Deutsche Erstausgabe (ePub) August 2017
Für die Originalausgabe:
© 2016 by M.J. O'Shea
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Duke in Hiding«
Originalverlag:
Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 by Cursed Verlag
Inh. Julia Schwenk
beloved ist ein Imprint des Cursed Verlags
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit
Genehmigung des Verlages.
Bildrechte Umschlagillustration
vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock
Satz & Layout: Cursed Verlag
Covergestaltung: Hannelore Nistor
ISBN-13: 978-3-95823-653-0
Besuchen Sie uns im Internet:
www.cursed-verlag.de
Aus dem Englischen von Vanessa Tockner
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Klappentext:
Theo hat sein ganzes bisheriges Leben in der verschlafenen Kleinstadt Maplehurst verbracht. Als plötzlich der ebenso rätselhafte wie mürrische Heath in sein Leben tritt, gerät seine Welt aus den Fugen. Doch auch wenn zwischen ihnen erst Fetzen und dann Funken fliegen, ist nicht alles so, wie es scheint: Heath hat ein Geheimnis, das ihre junge Liebe auf eine harte Probe stellen wird…
Danke, Ari, für all deine Hilfe
und danke, Poppy, weil du... Poppy bist :)
Die Brücke, die nach Wickstaff Island, New Hampshire, führte, war lang und recht schmal. Besonders im Dunkeln. Heath Pierrepont Blackwood, siebter Herzog von Kingston, war selbst an guten Tagen kein begeisterter Fahrer, aber in einer feuchten, nebligen Nacht an einem seltsamen, ihm unbekannten Ort über eine viel zu schmale Brücke zu schlittern? Schlimmer konnte es nicht mehr werden.
Verdammt eisig ist es. Nicht dass Yorkshire etwas zu bieten hatte, was Wärme und Sonnenlicht betraf, aber wenigstens war es seine Heimat. Und... wohin war er gerade unterwegs? Maplehurst? Ein winziger Ort auf einer Insel vor der Küste von Portsmouth, das selbst nicht gerade nach viel aussah. Das war ungefähr so weit von seiner Heimat entfernt, wie Heath sich vorstellen konnte. Weit entfernt von allem, wenn er ehrlich war. Zumindest soweit er das mitten in der Nacht beurteilen konnte.
Heath war spät auf einer kleinen lokalen Landebahn angekommen. Zu der Zeit war er bereits seit einem knappen Tag auf den Beinen und etwas desorientiert von dem Zeitunterschied und seiner übereilten Abreise gewesen. Er hatte die Schlüssel zu einem unscheinbaren Auto und offenbar auch zu einer Wohnung bekommen, die Adresse war in das Navi einprogrammiert und sein Gepäck war ebenfalls da gewesen.
Dann hatte die einzelne Stewardess seines privaten Flugs genickt und war in das Flugzeug zurückgestiegen. Die Tür hatte sich geschlossen und da war Heath gewesen, allein auf einer gottverlassenen Straße mitten im amerikanischen Nirgendwo, auf unbestimmte Zeit aus seinem eigenen Land und von seinen Pflichten verbannt.
Wenigstens war er noch am Leben – ein kleines Wunder, wenn er an die letzten paar Wochen dachte.
***
Theo hatte seinen Wecker schon immer gehasst. Keine außergewöhnliche Eigenschaft, wie er annahm. Wer wachte schon zu dem grässlichen Schrillen des Standardklingeltons auf und hörte es sich für einige glückliche Momente an, bevor er fröhlich aus dem Bett sprang?
Hoffentlich niemand, denn dieser Blödsinn passierte nur in Disney-Filmen und Theo hasste sofort jeden, der das in einem dieser Filme tat.
