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Impressum

© Ruth Fruchtman, Berlin 2017

© KLAK Verlag, Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Natalie Wasserman

Satz/ Layout: Jolanta Johnsson

Umschlag: Jolanta Johnsson

ISBN 978-3-943767-81-0

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 15

Kapitel 2

Kapitel 16

Kapitel 3

Kapitel 17

Kapitel 4

Kapitel 18

Kapitel 5

Kapitel 19

Kapitel 6

Kapitel 20

Kapitel 7

Kapitel 21

Kapitel 8

Kapitel 22

Kapitel 9

Kapitel 23

Kapitel 10

Kapitel 24

Kapitel 11

Kapitel 25

Kapitel 12

Kapitel 26

Kapitel 13

Kapitel 27

Kapitel 14

Kapitel 28

Ich, Kohelet, war König über Jisrael in Jerusalem… Und ich gab mein Herz, um Weisheit zu erkennen, und Torheit und Unverstand zu erkennen, und ich erkannte, dass auch das ein Haschen nach Wind ist.

Denn bei viel Weisheit ist viel Gram, und wer Kenntnis mehrt, mehrt Weh.

Prediger I. 12; 17-18, nach der Übertragung aus dem Hebräischen von Leopold Zunz

Zitat „Kohelet“, Prediger I. (Verse 12, 17-18)

Übersetzung aus dem Hebräischen von Leopold Zunz. (Victor Goldschmidt Verlag, Basel 1995)

Kapitel 1

Ein diesiger, dunstiger Tag, auf der Haut Gespür von Regen. Nicht wie damals. An jenem Montagvormittag, als Ralf sie in die Klinik fuhr. Vorne im Auto kaum Platz für den dicken Bauch. Ihren dicken Bauch. Sie erinnert sich noch an die Sonne, eine hängende schwefelgelbe Scheibe, Hitzedunst. Waren die Wagenfenster heruntergekurbelt, oder geschlossen? Bestimmt geöffnet, sonst hätte sie nicht atmen können. Noch weiß sie nicht, dass das Kind in ihrem Bauch David sein wird, sie lassen sich überraschen, vielleicht wird es eine Tochter. Dann wird sie Judith heißen.

Sie fühlt sich unwohl, ängstlich, wenn sie jetzt darüber nachdenkt, sich in die Frau von damals hineinversetzt. Die Frau, die ihr nun fremd geworden ist. Nein, nicht fremd, sondern fern. Die ferne Frau von damals. Und wieder sieht sie die Szene vor sich: die junge Frau mit dem riesigen Bauch, im schwarzen Umstandskleid, nein, für das Kleid aus schwarzem Rips war es an jenem Tag zu warm gewesen, trotzdem sieht sie sich in schwarzem Trägerkleid, mit einem Hemd darunter, aber das ist unwichtig. Wichtig ist nur der Bauch. Hatte ihr der Bauch den Blick auf die Zeitungsständer verschleiert, von denen Ralf ihr zwei Tage später berichtete? Sie schaute vielmehr geradeaus, den Blick nicht nach innen gerichtet, wie es bei schwangeren Frauen bekanntlich zu sein hatte, sondern auf den schimmernden Nebelschleier, den Himmel. Sie hört das Hupen, das schrille Klagen der anderen Autos, spürt in der Brust die Angst. Ab und an betrachtet sie flüchtig Ralf. Ralf, der ebenfalls den Blick geradeaus richtet. Schon damals war der Londoner Verkehr stadteinwärts um diese Zeit dicht, trotzdem sieht Ralf die Zeitungsständer und sie, Roma, sieht sie nicht.

Im Nahen Osten beginnt der Sechs-Tage-Krieg – im israelischen Narrativ so genannt -, im arabischen der Krieg des Jahres 1967.

Jetzt der vierzigste Jahrestag, die zunächst verbotenen, nur zähneknirschend von Regierung und Behörden gestatteten Mahnwachen und Demonstrationen in Heiligendamm. Am vergangenen Wochenende schon eintausend Menschen verletzt, über hundert verhaftet, vierhundert verwundete Polizisten. Darf man das glauben? fragt sich Roma, als sie in der Küche das Frühstück zubereitet, schwarzen Kaffee, Vollkornbrot mit Margarine und Marmelade, wie jeden Tag, beinahe um die gleiche Zeit, für sich, nur für sich, da sie schon lange allein lebt.

Ein grauer Vormittag, ein Versprechen auf Sonnenschein, das nicht eingehalten wird, und übermorgen Davids Geburtstag. Und wieder Sommer. Schon vor dem Wochenende soll es über dreißig Grad werden.

Warum ist ihr die Frau von damals so fern? Sie schluckt, als die Jahreszahl sich in ihr Bewusstsein drängt. Wie war es nur möglich, so viel Zeit, über die Hälfte des Lebens vorbei. Er wird vierzig. Wie kann David schon vierzig werden?

Das kleine, unglückliche Kind, damals erst vier Jahre alt. Sie sind in der Bäckerei auf dem Weg zum Kindergarten. Roma bestellt ihm ein Schokoladencroissant, un petit pain au chocolat, sie warten, warten. Der runde Kinderkörper spannt sich, verängstigt, sein petit pain – damals noch, in Frankreich.

Noch immer fährt sie mit Ralf im Auto, eine Nebelgestalt, diese Roma damals. Das Auto bleibt im Stau stehen, wieder hört sie Hupen, schaut aus dem Fenster, sieht immer noch nicht die Zeitungsständer: Krieg im Nahen Osten. War in Middle East. Sieht nur das gelbe Strahlen des Vormittags. Auf dem hinteren Sitz der Koffer mit den Nachtsachen, dem „Allernotwendigsten“ steht auf dem gedruckten Blatt, das ihr vorab ausgehändigt wurde.

Benno Ohnesorg sei getötet worden, das nahm sie damals kaum wahr, es musste kurz vor der Fahrt mit Ralf ins Krankenhaus geschehen sein, am Freitag, ja, in jenem Jahr fiel der 2. Juni auf einen Freitag und der Krieg fing am Montag an, in der Nacht von Sonntag auf Montag…

Das alte Leben geht an jenem Vormittag zu Ende, das neue beginnt. In jenem Augenblick, als sie allein im Schlafsaal steht, sich auszieht und aufs Bett legt. Jäh, unbemerkt. Nie wieder soll es so sein wie vorher. Allein, ohne Ralf, der zur Arbeit gefahren ist und danach nach Hause, um ihr frische Sachen zu holen, der liebende, noch geliebte Ehemann. Der werdende Vater.

