John Williams

Nichts als die Nacht

Novelle

Aus dem amerikanischen Englisch
von Bernhard Robben

Mit einem Nachwort
von Simon Strauß

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über John Williams

John Williams (1922–1994) wuchs im Nordosten von Texas auf. Obwohl begabt, brach er sein Studium nach dem ersten Jahr ab, hatte Jobs als Rundfunk- und Zeitungsredakteur. Nur widerstrebend wurde er 1942 Mitglied des Army Air Corps, zweieinhalb Jahre Stationierung in Indien und Burma folgten. In dieser Zeit entstand sein erster Roman, ›Nichts als die Nacht‹. Nach dem Krieg wurde Williams Lektor, später erlangte er an der University of Denver seinen Master und lehrte schließlich dort bis zu seiner Emeritierung 1985.

Mehr über John Williams unter www.john-williams.de

 

BERNHARD ROBBEN, 1955 geboren, studierte Philosophie und Germanistik in Freiburg und Berlin, wurde für seine Übertragungen von Salman Rushdie, Ian McEwan, Peter Carey, John Burnside u.a. mit zahlreichen Stipendien gefördert, mehrfach nominiert und ausgezeichnet: 2003 Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, 2012 Internationaler Literaturpreis, 2013 Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.

Über das Buch

Das Leben des jungen Arthur Maxley scheint beherrscht von Müßiggang und einem nie verwundenen Trauma aus der Kindheit. Einen Abend, eine Nacht lang folgen wir ihm, zunächst zu einem Dinner mit seinem Vater, den er viele Jahre nicht gesehen hat. Schuld und Scham lasten auf dieser Begegnung, deren abruptes Ende einen Vorgeschmack gibt auf das verheerende Finale dieser Nacht. Während Arthur sich von einer schönen Fremden verführen lässt, enthüllt sich seine existenzielle Not: Sein Begehren ist tiefer, als dass erotische oder sexuelle Erfüllung es befriedigen könnten.

Impressum

Das Motto von A.E. Housman: »Die ›Shropshire Lad‹-Gedichte, LX«, erschienen im Mattes Verlag, Heidelberg 2003, übers. v. Hans Wipperfürth

 

2019 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 1948 by John Williams

Die Originalausgabe erschien 1948 unter dem Titel ›Nothing But the Night‹

bei Swallow Press, Denver/USA

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung eines Fotos von Arcangel Images / Onur Ozen

 

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eBook-Herstellung im Verlag (02)

 

eBook ISBN 978-3-423-43407-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14690-6

 

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ISBN (epub) 9783423434072

 

 

 

 

Die Angst, die dir die Kehle schnürt,

soll haben keine Macht;

wohin der längste Weg auch führt,

da ist nichts als die Nacht.

A.E. Housman

IN DIESEM TRAUM, IN DEM er schwerelos und leblos war, ein alles umflutender Bewusstseinsnebel, der in der Weite der Dunkelheit brodelte und bebte, gab es anfangs kein Gefühl, nur undeutliches Wahrnehmen, ohne Blick und Verstand und fernab, allein imstande, zwischen sich und der Dunkelheit zu unterscheiden.

Dann wurde er sich seiner langsam bewusst, und es kam so etwas wie Dankbarkeit auf für das fühllose Ding, das er im Traum war. Gedankenlos und ohne Worte schätzte er dies so sehr, dass er, stünde es ihm frei, sich dafür entschiede, auf immer in diesem blinden Bauch des Nichts zu bleiben.

Zu den besonderen Bedingungen eines Traums aber zählt, dass es dem Träumer an Macht und Kontrolle fehlt. Auch wenn es manchmal den Anschein hat, als seien ihm enorme Fähigkeiten verliehen, als besäße er Fertigkeiten, die im Wachzustand undenkbar schienen, als wüsste der Träumer, könnte er seinen träumenden Geist erkunden, seine Traumwelt erforschen, dass die einzige Macht, die er besitzt, bloß jene ist, die dem Traum zukommt, jenem Zustand also, in dem er sich befindet. Er ist das Werkzeug eines düsteren Schelms, eines grimmigen kleinen Scherzboldes, der Welten in Welten erschafft, Leben in Leben, Geist im Geist. All die illusionäre Macht verdankt sich diesem schadenfrohen Szenenschreiber, der nach Lust und Laune gibt und nimmt.