Er rollte auf die andere Seite und wischte mit dem Daumen über das Display seines Handys, damit das verdammte Ding endlich verstummte. Dann ließ er sich wieder auf das Bett fallen und stöhnte auf. In New England war es immer noch kalt – der Frühling war noch nicht angekommen. Schwerer Tau hielt das Gras feucht und der Nebel der vorigen Nacht hing noch vor seinem Fenster. Da es bereits später Nachmittag war, bezweifelte er, dass es vor der Dämmerung noch aufklaren würde. Theo wollte wieder schlafen gehen. Er hatte immer noch Muskelkater von dem Auftrag als Landschaftsgestalter, mit dem er die ganze Woche beschäftigt gewesen war. Bier zu servieren und Pete Harvey und dem griesgrämigen alten Joe Crawford dabei zuzuhören, wie sie über die Red Sox herzogen, wie sie es fast jeden Abend nach der Arbeit taten, war das Letzte, wozu er Lust hatte.
Dennoch hievte er seinen wunden Körper aus dem schönen warmen Bett, zog ein kariertes Hemd und seine ordentliche dunkle Jeans an, glättete seine Haare mit Wasser, damit er nicht aussah, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen, obwohl er genau das getan hatte, und verließ seine Wohnung.
Theo arbeitete noch nicht lange hinter der Bar im Gull – nur die letzten paar Jahre, obwohl es sich irgendwie anfühlte, als würde er seit Ewigkeiten dort festsitzen. Natürlich war es keine ideale Arbeit. Allerdings zahlte er mit dem Trinkgeld seine Rechnungen im Winter, wenn sein noch junges Unternehmen als Landschaftsgestalter deutlich langsamer lief. Aber inzwischen ging der Winter schon in den Frühling über. Es war an der Zeit, seine Stunden im Gull zu reduzieren, damit er wenigstens seine geistige Gesundheit wiederbekam. Oder etwas Schlaf.
Theos alter Wagoneer brauchte eine Weile, um warm zu werden. Für die Gartenarbeit hatte er einen Truck, der ein paar Jahre jünger als der Jeep war und etwas verlässlicher, aber er fuhr gerne mit dem Wagoneer. Er glaubte nicht, dass der Wagen in nächster Zeit den Geist aufgeben würde. Wahrscheinlich nicht. So oder so bezweifelte Theo, dass er sich von dem Ding trennen konnte, bevor es nicht seinen keuchenden letzten Atemzug getan hatte – was es wahrscheinlich genau dann tat, wenn er weit weg von zu Hause gestrandet war, seinem Glück mit der verdammten Kiste nach zu schließen. Verlässlich oder nicht, Theo konnte sich einfach nicht davon trennen. Er war kein großer Fan von Veränderung und der Jeep war eine seiner letzten greifbaren Verbindungen zu seinen Eltern. Das alte Mädchen würde nirgendwohin gehen.
Er war etwas früh dran, also beschloss er, auf dem Weg bei seiner besten Freundin Gilly haltzumachen. Nach der Arbeit würde sie wahrscheinlich zu Hause sein und etwas Wunderbares zu essen haben, wie immer, wenn er auf einen Sprung vorbeikam. Gilly wohnte ein paar Blocks von Maplehursts Dorfplatz entfernt in Richtung Crow Hill Road, der Straße, die direkt zum Wasser und zum Gull, der Dorfkneipe, führte. Theo liebte Gillys Nachbarschaft. Sie war voller alter Ahornbestände, die dem Ort seinen Namen gegeben hatten. Die Straßen waren breit und malerisch, die Häuser aus der Jahrhundertwende und größtenteils ziemlich teuer. Da ihres eine Renovierung dringend nötig gehabt hatte, hatte Gilly einen guten Deal dafür bekommen – und Theo einen wunderbaren Ort, den er besuchen konnte.
Bei Gilly musste er sich nie ankündigen, also fuhr er einfach in ihre Straße und würgte den Motor ab.
Sie musste gesehen – oder, was wahrscheinlicher war, gehört – haben, dass er gekommen war, denn als er das Auto abgesperrt hatte, stand sie schon auf der Türschwelle, um ihn zu begrüßen. Theo würde sie überall wiedererkennen – groß und etwas unbeholfen, mit dunklen Haaren und großen dunklen Augen. Sie war schön, besonders wenn sie in einer alten Gymnastikhose, einem T-Shirt und einer uralten abgetragenen Strickjacke zu Hause war. Das war die wahre Gilly, dachte Theo immer.
