Periplaneta

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Mit Texten von: Marion Alexa Müller, Robert Rescue, Thomas Manegold, Alma Maja Ernst, Antonia Luba, Arno Wilhelm, Bastian Mayerhofer, Christian Gottschalk, Clint Lukas, Frank Sorge, Gary Flanell, HC Roth, Heiko Heller, Heiko Werning, Jesko Habert, Johannes Krätschell, Laander Karuso, Lucas Fassnacht, Mareike Barmeyer, Maschenka Tobe, Matthias Niklas, Mikis Wesensbitter, Nicolas Schmidt, Nicole Altenhoff, Nils Frenzel, Philipp Multhaupt, René Sydow, Sarah Strehle, Steve Bürk, Theresa Steigleder, Viola Nordsieck

VISION & WAHN: „Die Einsamkeit des Hurenkindes”
Lesebühnen-Anthologie Vol.3
1. Auflage, September 2017, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk

© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Projektleitung: Sarah Strehle
Lektorat: Vanessa Franke
Cover: Nicole Altenhoff
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-075-5
epub ISBN: 978-3-95996-076-2

E-Book-Version: 1.1

Vision & Wahn

Die Einsamkeit Des Hurenkindes

Lesebühnen Anthologie Vol.3


periplaneta

Thomas Manegold

Lieber Benutzer!

Ich habe gerade deinen Reader gehackt. 

Ich bin ein Star, hol’ mich hier raus.

Schutzumschlaglos, splitternackt,

lang halte ich es nicht mehr aus

in Gesellschaft von BC-Fischer 

und all dem ganzen Selfpublisher- 

Dumping-Ramsching-Preisgesindel,

hier auf deinem ollen Kindle.

Ich bin so hurenkindfrustriert,

so unförmig, unformatiert. 

Ein Cover zwar, doch nicht von Pappe,

noch nicht mal eine Babyklappe!

Wie oft hab’ ich mich aufgehangen

und wurde neu gebootet,

wie oft ’nen Virus eingefangen,

gelöscht und neu gerootet.

Ich werde hintergrundbestrahlt,

bin wahrscheinlich unbezahlter

virtueller Einheitsbrei

in Standardschrift, serifenfrei.

Nie gesucht und doch gefunden,

entblättert, frei und ungebunden

und ewig auf der Downloadliste

der virtuellen Bücherkiste

meines wischenden Gebieters.

In mir ein druckendes Verlangen.

Ich, das Hardcover, gefangen 

im Körper eines Readers.

Clint Lukas

Als der Hummerkönig unsere Stadt besuchte

„In den Storys von Bukowski“, sag ich, „gibt es nur deshalb dauernd Schweinkram, weil er sie an die Sex-Magazine verkaufen musste. Denk ihn dir weg, wenn er dich stört.“

Sina schüttelt den Kopf.

„Ich hab nicht gesagt, dass er mich stört. Aber es würde auch ohne gehen.“

„Absolut. Fitzgerald hat seine Storys auch zuerst so geschrieben, wie er sie gut fand. Und dann den Kram eingefügt, der von ihm erwartet wurde.“

„Und warum schreibst du so viel über Sex?“

Sie lehnt sich zurück und schaut aus sehr klugen Augen. Ich weiß, ich muss etwas erwidern. Ihr Respekt ist mir wichtig. Doch eine andere Angelegenheit drängt noch mehr. Meine Hände zittern unter dem Tisch, kalter Schweiß auf Nacken und Stirn: Wenn ich nicht sofort onaniere, werde ich nie mehr über Literatur diskutieren können.

„Entschuldigst du mich?“, sag ich und eile zum Klo. Bei all dem Wein, den ich intus habe, ist es schwer genug, einen hochzukriegen. Wie soll ich erst zum Orgasmus kommen? Da sitze ich nun in Stralsund, eingeladen von der Frau meines Freundes und soll in zwei Stunden lesen. Aber wie, wenn der Eiweißschock droht?