Ein historischer Geburtstag, zwei Tage später, David ist erst geboren worden, David, ja David, ihr Sohn. Der Einmarsch des israelischen Militärs, die Eroberung von Alt Jerusalem, O, du goldene Stadt, singt die Sängerin. Das Lied verdächtig schnell komponiert, als ob die Komponistin wüsste... Wahrscheinlich wusste sie‘s, alle hatten sie es gewusst, geplant, es sollte nur zufällig so aussehen, als ob... Alle um ihr Bett herum. Die Freude, ach, die Freude, wir haben gewonnen!

Als sie später auf der Friedrichstraße läuft, bietet ihr ein junger Schwarzer das Stadtmagazin an. Sie kauft es ihm ab, weil er schwarzhäutig ist, dort allein steht.

Heiligendamm sei nun völlig abgeriegelt, heißt es, mehrere Organisatoren hätten deshalb ihre Mahnwachen abgesagt. Heute in den Nachrichten hört sie, als sie im Flur zwischen Küche und Bad hin und her geht, wie der eine Minister von Gummigeschossen redet: Ja, die Polizei müsse gegen die Demonstranten, die Autonomen, härtere Maßnahmen ergreifen. Von scharfer Munition ist die Rede.

Gummigeschosse: Die palästinensischen Kinder, die sie in den Kopf kriegen oder ins Auge... Was bilden sich die Leute ein, die das hören und lesen? Dass sie tatsächlich nur aus Gummi bestehen? Die Gummischicht ist in Wirklichkeit dünn, die Patrone aus Metall zusammengesetzt. Sind das die Patronen, die zersplittern oder wiederum andere? Die Kinder wachsen auf, mit den Splittern im Kopf.

Etwas Besonderes, sie will David etwas Besonderes schenken, ein runder Geburtstag. Warum rund und nicht kantig, sperrig, Ecken und Enden? Eine Abrundung, das Ende einer Epoche, der Anfang einer neuen. Das Leben fängt erst mit vierzig an, lautet ein alter Schlager. Als Roma vierzig wurde, wider Erwarten Auftrieb. Sie rannte, rannte, noch schneller als früher. Wagelustig. Frischer Wind. Eine neue Liebe kündigte sich an, verlief bald im Sand. Strohfeuer. Aber Roma lebte auf, war wie verjüngt.

Und David jetzt? Was wird aus ihm? Nach langem Überlegen, Zögern, hatte er einen sicheren Beruf ergriffen, war Buchhalter geworden, nicht Architekt wie sein Vater.

Was hättest du am liebsten? fragte sie ihn. Nur selten weiß David, was er will. Roma weiß es auch nicht. Etwas, das mehrere Jahre lang hält, Jahrzehnte, ein Leben lang.

Etwas Besonderes. Er könnte es anschauen, sagen: Das schenkte mir damals meine Mutter, zum Geburtstag, meinem vierzigsten.

Michaela stellte eine Geschenkliste zusammen; Roma erklärte sich einverstanden, ihm die Bücher und Musiken zu schenken, die nach der Wahl der anderen Verwandten und Freunde übriggeblieben waren. Das Besondere fiel also weg. Sie fährt zum Drugstore, das ist am einfachsten, obwohl sie diese Einrichtungen sonst verachtet, kauft lieber in kleineren Läden und Kaufhäusern ein, und dieses hier ist ein riesiges Kulturkaufhaus, ein durchaus neuer Begriff, die Käuflichkeit der Kultur; heruntergesetzte Musiken, verbilligte Bücher, Kulturschnäppchen, auf die sie mit ihren schmalen Einkünften angewiesen ist.

Mama, immer tust du alles im letzten Augenblick.

Roma sei schlecht organisiert. Sie ist weder wie Michaela noch wie Michaelas Mutter, Gesa. Auch nicht wie Ralfs Ehefrau Mary. David und Ralf haben sich vernünftige, fähige Frauen ausgesucht, die jegliche Hausarbeit perfekt meistern, auch wenn sie diese selbst nicht ausführen müssen. Ihren Männern nehmen sie noch dazu jede Entscheidung am liebsten ab.

Roma fährt jetzt zum Drugstore, dem einzigen Berliner Kaufhaus, das in der Lage ist, in letzter Minute ein Buch oder eine Musik zu bestellen. Die professionelle Kühle der Kassiererin, die Gleichgültigkeit, Hilflosigkeit gewisser Verkäufer; die eigene Hilflosigkeit, Abhängigkeit, Roma irrt von einer Abteilung in die nächste. Ja, das ist alles richtig, aber das Buch ist noch nicht da. Nein, Roma kann jetzt nicht warten. Wieder draußen auf dem Bürgersteig plärrt ihr Georges Brassens entgegen, sein vollständiges Plattenwerk nun auf mehreren Scheiben gepresst und preiswert angeboten. Brassens. Früher jede Platte geschätzt und gehortet. Mit ihrem ersten, selbst verdienten Geld kaufte sie sich eine, brachte sie nach Hause, legte sie auf. Vor Aufregung atemlos. Il n‘y a pas d‘amour heureux...

Hier und heute klingt die Stimme anders. Metallen. Gefällig. Brassens. Ja, das sei Georges Brassens, bestätigt der Händler schroff und Roma eilt weiter.

Sie sieht die Zeitungsständer nicht, die Schlagzeilen, der Krieg fängt an.

Wie viele Menschen werden an jenem ersten Tag getötet? Wie viele am zweiten?

In den Wochen davor verschlingt sie die Zeitungsartikel. Ralf bringt ihr wie jeden Morgen den Tee ans Bett, manchmal auch Frühstück. Roma richtet sich auf, blättert ungeduldig weiter. Die Nachrichten schon auf der ersten Seite. Es wird ernst. Die UNO zieht sich zurück. Die Seestraße von Tiran wird geschlossen. Kein Zugang mehr zum Roten Meer. Kalt rieselnde Angst. Sie liefern uns aus, ans Messer. Solange die Araber einander bekämpfen, hieß es immer, haben wir nichts zu befürchten, doch jetzt haben sich die arabischen Staaten vereinigt. Jetzt könnte es wirklich passieren. Sie könnten ihr Versprechen erfüllen, uns ins Meer treiben. Ihre Drohung würde Wirklichkeit. Und was dann? Werden wir wieder zu Wanderern auf Erden? Ihr Appetit auf das Frühstück, das Ralf gerade heraufträgt und ihr vorsetzt, vergeht. Sie schaut ihn an, gequält, verängstigt. Ralf wird es weniger ausmachen, die Familie Kahn ist kühl, assimiliert. Ihre Familie ist die traditionelle, die zionistische.

