Das Buch
Jedes Kapitel bezieht sich auf eine
Aussage, an die ich einst glaubte und
von der ich mich im Laufe meiner
inneren Entwicklung allmählich löste.
W.P.Young
In allen Büchern von William Paul Young ist ein zentrales Motiv zu entdecken: die Nähe und Verbundenheit zwischen Gott und dem Menschen. Erstmals geht er diesem Anliegen in einem Sachbuch nach und lädt uns ein, über Auffassungen nachzudenken, die wir gemeinhin über Gott haben. Oft machen wir uns gar keine Gedanken, ob diese wahr oder falsch sind. Dem möchte er auf den Grund gehen und so hat er achtundzwanzig gängige Aussagen wie »Gott ist Christ« oder »Es ist alles nur Zufall« gesammelt und stellt sie zur Diskussion. Warum sagen wir häufig »Gott ist Liebe« und klammern die Beziehungsebene aus? Warum sagen wir nicht einfach »Gott liebt dich«?
Der Autor zeigt anhand von Gesprächen und Erlebnissen anschaulich, wie wir mit unseren Gedanken unsere eigene Welt erschaffen und warum viele unserer Ansichten mehr mit uns selbst als mit Gott zu tun haben.
Der Autor
Der gebürtige Kanadier William Paul Young wuchs als Sohn von Missionaren in Papua-Neuguinea auf und war selbst viele Jahre lang Mitarbeiter einer christlichen Gemeinde. Mit seiner Frau Kim und seinen sechs Kindern lebt er in Oregon, USA. Bekannt wurde er durch seinen Weltbestseller Die Hütte, der auch verfilmt wurde. Seine Romane standen wochenlang auf der Spiegel Bestsellerliste.
WILLIAM PAUL YOUNG
Lügen,
die wir uns
über Gott erzählen
Aus dem Amerikanischen
von Jochen Winter
Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de
Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.
Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.
Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
ISBN 978-3-8437-1643-7
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Lies We Believe About Godim Verlag Howard Books, ein Verlag von Simon & Schuster, Inc.
© der deutschen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© der Originalausgabe Lies We Believe About God 2017 by William Paul Young
All Rights Reserved.
Published by arrangement with the original publisher, Howard Books, a Division of Simon & Schuster, Inc.
Übersetzung: Jochen Winter
Lektorat: Barbara Krause
Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin, nach einer Vorlage von Howard Books, a Division of Simon & Schuster, Inc.
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für Scott Closner, meinen besten Freund.
Du warst der erste Mensch in meinem Leben,
der mir sagte, du würdest niemals fortgehen,
egal, welch schlimmen Unfug ich auch treibe.
Danke!
Für Tim, meinen Bruder.
Du hast ein Leben mit Fragen gelebt,
zumeist unausgesprochen –
Fragen jedoch über Dinge, die wichtig sind.
Du bist wichtig!
Ich liebe dich!
Einleitung
Dieses Buch geht auf eine Reihe von Tweets zurück, die ich schrieb und unter dem Titel zusammenfasste: Wörter, die Sie niemals von Gott hören werden. Meine Liste enthält etwa 125 solcher Aussagen, zum Beispiel:
Ich führe Buch über deine Fehler.
Du bist das Kind, das ich nie wollte.
Deine kostbarsten Lügen kannst du ruhig
für dich behalten.
Du hast Jesus überschätzt.
Ich brauche dich.
Sie sehen, worum es hier geht. Wenn wir unser Augenmerk auf das Negative richten (auf das also, was Gott nicht sagen würde), können wir das Positive aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Eine derartige Übung ist oft unangenehm, weil sie uns vielleicht dazu bringt, die eigenen Grundsätze und Annahmen in Frage zu stellen, aber allein das wäre schon überaus lohnend. Möglicherweise ist so eine innere Prüfung gar erhellend und hilfreich. Indem wir uns vergegenwärtigen, was Gott uns nicht mitteilen würde, sind wir in der Lage, Vorstellungen zu untersuchen, die wir für richtig halten, und Lügen zu entlarven, die wir uns über Gott einreden. In meinem Roman Eve (Eva. Wie alles begann) vertritt eine der Figuren im ersten Kapitel jene Auffassung, die für manche Leser zunehmend an Bedeutung gewonnen hat: Eine gute Frage ist tausend Antworten wert. Überlege sie dir sorgfältig.