»Hey, Gilly-Belly«, sagte er. Er beugte sich vor und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Hallo«, sagte Gilly leise. Sie zog die Jacke fester um ihre Schultern.
Wahrscheinlich sollte Theo irgendwann anfangen, sie Gillian zu nennen, wie alle anderen im Ort und in der Bibliothek, wo sie seit über drei Jahren als Bibliothekarin arbeitete. Aber ihre Familie nannte sie immer noch Gilly. Und Theo gehörte schließlich zur Familie.
»Wie war die Arbeit?«, fragte sie nach einer kurzen Umarmung.
Theo stöhnte. »Lang. Ich bin das Graben gar nicht mehr gewohnt und die Watsons, du weißt schon, an der Kerr Road? Sie wollen eine ganze Reihe blühender Kirschbäume ihre Auffahrt entlang. Heute hab ich zehn von denen gepflanzt. Wenn ich morgen einen Bleistift heben kann, wäre ich schon glücklich.«
Gilly schenkte ihm ihr typisches sanftes Lächeln. »Schaffst du die Arbeit heute Abend?«
»Es wäre leichter, wenn du vorbeikommen und mir Gesellschaft leisten könntest.« Theo würde alles tun, um Gilly in die Bar zu bekommen. Irgendjemand musste ihn vor der ständigen Debatte um die Red Sox retten. Manchmal funktionierten seine Überzeugungsversuche, manchmal auch nicht.
»Heute ist es schlecht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hab Mom versprochen, dass ich ihr mit ihren Muffins für das Treffen des historischen Vereins helfe.«
Pech. Aber er würde nie versuchen, Gilly von ihrer Mom zu trennen. Die in gewisser Weise auch Theos Mom war. Zumindest war sie das über zehn Jahre lang gewesen. Als Theo fünfzehn gewesen war, waren seine Eltern auf dem Rückweg von einer Feier bei einem Autounfall gestorben. Die Bells hatten ihn sofort aufgenommen. Wahrscheinlich hatte er es ihnen zu verdanken, dass er in diesem Jahr nicht den Verstand verloren hatte oder in der Zeit danach.
»Gib Carolyn einen Kuss von mir, ja?«
Gilly nickte. »Ich nehme an, du willst einen Snack? Du tauchst immer nur ohne Vorwarnung auf, wenn du Essen willst.« Ihr Lächeln wechselte von sanft zu listig. Gillian Bell war vielleicht schüchtern und ruhig, aber darunter verbarg sich Sarkasmus. Theo fand sie zum Schießen.
»Wenn du etwas dahast, würde ich nicht Nein sagen.«
Gilly warf ihm einen Blick zu, der besagte: Wann habe ich je nichts da? »Ich kann dir was mit Grilled Cheese machen. Ich hab neuen Gouda.«
Theo stöhnte begeistert auf. »Ich würde nie, niemals Nein zu einem Grilled-Cheese-Sandwich von dir sagen.«
Er ließ sich auf seinen üblichen Stuhl an Gillys winzigem Küchentisch fallen. Erst vor sechs Monaten war sie in das Haus, das sehr malerisch im Stil Frank Lloyd Wrights gebaut war, eingezogen und hätte es nicht mehr lieben können – buchstäblich jeder, der sie kannte, hatte nach ihrem Einzug wochenlang ihre Erzählungen davon gehört. Theo hatte bereits mehr Zeit damit verbracht, ihr beim Streichen und Einrichten zu helfen, als er es je in seiner eigenen Wohnung getan hatte, und sie dankte es ihm mit köstlichen Mahlzeiten und ein paar Bieren. Gilly verstand es, einen Ort zu einem richtigen Zu Hause zu machen. Theo versuchte immer noch, seines zu finden.