Das schlechteste Maiwetter seit Jahren, liest sie nun in der Zeitung von damals, die sie beim Aufräumen nach dem Tod ihrer Eltern, Leah und Jakob Blumberg, gefunden hatte und jetzt wieder hervorholt. Das hatte sie vergessen; sie erinnert sich nur an die pralle Hitze, die heißen, unbequemen Tage, den geschwollenen Bauch, das nächtliche Sodbrennen. „Wir werden nicht angreifen“, versicherte Nasser, acht Tage vor dem israelischen Angriff. Sie hätte ihm damals nicht geglaubt, wie sie auch an die UNO nicht glaubte, die prädestiniert war, Israel im Stich zu lassen. Alle lassen uns im Stich, immer, der Refrain. Das altbekannte Lied.

Auf einmal, in der anderen Spalte, liest sie: „Die ‚Falken‘ werfen Verzögerung vor.“ Erst jetzt fällt ihr der Satz auf. Den hatte sie damals auch nicht gesehen. Vermutlich hatte die Welt ihn damals auch nicht verstanden. Israel bereitete sich schon auf den Krieg vor.

Ein Hustenanfall, Niesen, wieder ihre Lunge, anscheinend durch den Artikel ein paar Seiten weiter ausgelöst, über Abtreibung in Schweden: Wenn man den Eingriff erst nach acht, neun Wochen vornimmt... Ob der Fötus dann Schmerz empfindet?

Keuchend steht sie auf, geht in die Küche, nimmt ein Glas, gießt sich Wasser ein, trinkt. Im Nachhinein kann sie sich nicht erinnern, den Artikel mit Nassers angeblichem Friedensangebot gelesen zu haben, aus heutiger Sicht vernünftig, und nichts mehr, nichts weniger als das, was heute von Teilen der israelischen Friedensbewegung angeboten wird. Anerkennung der Grenzen von 1949, von ägyptischer Seite sogar großzügig. Den Arabern könne man nicht trauen, sagte Leah immer. Drehst du dich um, stecken sie dir ein Messer in den Rücken. Lügentaktik von Nasser also, hätte Roma gedacht, hätte sie das damals gelesen. Aber sie hatte es wohl gelesen, wenn nicht in dieser Zeitung, dann in einer anderen. Vermutlich The Times.

Ich will hinfahren, hinfahren und helfen. Sitzt halb gebückt, halb aufgerichtet im Bett, schlürft den Frühstückstee. Warum jetzt, gerade jetzt – sie schaut hinunter auf ihren Bauch, der ihre Aufregung nicht teilt, sich in diesem Augenblick ungewöhnlich ruhig verhält.

Nicht in der Armee gewesen, sie kann also nicht mitkämpfen. Nicht an die Front – Roma bildet sich nichts ein, naiv ist sie nicht, aber in der Küche helfen, das könnte sie, in einem Kibbuz, während die Männer und die Soldatinnen fort sind – abspülen, putzen, kochen. Nicht unbedingt ihre Stärke, aber sie ist bereit, es auf sich zu nehmen.

Am 2. Juni, als Benno Ohnesorg von einem Polizisten in Berlin erschossen wurde, stand im Londoner Jewish Chronicle: „Zurückhaltung hat eine Grenze. Israel bereit, allein zu handeln.“

Schülerinnen schleppen Sandsäcke durch die Straßen von Tel Aviv. Und alle anderen fahren hin, jüdische Männer und Frauen, aus Neuseeland, aus Frankreich, aus Schweden – nur Roma nicht. Nur sie kann nicht hinfahren, er hält sie auf, David. Unwissend.

Und Roma streichelt abwesend in ihren Gedanken den Bauch von damals.

Sie fährt nach Kreuzberg, um die Geburtstagskarte auszusuchen. Dort gibt es einen Papierladen, wo man ungewöhnliche Karten findet; da könnte sie auch umweltfreundliches Geschenkpapier und Bändchen besorgen.

Die Rollen von Geschenkpapier stehen in ihren Behältern hinten im Geschäft; Roma vergleicht Farben und Preise, entscheidet sich für das grüne Papier, dazu blaue Bändchen. Ob die Farben zusammenpassen – sie zögert unentschlossen, greift dann doch nach den beiden, zwei unterschiedliche Farben wirken interessanter als eine gleiche und in diesem Fall ist es sogar ein wenig preiswerter. Roma will, dass ihre Geschenke schön wirken, ihm gefallen. Kleinere Geschenke zuerst, und später kann sie ihm vielleicht etwas Größeres schenken. Angst, er könne ihr vorwerfen, ihr Geschenk würde billig aussehen, geschmacklos, er würde es ihr nur nicht sagen, er könnte es vielleicht denken. Das Geschenkpapier wird in einer neuen Plastiktasche verstaut, die Geschenkbändchen und die Karte auch, sie zahlt mit der Bankkarte, bedankt sich bei der Verkäuferin, die keine Deutsche ist, das hört Roma an ihrer Aussprache, kann nur nicht ihre Herkunft erkennen. Türkische oder osteuropäische? Sie kann sie nicht fragen.

Roma läuft zur U-Bahn zurück, auf der schattigen Straßenseite. Seit wann scheut sie die Sonne? In ihrer Jugend lag sie stundenlang ausgestreckt am Strand, aber jetzt – die Sonne brennt, sticht.

In der Unterführung versammeln sich die Obdachlosen, Arbeitslosen, Alkoholiker und Drogensüchtigen – Männer, Frauen, Hunde – man kauft, verkauft Rauschgift, nur Roma sieht es nicht. Sie hört nur davon. Wenn der eine junge Mann mit der Hand in die Hüfttasche greift, heißt es, dass er sich gerade Stoff besorgt hat. Auf dem Boden reicht der eine Kerl seinem Kumpel eine Zigarette... Von Spritzen keine Spur, aber Roma sieht es sowieso nicht, sie schiebt sich an ihnen vorbei.