So begann er, sich in seinem Schwebezustand unsicherer zu fühlen, und in dem Maße, in dem er sich seiner bewusst wurde, nahm die Empfindung der Dankbarkeit ab, denn kühn drängte Gefühl heran, und auf einen Schlag, unerwartet und nach unlogischem Übergang, stellte er fest, dass er nicht länger vollkommen in der Weite der Dunkelheit war, sondern ein Etwas, eine Identität, unvollkommen und lebendig, in einer giftig brodelnden, aus der Leere aufsteigenden Welt des Lichts.

Einen Moment lang erkannte er den Ort nicht, an dem er sich wiederfand, unsichtbar in einem Zimmer schwebend, noch immer getragen von einer Welle unirdischer Distanz. Es war ein großer, sanft erhellter Raum voll schwatzender Menschen, gedämpftes Licht, heiß und stickig. Die Wände dehnten sich ins Unermessliche. Sie waren von hellbeiger Farbe, geschmackvoll mit Braun abgesetzt und mit unzähligen schreiend bunten und bedeutungslosen Gemälden behangen. Das Ambiente, die Atmosphäre kamen ihm vertraut vor, auch wenn er sie nicht zu benennen wusste. Hätte er es gekonnt, hätte er sich vielleicht unter die Leute gemischt, mit ihnen geredet, sie befragt. Nur wusste er, dass er aus eigenem Antrieb nicht zu handeln vermochte, er war weiterhin der Gnade der Traumintelligenz ausgeliefert, und nur was diese Intelligenz wollte, geschah.

In seiner von alldem getrennten Dimension war es ihm gestattet, diese versammelte Menge zu beobachten; und er sah die Menschen, als bewegten sie und präsentierten sie sich auf einem Objektträger unter einem Mikroskop. Er sah die Partymaske, das aufgesetzte, bedeutungslose Lächeln, das sich kurz um die Lippen zeigte und den feuchten, rosigen Gaumen freigab, die frisch geputzten Zähne, ihr bläuliches Zahnpasta-Emaille – ein unansehnlicher Muskelkrampf, der das Gesicht zu einer Grimasse verzog, einem Faltennetz, ein anatomisches, auf Charme geeichtes Experiment.

Und er sah die beleibten Herren, unförmige Herren in den reizlosen Schößen ihrer Smokings, sah, wie sie ihre Worte durch Wolken von Zigarrenqualm pafften, roch das zarte Aroma von Gin und Wermut und nahm die endlose Abfolge von Frauen wahr, die einander alle ähnlich waren, Brüste und Schenkel in monotoner Wiederholung von zu engen Kleidern zur Schau gestellt, verschwommene, unkenntliche Gesichter, nichtssagende Flötenstimmen.

Und plötzlich wusste der Träumer wieder, wo er war. Ohne jede Vorwarnung fiel ihn dieses Wissen an, und ohne jede Überraschung nahm er es hin. Er war in der Wohnung von Max Evartz; er kannte sie gut. Einen Moment lang hörte er auf, wie beiläufig die Partygäste zu mustern, um sich stattdessen nach Max umzusehen, ihn zu suchen, obwohl er wusste, dass er ihn nicht finden würde. Max war auf seinen eigenen Partys nie zu sehen. Sein massiger Leib verdrückte sich liebenswerterweise, sobald die Party begann, und danach bekam man Max nicht mehr zu Gesicht. Er war ein kluger und erfolgreicher Gastgeber.

Nachdem er nun endlich seine Umgebung wiedererkannte, schoben sich auch andere Dinge in den Orbit seiner Erinnerung. Er wusste, wer diese Leute waren, kannte sie alle. Sein Geist war jetzt fähig, die vielen Gesichter zu betrachten und einzuordnen, sich an sie zu erinnern und sie zu sortieren. Mit dem vordrängenden Wiedererkennen fiel der Zustand innerer Distanz wie ein übergroßer Mantel von ihm ab, und er spürte, wie unwiderstehlich ihn der Wirbel und das Gewühl der Wirklichkeit anzogen, fühlte, wie er selbst zu einem kleinen Bruchteil der Menge wurde.