»Hast du Sonntag frei?«, fragte Gilly, sobald die zwei Sandwiches in der Pfanne brieten. »Ich dachte an Filme und Pizza.«
Nichts hörte sich besser an, als sich am Ende einer Woche, die noch nicht vorbei war, auf dem Sofa seiner ältesten Freundin auszustrecken. »Vor dem Mittagessen hab ich etwas organisatorische Arbeit zu erledigen, aber dann kann ich kommen. Ich nehme Pizza und Getränke mit, wenn du uns ein paar Snacks machst.«
Gilly nickte. »Vergiss nicht die schwarzen Oliven wie letztes Mal.«
»Ich würde dich nie so beleidigen. Nie wieder.«
»Und Mom will wissen, ob du an Georges Geburtstag zum Abendessen zu uns kommst.«
George war Gillys jüngerer Bruder. Als Theo eingezogen war, war er erst fünf gewesen. Seitdem hatte er ihn fast wie einen Helden verehrt, was Theo überhaupt nicht verstand. »Klar bin ich dabei. Meinst du, deine Mom wird mich umbringen, wenn ich ihm die Konzertkarten schenke, über die er ständig geredet hat?«
»Für das Konzert in Manchester?«
»Ja, ich dachte an zwei, damit er einen Freund mitnehmen kann.«
»Es sollte ihr nichts ausmachen.« Gilly zuckte mit den Schultern. »Immerhin ist er jetzt ein Teenager. Komisch, oder?«
»In ein paar Wochen bekommt er seinen Führerschein.« Theo fühlte sich wie ein alter Mann, als ihm bewusst wurde, dass der kleine Junge, der ihm durch das Haus der Bells gefolgt war, schon bald sechzehn wurde. Älter als Theo gewesen war, als er vor so vielen Jahren bei den Bells eingezogen war.
»Oh Gott. Bitte erinnere mich nicht daran.« Gilly tat so, als würde sie erschaudern.
Mit zwei Tellern voll großer Grilled-Cheese-Sandwiches aus Sauerteig kam sie zum Küchentisch herüber. Theo liebte diese Sandwiches mehr als alles andere. Außer natürlich die ihrer Mutter. Schließlich hatte Gilly von der Meisterin selbst gelernt. Manchmal wünschte er sich, er könnte sich an mehr Mahlzeiten erinnern, die seine Mutter gemacht hatte. Makkaroni mit Käse waren dabei und etwas mit Enchiladas, aber die Erinnerungen verblassten immer mehr. Manchmal wusste er nicht einmal mehr, wie sie gerochen hatte, und das machte ihm Angst.
»Willst du etwas Saft?«, fragte Gilly.
»Hmm?« Theo sah mit vollem Mund auf. »Oh, klar. Setz dich. Ich hole welchen. Willst du auch?«
Gilly nickte.
Theo sprang von seinem Stuhl auf und holte zwei Gläser aus Gillys Küchenschrank. Er griff nach dem Krug mit Apfelsaft aus der Gegend und schenkte ihnen beiden ein. Dann glitt er wieder auf seinen Stuhl, stellte die Gläser ab und nahm einen weiteren großen Bissen von seinem Sandwich.
Gilly kicherte. »Langsam. Du bekommst noch Bauchschmerzen.«
»Warum schaffe ich es nicht, die zu machen? Ich hab es so oft versucht, es ist einfach nicht dasselbe. Was macht ihr anders?«
»Ich hab dir schon gesagt, dass es ein geheimes Familienrezept ist. Noch vom Unabhängigkeitskrieg.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Natürlich.« Theo verdrehte die Augen.
Sie aßen in freundschaftlichem Schweigen, bis die Sandwiches und der Saft weg waren. »Wann musst du im Pub sein?«
»In ungefähr zehn Minuten. Ich will wirklich nicht. Ich bin total fertig.«
»Kann Cory nicht für dich übernehmen? Oder Ben?«
Natürlich kannte Gilly den anderen Barkeeper. Und den Besitzer, Ben. Genauso wie die beiden Gilly kannten und Theo und jeden, der zwischen September und Mai in die Bar kam. Wenn im Sommer die Touristen in den kleinen Ort strömten, war alles möglich, aber für den Rest des Jahres konnten sie die Einheimischen praktisch an zwei Händen und ein paar Zehen abzählen.