Das Entscheidende geschah in der ersten halben Stunde des Krieges, berichtet The Evening News, als Israel die noch stationäre ägyptische Luftwaffe zerstörte.

Gerade als Ralf die Zeitungsständer bemerkt, die für Roma unsichtbar bleiben. In den Stunden, in denen sie auf die Entbindung wartet, dringen sie im Süden in den Sinai vor, im Norden Richtung Syrien. Das weiß sie noch nicht, halb schlummernd, halb wach...

Die Siedler werden in dem Haus, das sie drei Monate zuvor besetzt hatten, noch bleiben dürfen, heißt es heute in Jerusalem. Die Sache sei nicht rechtens, aber sie berufen sich auf einen angeblichen Kaufvertrag. Es sei ferner überhaupt nicht sicher, ob sie jemals gezwungen werden könnten, das Haus zu verlassen. Den ursprünglichen palästinensischen Besitzern wird zwar recht gegeben, aber die jüdischen Siedler haben ihrerseits auch das Recht, in mehreren Instanzen Widerspruch einzulegen. Das Haus befindet sich auf dem Weg der Betenden, der zur Höhle der Patriarchen führt. Sollte es den Siedlern gelingen, dort zu bleiben, und nur wenig spricht dagegen, wäre dies ein Präzedenz­fall. Danach könnten andere Siedler ihre sonstigen Ansprüche geltend machen. Deshalb wird die Evakuierung des Hauses hinausgezögert. Wieviel ist ein Urteil selbst des Höchsten Gerichtshofs heute in Israel wert? überlegt sich Roma. Auf dem Pressefoto sitzen die Kinder der Siedler um den Tisch und studieren Talmud und Tora. Vielleicht steht sogar im Talmud, wie man sich das Eigentum anderer Menschen zu eigen macht? Aber Palästinenser zählen nicht als Menschen, Roma spürt wieder Wut im Bauch. Die Schwäche, die Feigheit derjenigen Minister in der israelischen Regierung, die das Urteil der städtischen Verwaltung in die Praxis umsetzen könnten, es jedoch nicht tun. Nicht nur weil es bequemer ist, sondern weil sie es vermutlich nicht tun wollen.

Als sie David aus ihrem Körper ins grelle Tageslicht herauspresst, erobert gerade das israelische Militär die Altstadt von Jerusalem. Roma, ermattet, wird zusammengenäht. Liegt auf der Pritsche, der junge Arzt beugt sich über sie. Erst später, als sie wieder im Bett liegt, erzählt ihr Ralf von den Zeitungen, vom Krieg. Die Westbank, der Sinai, das Wasser und heute Jerusalem.

Roma atmet auf. Ja, gewonnen, wir haben gewonnen. Und zugleich danach Unbehagen, das auch Ralf mit ihr teilt. Sie sieht, dass auch er es verspürt. Sie spricht ihn darauf an, er gibt es nickend zu. Was wird aus Israel, wenn die Sache sich jahrelang hinzieht, wenn keine Entscheidung getroffen wird? Was wird aus den Menschen, die dort leben?

Aber bald kommen Leah, Romas Vater, Ralfs Mutter, Onkel und Tanten, alle freuen sich. Vor allem wegen David, der im Bettchen neben Romas Bett liegt und das Geschehen in sich aufnimmt.

Wann genau sie die Westbank damals eingenommen haben... Roma schaltet das Radio ein. In Hebron ist gerade ein Palästinenser von israelischen Soldaten getötet worden. Er habe sie angegriffen, heißt es. Auch seine Frau sei verletzt worden. Das war um vierzehn Uhr. Als Roma am späten Nachmittag mit den Geschenken für David nach Hause kam, hörte sie im Radio nichts mehr davon. Am Abend gab es bereits andere Nachrichten und der Vorfall war vergessen.

Doch nicht für die Familie Al-Zahari. Der Vater, Abdallah, kommt gerade mittags nach Hause. Als die Soldaten an die Tür klopfen, öffnet sie ihnen sein Sohn Iyad. Der Vater hört die Schreie, als die Soldaten Iyad unvermittelt hinausschleppen, auf ihn losprügeln, ihm den Kopf gegen die Häuserwand schlagen. Hala, seine Frau, schreit auf, Abdallah rennt hinaus, fragt, was los sei, legt die Hand auf den Arm des einen Soldaten, versucht sich vor Iyad zu stellen, um ihn zu schützen. Die Patrone des Gewehrs des einen Soldaten durchdringt seinen Kopf, kommt auf der anderen Seite des Schädels heraus, wird später erzählt, er fällt zu Boden. Hala, die nach ihm herauskommt, wird angeschossen und schwer verwundet; zwei weitere Söhne, Issam und Salah, werden auch geschlagen und verletzt. Die Krankenwagen, die Hala, Iyad und auch Salah ins Krankenhaus fahren sollen, werden aufgehalten, dürfen erst nach einer längeren Verzögerung durchfahren. Die Soldaten terrorisieren die weiteren Einwohner, sperren die Frauen ins Zimmer, durchsuchen das Gebäude. Jeden Raum, jeden Winkel bis in die Nacht.

Ja, so heißt es jetzt, das israelische Militär suche den siebzehnjährigen – wohl den jüngsten Sohn, Mohammed, der nicht zu Hause ist. Was er genau getan haben soll, wird nicht berichtet.

David hatte versprochen anzurufen, um die Planung für seinen Geburtstag zu besprechen. Roma wartet. Um zehn am Vorabend, als er sich immer noch nicht meldet, greift sie zum Telefon.

Ach ja, morgen. Seine gelangweilte Stimme.

Ja, morgen. Wie machen wir das?

Willst du denn wirklich hinkommen? Sie planen mittags ein Picknick, vor dem Tee, der später bei ihnen zu Hause im Garten stattfinden soll.

Ja, ich möchte die Kinder sehen.

Er gibt ihr die Adresse durch. Wie immer hört sich das alles unnötig kompliziert an. Die schwere Geschenktasche fällt ihr ein.

Kann ich nicht zuerst bei euch vorbeikommen? Ihre Stimme zögerlich, unsicher.

Nein, das geht nicht. Ich hole Emma und ihren Freund vom Flughafen ab, bringe sie zuerst nach Hause.