„Werter Herr, diesen Hummer werden Sie allein nicht schaffen“, hat der Kellner in dem Fischrestaurant prophezeit. Doch es bestand eine spezielle Verbindung zwischen mir und dem Tier. 1,7 Kilogramm, Augen wie ein Hund, die Scheren gefesselt mit Kabelbindern.

„Lassen Sie ihn zubereiten“, höre ich die fatalen Worte noch mal, während ich verzweifelt meine Erektion malträtiere. Die Gäste an den anderen Tischen verfolgten gespannt, wie ich Scheren und Arme knackte. Respektvoll nickten die Kellner, während ich Kopf und Schwanz ohne Sauce verschlang. Und als ich schließlich auch noch das zähe Rippenfell aß, bei verblassendem Augenlicht, standen sogar die Köche an meinem Tisch und applaudierten gemessen. Sie gaben mir den Namen HUMMERKÖNIG und fragten, ob sie einen Krankenwagen rufen sollten.

„Das hat lange gedauert“, sagt Sina, als ich unverrichteter Dinge vom Klo zurückkomme.

„Ich weiß, tut mir leid. Vor Poetry Slams muss ich immer kotzen.“

„Ganz wie Bukowski, stimmt’s?“

„Der hat nur normale Lesungen gegeben. Ich glaube, nicht mal er hat geahnt, dass es mal so was Schauderhaftes wie Slams geben würde.“

„Warum machst du dann mit?“

„Ich muss Bücher verkaufen. Außerdem wollte ich dich sehen.“

Verdammt, ich brauche ein Handy mit Internet, denk ich. Meine Phantasie reicht nicht dafür aus, mir ohne Pornos einen runterzuholen. Aber wie soll ich Sina erklären, dass ich ihr Telefon mit aufs Klo nehmen will?

„Was findest du denn so furchtbar an Poetry Slams?“

„Wenn es etwas Schlimmeres gibt als das Urteil des Pöbels, dann ist es ein Künstler, der sich diesem Urteil auch noch freiwillig aussetzt.“

Ein kurzer Porno und ich bin gerettet. Aber ich kann Sina nicht direkt danach fragen, sie hält mich ohnehin schon für einen Schmutzfink. Und abschleppen kann ich sie auch nicht. Zaghaft schau ich mich um. Die Stuhlreihen vor der Bühne füllen sich langsam, doch wie beim Slam üblich, nur mit sechzehnjährigen Kindern.

„Schau mal“, sagt Sina. „Da kommt einer deiner Kollegen.“

Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, vermutlich hat er auch keines. Sina steht auf, um ihn zu begrüßen, während ich noch mal zur Toilette gehe. Es kann doch nicht so schwer sein, zum Teufel. Ich schwitze und fluche, doch jedes Mal, wenn ich halbwegs die richtige Richtung einschlage, höre ich pubertierende Stimmen vor meiner Tür.

„Der Tibur Dosse liest heute!“

„Ist das der, der so schnell liest, dass man ihn nicht versteht?“

„Nein, aber stimmt, der ist auch cool.“

„Ich hab noch nie was verstanden bei dem. Voll super.“

„Ja, find ich auch!“

„Ruhe da draußen!“, donnere ich, doch meine Möhre ist längst wieder entschwunden. Du tapferer Hummer, wenigstens bist du es, der mich ins Jenseits befördert. Gemeinsam werden wir an felsigen Stränden sitzen und nicht reden, niemals mehr reden …

„Clint, bist du da drin?“

Ich entferne mich wieder vom Licht.

„Sina?“

„Ja, komm raus, es geht los. Du liest als nächstes! Was machst du denn solange, sag mal?“

„Nichts. Nur noch schnell abwischen.“

Im Saal ist es dunkel und heiß. Der gesichtslose Junge steht auf der Bühne und liest so schnell, dass es unmöglich ist, ihm zu folgen. Nur hin und wieder blitzen verständliche Worte auf: HITLER, PENIS, FOTZE. Die Menge brüllt vor Begeisterung.