Die Welt, in der ich aufwuchs, legte keinen großen Wert auf Fragen. Bestenfalls waren sie ein Zeichen der Unwissenheit – und schlimmstenfalls ein Beweis für Auflehnung. Wer immer unserer Theologie, Wissenschaft oder auch nur unserer Meinung widersprach, galt als Feind und Zielscheibe. Einzig die Gewissheit zählte.
Während ich – hoffentlich mit Anstand – älter wurde, ging es in meinem Leben immer mehr um die gute Frage und die tausend Antworten als um die Überzeugung, recht zu haben. Ich brauchte lange, um ein aufmerksamer Zuhörer zu werden, der nicht bloß lauscht, um den eigenen Standpunkt zu verteidigen oder Erklärungen abzugeben, sondern zulässt, dass ein Gespräch ihn herausfordert und unter Umständen seine gewohnten Sichtweisen verändert.
In jüngeren Jahren präsentierte ich mich gerne als ein intelligenter und rational denkender Mensch. Dieses Image erlaubte mir, mich hinter meinen Ideen zu verstecken, die Unordnung des realen Lebens und authentischer Beziehungen nach besten Kräften zu meiden. Ich benutzte meine persona als Abwehrmechanismus und Sicherheitswand, um die Leute auf Abstand zu halten. Ich glaubte, ihnen damit ein Schnippchen zu schlagen. Als sich herausstellte, dass ich tatsächlich clever war, obendrein kreativ, wurde ich noch darin bestärkt, in meiner abgehobenen Position zu verharren und den anderen durch Worte zu schaden. Sie, liebe Leser, hätten mich vielleicht aufgrund meiner überzeugenden Argumentation respektiert, mich aber nicht wirklich gemocht.
Zum Glück habe ich mich inzwischen sehr verändert. Das Haus meiner Seele wurde auf schmerzliche Weise in seine Bestandteile zerlegt und mein gebrochenes Herz dann einem mühevollen Wiederaufbau unterzogen. Und wie bei jedem Menschen bleibt auch in meinem Innern noch viel Arbeit zu leisten, gemäß dem unaufhörlichen Prozess des Seins und des Werdens.
Ich wurde im Sinne der evangelisch-protestantischen Überlieferung großgezogen. Doch es gibt kein reines Erbe: Das Schöne und Erbauliche ist unauflöslich verwoben mit dem Hässlichen und Schädlichen. Immer wieder schlängeln sich Halbwahrheiten und sogar Lügen in unsere Herzen. Wie Schimmel, der ein Kunstwerk befallen hat, muss diese eindringende Dunkelheit sorgfältig beseitigt werden, damit das Ursprüngliche und Schöpferische keinen Schaden nimmt.
Das vorliegende Buch widmet sich also nicht der Darstellung von Gewissheiten. Keine der hier durchgeführten Untersuchungen von »Lügen« resultiert in einer endgültigen oder uneingeschränkten Ansicht über das betreffende Thema. Eher sind sie gleichsam Kostproben umfassenderer Überlegungen oder Gespräche. Jedes Kapitel bezieht sich auf eine Aussage, an die ich einst glaubte und von der ich mich im Laufe meiner inneren Entwicklung allmählich löste. Vielleicht werden Sie sich mit manch einer identifizieren, nicht aber mit anderen, um meinen Schlussfolgerungen dann zuzustimmen oder nicht. Einige dieser Vorstellungen mögen mit besonderen Herausforderungen verbunden sein, andere naiv und belanglos erscheinen. Auch darin bekundet sich das einzigartige Wunder unserer Lebensreise sowie die Schönheit des Dialogs und der zwischenmenschlichen Beziehung.
Mit einer Gestalt in der Bibel identifiziere ich mich am meisten, nämlich mit dem Blindgeborenen, von dem in Johannes 9 die Rede ist. Meine bisherige Reise war ein langwieriger Lernprozess, um zu sehen – hier zum ersten Mal, dort mit umso größerer Klarheit. Ungeachtet meiner weitläufigen Studien mangelt es mir an der Tiefgründigkeit zahlreicher Theologen, die sich der Erforschung biblischer Texte und Ideen verschrieben haben. Nichtsdestotrotz bin ich dankbar für ihre Arbeiten, lese sie und lausche ihnen, als würden mir dadurch wertvolle Geschenke zuteil.