Roma versteht es. Es ist David zu viel, Ralfs jüngere Tochter, der Freund und sie, alle auf einmal. Gut. Dann fährt sie eben mit den Geschenken hin. Sie wird es schaffen. Irgendwie. Bloß nicht klagen, nicht quengeln.

Seine Stimme ungeduldig, unfreundlich, was ist mit ihm los? Roma fragt ihn nicht. Es ist ihm gleichgültig, ob sie kommt oder nicht kommt. Das sagt er zwar nicht, aber sie spürt es dennoch.

Vielleicht Streit zu Hause, Streit mit Michaela? Doch nicht immer die vorgespielte heile Welt? Als Mutter soll Roma es ausbaden, Mütter sind dafür da, die ewigen Sündenböcke. Roma lehnt diese Rolle ab, sie spielt nicht mit. Gut, jetzt sind sie sich einig, sie werden sich um zwölf, halb eins treffen. Nach dem Gespräch legt sie den Hörer auf, trocknet die paar Tränen, die trotzdem kommen, verflucht sich, ihn, alle.

Dann bleibe ich morgen nicht so lange, redet sie sich zu, gehe am Abend in den Vortrag, wie ich es vorhatte. Sie atmet auf. Immer kann sie sich retten, retten ins eigene Leben.

Schaut auf die Uhr. Ungefähr um die gleiche Zeit hatten die Wehen damals eingesetzt. Sie lag im stickigen Dunkel. Damals wie heute, allein.

Davids erster Tag auf der Welt, und zugleich der erste Gang des israelischen Ministerpräsidenten und seiner Minister an die Klagemauer.

Strahlende Sonne, ein wunderbares Geburtstagswetter, und Roma macht sich auf den Weg, schon eine Viertelstunde zu spät. Es ist unmöglich, kann nicht sein. So viel Zeit, so viele Jahre. Sie steigt in die Stadtbahn ein, wie viele Stationen sind es? David längst kein Kind mehr und sie schon so alt, obwohl die Natur mit ihr gnädig umgegangen ist, man sieht ihr den erwachsenen Sohn und die zwei Enkelkinder nicht an. Das hofft sie zumindest. Die Geschenke sind sorgfältig eingepackt. Himmelblaue Bändchen, passend zum grünen Papier. Selbst die Schleifen wirken nicht unprofessionell. Den Pullover fand sie im letzten Augenblick. Zufällig, kaufte ihn sofort. Dafür hat sie manchmal einen guten Blick. Die Karte: Für David – liebste Geburtstagsgrüße, Deine Mama. Wenn es ihm nicht gefällt... Du kannst nur dein Bestes tun, sagte Leah immer, Romas ganze Kindheit und Jugend hindurch, mehr kannst du nicht. Ob sie immer ihr Bestes getan hat, bezweifelt Roma. Heute ist sie diskret angezogen. Langer Sommerrock, ärmel­-loses T-Shirt, Sandalen, Sommerhut. In der einen Hand trägt sie die Tasche mit den Geschenken, in der anderen den Beutel mit dem Regenschirm – für den Nachmittag und Abend ist Gewitter angesagt –, den Stadtatlas, ein Buch, die Wasserflasche.

Und ich lasse die Geschenke im Zug liegen, sagt sie sich, ich lasse die ganzen Geschenke im Zug liegen, da wird er sagen: Typisch Mama.

Die Bahn fährt ein. Es ist der richtige Bahnsteig, auch die Richtung stimmt und schon an der nächsten Station muss sie aussteigen.

Sie sitzt im Bett, schielt auf das schmale weiße, zusammengeschnürte Päckchen im Bettchen neben sich, federweiche dunkle Haare, blasses Gesichtchen – das Kind. Blumen, Freundinnen... Gebt die Gebiete zurück, beginnt die Singstimme in ihrem Kopf. Wann genau? Wann geben sie die Gebiete zurück? Leah schweigt, zuckt die Achseln, lächelt, das schmeichelnde, nichtssagende Lächeln, das Roma so gut kennt.

Wann gebt ihr sie zurück?

Die Familie in Hebron, hört Roma wieder in den Nachrichten. Diesmal sind sie namenlos, der Vater Abdallah, im Rundfunk auch ohne Vornamen und verjüngt auf siebenundsechzig, obwohl er schon die siebzig überschritten haben soll, griff die Soldaten an. So heißt es. Deshalb sei er getötet worden. In wenigen Tagen wird man ihn schon vergessen haben, auch seine Frau. Seit heute Nacht seine Witwe, Hala, die nun, so wird berichtet, auf der Intensivstation liege. Auch das sei allerdings nicht sicher, überlegt Roma. Ebensowenig ob sie die medizinische Versorgung erhält, die sie nötig hat... Nur die Menschenrechtsorganisationen werden sich noch an sie erinnern und Auskunft geben. Und die Söhne? Wie sie es verkraften werden...

Sie steigt aus der Bahn, blickt auf den Stadtatlas, den sie in der zweiten Tasche verstaute, geht im langen, orangeroten Sommerrock die Treppe hinauf. Vor dem Eingang zum Bahnhof erstreckt sich schon der Wald, mehrere Wege laden in verschiedene Richtungen ein.

Sie fragt am Schalter nach dem See.

Geradeaus durch den Wald.

Jetzt steht sie an der Hauptstraße. Geradeaus hieße überqueren, aber das kann nicht richtig sein. Dort ist eine Wohnsiedlung. Sie schaut wieder auf den Stadtplan. Geht auf eine Gruppe zu, die ihr entgegenkommt, ein deutsches Ehepaar und eine junge – Japanerin? Chinesin? Koreanerin? Roma fragt wieder nach dem Weg zum See. Das ältere Ehepaar schaut ratlos um sich. Nach rechts, antwortet die Japanerin selbstbewusst lächelnd. Auch Roma lächelt, bedankt sich, geht weiter.

Hochsommer. In der Tat hat David sich zum Geburtstag ein wunderbares Wetter ausgesucht. Damals war der Vormittag, als sie im Bett lag, grau gewesen – graubleich. Oder schien damals doch noch die Sonne und sie hat es nur vergessen? Sie spürt ihr Herz klopfen, sie fürchtet sich vor dem Treffen mit David. Ja, sie fürchtet sich oft – seit wann eigentlich? Sie muss sich vor allem natürlich benehmen. Keine Künstelei, David durchschaut jedes Spiel sofort. Echt sein, Mutter sein, seine Mutter. Mama.