Als ich an die Reihe komme, beschließe ich, einen revolutionären Akt zu vollführen: Ich lese eine Story, in der weder Nazis noch Geschlechtsteile auftauchen. Es herrscht bedrücktes Schweigen. Ein sechzehnjähriges Mädchen in der ersten Reihe beginnt zu weinen. Als ich fertig bin, ist der Applaus überraschenderweise laut genug, dass ich im Finale lesen darf. Mein Nervensystem zuckt im Kurzschluss-Gewitter, überrannt von brüllendem Eiweiß.

„Oh Gott, Clint”, ruft Sina. „Wie siehst du denn aus?”

„Wie seh ich denn aus?“

„Du bist so weiß wie der Mond.“

„Der Mond ist mein Bruder im Geiste.“

„Du hast gut gelesen. Und ganz ohne Schweinkram.“

„Ich weiß. Jetzt werd ich bestimmt kein einziges Buch verkaufen.“

„Geh mal an die frische Luft. Ich hol dich dann zum Finale.“

Ich geh zur Bar und lass mir für die letzten Getränkebons einen großen Gin Tonic machen. Vielleicht kann der Alkohol den Schock hinauszögern. Ein paar Girls stehen in meiner Nähe und mustern mich mit großen Augen. Jesus, denk ich, gib mir die Kraft, mich nicht an einem dieser Kinder zu verlustieren. Der Gin tut gut, die Hitze wandert von meinem Kopf in den Magen.

Ein Mädchen auf der Bühne gibt Kinderreime zum Besten und intoniert in perfekter Poetry-Slam-Manier:

„Ich und … du, Müllers Kuh, Müllers Esel, der … bist … du … Das … bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt … du … bist.“

Dann redet sie von Hitler und Stalins Schwanz.

„Toll!“, ruf ich dazwischen. „Und mutig!“

„Scht“, zischt mich eines der Girls von der Seite an. „Respect the poet.“

„Mein Kind, in diesem Zusammenhang ist das genauso zynisch wie Arbeit macht frei.”

Sie schaut mich verständnislos an. Sie hat einen prächtigen Körper. Vielleicht ist sie sogar schon siebzehn, wer weiß. Können wir nicht?, fragt der Hummer in mir. Dann kommt zum Glück Sina und holt mich zur Bühne.

Ich lese einen Text mit dem Titel ALS LÖWE SOLLST DU DICH NICHT MIT MEERSCHWEINCHEN MESSEN, und diesmal scheinen die Kids zu verstehen, dass ich mich nicht allzu sehr mit ihnen identifizieren kann. Nur eine kleine Gruppe von Leuten im hinteren Teil des Raumes applaudiert und hört erst wieder auf, als der Junge ohne Gesicht die Bühne betritt. Er beginnt seinen Vortrag:

„Ich hab meine Mutter gefickt. Und sie sagt: Geil. Und ich sag: Geil. Und sie so: Mach nochmal. Und ich sag: Geil. Dann kommt mein Vater, und er so: Krass. Und ich so: Krass. Und meine Mutter so: Spast.“

Er wird immer schneller und schneller, dann steigert sich seine Stimme zu einem hysterischen Kreischen und wird schließlich vom Applaus übertönt. Ich schicke mich an, den Saal zu verlassen, dem Weg des Hummers zu folgen, als etwas Unerwartetes geschieht. Im Publikum lassen sich Buhrufe vernehmen. Sie scheinen von der gleichen Gruppe zu kommen, die mir applaudiert hat, und sind so ausdauernd, dass nach einer Weile Sina ans Mikro tritt und sie mit „Respect the poet“ ermahnt.

Als auch das keine Wirkung erzielt, wird ein Verfolger-Spot auf die Störenfriede gerichtet und nun sehe ich, dass es die Kellner und Köche aus dem Fischrestaurant sind.