Dann sah er den jungen Mann; und während ein Teil seines Verstandes darüber staunte, wie tief vertraut ihm dieses Gesicht war, wurde ein anderer Teil von einer überwältigenden Gewissheit durchtränkt und überschwemmt, die ihn auf eine unausweichliche und unaussprechliche Art und Weise erkennen ließ, warum er an ebendiesem Ort war, warum er das Geschehen betrachtete und nun aufstand, um zu sehen, was als Nächstes geschah.

Der junge Mann saß allein in einer Ecke des Zimmers in einem großen Sessel. Das Haar hing ihm in dünnen, blonden Strängen vom Kopf, und hin und wieder hob er gedankenverloren eine schmale Hand, um mit wirkungsloser Geste eine Strähne zurückzuschieben. Er war von zierlicher Statur; der leicht gebeugte Rücken, der selbst im Sitzen nicht zu übersehen war, machte seine Gestalt noch auffälliger, und er war blass, doch von einer Blässe, für die mehr als bloß fehlender Sonnenschein verantwortlich war. Unter der Haut schien es eine teigige Fettschicht zu geben, und man hatte den Eindruck, würde ihm ein neugieriger Finger ins Gesicht gedrückt, die Druckstelle bliebe sichtbar, als fehlte die gewohnte Elastizität gesunden Haut- und Muskelgewebes. Von dieser auffälligen Blässe hoben sich die überraschend stark durchbluteten Lippen ab, kein sinnliches Rot, auch kein ungesundes Rot, im Gegenteil. Die Lippen schienen das einzig Gesunde in einem ansonsten kränklichen Antlitz zu sein.

Man sah ihn häufig auf den Partys von Max, doch selbst einem Beobachter, der nicht mit der übernatürlichen Wahrnehmungsschärfe des Träumers gesegnet war, wäre aufgefallen, dass er nicht dazugehörte. Ihn schien eine innere Ruhelosigkeit zu plagen, die ihm keinen lockeren Umgang mit sich oder den anderen gestattete. Angespannt beugte er sich im Sessel vor, als sei er kurz davor, aufzuspringen und in heller Panik zu fliehen. Dennoch war er hier oder bei ähnlichen Zusammenkünften oft zu sehen, stets der verwirrte Fremde, ein Sonderling. Ausnahmslos passte ihm jede dieser Veranstaltungen wie ein schlecht sitzender Anzug.

Und der Träumer fragte sich: Wer kennt diesen Mann? Wer kennt seine wahre Identität? Wer weiß, woher er kommt, wer kennt sein Ziel? Hier ist dein wahrer Fremder, dachte der Träumer: Nicht der Mann, den du nie gesehen hast, nicht der Mann, den du nie gekannt hast, nicht das nur flüchtig im Gedränge der Straße wahrgenommene Gesicht, nicht die dunkle, nur einmal gehörte Stimme, nicht das Gesicht eines Fremden, von dem du auf irgendwelchen Seiten gelesen hast, nein, all das nicht. Doch hier – hier in diesem Mann, den du zu gut kennst, um ihn zu kennen, den du zu oft gesehen hast, um ihn je zu sehen, hier ist dein wahrer Fremder in der Menge. Diese gebeugte, blonde, angespannte Gestalt, die in der Zimmerecke in einem Sessel sitzt, unbemerkt und allein.

Denn er war unbemerkt und allein, und niemand kannte ihn. Nur die wenigsten hätten ihn mit Namen anzusprechen gewusst … und das war schon alles. Kein Mensch hier war mit den elementaren, wesentlichen Tatsachen seines Lebens vertraut. Man hielt sie für zu unbedeutend, um sie sich zu merken oder sich gar näher mit ihnen zu befassen.

Für diese Leute war er wie ein Geräusch ohne Bedeutung, eine Explosion, die nicht weiter störte.