Bei Ihrer anschließenden Lektüre werden Sie vieles über meine Persönlichkeit erfahren. Die Neuausrichtung meiner Theologie geschah nicht mühelos, hat mich jedoch positiv beeinflusst. Dank jener inneren Bewegung bin ich heute ein besserer Ehemann, Vater, Sohn, Freund und Mensch. Falls mein Wort keine Klärung bewirkt, dann hoffentlich mein Leben. Es gibt Zeiten, in denen ich – mit dem Ausdruck meiner Lieblingsfigur im Johannesevangelium – nur ein Bekenntnis ablegen kann: »Ich war blind, nun aber sehe ich.«
An dieser Stelle möchte ich Sie darum bitten, die nachfolgenden Botschaften großzügig sowohl als Freunde wie auch als Gegner zu betrachten. Die Ersteren, weil das, was Ihnen hier und jetzt kostbar ist, am Ende nicht weniger kostbar sein soll. Die Letzteren, weil wir alle darauf angewiesen sind, dass unsere Grundsätze und Annahmen manchmal hinterfragt und einer Prüfung unterzogen werden müssen, damit wir Augen haben, um zu sehen, Ohren, um zu hören. In den Schriften der Theologen, Philosophen, Psychologen und Wissenschaftler habe ich zugleich Freunde und Gegner gefunden. So kann ich ihnen genauer zuhören und gestatten, dass sie mit ihren Überzeugungen den Boden meines Herzens und meines Geistes umgraben, Unkräuter samt Wurzeln ausreißen, Samen säen, dann die Keimlinge wässern und einige gar zur Reife bringen. Dieser Prozess ist nicht immer ein Vergnügen, aber er entschädigt für den Aufwand.
Letztlich sitzen wir alle in einem Boot. Ihre Gesundheit ist meine Gesundheit. Ihr Verlust ist mein Verlust. Oft aber neigen wir dazu, eine Lüge zu glauben statt der Wahrheit Zugang ins Innere zu gewähren, wo sie unsere zum Selbstschutz errichtete Festung ebenso erschüttert wie die Sicherheit unserer Vorurteile. Der Dialog sollte niemals ein Mittel sein, das Gegenüber zu beherrschen oder mit Gewissheiten zu überhäufen, sondern jenen Respekt bezeigen, der dem Wesen der Beziehung entspricht. Wir alle brauchen neue Perspektiven, um zu sehen. Jedenfalls gilt das für mich.
Es sei noch einmal betont: Dieses Buch setzt sich aus einer Reihe von Essays zusammen, um bestimmte, miteinander verbundene Vorstellungen zu untersuchen, die mir als Lügen erscheinen – Lügen, die ich früher glaubte und die weiterhin viele von uns mehr oder weniger stark beeinträchtigen. Mein Freund, der Theologe Dr. C. Baxter Kruger, Autor von The Shack Revisited (Wie wir Gott begegnen. Die Hütte und das neue Bild von Gott), Patmos, Across All Worlds, Jesus and the Undoing of Adam, The Great Dance und anderer Bücher, hat ein Nachwort geschrieben, das die religiösen Voraussetzungen meiner Idee von Wahrheit fachkundig umreißt. Damit gibt er dem ganzen Buch einen würdigen Rahmen.
Für einige werden die hier dargelegten Auffassungen innovativ und vielleicht sogar transformativ sein, gelegentlich aber auch unbequem. Keine Sorge, bleiben Sie entspannt. Ihr ursprünglicher Lehrer ist der Heilige Geist; Gott, dem Sie vertrauen können und der Sie bestens kennt, wird Ihnen zuverlässig den Weg in die Wahrheit weisen, die Jesus ist.
Seien Sie versichert: Auf den folgenden Seiten biete ich keine vollständigen oder abschließenden Lösungen. Mit dem Älterwerden wird mir umso deutlicher bewusst, was ich nicht verstehe. In diesen Texten entwickle ich Ideen und werfe Fragen auf, die zum Nachsinnen anregen – mit der Hoffnung, dass unsere inneren Augen aufgetan werden, dass wir Gottes Güte und immerwährende Liebe deutlicher wahrnehmen und endlich entdecken, wer wir in dieser Großen Umarmung eigentlich sind.