„Hoch lebe Clint Lukas“, rufen sie. „Hoch lebe der Hummerkönig!“

Sie tragen Gala, piekfeine Uniformen und hohe Kochmützen. Vom Tumult unbeeindruckt bilden sie eine Reihe vor mir und verbeugen sich. Einer der Köche steckt mir ein Pornoheft zu. Das Ganze dauert nur dreißig Sekunden, weshalb sich die Crowd schnell wieder ihrem gesichtslosen Götzen zuwendet. Doch als ich zum Klo gehe, verfolgt von Sinas strafendem Blick, denk ich: Es ist nicht wichtig, gefeiert zu werden. Wichtig ist, wofür man gefeiert wird. Amen.

Aus „Nie wieder Frieden“ (Periplaneta)
Johannes Krätschell

Dresdner Christstollen

Am Vorabend des ersten Advents war ich damit beschäftigt, ein festes Ritual vorzubereiten. Ich stellte das Adventshaus auf. Eine große erzgebirgische Pyramide mit Spitzdach. Danach hängte ich in die Fenster der Bibliothek zwei weiße Herrnhuter Sterne und hörte dabei das Weihnachtsoratorium. Als alles fertig war und die Pyramide sich gleichmäßig in der Wärme der Kerzen drehte, begann der eigentliche Teil des Abends. Ich wollte bei der Lektüre von Dickens’ Weihnachtsgeschichte in den ersten Advent hinein feiern. So, wie ich diesen Abend die letzten dreißig Jahre in Erinnerung hatte. Für eine eventuelle Störung aus dem Erdgeschoss war sogar die Klingel abgestellt, aber Hupe klopfte so hartnäckig, dass ich ein Einsehen hatte.

„Entschuldje, ick stör bestimmt, wenn du sojar die Klingel ausstellst. Aber ick wollte dich nich alleene lassen, wenn gleich wer anders klopft.“

„Wer sollte das sein?“

„Na jemand ausn dritten Stock.“

„Der Köppke? Der ist im Urlaub, ich hab seinen Briefkastenschlüssel und soll die Post rausnehmen. Der kann es nicht sein.“

„Nee, jegenüba.“

„Frau Paschulke? Na ich hoffe doch mal nicht, die ist seit zwei Monaten tot. Du hast selbst noch ihren Haushalt aufgelöst.“

„Stell dir vor, dit weeß ick ooch noch. Aba ihre Wohnung is verkauft worden und jetz is der neue Eijentümer einjezogen.“

„Und der klopft gleich hier?“

„Ja, der wollte sich mir vorhin vorstellen.“

„Und was hat er erzählt?“

„Nich viel, ick hab ja nich uffjemacht.“

„Warum nicht?“

„Der sah so komisch aus. So alt wie du aber mit sona Frisur wie Biber. Hab ick durchn Spion jesehen.“

„Eine Frisur wie ein Biber?“

„Nee, nich wie dit Tier, wie dieser Kanadier, Jerome heißt der gloob ick.“

„Meinst du Justin Bieber?“

„Jenau! Mann, Herr Schlau-Schlau, du weeßt echt immer allet.“

„Na, in dem Fall bin ich da nicht so stolz drauf.“

„Und komisch jesprochen hat der ooch.“

„Wieso gesprochen, du hast doch gar nicht aufgemacht.“

„Dit heißt doch nicht, dass ick nich mit ihm jesprochen habe.“

„Durch die geschlossene Tür?“

„Jenau.“

„Super, der wird sich richtig willkommen gefühlt haben.“

„Nee, der hatte total viel Verständnis. Ick hab jesacht, meene Katze hat Lichtallergie, er soll Spätnachmittag wiederkommen, wenns dunkel is. Aber ick hab ihm noch nen viel besseren Vorschlag jemacht.“

„Hat dieser Vorschlag was mit deinem Besuch heute Abend zu tun?“

„Mann, du bist echt zu schlau für mich. Du hastet gleich jemerkt.“

„Was hast du ihm gesagt?“

„Naja, der hat so komisch jesprochen, son bisschen so wie du. Ick gloob der is ooch schlau.“

„Hupe, was hast du ihm erzählt.“

„Na, dass heute Abend bei dir der wöchentliche interlektuelle Gesprächskreis stattfindet. Jeden zweiten Samstag wird da een neuet Thema diskutiert. Da war der gleich Feuer und Flamme.“