Der Träumer erinnerte sich an einen bestimmten Vorfall. Er erinnerte sich, wie er einmal nervös mitten in Max Evartz’ Wohnung gestanden und sich rasch blinzelnd umgeschaut hatte, während seine Finger ruhelos den Stiel eines Cocktailglases streichelten und er alles, was vor sich ging, mit der hochkonzentrierten Aufmerksamkeit einer kurzsichtigen Eule registrierte. Das war seine übliche Pose, seine gewohnte Haltung. So verharrte er manchmal eine halbe Stunde lang, in der er sich kaum rührte, nichts sagte und nur dem unverständlichen Geplapper um ihn herum lauschte. Gelegentlich aber geschah es, dass eine zufällige Bemerkung zu ihm durchdrang, woraufhin er dann plötzlich mit dem Fuß aufstampfte und wütende, unsinnige Flüche und Beleidigungen in verständnislose, überraschte Gesichter schleuderte. Sein Gesicht ballte sich zu einer engherzigen Grimasse des Unmuts zusammen, die schmalen roten Lippen zuckten feucht, und ein Hauch gereizten Rosas färbte die ungesund teigigen Wangen. Er gab nicht einmal auf, wenn ihm die verschreckten Leute den Rücken zukehrten, was sie unweigerlich taten. Er folgte ihnen durchs Zimmer, während seine Beschimpfungen so unmerklich in Verzweiflung übergingen, dass niemand etwas davon mitbekam.

Und dann, ebenso abrupt, wie er begonnen hatte, hörte er auch wieder auf. Stumpfsinnig starrte er die Person oder die Personen an, denen seine Rede gegolten hatte, als ob sie unerwünschte, aufdringliche Fremde wären. Schließlich machte er auf dem Absatz kehrt und ließ sie einfach stehen, um sich verwirrt, verängstigt und ein wenig beschämt in seine Ecke zurückzuziehen und in ein tiefes Schweigen zu verfallen, das mal fünf Minuten, mal eine Stunde, oft sogar den Rest des Abends andauerte. Während dieser Zeit war es sinnlos, ihn anzusprechen. Er schien dann nichts außer dem eigenen, stummen Ich wahrzunehmen.

Also betrachtete der Träumer die schmale, blasse Gestalt in dem übergroßen Sessel. Und noch während er sie ansah, steigerte sich die Vorahnung einer nahenden Katastrophe. Er wollte fliehen, wollte fort von hier, doch er konnte sich nicht rühren, der Traum, dieser Clown, hatte ihn jeder Fähigkeit zur Bewegung beraubt. Er stand wie versteinert, als die Traumbilder plötzlich, rascher, als er es für möglich gehalten hätte, aus der Bahn gerieten. Es gab eine große, blendend helle Lichtexplosion, die ein leeres, undurchdringliches Dunkel zurückließ, und aus diesem Dunkel drang nun der vielfach verstärkte Lärm der Menge. Man schrie, ein wilder, gieriger Schrei konzentrierten Hasses, und er wusste, warum man so schrie.

Dann lichtete sich das Dunkel. Und er sah, wie sich die ganze Partygesellschaft, all die zuvor so gleichmütig wirkenden Anwesenden, plötzlich zu dem übergroßen Sessel in der Ecke drängten, um in sinnloser Wut auf das dort zusammengekauerte, nichtsahnende Geschöpf einzuschlagen. Der Träumer befand sich in diesem Menschenrund, sehr nahe an dem blassen jungen Mann, und wie die Menge herantrieb, fühlte er, dass sie ihn mitriss, hin zu dem Mann im Sessel, und er plötzlich seine Fähigkeit zu schreien wiederfand und sich zu bewegen, sich zu wehren. Nur konnte er aus dem Kreis nicht ausbrechen; die Menge schloss ihn unerbittlich von allen Seiten ein; selbst mit seiner ganzen Kraft konnte er dem Druck der immer dichter heranrückenden Leiber nicht widerstehen. Immer stärker nach innen wurde der Träumer gedrängt, bis er so nahe war, dass er die Poren in der Haut des jungen Mannes sehen konnte, die dünnen Adern, die die Lider seiner resigniert geschlossenen Augen durchzogen. In einem letzten verzweifelten Versuch mühte er sich einmal mehr, vor diesem Leib zurückzuweichen, aber es war zwecklos. Ein mächtiges kollektives Pressen schob ihn heran, und er spürte, wie er den jungen Mann mit seinem Körper berührte, und dann wusste er es: In einem allerletzten Erkenntnisschwall buchstabierte ihm sein Verstand, was er schon lange geahnt hatte. Geschickt, leichthin, lautlos verschmolz er mit dem ruhenden Körper, wurde in einer plötzlichen, unerklärlichen Anverwandlung eins mit ihm, in einem kurzen Aufzucken tödlicher Qual, denn das hier war seine wahre Identität, das war er selbst; und kurz bevor der Vorhang der Dunkelheit herabsank, sah er plötzlich aus den abrupt geöffneten Augen des jungen Mannes auf, sah das endlose Gesichtermeer der Menge, hörte erneut den animalischen Schrei ihres Hasses, spürte brutale Hände auf seiner Haut, sah die gehobenen, niederfahrenden Fäuste, die ihn blutig schlagen würden, spürte kurz einen Schmerzensschock, und dann verdunkelte sich das Meer aus Blut, und er schwamm in völliger Finsternis und wusste nichts mehr.