»Ich glaube, Ben hat etwas von Elternabend gesagt, und Cory ist schon den ganzen Nachmittag lang dort. Außerdem kann ein bisschen mehr Geld nicht schaden. Die Watsons haben mich noch nicht für die Kirschbäume bezahlt.«
Gilly stieß einen missbilligenden Laut aus und schürzte die Lippen. »Brauchst du wieder Hilfe bei der Buchhaltung? Ich will nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst, weil du vergessen hast, Rechnungen auszustellen.«
»Wahrscheinlich schon. Aber ich will dir das nicht antun.«
»Du weißt, dass ich es gerne mache. Wenn du am Wochenende deinen Laptop mitbringst, können wir ein paar von diesen Rechnungen ausdrucken.«
»Du rettest mir das Leben.«
»Ich weiß.«
Als Theo beim Gull ankam, zitterte er am ganzen Körper. Er wusste, dass er sich im Sommer nach kühlen Nächten sehnen würde, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die letzte winterliche Kälte in Frühling überging. Auf seinem Weg nach hinten nickte er Cory, dem Barkeeper für den Nachmittag, zu und wartete, bis dieser mit seiner Abrechnung fertig war und Schluss machen konnte.
»Schönen Abend, Mann«, sagte Cory.
Theo lächelte ihm zu. Cory war in der Schule ein paar Jahrgänge über ihm gewesen. Wie die meisten Leute in ihrem Alter, die im Ort geblieben waren, trug auch er eine tragische Geschichte mit sich herum. Theo wusste, dass er auf die NFL hingearbeitet hatte, bevor ein Kreuzbandriss diese Hoffnungen zunichtegemacht hatte. Er nahm an, dass die Arbeit in einer verschlafenen Kneipe wie dem Gull nicht gerade Corys großes Lebensziel gewesen war. Ihm selbst ging es nicht anders. Aber Cory war ein großer, kräftiger Kerl. Vielleicht wollte er neben seinem Job im Gull noch etwas Gartenarbeit machen. Theo war längst über den Punkt hinaus, an dem er Hilfe brauchte – er hatte nur noch nicht klein beigegeben und jemanden eingestellt.
Theo machte es sich hinter der Bar gemütlich. Ganz offensichtlich war es ein Abend wie alle anderen. Die Red Sox-Verrückten, wie sie vom ganzen Ort genannt wurden, diskutierten in ihrer üblichen Ecke über irgendeinen Spielzug, den jemand bei einem Spiel gemacht hatte. Einige andere Stammkunden saßen vor halb vollen Gläsern mit Bier oder Scotch. Theo sank auf seinen Stuhl, um zu warten, bis die Bar sich am späten Abend füllte und etwas auflebte. Er holte sein Buch unter der Bar heraus, wo er es am letzten Abend gelassen hatte. Seit ein paar Tagen las er Schall und Wahn, aber es war schon fast Zeit für ein neues Buch.
Theo war müde – besser gesagt, erschöpft. Er war seit knappen sechs Stunden in der Bar und hatte noch ungefähr eine Stunde, bis seine Schicht vorbei war. Am nächsten Morgen würde er eine weitere Reihe Kirschbäume auf der anderen Seite der Auffahrt der Watsons pflanzen. Mehr als alles andere wollte er nach Hause gehen, eine Kleinigkeit essen und ins Bett fallen. Abgesehen von den Red Sox in der Ecke, die immer noch diskutierten, war die Bar leer. Er konnte genauso gut jetzt putzen, damit er nicht mehr allzu viel zu tun hatte, wenn er die Bar schloss.
Theo holte einen Lappen und Reinigungsmittel heraus. Er wischte die Arbeitsfläche ab und stapelte die Gläser in eine Kiste, die er später zu dem Industrie-Geschirrspüler im Hinterzimmer tragen würde. Es gab nicht viel zu putzen – anders als an den Abenden, wenn die Patriots spielten, oder auch nur an einem typischen Samstag. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und seufzte. Fünfzig Minuten noch.