1
»Gott liebt uns,
mag uns aber nicht.«
Im Norden der kanadischen Provinz Alberta herrscht tiefer Winter. Die Temperatur liegt deutlich unter null; es ist einer jener derart kalten Tage, an dem sich die Nasenhaare anfühlen wie kleine, in die Nasenlöcher gesteckte Stacheln und jeder ausströmende Atem eine eigene Nebelbank bildet. Unweit von diesem Ort kam ich in den nördlichen Prärien zur Welt.
»Wenigstens ist’s ’ne trockene Kälte«, wirft jemand ein, was zwar stimmt, aber nur ein schwacher Trost ist.
Wir betreten das Gebäude, und ich lege die Schutzschichten meiner Kleidung ab, tausche sie ein gegen die Wärme im Innern der Haftanstalt. Wir befinden uns in einem Frauengefängnis. Die Insassinnen, die mich gebeten haben, ihnen einen Besuch abzustatten und über meine Arbeit zu sprechen, sagten, Dutzende Exemplare von Die Hütte hätten hier die Runde gemacht und einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Die Regierung gewährte den Frauen eine kurze »Unterbrechung« vom eintönigen Alltag – mit der Aufforderung, über ihr Leben und ihre bisherigen Entscheidungen nachzudenken, wozu Menschen außerhalb dieser Mauern selten Gelegenheit haben. Die Frauen werden heute aus freien Stücken eine Stunde mit mir verbringen. Ihre Gegenwart empfinde ich als ein besonderes Geschenk.
Wer Augen hat zu sehen, wird hinter rauen Schalen und in versteinerten Herzen vielerlei Wunder entdecken. Die meisten Frauen sind wegen einer dramatisch schiefgelaufenen Beziehung in dieser Haftanstalt. Ihre erlittenen Treuebrüche und Verluste sind sichtbar in der zur Schau getragenen Trotzhaltung oder einer kaum verborgenen Scham. Unter all den Verwundeten und Ausgestoßenen fühle ich mich fast wie zu Hause. Das sind meine Leute, unsere Leute.
Ich weiß nicht mehr, über welches Thema ich gesprochen habe. Wahrscheinlich über die Gefängnisse in meinem Leben, über Orte, die für mich einen großen Wert bekamen, weil ich außer ihnen keine kannte. Darüber, wie wir an der Gewissheit unseres Schmerzes festhalten, statt das Wagnis einzugehen, einem Menschen jemals wieder zu vertrauen. Tief verletzte Seelen im Raum begannen zu weinen. Bruce Cockburn, der kanadische Dichter und Musiker, würde dies als rumours of glory deuten, als Zeichen der Verheißung. Verlorene Münzen, verlorene Schafe, verlorene Söhne, aber nicht irgendwelche. Das sind meine Söhne, meine Schafe und meine Münzen.
Ich beende meine Rede, und nur wenige ziehen sich zurück. Andere warten, damit ich ihr Exemplar signiere. Ich umarme jede, was sicherlich eine Verletzung sämtlicher Vorschriften darstellt. Doch schon seit einer Weile habe ich mit solchen Normen gebrochen, und niemand stört sich an meinen heiligen Begegnungen. Eine Frau steht wartend da, ihr Körper emotionsgeladen. Sobald ich sie einfach in die Arme nehme, ist es, als würde eine Energie freigesetzt, die den Damm in ihr zum Einsturz bringt. Minutenlang schluchzt sie hemmungslos. Ich flüstere: Macht gar nichts, ich habe andere Hemden dabei, ich halte Sie, Sie sind in Sicherheit. Mir ist unbegreiflich, wie viel Elend, wie viel Menschlichkeit durch diese eine kurze Berührung flutet, aber sie ist echt und instinktiv und herzzerreißend.
Schließlich legt sich ihre Aufregung so weit, dass sie die Sprache wiederfindet.
»Glauben Sie wirklich«, stammelt sie leise, »dass Papa mich lieb hat?«
Da ist sie, die gewaltige Frage, und dieses zarte menschliche Geschöpf vertraut sie mir an. Selbst diejenigen, die Gottes Existenz leugnen, wollen unbedingt erfahren, ob die Liebe existiert und ob sie weiß, wer wir sind. Mehr noch, wir werden von innen her dazu getrieben, die Frage an das nahe oder übermächtige Du zu riskieren: Siehst du irgendetwas in mir, das liebenswert ist, das genügt, das der Liebe würdig ist?