Schon hört sie Kindergeschrei, unbändiges Jauchzen.

Es ist nun Mittag, knuffig heiß. Gleißend gelbe Hitze. Trotz des großen verblümten Sommerhuts würde sie sich am liebsten im Schatten verkriechen. Mitten auf der Wiese sieht sie eine Menschentraube, sie schaut genauer hin. Aus dieser Entfernung erkennt sie niemanden. Ist das denn David? Sie setzt die alte, schon beschmierte Sonnenbrille ab. Früher einmal auf dem Flohmarkt ergattert, eine schöne Form und ungewöhnliches Gestell, doch völlig unpraktisch, weil sie ständig abrutscht und nur wenig Schutz vor den Sonnenstrahlen bietet. Jawohl, da stehen sie – Emma, der Freund. Weiter weg auch David. Jetzt, noch weiter hinten, im Schatten erkennt sie Davids Auto.

Roma setzt ihr wohlwollendes Lächeln auf. Ich freue mich so, euch zu sehen. Und sie freut sich wirklich. Oft aber, gerade wenn sie sich freut, erkennt David ihre Freude nicht, sagt nur störrisch: Was hast du? Und seine scharfen Konsonanten, die kurzen Vokale schleifen an ihrer Freude. Ja, und nun, was hast du denn? will er wissen. Nichts, Roma hat nichts, es fehle ihr nichts. Sie freut sich, warum sieht er nicht, dass sie sich freut?

Sie nehmen sie erst wahr, als sie unmittelbar vor ihnen steht, die Tragetasche mit den Geschenken für ihn schleppend, den großen Hut, den langen Rock. Ganz ihre Rolle. Was für ein herrliches Wetter! Und Roma strahlt wie die Sonne. Emma tritt auf sie zu, auch sie strahlt, das große Mädchen trägt ein blaues T-Shirt, ganz die neue Mode, die die Brüste betont, dazu gestreifte Bermuda-shorts.

Schön, dich wiederzusehen! Rufen Roma und Emma, beide nahezu gleichzeitig. Emma umarmt sie, küsst sie auf die Wange. Die eine. Roma erwidert den Kuss auf beide Wangen wie in Frankreich: Wie schön, dich wiederzusehen!

Neben Emma steht ihr Freund, der gleiche wie letztes Mal? Fragt sich Roma, mustert ihn vorsichtig, als sie ihm lächelnd zunickt, ihm die Hand schüttelt, aber ihre ganze Aufmerksamkeit gilt nur David, der sich nun umdreht und auf sie zukommt.

Wie weit der Weg zu ihm hinauf, Roma stellt sich auf Zehenspitzen, streckt die Arme, David neigt sich zu ihr herunter, sie begegnen sich hilflos in einer gewollt zärtlichen Mutter-Sohn-Umarmung, irgendwo auf halber Strecke; Roma drückt ihm zwei warme Küsse auf die Wangen, frisch rasiert ist er nicht und das gefällt ihr, die winzigen dunklen Stoppeln. Herzliche Glückwünsche zu deinem Geburtstag, sie will diese Floskel nicht. Liebe, Liebes, liebe Glückwünsche gibt es nicht. Alles Liebe. Ja, alles Liebe zu deinem Geburtstag. Sie spürt seine Arme, wirft auch ihre Arme um ihn, will ihn an sich drücken. Aber schon ist es vorbei. Er tritt als erster von ihr weg. Sie überreicht ihm die Tasche. Er wundert sich, weil diese so schwer ist. Als hätte sie ihre ganze versäumte Mutterliebe in ihr verstaut. Er bringt die Tasche zum Auto. Sie warten auf ihn.

Jetzt taumeln die Kinder auf sie zu – Benjamin und Judith. Hast du Werther‘s Echte? Hast du Pfefferminzbonbons? Hast du dies? Hast du das? Roma lacht, greift in ihrer Handtasche nach der Tüte Süßigkeiten, jeder kriegt zuerst nur zwei. David und Michaela sind streng. Wegen der Zähne, sagen sie.

Während die Kinder sich austoben, suchen die Erwachsenen eine gute Stelle unter den Bäumen. Packen das Essen aus. Roma hat nur Wasser mitgebracht. Ja, dumm von ihr, wegen der Geschenke, der Hitze, sowieso kann sie nur wenig essen. Der Atem, ihre Lunge, das erzählt sie nicht. Das mit der Lunge ist neu und sei wohl noch nicht gefährlich. Roma gilt zwar als krank, jedoch nicht sehr krank. Bis jetzt gehört sie noch zu den glücklichen, noch kein Krebs, noch keine sonst unheilbare Krankheit. Aber Michaela hat das vollkommene Picknick vorbereitet, und auch Roma könne natürlich gern davon essen, sagt David. Aber Roma will nur ganz wenig zu sich nehmen. Es ist sowieso zu heiß.

Mittags sitzt sie noch im Bett, das Kind bewundernd. Noch sind die Besucher nicht gekommen. Sobald sie das Wort Besatzung hört, kommt die Angst. Besatzung, Besetzung. Besatzungsmacht Israel. Sie werden verhandeln, heißt es, die richtigen Bedingungen für einen Frieden aushandeln. Und wenn es doch nicht geht? Wenn die anderen, die Araber, nicht einverstanden sind, was dann? Jahre, es könnte Jahre dauern. Die Araber, diese feindliche Schar, sie werden nicht nachgeben, sie werden sich hartnäckig festklammern.

Schon damals machte ihr das Wort Besatzung Angst, das kann sie heute zu ihrer Beruhigung sagen.

Die Araber, der Feind.