SONNENHELLES MORGENLICHT STOCHERTE MIT NEUGIERIGEN Fingern durch die halb geöffneten Lamellen der Jalousie und strich warm, sanft und unpersönlich über sein Gesicht. Er rührte sich leicht und drehte sich zur Seite. Neben dem Bett klingelte das Telefon, und er fuhr erschrocken auf, die Augen geöffnet, doch blicklos. Er blinzelte und schüttelte den Kopf, um die letzten Traumschleier zu vertreiben. Dann hob er ab.

»Ja?«, murmelte er verschlafen.

Eine Stimme sagte: »Guten Morgen, Mr Maxley. Es ist neun Uhr.«

Er grunzte, legte den Hörer zurück auf die Gabel und blieb noch einen Moment, die Beine übereinandergeschlagen, auf dem Bettrand sitzen, starrte vor sich hin und stellte sich langsam, mühevoll auf den Tag ein. Schicht um warme Schicht streifte sein Verstand den Schlaf ab und stählte sich gegen den unbarmherzigen Ansturm des kalten Bewusstseins.

Arthur Maxley ließ den Blick durchs Zimmer wandern und blinzelte dabei mit der unerschütterlichen und rhythmischen Stetigkeit einer gelangweilten Schildkröte. In seinem Kopf wummerte es dumpf, der Mund fühlte sich wie Watte an vom schalen Nachgeschmack des Alkohols, den er am Abend zuvor getrunken hatte, hier, allein in seiner Wohnung.

Ich muss mir für abends eine andere Beschäftigung suchen, dachte er. Es tut mir nicht gut, allein zu sein und zu trinken.

Angewidert blickte er sich um. Eine Schublade stand weit offen; benutzte Taschentücher, getragene Schlipse und Socken hingen schlaff über den Rand. Mitten auf dem Boden war ein Aschenbecher umgekippt und hatte Asche und Zigarettenstummel über den Teppich verstreut.

Hier sieht es aus wie in meiner Seele, dachte er. Unordentlich und schmutzig.

Er lächelte. So ein Quatsch, sagte er sich. Es ist nur ein Zimmer, und heute Vormittag kommt das Zimmermädchen, um sauber zu machen, nur meine Seele, die kann sie nicht putzen. Wer könnte das schon, die Seele säubern?

Doch vermochte er an diesem Morgen kein rechtes Interesse für seine Seele aufzubringen. Gestern Abend hatte ihn seine Seele sehr beschäftigt, erinnerte er sich. Er hatte in diesem Zimmer gesessen, ein wenig getrunken, ein Buch gelesen und über seine Seele nachgedacht. Das aber war gestern Abend gewesen. Jetzt war es heller Vormittag, und sein Verstand schreckte vor solcher Selbstbetrachtung zurück.

Ich werde einen schönen Spaziergang im Park machen, sagte er sich wortlos. Gleich ziehe ich meine Sachen an und mache einen schönen langen Spaziergang.

Er seufzte schwer, warf die Bettdecke von sich, tappte barfuß ins Bad, putzte sich die Zähne, bis der Gaumen schmerzte, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht und rieb es kräftig mit einem groben Handtuch trocken. Dann begutachtete er sich im Badezimmerspiegel und beschloss, sich die Rasur heute zu schenken.