Im Roman Die Hütte gibt es eine Szene, in der Mackenzie, die Hauptfigur, mit der Infragestellung seiner grundsätzlichen Annahmen konfrontiert wird. Er begegnet Sophia, der göttlichen Weisheit, und sie fragt ihn nach der Liebe zu seinen Kindern. Im Besonderen möchte sie wissen, welches der fünf er am meisten liebe.
Sogar nur mäßig gesunde Eltern würden meinen, dass diese Frage unmöglich zu beantworten sei. Meine Frau Kim und ich haben sechs Kinder. Als das erste geboren wurde, konnten wir uns nicht vorstellen, ein weiteres Kind lieben zu können. Das erste beanspruchte all unsere Liebe. Doch als dann das zweite zur Welt kam, tat sich plötzlich eine neue Tiefe der Liebe auf, die entweder noch gar nicht vorhanden oder uns vor seiner Ankunft verborgen gewesen war. Als würde jedes Kind ein Geschenk der Liebe mit sich führen, das in den Herzen der Eltern verwahrt wird.
In jener religiösen Subkultur, wo ich aufwuchs, wussten wir alle, dass Gott Liebe ist. Wir sagten und sangen es die ganze Zeit, bis die Botschaft nicht mehr allzu viel bedeutete. Sie drückte einfach die Art und Weise aus, wie Gott ist. Ähnlich dem Enkelkind, das erklärt: »Aber ihr müsst mich lieben. Ihr seid meine Großeltern.«
Doch die Aussage: Gott ist Liebe beantwortet nicht unsere obige Frage, stimmt’s? So habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, den Satz Gott liebt dich umzuformulieren, und statt auf Gott beziehe ich ihn auf das Objekt Seiner unbedingten Liebe – auf uns. Daher sagt Papa in Die Hütte immer wieder: »Ich habe sie (oder ihn) besonders lieb.« Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen dieser Äußerung: Ich liebe dich, die zuerst mich betrifft, und jener: Ich habe dich besonders lieb, die vor allem dich betrifft. Beide sind korrekt, aber die letztere durchdringt die Unruhe unserer Seele und gibt zu verstehen: »Ja, ich weiß, du liebst mich, aber kennst du mich und magst du mich? Du liebst, weil du eben so bist, doch ist da etwas an mir, das der Liebe wert ist? Siehst du mich – und magst du, was du siehst?«
»Glauben Sie wirklich«, stammelt sie leise, »dass Papa mich lieb hat?«
Ich drücke sie fest an mich. »Ja«, flüstere ich zurück, während wir beide in Tränen ausbrechen. »Papa hat Sie besonders lieb!«
Kurz darauf scheint sie ihre Gefühle ein wenig im Griff zu haben und schaut mich zum ersten Mal direkt an.
»Das ist alles, was ich wissen musste. Das ist alles, was ich wissen musste.«
Nach einer weiteren Umarmung geht sie davon und lässt mich mit dem Gedanken zurück: Du Liebe, das ist alles, was jeder von uns wissen muss!
2
»Gott ist gut.
Ich bin es nicht.«
Das ist eine riesige Lüge! Und sie hat verheerende Auswirkungen. Warum also wird sie weithin geglaubt?
Viele meinen, Gott betrachte uns alle als Versager, als Übeltäter, die völlig verdorben sind. Es wurden Lieder geschrieben, um diese Annahme zu bekräftigen, Texte über unsere Hässlichkeit und unser Losgelöstsein. Möglicherweise fragen wir uns sogar: Bin ich nicht gerade dann in Übereinstimmung mit Gott, wenn ich mich selbst hasse?
Würden wir die Zeit erübrigen, um den Geschichten der anderen zu lauschen, käme uns die Einsicht, dass die meisten von uns etwas gemeinsam haben – nämlich die Scham, die unsere Selbsteinschätzung wesentlich beeinflusst. Aber dafür sind nicht allein wir verantwortlich. Einige mussten sich in ihrem Leben einen ganzen Schwall von kritischen Bemerkungen anhören, die solch einer Lüge Vorschub leisteten.
Du bist wertlos.
Du bist dumm.
Du taugst zu nichts.
Du bist einfach lächerlich.
Ich hasse dich.
Warum kannst du nicht …?
Du hast mich ins Unglück gestürzt.