Theo holte sein Buch wieder heraus, aber seine Augen waren müde und er hatte eigentlich keine Lust zu Lesen. Wenn er schon die Wahl zwischen Langeweile und Einschlafen hatte, sollte er sich wohl besser für Ersteres entscheiden.
Er war überrascht, als die Eingangstür der Bar aufschwang. Niemand kam so spät noch herein. Die Red Sox blickten auf, ebenfalls überrascht. Theo blinzelte in die Dunkelheit, die das Mahagoniholz verbreitete, aber er erkannte den Mann auf der anderen Seite der Bar nicht. War wohl ein Fremder. Während der Kerl näher kam, zog er seinen leichten Mantel aus und nahm seinen Hut ab. Und bei dem Anblick fiel Theo fast von dem Stuhl, auf dem er hockte.
Verdammt. Heilige Scheiße. Oh schönster aller schönen Männer, wer bist du nur?
Der Kerl war hinreißend. So hinreißend, dass einem fast das Herz stehen blieb – der attraktivste Mann, den Theo je gesehen hatte, vielleicht sogar seine ewigen Favoriten, Ed Westwick und Matt Bomer, mit eingeschlossen. Der Fremde war natürlich groß, wie offenbar alle unwirklich attraktiven Männer. Seine Haare waren sandfarben, fast blond, und einige wunderbare Strähnen fielen über seine hohen Wangenknochen. Er hatte eine gerade Nase, volle Lippen und ja, eindeutig grüne Augen. Oh Gott.
Als der Fremde sich räusperte, merkte Theo, dass er ihn für eine lange, lange Zeit angestarrt hatte.
»Hey, Kumpel. Wird hier noch ausgeschenkt?«
Und der unglaublich attraktive, hinreißende Mann war Brite. Natürlich war er das. Wie mehr oder weniger jeder hatte Theo eine Schwäche für diesen Akzent. Er atmete ein und verschluckte sich fast an der Luft.
»Oh, hallo. Tut mir leid. Langer Abend.« Theo lachte nervös. Reiß dich zusammen, Mann. Reiß dich zusammen! »Was kann ich Ihnen bringen?«
»Bier, bitte. Britisches, wenn ihr welches habt. Nicht dieses schwache amerikanische Gesöff«, knurrte er und glitt auf einen Stuhl.
Theo erstarrte. Der Kerl hatte ihn verspottet. Und sein Bier. Und in dem Moment bemerkte Theo auch, dass er an seiner schönen Nase entlang auf ihn herabsah – als wäre Theo es nicht wert, direkt angesehen zu werden. So war das also. Plötzlich war der Fremde nicht mehr ganz so attraktiv.
»Wir haben kein britisches Bier, aber ein paar preisgekrönte lokale Biersorten, die Ihnen vielleicht schmecken. Haben Sie lieber Helles oder Dunkles? Was trinken Sie gerne?«
Der Mann zog ein ungeduldiges Gesicht. »Egal. Solange es flüssig ist und nicht nach Pisse schmeckt.«
»Ein extraflüssiges Bier ohne Pisse, kommt sofort«, stieß Theo hervor. Zu schade. Wirklich. Der attraktivste Kerl, der je durch Maplehurst kam, musste ausgerechnet ein Arschloch sein. Zwar ein Arschloch mit einem verdammt sexy Akzent und so langen Wimpern, dass Theo sie sogar im trüben Licht der Bar sehen konnte, aber trotzdem ein Arschloch.
Er schenkte ein hiesiges India Pale Ale ein und schob das Glas zu dem großen, unhöflichen Blonden hinüber. »Versuchen Sie das. Hoffentlich ist es gut genug für Sie.«
Der Mann nahm einen Schluck und wirkte überrascht. »Nicht schlecht für die Staaten.«
»Und wie viel Zeit haben Sie genau in den Staaten verbracht?« Theo unterdrückte den Drang, mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft zu malen. Aber den zimperlichen Akzent zu imitieren, der inzwischen nicht mehr sexy, sondern irritierend war, das konnte er sich einfach nicht verbeißen. Zur Antwort bekam er einen finsteren Blick.