Und als er sich so im Spiegel sah, drängte sich ihm aufs Neue sein Gesicht auf. Er musterte es ausgiebig, sachlich. Es gefiel ihm nicht. Bis zu einem gewissen Grad war dies ein leidenschaftsloses Missfallen, so als würde sein Gesicht jemand anderem gehören. Nur behielt er diese Gelassenheit nie lange. Immer begann sich in ihm Groll gegen das zu regen, was auch immer es war, das für diese äußere Fehldarstellung seines Innenlebens verantwortlich war. Er fand es nicht fair. Mit dem Finger stupste er sein Gesicht an, und ihm fiel der seltsame Kontrast zwischen seinen schönen sehnigen Händen und der blassen, ziemlich gewöhnlichen, glatten Haut seines Gesichtes auf, die vom hellen Glanz der Jugend überzogen sein sollte, es aber nicht war. Er grinste sein Spiegelbild an, zog die roten Lippen hoch, bleckte die Zähne und lachte trotzig. Gleich darauf wurde er wieder ernst und starrte noch einen Moment länger in den Spiegel, doch nun geistesabwesend, so als hätte er jedes Interesse verloren. Dann drehte er sich um und ging zurück ins Schlafzimmer.

Beim Anziehen ermahnte er sich, unbedingt diesen Spaziergang im Park zu machen. Den ganzen Vormittag bei geschlossenen Jalousien im Zimmer zu hocken war nicht gut für ihn. Und er dachte an Dinge, an die er nicht denken sollte, erinnerte sich an Sachen, an die er sich nicht erinnern sollte. Manchmal, wenn er sich so allein dort sitzen und sich erinnern sah, kam er sich wie ein Arzt vor, der beobachtete, wie eine Krankheit aufzog, aber nichts dagegen unternahm. Man hatte ihm gesagt, dass es Dinge gebe, die er vergessen sollte, die er vergessen musste; und er hatte zugehört und zugestimmt. Doch vor die Notwendigkeit gestellt, diesem Rat Folge zu leisten, fühlte er sich seltsam hilflos.

Gestern Abend, allein in der Wohnung, hatte er sich ein nachdrückliches Versprechen gegeben. Von nun an würde er jeden Tag durchplanen, würde die Augenblicke füllen, wie man ein Schaubild ausfüllte, sodass es für ihn keinen leeren Moment mehr gab, dem er sich hingeben und an den er sich erinnern konnte. Und obwohl der Gedanke, sich dem Morgen zu stellen, stilles Grauen in ihm auslöste, hatte er beschlossen, jeden Tag als Erstes einen Spaziergang zu unternehmen, einen schönen langen Spaziergang im Park.

Der Morgen hatte etwas an sich, was er nicht mochte, etwas, wie er fand, geradezu Obszönes. Es war, als erhöbe sich die Zeit allmorgendlich aufs Neue aus ihrem nächtlichen Grab, um über die Erde zu schleichen und sie sowie alles, was darauf wandelte, mit klammen Händen zu berühren. Und der Morgentau verströmte einen modrigen, übel riechenden Duft, der ihm so unangenehm in die Nase drang wie der muffige Geruch düsterer Zimmer in verlassenen Häusern.

Diesmal aber dachte er nur flüchtig an seinen gewohnten Widerwillen. Auf dem dicken verblichenen Teppich, mit dem der Flur ausgelegt war, machten seine kleinen Füße, die in edlen Schuhen steckten, kein Geräusch, als er aus der Wohnung ins dunkle Treppenhaus trat. Auf dem Weg nach unten streiften seine Finger das glatte, matte Eichengeländer, und er spürte, wie ihn im selben Moment ein Gefühl von Frieden und innerer Ruhe überkam. Auch wenn ihm seine Wohnung missfiel, so fand er doch, dass ihn die lange Treppe mit ihrer dunklen Freundlichkeit dafür mehr als entschädigte, und er ließ sich beim Hinabgehen immer Zeit. Denn sooft er sie hinunterging, konnte er in der wohligen Anonymität ihres Zwielichts sich selbst vergessen und, wenn auch nur für einen Moment, mit der Dunkelheit verschmelzen, konnte irgendwie ein Teil von ihr werden.

Am Fuße der Treppe hielt er kurz inne, dann öffnete er die Tür und huschte eilig hinaus in den hellen Morgen. Obwohl es eigentlich nicht besonders kühl war – es schien sogar ein recht warmer Sommermorgen zu sein –, merkte er, wie er zitterte, während er die Straße entlangging.