Du bist ein Dreckstück.
Du siehst total angeknackst aus.
Diese oder ähnliche Botschaften haben wir dann verinnerlicht und auf uns selbst bezogen in Form negativer Urteile, gefolgt von einer Litanei der eigenen Fehler: »Ich bin nicht klug, dünn, groß oder attraktiv genug … Ich bin kein Junge … Ich bin nicht stark … Ich bin nicht …« Dabei vergessen wir, dass jedes »Ich bin nicht …« mit einem »Ich bin« begann: »Ich bin wertvoll … Ich bin klug … Ich bin ein Mensch, der geliebt wird …« Doch sogar dieses »Ich bin« richten wir gegen uns selbst und fügen ihm weitere Zeugnisse unserer Scham bei: »Ich bin … ein Verlierer, ein Eigenbrötler … Ich bin schlecht, hässlich, übergewichtig, allein, naiv, wertlos …«
Sieht Gott Sie oder mich in dieser Weise? Stimmt Er damit überein, wie ich mich selbst sehe und was andere mir darüber gesagt haben, wer ich im Innersten bin?
An der Seite meines Vaters aufzuwachsen, war häufig erschreckend. Das Leben mit ihm glich dem Gang über ein Minenfeld, wobei die Sprengkörper jede Nacht, während ich schlief, ihre Stelle wechselten. Gewiss, nicht alles war furchtbar. Es gab durchaus freundliche Augenblicke, bestimmte Versuche von seiner Seite, ein liebevoller Vater zu sein, aber diese waren im Grunde beunruhigend, denn sie wirkten wie eine Aufforderung, meine übliche Vorsicht zu vergessen. Umso verletzbarer war ich dann.
Doch ich fälle keine Werturteile über meinen Vater: Die Fähigkeit zur Vaterrolle wurde bereits von seinem eigenen Vater zerstört, lange bevor ich auftauchte. Aber sobald er den Schalter umlegte und von völliger Abwesenheit zu zornentbrannter Anwesenheit überging, hatte ich das Gefühl, förmlich zerrissen und in alle Winde verstreut zu werden.
Mein Vater war Missionar – der rechtschaffene Mann, der sich nie irrte, und darüber hinaus ein strenger Zuchtmeister.
Natürlich glaubte ich, seine Wut verdient zu haben, weil ja nichts Gutes in mir war. Also wurde ich zu Recht bestraft, selbst wenn mir völlig schleierhaft war, welche Sünde ich durch Versäumnis oder Straftat begangen hatte. Ich versuchte mich zu verteidigen, manchmal sogar mit Lügen, doch als auch das nichts nutzte, nahm ich Zuflucht bei vier Wörtern, schrie sie, während die Wellen seines Zorns heranrückten, wieder und wieder in die Welt hinaus:
Ich werde gut sein! Ich werde gut sein!
Ich werde gut sein!
Im Laufe der Jahre wurde mir bewusst, dass ich mit jedem dieser ausgestoßenen Schreie meinem innersten Wesen eine Botschaft übermittelte, die zu entziffern ich Jahrzehnte benötigte. Sie war von brutaler Einfachheit:
»Ich bin nicht gut!«
Erst vor wenigen Tagen sprach ich vor einer reizenden Versammlung von Gymnasiasten, die mich eingeladen hatten, an einer spiritual emphasis week in ihrer Schule teilzunehmen. Die Veranstaltung, die also der Besinnung auf das Geistige diente, wurde mit einem mir wohlbekannten Lied eröffnet. Viele der Textzeilen sind zutreffend, aber zu Beginn steht eine kolossale Lüge:
[Gott], Du bist gut, wenn in mir nichts Gutes ist.
In Wahrheit haben wir deshalb einen inneren Wert, weil wir nach dem Bilde Gottes geschaffen sind. Unser Wert hängt also nicht von uns ab. Doch diejenigen unter uns, die verzweifelt und tief verletzt vor sich hin leben, glauben vielleicht, dass, wenn im Innern nichts Gutes ist, auch keine Hoffnung auf echte Veränderung besteht. Wir meinen, das Beste wäre eine Art vorläufige Selbstdisziplin, um so durch Anschein und Leistung unsere Scham zu verbergen. All die positiven Aussagen in der Welt reichen nicht aus, um einen Felsen in einen Paradiesvogel zu verwandeln. Viele von uns lernen sich zu verstellen, bis wir völlig erschöpft sind von dem Versuch, jede Lüge wie einen Kreisel in Bewegung zu halten. Zwangsläufig sickern die Gifte aus unserem inneren Haus auf eine Weise heraus, die wir nicht mehr kontrollieren können. Oder wir geben einfach auf und handeln entsprechend der Urteile, die wir bereits über uns selbst gefällt haben.
