so leise wie möglich die Treppe zu seiner Kammer hinauf. Endlich dort angekommen, stellte er den Schädel sorgfältig auf die Waschkommode und warf sich dann völlig erschöpft aufs Bett, wo er sofort einschlief.

 

In der Nacht hielten ihn wirre Träume gefangen. Madlaina ergriff ihn schreiend. Ihre Augen waren wieder tadelnd wie die der Muttergottes, aber verzweifelter. Sie forderte, dass Chasper sie nach Hause begleite. Sie wirbelte von Gion weg, um dann wieder nahe an ihn heranzukommen. Er spürte ihre Haare auf seinem Gesicht, wollte sich abwenden, doch sie hielt ihn mit ihren Gedanken gefangen. Ein Geruch nach Sehnsucht, Trauer und Schmerz stieg in seine Nase. Als Gion sich befreien wollte, ließ Madlaina ihn so plötzlich fallen, wie sie ihn gepackt hatte. Der junge Mann stürzte in einen schwarzen Abgrund. Er hörte Schreie, Seufzen, Gelächter. Dann war die Luft auf einmal von der Tanzmusik einer Hochzeit erfüllt. Gion fiel mitten in die Feierlichkeiten. Er blieb zunächst halb besinnungslos liegen und setzte sich, als die Musik lauter wurde, langsam auf. Um ihn herum bewegten sich Skelette zu einer disharmonischen Tonfolge, die sich ihm wie glühendes Eisen ins Gehirn brannte. Die Tanzenden kicherten, grinsten, grölten. Mitten in ihnen bewegte sich ein Kadaver schwerfällig in einem schäbigen Anzug. Seine Hand wurde geführt von einem Skelett in einem abgetragenen grünen Kleid, dessen kahler goldener Totenkopf mit einem Brautkranz aus Seidenblumen und Wachsperlen geschmückt war.

Der Kadaver, der den Bräutigam darstellte, entdeckte den am Boden sitzenden Mann als erster. Der Hochzeiter kam hinkend heran und beugte sich über den Gast. Gion glaubte, in seinen leeren Augenhöhlen Chasper zu erkennen. Dessen Blick wirkte so gefoltert wie der des Gekreuzigten; er schien um Hilfe zu flehen. Gion machte den Mund auf, wollte etwas sagen. Doch sogleich drängte sich die Braut dazwischen; sie klapperte mit den goldenen Zähnen, packte den Bräutigam unbarmherzig und zwang ihn wieder in den Tanz zurück. Die anderen johlten und näherten sich Gion, um auch ihn zu holen. Der junge Mann schrie in Panik auf, er wälzte sich auf die Seite, fiel und wachte schweißgebadet neben dem großen Holzbett auf.

Was für ein schrecklicher Traum! Gions Herz bebte, sein Mund war völlig ausgetrocknet, der Puls pochte wie ein Hammerschlag in seinen Schläfen. Zitternd erhob sich der junge Mann. Noch halb im Traum gefangen, beschloss er, den goldenen Schädel sofort zurück ins Beinhaus zu bringen. Gion wandte sich dem Waschtisch zu, auf dem er gestern den Totenkopf deponiert hatte. Draußen begann die Sonne über den Bergen aufzugehen. Sie tastete sich mit ihren ersten Strahlen in die kahle Kammer, malte fahle Muster auf den Boden, die Wände...

Gion starrte auf die Waschkommode. Der Schädel war nicht dort. Hatte er ihn an einen anderen Ort gestellt? Der junge Mann suchte in Panik das Zimmer ab. Doch der Totenkopf war verschwunden. War er gestohlen worden? Hatte Chasper sich etwa einen Scherz mit ihm erlaubt? Oder war…