Nur in der Studentenzeit lernte Roma einige kennen. Und auch das sehr oberflächlich. Der eine war Ägypter. Er habe sich gewundert, sagte er, wieso Roma nicht mit den anderen arabischen Studenten in der Mensa zusammensitze. Er lächelte, auch Roma lächelte. Mit ihrem dunklen Haar und Augen, ihren semitischen Gesichtszügen wurde sie häufig für mediterran gehalten. Der junge Ägypter musste irgendwie verstanden haben, vermutlich erklärte sie ihm, warum das so sei. Ab und zu sah er sie wohl mit jüdischen Studenten zusammen. Und der andere, der Rothaarige aus dem Irak, mit der von Sommersprossen übersäten Haut, der sie an der Bushaltestelle ansprach und mit dem sie einmal ins Café ging. Eine Erkenntnis, dass nicht alle Araber dunkelhäutig seien, mit diesem wunderbaren blauschwarzen Haar, das sie heimlich bewunderte. Etwas Abschreckendes wiederum, zugleich faszinierend das intensive Blauschwarz, nicht einmal ihr eigenes Haar war ganz so dunkel. Noch dazu die matte, helle Haut. Nicht rotwangig, sondern glatt, beinahe wie Elfenbein.

Sie hassen uns. Der Feind. Das geht ihr öfter durch den Kopf. Doch Roma begegnete ihnen, wie Roma damals immer Menschen begegnete. Offen, unverbindlich, nicht von oben herab. Nur ein wenig zögerlich, abwartend. Auch sie waren vor allem freundlich, nicht offensichtlich voreingenommen, oder wenn doch, behielten sie ihre Ansichten für sich und sie und Roma sahen zu, dass ihre Begegnungen möglichst kurzgehalten wurden, kurz und oberflächlich. Wenn sie trotzdem auf Politik zu sprechen kamen und auf die Länder ihrer Herkunft – sie stammten vor allem aus Ägypten, Jordanien oder Syrien, Feindesstaaten, Palästinenser waren sie nicht -, waren sie ihr immerhin fremd. Arabien, hieß es, doch nicht wie in den Erzählungen der Tausend und Eine Nacht, die sie in der Kindheit heiß geliebt hatte, sondern ein ganz anderes Arabien, mit strenger Miene, in dunkle Anzüge gekleidet. Alle um ihr Medizinstudium oder um die Technik bemüht, und zu mehr als einer flüchtigen Begegnung, meist im Studentenclub in der Gesellschaft anderer Studenten, war es nie gekommen, außer mit dem Rothaarigen, und das nur das eine Mal.

Namensgebung. Wir nennen ihn David, Roma und Ralf Kahn sind sich einig. Ein biblischer Name, die geplünderte Bibel. Ja, David sei der schönste Name, stimmt Leah zu. Der beste Name. Und heute, gerade heute, muss er David heißen. Auch Roma hätte David geheißen, wäre sie kein Mädchen gewesen... Wieso Roma doch nur Roma heißt. Die Besucher hören nicht mehr auf, ihn zu bewundern, als seien keine anderen Babys geboren worden, nirgends auf der Welt. Und die Araber haben eh zu viele Kinder und die Juden nie genug. Mehret euch. Man, das heißt die Familie, erwartet von Roma noch mehr Kinder. Roma lächelt schwach. Noch blutet sie.

Allein mit dem Kind, diese Verantwortung. Und egoistisch, ja, damals war sie egoistisch, hätte Roma heute gesagt.

Die Ausstellung fällt ihr wieder ein, an jenem Nachmittag mehrere Jahre zuvor. Noch studierte sie, auch jetzt wusste sie nicht mehr, wie sie dazu kam, hinzugehen. Sie stolperte darüber, unversehens. Sah vielleicht den Namen Palästina, aber das alles war ihr noch nicht so klar.

Verstaubte Sommerluft, Sommer in der City. Schmutz, überall Schmutz, deshalb tragen Roma und ihre Freundinnen nur schwarze Unterwäsche. Die weiße werde nie wieder richtig weiß, sagen sie. Der grelle, dreckige Tag. Die Staubkörner. Sie hat sich ein farbiges Tuch um den Kopf gebunden, wegen des Staubs, wegen der Sonne. Am Eingang durchschneidet ein Sonnenstrahl das Dunkel, und die Staubkörner tänzeln, ein Schacht von schimmernden Teilchen. Jemand steht an der Tür, offenbar ein Wächter, groß von Gestalt. Roma betritt den lichtlosen Gang, der offenbar zur Halle führt, und sieht Bilder.

the bloody Jews

Ich fahre nicht nach Israel, sagte Claudia, Romas einstige Freundin, mit der sie sich später, alles immer nur später, wieder traf, eine Zeitlang korrespondierte: Ich kann ihnen nicht vergeben, erklärte Claudia, diesem fürchterlichen Menachem Begin, der damals das King David Hotel in die Luft jagte, alle diese armen Männer, die nichts damit zu tun hatten, einfach nur dort waren, weil sie dort sein mussten. Ihre Familien saßen zu Hause, warteten auf sie, ihre Kinder...

Roma schweigt, verlegen, nickt verkrampft, bringt vielleicht, wenn überhaupt, einen halben Satz hervor. Einen halb verlogenen Satz. Sie kann Claudia nicht sagen, dass sie es anders erlebe, sie stehe sozusagen auf der anderen Seite, eine doppelte Treue, und, wenn sie wählen müsse, stehe sie zu den Juden. Immer zu den Juden. Staatsverrat, Landesverrat, eine Nation innerhalb einer Nation, erklärt man immer, zumindest in den Geschichtsbüchern, und Roma sei eine Landesverräterin.

Die Juden brauchen das Land, es ist immerhin unser Land. Wenn Zweifel bei ihr aufkommen, fragt Roma Leah. Leah weiß Bescheid, Leah weiß alle Antworten. Noch nie hat ihre Mutter die richtige Antwort nicht gewusst.

Juden seien auf keinen Fall schlechter als andere Menschen, vielleicht – fügte Leah vorsichtig hinzu – sind wir sogar besser. Juden töten nicht, Juden morden nicht. Juden sind Opfer, Juden sind keine Täter. Nie gewesen.

Die Engländer sperrten uns aus, sagt Roma zu Ralf, sie verhängten 1939 das Weißbuch, gerade als Juden von den Deutschen ermordet wurden, und die Briten ließen sie nicht nach Palästina einwandern. Das weißt du ja.

Trotzdem lassen sich solche Mittel durch nichts rechtfertigen, beharrt Ralf, genauso hartnäckig wie Roma. Morden lässt sich durch nichts rechtfertigen.