Wie sollte ich in der Überzeugung, dass die Wertlosigkeit meine tiefste Wahrheit darstellt, überrascht sein, wenn ich mich so benehme, als wäre ich tatsächlich wertlos? Bin ich dann nicht wenigstens ehrlich? Ja, ich wäre es, falls darin die Wahrheit über mein Wesen läge; aber dies ist nicht der Fall.
Kann etwas, das »nicht gut« ist, von Gott herstammen?
Nein, das ist unmöglich!
Sind wir auch heute noch nach dem Bild Gottes geschaffen?
Ja, das sind wir!
Gott, der ausschließlich gut ist, schafft ausschließlich Gutes – sehr Gutes sogar! Daher fragte Jesus den reichen Jüngling: »Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott.« (Matthäus 19,17) Jesus sagt nicht: »Da ist nichts Gutes in mir«, sondern fragt eigentlich: »Siehst du Gott in mir, junger Bruder? Nennst du mich deshalb gut, oder geht es dir immer noch bloß um Leistung und Besitz?« Wenn Sie diese Geschichte weiterlesen, werden Sie feststellen, dass es dem anderen immer noch bloß um Leistung und Besitz geht.
Wie fiele Ihre Reaktion aus, wenn Sie einem Elternteil begegneten, der sein Kind folgendermaßen beschimpft: »Tatsächlich hast du nichts Gutes an dir. Du bist krank, hinterhältig und total verdorben. Du warst immer schon wertlos und wirst es immer bleiben. Möge Gott mit deiner Seele Erbarmen haben!« Leider gibt es einige, die derlei für das Evangelium halten, schlimmer noch: Sie merken nicht, dass es verkündet wird von Menschen in Machtpositionen, hinter Kathedern oder auf Kanzeln.
Wir mögen verkrüppelte Augen haben, aber keinen unguten Kern. Wir sind wahrhaftig und aufrecht, oft jedoch unwissend und dumm; so handeln wir aus unserer schmerzlichen Verwirrung heraus, tun uns selbst weh, den anderen und sogar der ganzen Schöpfung. Blind, aber nicht verdorben – das ist unser Zustand. Vergegenwärtigen Sie sich: Gott kann nicht zu etwas Bösem oder grundsätzlich Schlechtem werden … und Er nahm menschliche Gestalt an.
Unsere Kinder werden stets eine wesentliche Identität besitzen, die mit uns – ihrer Mutter und ihrem Vater – für alle Zeit verbunden bleibt. Sie sind in der Lage, verhängnisvolle Entscheidungen zu treffen, sich und andere zu verletzen, aber ihre innerste Natur ist ein Ausdruck unserer selbst. Genau das sind sie. Unsere Identität existiert ebenso wenig unabhängig wie unsere Güte. Ich bin wesenhaft gut, weil ich »in Christus« als ein Ausdruck von Gott geschaffen bin, ein Ebenbild, imago dei (siehe Epheser 2,10). Diese Identität, Inbegriff der Güte, bezeugt eine tiefere Wahrheit über uns als jeder Schaden, der uns zugefügt wurde oder den wir bei jemandem angerichtet haben.
Gott hat keine geringe Meinung von der Menschheit, denn Er kennt die Wahrheit über uns. Gott lässt sich nicht täuschen von all den Lügen, die wir uns und den anderen erzählt haben. Jesus ist die Wahrheit über uns, so wie wir sind – vollkommen menschlich, vollkommen lebendig. Größer als all die Verletzungen, Zerwürfnisse und Verwüstungen ist eine »sehr gute« Schöpfung, in der wir nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden. Doch in der trügerischen Dunkelheit, an die wir glauben, sind wir blind geworden. Es ist an der Zeit, dass wir jenen verheerenden Lügen die Zustimmung verweigern, statt weiter vor ihnen zu kapitulieren. Jetzt endlich ist der Moment gekommen, die weiße Flagge zu verbrennen!