»Etwas. Nicht besonders viel.«
»Und wie lange sind Sie schon in New Hampshire?« Theo beschloss, dass sein neuer Freund aus Übersee wohl der stoische und leicht reizbare Typ sein musste. Vielleicht würde er einfach gehen, wenn Theo genug Fragen stellte.
»Du bist ein geschwätziges Ding, hm?«, fragte der Mann. Seine Stimme war honigweich und warm, eine Stimme, der Theo nur zu gerne zuhören wollte. Natürlich nur bis ihr Besitzer den Mund aufmachte und jedes Wort wie eine Beleidigung klingen ließ.
»Wollte nur Small Talk machen.« Theo nickte dem Mann zu und ging davon.
Das Problem war, dass er auf der anderen Seite der Bar nichts zu tun hatte und sein Stuhl direkt vor dem Briten stand. Und sein Buch war ebenfalls dort, also musste er so oder so zurück. Theo seufzte. Er riss sich zusammen und ging zurück auf die andere Seite der Bar, setzte sich auf den Stuhl und griff nach Schall und Wahn, um weiterzulesen. Wenigstens würde er jetzt nicht mehr einnicken. Vor ein paar kurzen Minuten war Theo vielleicht müde genug gewesen, um mitten auf der Straße das Bewusstsein zu verlieren, aber die arrogante Art des Kerls bewirkte, dass sein Herzschlag sich beschleunigte und seine Nackenhaare sich aufstellten. Das hatte nichts mit den grünen Augen oder langen Wimpern des Mannes zu tun. Überhaupt nichts.
»Ein gebildeter Barkeeper? Interessant.«
Theo sah auf, als er den sarkastischen Kommentar hörte. Im Ernst. Wie viele Beleidigungen konnte jemand in wenigen Minuten überhaupt aussprechen?
»Ja. Sie bringen uns hier in den Kolonien wirklich das Lesen bei. Schwer zu glauben, ich weiß, aber ich bin sicher, Sie kommen darüber hinweg.« Theo biss sich auf die Lippe und wünschte, er könnte die Worte zurücknehmen. Egal ob sie auf Durchreise waren oder nicht, er sollte zu seinen Kunden nicht unhöflich sein. Ben wäre nicht gerade begeistert gewesen.
Der Engländer lachte, was definitiv nicht die Antwort war, die Theo erwartet hatte. »Eine kleine Stichelei.« Er hob eine helle Augenbraue. »Nicht schlecht.«
Stichelei? Wenn Stichelei ein anderes Wort dafür war, ein riesiger Arsch zu sein, dann ja. Aber was kümmerte es ihn. Theo reagierte mit einem stummen Nicken und konzentrierte sich wieder auf sein Buch. Er hatte keine Ahnung, was er gerade gelesen hatte, aber er würde trotzdem so tun als ob.
»Wie viel bekommst du, Kumpel?«, fragte der Mann.
Ich bin nicht dein Kumpel, Arschloch.
»Geht aufs Haus«, sagte Theo. »Willkommen in New Hampshire. Ich hoffe, Sie haben noch eine angenehme Reise.«
Der andere lächelte. »Oh, die ist schon vorbei. Ich bleibe eine Weile in der Stadt.«
»Hier? In Maplehurst?« Niemand kam für eine Weile nach Maplehurst. Vor allem nicht Monate vor Beginn der Strandsaison.
»Ja.« Er schenkte Theo ein schnippisches, aber hinreißendes Lächeln. Theo biss die Zähne zusammen, um seinen Ärger zu unterdrücken. »Ich denke, wir sehen uns noch«, sagte sein britischer neuer bester Freund.
»Sieht so aus«, sagte Theo.
»Danke für das Bier.«
Damit stand er auf, nahm seinen Mantel und Hut und ging zur Tür hinaus.