Sie waren verzweifelt, setzt Roma fort, gibt nicht klein bei, nach Auschwitz war die Lage verzweifelt – nach den Konzentrations­-lagern…

Als kenne Ralf die Geschichte nicht. Doch nie hatten seine Eltern sich für jüdische Wohltätigkeitszwecke eingesetzt, ihr Leben dümpele einfach dahin, meinte Roma immer. Geschäfte, Ehe, Kinder, Krankheiten, samstags Sport, sonntags Besuche bei Verwandten. Ralfs Erziehung war die eines britischen Kindes gewesen, er schlug nach dem Vater, einem Liebhaber des Griechisch-Lateinischen, ein Römer, kein Orientale. Selbst Ralfs Mutter, die im Gegensatz zu seinem Vater in der frühen Kindheit nach England eingewandert war, hielt sich für urwüchsig britisch. Keiner in seiner Familie war jemals Zionist gewesen. Im Gegenteil. Leahs Engagement, von dem Roma stolz erzählt, deren Interesse am noch jungen Staat, dem wiederauferstandenen, von Gott gelobtem Land, betrachtete Ralfs Familie mit Verwunderung und Unverständnis.

Die Patria, die mit den Flüchtlingen an Bord versenkt wurde, wirft Roma ein, und das andere Schiff, das durch die Briten nach Hamburg zurückgeschickt wurde – nach Deutschland! Wie konnten sie nur!

Die Patria sprengten die Juden selbst in die Luft, entgegnet Ralf trocken, dreht sich auf die Seite, löscht das Licht. Keiner hatte es ihnen befohlen. Aus purer Verzweiflung, kontert Roma. Sie atmet heftig ein und aus. Und schweigt.

Zwischen ihnen Stille.

Damals, auf ihrer gemeinsamen Reise dorthin, das war im Jahr vor dem Sechs-Tage-Krieg gewesen, fiel ihnen die träge Stimmung im Lande auf. Als ob man nicht mehr weiter wüsste.

Zu viele gehen weg, meinte Jehuda, in die USA oder nach Kanada, sogar nach Deutschland, in die Bundesrepublik. Er schmunzelte. Weil das Leben dort leichter ist, denken sie, sie dort nicht so schwer arbeiten müssen.

Sie verdienen mehr! Ziporas Stimme aus der Küche.

Wir brauchen eine neue Einwanderung, erklärte Jehuda, frische Impulse.

Roma mochte ihn. Unter dem dichten, dunklen Haarschopf war die Stirn ein wenig zu niedrig, die vollen schwarzen Augenbrauen überschatteten seine klaren grauen Augen, sein Mund war schmal, unruhig. Jehuda war unbestechlich. Kein Wunder, dass Zipora sich mit ihm, und überhaupt mit diesen Menschen, diesen Juden, den hiesigen, identifizieren konnte, wie sie sagte. Mit diesen Juden, den großen, schönen jungen Männern und Frauen, nicht mit den dunklen, verkrampften kleinen „Ghettojuden“. Noch mit den vorlauten Händlern auf dem Markt in Petticoat Lane, drüben, im Londoner Eastend, die sie sonst kannten. Und Jehuda wurde beinahe hier geboren, also fast ein Sabra. Als seine Eltern Polen verließen und nach Palästina einwanderten, war er noch keine drei Jahre alt. Das, was Jehuda sagte, war gut und richtig. Er wusste, wovon er sprach. Roma hatte Vertrauen zu ihm. Außerdem kannte er Leute, die oben saßen. Was hierzulande keineswegs schwer war. Man kannte sich. Die Väter waren zusammen hier angekommen, hatten zusammen gekämpft. Auch Jehuda hatte gekämpft. Er hatte seine Kameraden. War hier aufgewachsen. Man besuchte die gleichen Schulen, nach dem Schulabschluss zog man weiter zur Armee. Nach dem Wehrdienst durfte man studieren, an der Universität oder an der Hochschule. Jehuda hatte Politische Wissenschaft und Rechtswissenschaft studiert, später noch einige Fächer dazu, Roma verlor schnell die Übersicht. Fast alle hatten zwei, drei Diplome in der Tasche und würden später um die Lehrstühle kämpfen. Man wusste, wem man trauen konnte und weshalb. Man wusste, wen man zu meiden hatte und weshalb. Man wusste, aus welcher Familie man kam. Man wusste, wer man war.

Seltsam, das träge Gefühl damals in Tel Aviv. Der dampfende Asphalt, die protzigen Cadillacs und Chevrolets, die die Dizengoffstraße lautlos entlang glitten, ein vorgetäuschter Wohlstand. Die Jungs - „die Boys“ -, die zurückkehrten, um die Eltern zu besuchen, ihnen zu zeigen, wie gut sie es hatten, außerhalb der Heimat, oder die, die sich wieder niederlassen wollten, um Geschäfte aufzubauen, dank ihrer ausländischen Beziehungen. Sie hatten sich „gemacht“.

Kein Impuls, das Gefühl der Sättigung, des nicht weiter Wollens. Das Land war ausgelaugt.

Roma, trotzdem noch begeistert, damals stand sie noch zum Land, obwohl – obwohl es ihr wehtat. Sie trug Verletzungen davon, die Diaspora-Jüdin, die die Wahl getroffen hatte, draußen zu bleiben, an der blauweißen Zukunft nicht teilzuhaben.

Wir brauchen wieder eine neue Einwanderung, wiederholte Jehuda, eine kräftige.

Jetzt, nach dem neuen Krieg, steht in den Zeitungen, wie junge Juden von überall her ins Land strömen, um das Land zu bevölkern, zu verteidigen. Ihr Erbe, ihr Recht.

Ich wäre auch dorthin gegangen, flüstert Roma immer wieder, wenn...

Das Kindchen neben ihrem Bett schläft. Nachts weint es schon.

David weint.

Als sie endlich aus der Klinik nach Hause kommt, füllt das Kind ihre Zeit aus, frisst ihre Zeit auf. Roma selbst beginnt zu verschwinden. Ihre Tage schwinden. Das neue Leben. Vorher und nachher. Vor David und nach David.

Und heute weiß sie: Vor dem Krieg und nach dem Krieg. Noch war ihr nicht bewusst, dass etwas sich verändert hatte. Diese Veränderung ihres Lebens, ihres und Ralfs, durch das Kind, war so gewaltig, dass alles andere in den Hintergrund trat.

Oder doch nicht?

Wie hat der Krieg damals unser Leben verändert? Wir merkten es nicht, aber vielleicht gerade deshalb geschah etwas mit uns.