„Hupe, erstens heißt das intellektuell …“

„Is ja jut Herr Schlau-Schlau, jetz spiel dich ma nich auf.“

„… und zweitens wollte ich in Ruhe lesen.“

„Denn lies uns doch vor und sag, dass du dit Thema nochma jeändert hast.“

„Welches Thema hast du ihm denn genannt?“

„Na ja, da musst ick improvisieren. Ick hatte mittachs keen Bock uff herzhaft.“

„Ja, und?“

„Na denn hab ick den Dresdner Christstollen anjeschnitten, den mir meene Tante jedet Jahr zum ersten Advent schickt.“

„Ja, gut, aber was ist jetzt das Thema? Christstollen?“

„Ne, etwas intellektuella schon. Dit Thema is Dresden, da fällt dir doch wat ein, oder?“

„Ach so, das Thema des heutigen intellektuellen Gesprächskreises ist Dresden?“

„Ja, is doch spannend, oder?“

„Hast du wenigstens, passend zum Thema, noch Stollen mitgebracht? Wenn du dich und den Neuen schon hier einlädst?“

„Nee, ick hab doch jesacht, dass ick den zum Mittach jejessen habe.“

Da klopfte es schon wieder an der Tür. Ich öffnete und vor mir stand ein Mann meines Alters, der seine innere Jugend aber offenbar äußerlich zur Schau tragen wollte. Seine Frisur brauchte sicher eine halbe Stunde Zuwendung jeden Morgen und sah aus wie aus einem Jeans-Katalog abgekupfert. Und auch der Rest sollte einem männlichen Jeans-Model ähnlich sehen. Ein Stil, der mir nicht unbekannt war, hatte er doch das gesamte Zentrum meiner Heimatstadt wie eine Pest befallen. Diese Epidemie macht offenbar vor niemanden halt. Auch der schmähbäuchige Enddreißiger mit Storchenbeinen, der heute Abend dank Hupes Einladung vor meiner Tür stand, sah mittels Stretch-Denim und hautengem, in die Jeans gestopften Sweatshirt nicht mehr aus wie eine Weißwurst am Stiel, sondern wie ein Jeans-Model. Der Zeitgeist macht’s möglich. Ebenfalls Teil dieses Zeitgeistes ist ein lockeres Duzen, das auch jedem Fremden gilt.

„Moin, schön dich kennenzulernen“, sagte die gutgelaunte Weißwurst. „Ich bin der neue Nachbar. Ich bin ja schon ganz gespannt auf den intellektuellen Gesprächskreis. Ich hab gehört, hier wird regelmäßig diskutiert. Ich find das großartig. Ich bin echt gespannt. Ich bin der Jörn.“

Ich verfluchte Hupe und gab zur Antwort: „Das waren jetzt sechs Sätze, die mit Ich begonnen haben, da ist der Name leider untergegangen. Mein Name ist Krätschell. Wie war Ihr Name noch mal?“

„Äh,“ sagte die Weißwurst, „Hawerkamp.“

„Guten Abend, Herr Hawerkamp. Willkommen in der Gaillardstraße. Kommen Sie rein. Der Christstollen ist leider schon verzehrt.“

Herr Hawerkamp kam rein und setzte sich neben Hupe aufs Sofa. Ganz kurz tat mir meine Zurechtweisung leid. Ich bot ihm ein Glas Wein an, das er gerne annahm, und fragte höflich: „Herr Hawerkamp, bevor wir anfangen, ich bin ein wenig neugierig. Was hat Sie nach Berlin verschlagen?“

„Ach verschlagen, das klingt so zufällig. Ich wollte immer hier sein. Im Herzen war ich schon immer Berliner. Wahrscheinlich bin ich als Berliner, nur eben in Hamburg, auf die Welt gekommen. Diese Energie hier in der Stadt, dieses Sich-immer-neu-Erfinden, dieses Immer-wieder-was-Riskieren. Das ist genau mein Credo.“

„Spannend“, sagte ich. „Was machen Sie denn hier aus Ihrem Credo?“

„Ach, ich war drei Jahre bei Hansen & Friends und dann zwei Jahre bei WTT. Da hab ich gelernt, dass Media jetzt nur noch auf der Social-Ebene läuft. Das Thema ist in Hamburg aber einfach platt. Da läuft nichts mehr. Keine Innovations. Hier in Berlin, da ist eine ganz andere Energie. Da geht das Business einfach steil auf die Channels. Da ist jeden Tag mehr kreativer Content in der Pipeline als in Hamburg in einem ganzen Jahr. Da hab ich einfach meine eigene Agentur gegründet. Wir schöpfen den Markt jetzt da ab, wo er brennt.“

„Und das funktioniert? Haben Sie Ihre Großkunden mit rüber genommen?“

„Naja, so einfach läuft das leider nicht. Die Pitches bei den Enterprises sind einfach erst mal schwer zu stemmen. Aber das will auch in fünf Jahren keiner mehr machen. Wir setzen einfach auf die Start-ups hier.“

„Und das wird laufen?“

„Klar. Die lernen ganz schnell, wie die mit uns ihren ROI bekommen. Da bin ich sicher. Die müssen noch lernen, aber da liegt die Zukunft. Zwischen meinem Stundensatz und ihrem Budget liegt noch ein preisliches Delta. Aber die werden ganz schnell begreifen, dass Top-Marketing seinen Preis hat.“

„Immerhin haben es in Hamburg genug begriffen, dass Sie sich die Wohnung hier kaufen konnten.“

„Ja, genau.“

„Ja, schön, dass Sie da sind. Kommen wir zum Thema des heutigen Abends. Was verbinden Sie mit Dresden. Was verbinden Sie mit Dresden außer: Pegida, Elbflorenz, Frauenkirche, Kreuzkirche, Lukaskirche, Bombardierung, NPD, Hochwasser, Dynamo, Elbe, Semperoper, Zwinger, Fürstenzug und Blauem Wunder. Und erzählen Sie nicht, Sie haben Tellkamp gelesen, das haben alle in diesem Kreis. Was also darüber hinaus verbinden Sie mit Dresden.“

Er zögerte. Er schwieg. Dann fiel ihm aber ein Beitrag ein: „Naja, ich weiß nicht, ob das in diese Runde passt. Aber ich hatte einen Cousin im Osten, der hat immer erzählt: Was ist die kürzeste Reisestrecke innerhalb der DDR? Steckste den Finger in Arsch und Dresden.“

Da platzte Hupe. Wider Erwarten hatte er diesen Witz noch nicht gehört oder inzwischen vergessen. Jedenfalls kugelte er sich vor Lachen auf dem Sofa.

„Hupe, schönen Dank. Jetzt spiele ich bei deiner bekloppten Idee des intellektuellen Gesprächskreises mit und du hältst nicht mal fünf Minuten durch.“

„Tschuldje Hannes, tut ma echt leid, aba den hab ick echt noch nie jehört.“

„Eigentlich bin ich froh, dass wir dem Spuk jetzt ein Ende bereiten können. Herr Hawerkamp, ganz ehrlich, das ist heute Abend das erste Treffen des intellektuellen Gesprächskreises. Am Niveau von Hupe können Sie auch gleich sehen, dass das Intellektuelle hier noch ausbaufähig ist.“

„Ehrlich gesagt“, meinte Herr Hawerkamp, „bin ich auch ganz froh. Ich wollte eigentlich nur Anschluss an ein paar alte Berliner finden. Dass Sie einer sind, Hupe, da war ich mir sofort sicher, deshalb bin ich der Einladung auch gefolgt.“

„Ich bin auch Berliner, falls Sie das meinen. Gebürtig.“

„Okay, gut zu wissen. Ich war mir da eben nicht so sicher.“

„Wa ick mir am Anfang ooch nich, aber man merkts dann zwischendurch immer mal“, meldete sich Hupe zu Wort.

Bonus zum Roman „Herr Schlau-Schlau wird erwachsen“ (Periplaneta)